Alexander Ilitschewski
Matisse
Roman
Aus dem Russischen von
Valerie Engler und Friederike Meltendorf
The publication was effected under the auspices of the Mikhail Prokhorov
Foundation TRANSCRIPT Programme to Support Translations of Russian Literature
Erste Auflage, Berlin 2015
Copyright © 2015
MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Göhrener Str. 7 | 10437 Berlin
Copyright © der Originalausgabe 2010 Matiss
Alexander Ilitschewski
info@matthes-seitz-berlin.de
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Dirk Lebahn
ISBN 978-3-95757-003-1
eISBN 978-3-95757-216-5
www.matthes-seitz-berlin.de
»Na los! Schlag zu, gib’s mir! Ja genau, schlag mich!« Wadja war durch seinen Ausbruch ins Rutschen gekommen, er riss sich die Pelzjacke weiter auf, zerfetzte sich das Hemd über der Brust, Tränen flossen, sachte schob er Nadja von sich, die ihn zurückhielt, damit er den Jungs nicht noch unüberlegt hinterherrannte.
Sie waren zu viert, Straßenkinder, doch weil sie Wadjas Stolz in Gegenwart einer Dame verletzt hatten, hatte er sie schlichtweg herausfordern müssen. Im Licht der Straßenlaternen liefen sie an diesem frühen Winterabend bei Tauwetter schnell die Malaja Grusinskaja hinunter, ruderten und rutschten durch den frischen Schnee, schauten sich immer wieder provozierend um, der Älteste, größer und frecher als die Übrigen, reizte Wadja immer mehr:
»Komm doch, du Affe! Versuch doch, uns einzuholen. Wir machen dich platt – das vergisste so schnell nicht!«
Dem Jüngsten, er war vielleicht zehn, war der Ausdruck von Vertrauensseligkeit noch nicht aus dem Gesicht gewichen. Er ging ein Stück, verfiel in Trab, ging wieder, blickte umher. Da fesselte ihn der Anblick des schneebedeckten, raffiniert beleuchteten Timirjasew-Museums, das durch seinen Kaufmanns- oder gar Bojarenstil an Bilder aus Märchenbüchern erinnerte. Doch als der Junge sah, dass die anderen schon weit weg waren, nahm er eine Handvoll Schnee von der Balustrade, formte einen Ball, klopfte ihn fest, biss hinein, holte weit aus, zielte auf Wadja, warf und rannte dann schleunigst seinen Kumpels hinterher.
Wadja wollte ausweichen und kippte nach hinten, Nadja hatte ihn gehalten und knöpfte ihm nun die Pelzjacke zu, schaufelte den Schnee aus seinem Ausschnitt, klopfte Bart und Kragen ab, er heulte, und Nadja freute sich, dass die Straßenkinder endlich von ihnen abgelassen hatten und sie keine Angst mehr haben musste, dass sie Wadja verdroschen.
Leonid Koroljow, ein Mann von etwa fünfunddreißig, Warenkoordinator eines Kleinhandelsunternehmens, der im Stau Richtung Krasnaja Presnja kroch und die Szene schon ab der katholischen Kirche beobachtet hatte, wusste, dass sich Obdachlose und Straßenkinder bereits seit mehreren Wintern bekriegten. Dass die Jugendlichen, in Grüppchen zusammengeschlossen, zur Abschreckung manchmal Obdachlose töteten und so die Lebensräume im Untergrund von Konkurrenz befreiten: die Gleistunnel der Bahnhöfe, die Nischen unter den Brücken, die trockenen Kanalisationsschächte, die warmen Keller, die Müllhalden, die Bettelposten. Dass ihre Grausamkeit im Rudel kein Erbarmen kannte. Dass die Obdachlosen wegen ihres ausgeprägten Geizes zu gemeinschaftlichem Handeln nicht fähig und deshalb ihren größten Feinden gegenüber machtlos waren.
Koroljow befand sich schon kurz vor der Abzweigung zu seinem Haus. Die Straße war von einer seelenlosen Masse von Autos in Beschlag genommen. Sie röhrten mit durchgebrannten Auspuffrohren, pfiffen mit erschlafften Keilriemen, schnurrten mit teuren Motoren, klackerten mit Spikereifen, wummerten mit den Bässen ihrer Anlagen, scherten immer mal auf die Gegenfahrbahn aus und plärrten, rülpsten, jaulten mit ihren Alarmsirenen. Die Autos verhüllten die Gerinnsel menschlicher Müdigkeit, Blasiertheit, Gehässigkeit, Unbedachtheit, Gleichgültigkeit, Versunkenheit …
Der Stau war eine Naturkatastrophe. Der Schnee fiel mal in dichten Flocken, einen Augenblick später hörte er auf, und man schaltete die Scheibenwischer aus, nur um sie im nächsten Moment wieder einzuschalten. Das Auto schubste ein dampfendes Schneekissen von der Kühlerhaube, kroch vorwärts, drehte auf der Stelle, wühlte im Matsch, riss sich plötzlich los, er bremste ab und schloss zu der langgezogenen Ziehharmonika aus Autos auf, die durch das aufleuchtende Rot an der Krasnaja Presnja erneut gestoppt wurde. Koroljow war mittlerweile weder in der Lage, Radio zu hören noch emotional am Straßenverkehr teilzunehmen.
Schneeflocken blieben an der Windschutzscheibe kleben, sackten zusammen, rutschten ab, wurden durchsichtig, flossen davon. Beim ersten Aufprall auf das Glas blitzte die polygonale Struktur der Flocken kurz auf, makellos streng und rein, herangeweht aus schauriger Höhe. Sie hob ihn über die Stadt, über die von stählernem Licht durchfluteten Straßen, über den schwarzen Rücken des Flusses und die Sehnen der breiten Prospekte, über Hochhäuser und Straßenbuckel, über das Schweigen der flirrenden, tanzenden Stoffbahnen des Schneegestöbers, hinter das Trübe der tief hängenden Wolkenfetzen, dorthin, wo die Sterne funkelten, wo er allmählich der Welt entrückte, immer höher und weiter aufsteigend über die hügelige Kaviarkette aus Stadtlichtern – und dieser Aufstieg war sein tiefer Seufzer.
Koroljow haute den Gang rein und dachte voller Wut, dass das Unbelebte anständiger war als das Menschliche, dass im strengen Aufbau eines winzigen Kristalls mehr Sinn und Schönheit, irgendetwas von Bedeutung steckte, das ihm hätte erklären können, wozu er lebte, als in der Unmasse an Menschen, die diese Stadt überfüllten.
Mit jeder Vorwärtsbewegung des Staus holte er das Obdachlosenpärchen wieder ein. Die beiden hoben sich deutlich von allem ab, was man sonst auf der Straße sah, die verschlungen wurde von den Rücken und dem Gang der Fußgänger, von der Hast der Händler und Büroangestellten, dem aufgeregten Passgang der Jugendlichen, die aus der Metro in die Kneipen strömten, und von der trägen Dreistigkeit der Plakatkleber, Straßen- und Stadtarbeiter. Zwar waren ihre Gesichter nicht zu sehen, doch in der bloßen Silhouette dieses Paares, in den Bewegungen, in dem, wie sie ihn zurückhielt, ihm mit ihrem ganzen Wesen zugewandt war und wie er – stämmig, bärtig, verlottert, mit offener Jacke – unsicher auf den Beinen stand und versuchte, ihr mit zitternden Fingern über das verfilzte Haar zu streichen, sie auf die Schläfe zu küssen – darin lag ein Drama, jedenfalls etwas Außerordentliches, etwas derart Unwirkliches, dass es an eine Oper erinnerte und den dunkel brodelnden Dunst der Stadt verdrängte.
Koroljow kannte Wadja und Nadja bereits, wusste aber nicht, wie sie hießen. An seiner Haustür gab es keine Gegensprechanlage, und das mechanische Codeschloss war mit einem kräftigen Schlag auf die abgenutzten drei Knöpfe in der unteren Reihe problemlos zu öffnen. Es war das am leichtesten zugängliche Treppenhaus in der ganzen Straße. In Frostnächten war der Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock von Mitternacht bis morgens um sieben von Obdachlosen belegt. Wenn man spät nach Hause kam, musste man über sie hinwegsteigen, und der Geruch, der immer dichter, immer unerträglicher wurde und sich umso weiter im Schacht des Treppenhauses ausbreitete, je länger ihre Lumpen und Fußlappen an dem einzigen, die oberen Stockwerke versorgenden Heizkörper auftauten, verursachte Brechreiz. Die Obdachlosen – sei es die dicke Alte oder der Junge in Bikerjacke und verschlissenen Filzstiefeln mit Galoschen, der sich jedes Mal seine Fußmatte unterlegte, oder der einbeinige alte Kahlkopf im Armeeparka, den er einmal hatte seufzen hören: »Rette uns, o Herr«, oder sonstwer, für Koroljow verschmolzen sie alle zu einer einzigen aufgedunsenen, unförmigen Gestalt – versteckten ihre Gesichter und brummelten etwas, und Koroljow nahm dieses Brummeln irrtümlich als Entschuldigung.
Er wohnte jetzt schon das dritte Jahr in diesem Haus, in einer Eigentumswohnung, für die der Kredit noch nicht abbezahlt war. Er, der seine Kindheit im Internat, seine Jugend im Studentenwohnheim verbracht und Unbehaustheit im Laufe seines Lebens heftig zu spüren bekommen hatte, mal bei Freunden untergekommen und von den Freundesfreundinnen wieder vertrieben worden war, mal in Mietwohnungen oder Wohnungen von Freundinnen, die dann doch keine Ehefrauen wurden, mehr als einmal wegen Wohnungsreibereien die Nacht auf Bahnhöfen verbrachte hatte, wo er davon träumte, eine Reise in ein neues Leben anzutreten, oder bis zum Morgen auf dem Boulevardring spazieren gegangen und im Morgengrauen auf einer Bank eingeschlafen war – er hatte die Obdachlosen anfangs freundlich aufgenommen. Er hatte sich so sehr über seine Wohnung gefreut, über die eigenen vier Wände, dass es ihm unmöglich schien, nicht wenigstens ein kleines bisschen seiner Sesshaftigkeit mit ihnen zu teilen, und sei es nur indirekt. Er brachte ihnen Zeitungen als Schlafunterlage, schenkte Tee in Plastikbechern aus und bat sie, sauberzumachen, die durchgeweichten Zeitungen, die Pappen und Lumpen fortzuschaffen, keine leeren Flaschen oder stinkenden Müll liegenzulassen. Er besänftigte die Nachbarin von unten, eine langnasige alte Syrerin, die fluchte, warum er sie auch noch anlocke, die würden hier doch sogar ihr Geschäft verrichten und nicht wegmachen.
»Aber hören Sie mal, Nailja Iossifowna, wie kann man denn jemanden, der kaum noch lebt, in die Kälte hinausjagen?«, versuchte Koroljow sie zur Vernunft zu bringen, und das stinkende gesichtslose Wesen auf dem Treppenabsatz begann zu brummeln. »Der schafft es doch nicht mal bis zum Bahnhof, außerdem lassen sie ihn da eh nicht rein, in die Metro lassen sie ihn auch nicht, und im Nachtasyl nehmen sie nur Nüchterne. Wenn Sie die Bullen rufen, die prügeln ihn entweder zu Tode oder jagen ihn aus dem Haus. Sie wollen sich doch nicht versündigen?«
Die Alte winkte ab, schnaubte und schloss die knirschende Tür. Koroljow, der den Atem anhielt, aber bald krampfhaft zur Seite nach Luft schnappen musste, bat daraufhin die Obdachlosen, doch wenigstens nicht ins Treppenhaus zu machen. Die brummelten wieder etwas, wälzten sich dabei auf dem Boden herum, klirrten mit Flaschen, raschelten mit Zeitungen, und erneut nahm Koroljow dies aus irgendeinem Grund als Zeichen des Einvernehmens, doch am Morgen sah er, wie der trübsinnige usbekische Hausmeister mit einer Wäschezange die Hinterlassenschaften der Obdachlosen in einen Sack stopfte.
Koroljow hielt sich die Nase zu und steckte dem stummen Usbeken im Vorbeigehen einen Schein zu, rannte nach unten, und während er bei Eiseskälte in seinem reifbedeckten Wagen schlotterte, unter dessen Haube ein nicht warm werden wollender Motor klopfte und pochte, redete er sich ein, dass es für geschwächte, berauschte Menschen schwer, ja geradezu unmöglich sei, sich schlaftrunken aufzurappeln und aus dem Warmen in die Kälte hinunterzusteigen, um die Notdurft zu verrichten.
Mit der Gastfreundschaft war es für ihn dann nach zwei Vorfällen im letzten Winter vorbei gewesen: Ein großer Haufen Scheiße auf der Treppe und eine Prügelei der Obdachlosen untereinander samt dreister Bullen, Blutlache und zurückgelassenem Schustermesser.
Am Abend desselben Tages hatte er auf dem geschrubbten Treppenabsatz die dicke Alte vorgefunden. Er brüllte sie an und stampfte mit dem Fuß auf. Er schrie, sie solle auf der Stelle verschwinden, wählte auf dem Handy die 02, aber da war besetzt, er brüllte wieder, rannte die Treppe hinauf zu seiner Wohnung und wieder runter. Die Alte rappelte sich auf, ächzte, drehte sich um, und der durch die Bewegung aufgewirbelte Gestank verschlug ihm den Atem, zog ihm den Boden unter den Füßen weg, er sank in sich zusammen und verstummte. Da trat Nailja Iossifowna aus der Tür, sie hielt ihren Kittel am Kragen zu und rief mit drohender Geste:
»Ruhe! Ruuuhe!«
Und versteckte sich sofort wieder hinter ihrer Tür.
Koroljow hatte in ihren riesigen Basedow’schen Augen Tränen stehen sehen.
Unter dem anschwellenden Geknurre der Pennerin beeilte er sich zu verschwinden.
Trotz der regelmäßig eingesauten Fußabtreter, die er aus Resten der beim Renovieren übriggebliebenen Auslegware zuschnitt, vertrieb er die Obdachlosen nie.
Anfangs hatte er sie stillschweigend Nailja Iossifowna überlassen. Doch die konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu unternehmen. Dann wartete er darauf, dass jemand anders im Haus gegen die Obdachlosen zu Felde ziehen würde. Aber die übrigen Bewohner des zweiten und dritten Stocks gingen entweder früh zu Bett und standen spät auf, oder sie verließen die Wohnung monatelang überhaupt nicht und interessierten sich daher nicht für den Zustand des Treppenhauses.
Ein Stockwerk höher stand eine Wohnung leer, Makler führten ihre verängstigten Kunden hinauf. Daneben war eine Prostituierte eingezogen, die aussah wie eine Schauspielerin aus einem italienischen 50er-Jahre-Film über ein Fischerdorf. Koroljow hatte den Film als Kind mehrmals gesehen – im Internat wurden samstags immer irgendwelche alten Filme angeschleppt. Gezeigt wurden sie im Speisesaal. Der Filmvorführer knutschte auf der Fensterbank mit der Krankenschwester und reagierte nicht gleich, wenn es pfiff und tönte: »He, du Depp! Weiter!« In den quälenden Pausen zwischen den knisternden Küssen war zu hören, wie der Film surrte und ruckartig an den Spulen zerrte, wie eine Maus herumtrippelte und ein Stück Brotrinde die Scheuerleiste entlangjagte.
Auf der geflickten Leinwand zog ein Mädchen von unendlicher Schönheit, das Haar vom Wind zerzaust, im engen Matrosenhemd, unter dem sich die Brüste drängten, bis zum Knie in schäumender Brandung, ein Fischerboot ins tiefe Wasser, kletterte hinein, entrollte das Segel, und Koroljow stockte der Atem.
Zwei Puffmütter mit zerknittertem, aber professionellem Gesichtsausdruck und klimperndem Schlüsselbund brachten der Nachbarin reiche Kunden ins Haus. Diese agilen, wachsamen Brünetten hatten gepflegte, sonnengebräunte Haut, kauten nervös Kaugummi, quietschten weich in ihren Krokodilmokassins, ließen ihre Uhren unter den Aufschlägen hervorblitzen und die Schnallen ihrer Aktentaschen aufblinken und hinterließen in der Luft ein feines Duftornament. Haut und Kleidung entstammten einer anders begüterten Welt – einer Welt voller Massageglanz, Lackfältchen und Gesichtspflege.
Abends kam die junge Frau herunter. In einen kurzen Pelz gehüllt, die Schuhe an den bloßen Füßen, trottete sie zerstreut durch den Matsch zur Krasnaja Presnja. Die Passanten drehten sich nach ihr um und verlangsamten den Schritt. Koroljow war ihr einige Male nachgegangen, er hatte dann lange auf dem Gehweg gestanden und durch das Fenster eines japanischen Restaurants ihr Profil betrachtet, während sie die Speisekarte studierte, Sushi kaute, sich zerstreut die wirren Haare richtete, die vollen, zarten Lippen ein wenig öffnete und mal den Raum, mal das unter der Theke angebrachte Aquarium mit den beiden streitenden Buntbarschen betrachtete.
In der dritten Wohnung lebte zusammen mit seinem betagten Vater ein stiller, drahtiger junger Mann mit Downsyndrom. Sie kannten sich eigentlich nicht, doch wenn sie sich begegneten, rief er munter »Hallöchen, wie geht’s?« und streckte Koroljow die kräftige Hand hin. Der junge Nachbar schleppte ständig irgendetwas die Treppen rauf und runter, mal Kartoffelsäcke, mal Zwiebelnetze, mal Hanteln, mal Kugellager verschiedener Kaliber, die auf einem Draht aufgefädelt waren wie Gebäckkringel. Einmal war ihm ein solches Bund gerissen und die Kugellager mit schrecklichem Radau die Stufen hinuntergerollt. Der Junge bekam einen Schreck und lief weg. Koroljow sammelte die Ringe im ganzen Treppenhaus ein und legte sie aufs Fensterbrett. Seither lagen sie dort, mittlerweile verrostet und mit Zigarettenstummeln gespickt.
Auf seiner Etage wohnten Angestellte des Gartenbaugeschäfts auf dem Gelände des Timirjasew-Museums – schwermütige, unablässig fluchende Weißrussen, die sich freitagabends auf der Bank vor dem Haus volllaufen ließen. Sie wurden von der Geschäftsleitung immer wieder zwischen den Filialen hin und her geschoben, und so traf er heute die einen, morgen die anderen und übermorgen die dritten, und es kam ihm vor, als würden in der Einzimmerwohnung an die zwanzig Leute leben.
In der Wohnung direkt gegenüber wohnte eine sonderbare Familie. Die Frau war gläubig und erzog ihre zwei heranwachsenden Mädchen streng. Sonntags ging sie mit ihnen in die Kirche, von wo sie – alle drei mit Kopftuch und Rucksack, in grauen und lila Jäckchen sowie langen schwarzen Röcken, einander ausgesprochen ähnlich – im Gänsemarsch zurückkamen. Die noch junge Frau blickte stets finster drein und grüßte nie. Ihren Mann, der ebenfalls keinen Gruß erwiderte, verdrosch sie wortlos oder ließ ihn nicht in die Wohnung, wenn er gelegentlich volltrunken nach Hause kam, die Tasche über der Schulter, eine Flasche Starkbier in der Hand und nicht gleich in der Lage, die ihm entgegenstürzenden Stufen zu bewältigen. Der Mann war schmächtig, hatte aber gewaltige, steife Finger mit dicken schwarzen Nägeln an kräftigen Phalangen, mit denen er seine Flasche wie einen Stift umklammerte, wenn er auf den Stufen neben der Wohnungstür friedlich wegdöste. Solche Hände hatte Koroljow als Kind bei den Arbeitern der Maschinenfabrik Roter Bauarbeiter gesehen, die sich an der Station Zement-Gigant in den verqualmten Einstiegsbereich des Fünf-Uhr-Vorortszuges drängten: Abends waren er und die anderen Jungs gerne aus dem Internat abgehauen und nach Kolomna gefahren, um in der Zoohandlung die Schwertträger oder Segelflosser zu beäugen.
Einmal setzte er sich zu dem dösenden Nachbarn auf die Treppe, nahm einen Schluck von dessen Bier und betrachtete lange wie gebannt diese Finger. Der Zug hatte stets vor der Brücke abgebremst, an der die Moskwa in die Oka mündet, unten krauchte winzig ein Häuschen mit einem Wachtposten vorbei, riesig ragten die Brückenträger empor, die Räder klopften und hallten plötzlich bedeutsam, ringsum ergoss sich frei der weite Fluss, darin die Tropfen der Kuppeln, die Kremlmauern, Gärten, Gemüsebeete, Feuerwachtürme … Da plötzlich ging die Wohnungstür auf, die Nachbarin schob Koroljow zur Seite, zog ihrem Mann das Portemonnaie und die Schlüssel aus der Tasche, zerrte ihm die Schuhe von den Füßen und verschwand wieder in der Wohnung. Im Sommer reichte sie die Scheidung ein, wechselte das Schloss, ihr Exgatte versuchte die Tür aufzubrechen, woraufhin sie mit einer Unterschriftenliste die Nachbarn abklapperte und Geld für den Einbau einer Gegensprechanlage sammelte. Im Herbst wohnte der Mann wieder bei ihr, die Mädchen hatten jetzt modische Haarschnitte, trugen keine tristen Kopftücher mehr und grüßten, doch die Haustür bekam immer noch jeder auf, der es wollte, denn die nötige Summe für die Gegensprechanlage war am Ende doch nicht zusammengekommen.
Nadja und Wadja waren vorbildliche »Beiwohner«, so nannte Nailja Iossifowna die auf dem Treppenabsatz nächtigenden Obdachlosen. Sie hinterließen keinen Dreck, wenngleich in den Morgenstunden ein ordentlicher Mief im Treppenhaus hing, bis er von Tabakschwaden abgelöst wurde, die aus den Nasenlöchern der merkwürdigerweise ständig ein- und ausgehenden Weißrussen strömten. Die beiden hatten, wenn auch nicht ohne Kampf, die anderen Obdachlosen nach und nach vertrieben. Mittlerweile stand in einer Ecke des Treppenabsatzes ein abgenutzter Reisigbesen, den sie auf dem Müllplatz hinter der Banja an der Krasnaja Presnja aufgetrieben hatten. Damit fegte Nadja vor und nach dem Nachtlager sorgfältig den Treppenabsatz und morgens auch noch zwei Treppen abwärts und eine hinauf.
Nadja redete nicht viel, sie schämte sich für ihre Unfähigkeit. Dafür hörte sie für ihr Leben gern zu. Wadja hingegen ließ keine Gelegenheit aus, mit Worten nach dem Leben zu greifen, es zumindest ans Tageslicht zu lassen – als würde er dieser seiner Gabe Dankbarkeit zollen, indem er ihm seine Geschichten darbrachte und zugleich seine Kunstfertigkeit hegte und pflegte, die ihm so oft aus der Patsche geholfen hatte. In schwierigen Situationen konnte er sich über die Sprache einen Zugang zu den Menschen ertasten, Vertrauen gewinnen oder erschmeicheln: wenn er bettelte, wenn man ihn rausschmiss, wenn man im Ismailowski-Park Kampfhunde auf ihn hetzte, ihn mit Knüppeln zur Sammelstelle für Obdachlose jagte, wenn man ihn schier zu Tode prügelte; er wusste genau, dass man auf keinen Fall schweigen darf, wenn sie einen totschlagen wollen, man muss reden, zetern, ächzen, jammern, flehen, beschämen, weinen … Und je flüssiger und müheloser du das hinkriegst, desto größer die Chance, dass du überlebst.
Wadja bezeichnete Nailja Iossifowna, wenn er mit Nadja redete, als alte Hexe, er war überzeugt, sie köchle in ihrer Küche besondere Wurzeln, die gegen den Kropf halfen, sonst wären ihre Augen schon längst geplatzt. Koroljow traute er nicht über den Weg, im Gespräch mit Nadja nannte er ihn misstrauisch den Schecken. Der Spitzname kam wohl daher, weil Koroljow am Scheitel eine graue Haarsträhne hatte und sein Auto ein Jahr nach einem Unfall immer noch nicht neu lackiert war: Mit der Grundierung des neuen Kotflügels und den Flecken verschiedenfarbiger Spachtelmasse war es buntgefleckt wie eine politische Landkarte.
Nadja hatte zwar keine Angst vor Koroljow, aber seine strenge Stimme, sein Blick, die Tatsache, dass er sie mit seiner Aufpasserei nicht in Ruhe ließ, sie aber auch nicht vertrieb, und die Art und Weise, wie er sie heimlich beobachtete, plötzlich lautlos die Tür einen Spalt breit öffnete, wie er sie morgens anspornte, von wegen: Prima, dass ihr hier euren Dreck wegmacht, weiter so – all das trug ihm keine Sympathie ein. Sie wusste, wenn sie so einen auf der Straße sehen würde, den würde sie im Leben nicht anschnorren: Der gibt nichts.
Koroljows penetrante Nachbarschaft nötigte ihnen dennoch zaghaften Respekt ab. Sie hielt Nadja und Wadja durch fordernde Duldsamkeit sogar auf Trab, die beiden reagierten mit Eifer wie in einem Rollenspiel, ähnlich begeistert wie Kinder, die beim Krankenhausspielen auf Hygiene achten: Sie waschen sich die Hände auf jeden Fall bis hinauf zu den Ellenbogen, sie kochen Plastikspritzen aus, reiben Puppen mit Watte ab usw. Nadja halbierte mit einem Blick auf Koroljows Wohnungstür Wadjas abendliche Ration – auch wenn der anfangs um sich schlug.
»Vergiss es. Nein, kriegst du nicht. Ist doch peinlich vor den Leuten. Nein!«, zischte Nadja, wehrte die Prügel ab, stieß ihn mit dem Fuß weg und versteckte im Ausschnitt die Faust mit dem Fläschchen Apothekenalkohol, 100 ml zu siebzehn Rubel, zur äußerlichen Anwendung.
Nachdem Wadja sich einmal mit dieser Art von Symbolik abgefunden hatte, befolgte er sie mit Begeisterung: Das Eingebläute ging ihm in Fleisch und Blut über. Fast wäre er im Feuereifer verbrannt bei dem Versuch, Koroljows Nachbarn ins Gewissen zu reden, als der betrunken nach Hause kam und auf der Treppe hinfiel.
Wadja hinkte zu ihm hinunter. Der Mann lag auf dem Rücken.
»Was denn, Kumpel. Solltest mal ein bisschen kürzertreten. Komm, hoch mit dir …« Wadja beugte sich über ihn.
Der Mann stöhnte und reckte seinen Oberkörper der zu Hilfe geeilten Nadja entgegen; die Beine wollten ihm nicht gehorchen.
»Sachte, sachte, Kumpel. Immer mit der Ruhe!«, sagte Wadja beruhigend und zog ihn ein wenig vom Geländer weg.
Blut tropfte aus der Nase auf die Stufen, die Tropfen hüllten sich ringsum in Staub. Wadja brachte ihn zur Wohnungstür, die Frau ließ ihn rein – und dann ging’s los: Die Tür flog wieder auf, der zu sich gekommene Nachbar, die Lippe blutig, schüttete Azeton auf die Treppe und die dort liegenden Obdachlosen.
»Drecksgesindel!«, brüllte er, lehnte sich gegen die Wand und ratschte mit durchnässten Streichhölzern. »Ich fackel euch alle ab!«
Wadjas Lebensgeschichte war so ausgedacht wie wahr. Er hatte sich derart tief in seine Fantasiegespinste hineingelebt, dass ihm schon vor langer Zeit jegliche Grenzen des Faktischen abhandengekommen waren. Wenn ein irritierter Gesprächspartner eine Unstimmigkeit bemerkte, reagierte er mit arglosem Wahrheitsglauben:
»Wer soll das jetzt noch wissen. So ist das eben manchmal.«
Die Biografie – eine Hieroglyphe des Lebens – ist der einzige Besitz der Obdachlosen. Sie hegen und pflegen die eigene Geschichte, wie Menschen von jeher sakrale Texte bewahrt und nachgeschliffen haben. Zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, ist der Zauberrubel, mit dem sie sich gemeinhin einen Platz unter ihresgleichen erkaufen – die Ration Tabak, Alkohol, Essen, Wärme. Je dichter, unerwarteter und reicher diese Flunkerei verwoben ist, je mehr Schnörkel und Komponenten die Hieroglyphe hat, desto mehr bekommt man. Die Stummen, die nicht gut erzählen können, nicht amüsieren, aufwühlen oder Interesse wecken, werden von den anderen »Klotz« genannt.
Es ist falsch zu glauben, dass Menschen, die nie Zeitung gelesen und nie ferngesehen haben, echtes Wissen über die Welt besitzen. Doch der Mythos, den sie mit ihren Verirrungen nähren, ist einzigartig. Folgt man den bald skurril märchenhaften, bald schlicht unglaublichen Peripetien, kann man eine verblüffende Wahrheit über die Welt ans Licht bringen. Zwar wird sie – wie alle anderen Wahrheiten – eine barbarische Projektion der nichtexistenten höchsten Wahrheit sein (sein Schatten entstellt einen Gegenstand oft bis zur Unkenntlichkeit), doch ist es nahezu unmöglich, sie zu ignorieren, anders als die allgemein anerkannte Projektion, die an eine Lüge grenzt, als eine nicht von innen heraus entwickelte, sondern von außen aufgezwungene Kategorie.
Wo zum Beispiel konnte man sonst so was zu hören bekommen, was Wadja ganz beiläufig einem neuen Bekannten erzählte. Dass in Gagra ein alter Mann, so ein gruseliger Typ – seine Hände sahen aus, als wären es nicht seine, schwarz wie Kohlen, gangränös, aber vollkommen biegsam, tödlich konnte er damit zupacken, mit zwei Fingern einem die Gurgel rausreißen – dass dieser Alte also, wohl ein Grieche, wer will das heute noch wissen, erzählt hätte, das Muttermal auf Gorbatschows Stirn wäre so lange gewachsen, bis es wie Russland aussah. Wenn man nämlich mal auf den Globus schauen würde, würden Maße und Form übereinstimmen, eins zu eins. Nur, als der Fleck ausgewachsen war, wäre es mit seiner Macht vorbei gewesen. Und wer ihm jetzt die Haut vom Schädel abziehen würde, der würde Russland in seine Gewalt bringen.
Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:
»Viele wollten diesem Griechen, diesem Alten, die Hand küssen. Hab ich selbst gesehen. Er hat aber nicht alle gelassen, nicht alle waren seiner würdig. Doch wenn du sie ehrerbietig geküsst hast, dann wird nie im Leben etwas an dir verfaulen, als wärst du verzaubert.« Wadja machte den Mund auf und klackte mit dem Fingernagel gegen seinen abgebrochenen Schneidezahn.
»Hast du sie denn geküsst?«
»Nee. Wurde nichts draus. Der Alte hat mich nicht gelassen. Na ja«, seufzte Wadja.
Stumm, wie sie war, wäre Nadja allein auf sich gestellt zum Dahinvegetieren und schnellen Tod verdammt gewesen. Aber Wadjas Redseligkeit reichte locker für zwei.
Seine Geschichte entsprang zwei Flussarmen: einem hauptstädtischen und einem südrussischen, vorbei an Bergen und Steppe. Den ersten Arm entlang floss Wadja, eingestimmt auf den jeweiligen Gesprächspartner, in voller Fahrt einer ungewissen Mündung entgegen: Ob nun als Sohn des Wärters im Neujungfrauenkloster zur Welt gekommen oder aber von dem dortigen Diakon als Waise aufgenommen – seine Mutter war jedenfalls verstorben. Er hatte eine zwanglose Kindheit gehabt, herrlich waren die Weite des Flusses, das Angeln und die Floßfahrten, die Eidechsen auf den warmen Steinen am Friedhof, die Nachtigallen im Flieder und in den Linden am Teich, die Laubhütten auf den Sperlingsbergen oder unter den Trägern der Metrobrücke am Andreas-Kloster; der Dämmerduft der Abende, das scheinheilig heruntergeleierte Gehaspel des Diakons während der Salbung bei der Taufe, das rote Gesicht des Popen, der alle ohne Ausnahme am Schlafittchen auf den rechten Weg zog, vom Milizionär bis zum Restaurator. Bald saß er zum ersten Mal ein: Er ging schon auf die Berufsfachschule für Autokranführer (der mennigrote Schriftzug IWANOVEZ auf dem dicken gelben Kranausleger, ein Gewirr von Hebeln im Fahrerhäuschen, welchen sollte man da nehmen?!). In der Nähe des Klosters lungerten immer Devisenschieber und Ikonendealer herum – die zahllosen ausländischen Touristengruppen (braungebrannte, johlende Hutzelmännchen, klapperdürre Omas mit lilafarbenen Pusteblumen über Ästuarien aus runzligem Lächeln) lockten die einen wie die anderen hierher. Sie köderten ihn, fragten: Wovon träumst du? Und stellten ein Motorrad in Aussicht. Wadja fackelte nicht lang und schleppte Ikonen raus. Der Diakon (oder Wärter) versuchte nicht, den Stiefsohn herauszuhauen, und ließ ihn gehen mit Gott. Er bekam fünf Jahre, war zahm, nach dreien wieder frei und lebte dann jenseits der Hundertkilometergrenze: in der Ortschaft Peski bei Woskresensk, Hilfsarbeiter in einer Zementmühle, Zerleger auf der städtischen Mülldeponie, einmal hätten ihn fast die Ratten zerfetzt, er harrte auf einem Bulldozer aus, Lagerprüfer in einem Stahlbetonwerk, überall wurde er entlassen, zog von Wohnheim zu Wohnheim, wurde auch von dort verjagt. So ging es dahin. Im Winter Gelegenheitsjobs als Maurer: Schweineställe, Kuhställe, Zäune. Im Sommer in südlichen Gefilden: In Gagra fügte er sich ins Tagelöhnern. Satt wurde man: Chasch, Lawasch und Tschatscha, Körbe voller Weintrauben, das Hochland, die Sonne, das Meer (das er fürchtete wie eine Axt). Die Pässe nahm man ihnen ab, Arbeit gab es gegen Futter, Schlafen in der Scheune, nachts ließen sie die Hunde los: kein Weglaufen, kein Rauskommen. Zum Ende der Saison wurden sie – drei junge Tagelöhner – einmal zu Tisch gebeten, die Banja war schon eingeheizt. Der Hausherr trank viel, sehr viel, und bot ihnen seine Frau an. Die bediente bei Tisch, schwarzes Kopftuch, dürr, nicht mehr ganz jung. Ihre Züge versteinerten, der Blick verschloss sich dem Unvorstellbaren, sie gab keinen Laut von sich. Als sie ausgetrunken hatten, lief Koljanytsch ihr verlegen hinterher – und der Hausherr folgte den beiden anderen in die Scheune. Mit Gewehr. Ließ seine Hosen runter und legte an. Schwankte, hob den Kopf vom Kolben, der Mund stand offen, darin wälzte sich mühselig die dicke Zunge. Nur knapp gelang die Flucht. Ein Glück, dass ihn die Hose fesselte, er schoss und traf nicht, zerfetzte das Scheunendach, die Tür flog aus den Angeln. Dann ab die Post, im Dunkeln, durch die Schluchten, weg von den Hunden, bei Tagesanbruch landeten sie am Meer und trampten weiter bis Noworossijsk. So verlor Wadja seinen Pass. Dazu noch die Wirren der Perestroika, Flüchtlinge aus allen Ecken des Landes. Sich neue Papiere zu besorgen, kam ihm nicht mal in den Sinn. Nur wenn ihm jemand an den Kragen wollte, war er fähig, etwas zu unternehmen und sich Gedanken zu machen. Und auch dann keine allzu großen.
Wie ein Köter, der, in Ungnade gefallen, vom Hof gejagt, wieder vor der heimischen Pforte aufschlägt, trieb es Wadja zurück in den Park vor dem Neujungfrauenkloster. Der Diakon (oder Wärter) war gestorben, seine Frau, Tante Olja, hatte schon das Zeitliche gesegnet, als Wadja noch hier lebte (»Gott hab sie selig!«, unterbrach Wadja feierlich seine Geschichte und bekreuzigte sich langsam und ausladend); ein neuer Pope war da, das Museumspersonal hatte gewechselt, größtenteils gebildete Leute, die mit Aktenmappen unterm Arm geschäftig auf den Wegen hin- und herliefen; Scharen von Nonnen werkelten jetzt überall herum, und die Touristen hatten an Zahl und Lautstärke zugelegt. Einige von ihnen kamen in den Genuss, in Wadjas runden, innigen Redestrom einzutauchen. Doch nicht alle hörten ihm bis zum Schluss zu, sobald ihnen klar wurde, dass er log, dass die Geschichte niemals enden würde.
Nun bettelt Wadja schon seit einem Jahr, länger sogar, mit zwei oder drei Kumpels zaghaft die Ausländer an, steht vor der sonntäglichen Frühmesse und an Feiertagen mit seiner Mütze am Tor, in einigem Abstand zu den doppelstöckigen Reisebussen. Auf das Klostergelände lässt man ihn nicht. Das hat der Leiter des neuen Klosterwachschutzes angeordnet. Das einzige Geschöpf, das sich hier noch an ihn als kleinen Jungen erinnert, ist Baba Warja, die Frau des verstorbenen Heizers, Onkel Serjosha. Sie hat Wadja nicht vergessen, nahm sich seiner etwa ein halbes Jahr an, mal brachte sie ihm Piroggen, mal Zwieback, mal ein Stück vom Osterkuchen, mal ein Einmachglas mit Suppe. Das Glas sammelte sie immer wieder ein, einmal zerschlugen sie es, die Sünde ward ihnen nicht verziehen. Dann wurde sie krank, und ihr Sohn holte sie zu sich nach Woronesh, ins Kernkraftwerk, wo er als Techniker arbeitete. So hat es Wadja auch Nadja und den Kumpels erzählt: Baba Warja sei in die Atomfabrik gefahren und lebe jetzt dort. Genau da, in der Atomfabrik, da fänden solche Menschen Platz, das wäre ja wohl das Mindeste.
Seine Pennerkollegen halten ihn für kirchlich gebildet, schon allein deshalb, weil er hinter den Klostermauern zur Welt gekommen ist. Alles, was auch nur entfernt mit dem Gegenstand der Religiosität zu tun hat, betrachten Obdachlose als heilig.
So vergehen ein Jahr, zwei Jahre – es ist Spätherbst, früh am Morgen, gegen acht Uhr. Ein Nebelschleier hängt über dem Kloster, über der zinnengesäumten Mauer erhebt sich das weiße Sonnenzelt. Ohrenbetäubend zanken sich die Spatzen. Die Menschen hasten durch den Park zur Metro.
Wadja hat sich auf die Bank gesetzt zu einem Jugendlichen, der auf jemanden wartet und ein Buch liest. Nach einiger Zeit hört der Jugendliche auf zu lesen. Er lauscht Wadja.
Auf der Nachbarbank hat sich ein Mann aus seinem Dämmerzustand hochgerappelt, ist zu ihnen herübergewankt und hat sich dazugesetzt, klein, schwach, aufgedunsen. Er streckt die dreckige Hand aus und hält sie auf. Wartet. Nickt, will etwas sagen. Die Hand zittert. Er lässt sie sinken, legt sie auf den Oberschenkel – den Unterarm ausgestreckt zu halten, dazu fehlt ihm die Kraft.
»Bruder«, sagt er zu dem Jungen, »meine Mutter ist gestorben. Hab kein Geld für die Beerdigung.«
Eine Träne läuft ihm über die schmutzige Wange und hinterlässt einen kleinen schmutzigen Fleck.
Der Junge kramt erschrocken ein paar Münzen aus der Tasche, zögert und gibt noch zwei Scheine aus dem Portemonnaie dazu.
Der Mann schläft mit dem Geld in der Hand ein. Seine Finger erschlaffen. Die Münzen klirren. Der Junge schielt hinüber, hebt sie aber nicht auf.
»Tja«, erläutert Wadja, »das ist Koljanytsch. Seine Mutter ist gestorben.«
»Moment mal.« Der junge Mann stutzt. »Was sitzt er dann hier? Wie kann das sein?«
Wadja zuckt mit den Schultern.
»Wir saufen seit fünf Tagen. Der kommt gar nicht zu sich.«
»Moment mal. Ist das derselbe Koljanytsch, dem die Frau den Kopf abgesäbelt hat?«
Wadja lächelt erst zufrieden, dann lässt das Lächeln nach, sein Gesicht wird strenger.
»Ganz genau. Eben der. Hier hat er die Narbe.« Wadja fährt sich mit der Handkante quer über den Kehlkopf.
Der junge Mann steht auf und mustert Koljanytsch. Der döst, sein Kopf ist auf die Brust gesunken. Unter seinem Kinn schaut tatsächlich, gleich einer dicken Kordel, eine scheußliche blaurote Narbe hervor. Der junge Mann setzt sich wieder hin, steckt sich hastig eine Zigarette an und hält Wadja das Päckchen hin.
Von zwei Bänken, die auf die Wiese gerückt und deren Sitzflächen zusammengeschoben sind, erhebt sich eine Frau im Wolltuch von ihren Plastiktüten. Sie blickt sich blinzelnd um.
Wadja nimmt ein paar kleine Schlucke, versteckt seine Flasche unter der Jacke, zieht eine Zigarette aus dem Päckchen und beschmutzt dabei mit den Fingern die knochenmarkweißen Filter daneben. Der Junge steckt sein Buch in den Rucksack. Er wartet auf seine Freunde, die in der Nähe wohnen. Sie wollen heute weit raus ins Moskauer Umland, Pilze sammeln und im Wald schlafen.
»Warum trinkt ihr denn die ganze Zeit? Vielleicht solltet ihr das besser lassen?«, fragt er Wadja, allen Mut zusammennehmend.
Die Frau hinter der Bank spuckt sich auf den Handrücken, reibt sich die Augen. Greift nach einer Plastikflasche. Gießt sich etwas auf die Hand, reibt noch mal.
»Letzten Frühling, mein Freundchen, April war’s, da ist hier was passiert. Ich erzähl ganz ehrlich, wie’s war.«
Wadja holt einen Kamm raus, drückt sich mit einer Hand die Haare platt, kämmt sich, steckt ihn wieder ein, schaut sich um, nickt dem Jungen zu, holt tief Luft und fängt an zu erzählen.
»Wir haben damals ganz schön gesoffen. Ich, Pantja und Berkino, ein irrer Typ, der zu der Zeit wohl gerade gut bei Kasse war. Na, wir trinken also ungefähr den fünften Tag. Ich schau so vor mich hin – sitze hier so wie mit dir jetzt … Ja. Auch Koljanytsch saß dabei. Bloß, dass er damals geschlafen hat.«
(Er haut Koljanytsch in den Nacken. Koljanytsch hebt ruckartig seinen abwesenden Blick auf den Studenten. Brummt, nickt. Steckt das Geld unters Hemd, die restlichen Münzen rutschen ihm direkt wieder unten aus dem Hemd raus vor die Füße.)
»Es war Abend, die Glocken hatten schon geläutet, Leute gehen und gehen, fast alle sind schon weg. Und ich schau nur so – da senkt sich von dort, von da oben ein schwaches Licht herab … Die Muttergottes. Sie steht vor mir. Ich bin glatt erstarrt. Ganz weiß ist sie. Ich kann mich nicht rühren. Arme und Beine gelähmt. In der Brust ein Brennen. Ganz streng redet sie mit mir. Ist ja nun mal die Muttergottes … ›Jesus Christus schickt mich. Er will dich ermahnen: Wenn du nicht aufhörst zu trinken, wirst du im Februar sterben. Kapiert?‹«
An dieser Stelle runzelt Wadja die Stirn, kleine Tränen kullern ihm aus den Augen, er winkt ab, verzieht das Gesicht. Dann reißt er die Augen auf und wischt sich mit der Faust über die Wangen.
»Da hab ich bitterlich geweint, völlig kraftlos war ich, im Herzen schwach … Hab eine Weile geweint, mich dann vor sie hingekniet und gesagt: ›Vergib mir, Muttergottes‹.«
Wadja sinkt auf ein Knie und bekreuzigt sich.
»Vergib meiner sündigen Seele, nur richte doch Jesus bitte aus … Ich werde bestimmt nicht mit dem Trinken aufhören. Das ist mir ganz und gar unmöglich. Richte ihm das bitte aus, sei so gut.«
Der junge Mann sitzt mit offenem Mund da. Die Freunde stehen jetzt auf der anderen Straßenseite und warten auf Grün. Ein Auto nach dem anderen fährt um die Ecke. Der Junge ist völlig in die Geschichte versunken.
»Und dann ist sie verschwunden?«
»Auf und davon. Zum Teich ist sie gelaufen, nehm ich mal an, zum Ufer runter. Meine Beine waren wie gelähmt. So saß ich dann da, bis es dunkel war, bis Nadjucha mich fortgezerrt hat.«
»Was heißt, sie ist gelaufen? Ist sie nicht … aufgefahren?« Der Junge wiegt skeptisch den Kopf.
»Gelaufen ist sie, gelaufen … die Himmlische …« Wadja winkt ab und reibt sich das Auge trocken.
Der junge Mann zählt sorgfältig im Stillen die Monate durch und murmelt:
»Dezember …«
Seine Freunde rufen. Er greift sich den Rucksack und stürzt davon.
Wadja kämmt sich gern. Während Nadja sich wäscht und mit dem Finger die Zähne abreibt (sie macht das ganz vorsichtig und verzieht dann plötzlich das Gesicht – der obere Eckzahn tut weh), sitzt er mit überschlagenen Beinen und ist mit einem Aluminiumkamm zugange, dem zwei Zinken fehlen. Lange, sorgfältig streicht er die dichten schwarzen Wellen nach oben und zur Seite, drückt sie mit der Handfläche an, neigt den Kopf, betrachtet etwas in der Puderdose. Dann hält er die Zinken gegen das Licht, pustet geräuschvoll die Schuppen weg, zerquetscht bedächtig und geschickt mit dem Fingernagel eine losflitzende Laus, die wie eine winzige Schildkröte aussieht. Dann steckt er sich eine Zigarette an. Pustet den Rauch aus dem Mundwinkel zur Stirn hoch, kneift die Augen zusammen, mal korrigiert er mit einer Feile den etwa streichholzlangen Nagel am kleinen Finger, mal untersucht er pingelig den Kamm, klopft ihn aus, hält ihn sich längs vor die Augen, ob er auch nicht verbogen ist. Und kämmt sich nach kurzer Überlegung damit den Bart.
Überhaupt ist Wadja eine prächtige Erscheinung. Dadurch ist er zwar seiner Umgebung ausgeliefert, aber gleichzeitig auch geschützt, je nach Situation. Und für die hat Wadja ein genaues Gespür und kann sie in eine für ihn vorteilhafte Richtung lenken. In den östlichen Kampfkünsten gibt es Techniken, bei denen man sich die Energie des gegnerischen Angriffs zunutze macht. Doch wenn die Realität versteinert ist, wenn sie durch nichts zu einem Angriff provoziert wird, dann hat ein schwacher, unansehnlicher Körper der Welt nichts entgegenzusetzen – und erstickt unter der starren, ihn langsam überrollenden Realität.
Wadjas Körper ist klein, drahtig und gekrönt von einem überproportional großen Kopf, der mehr als die halbe Schulterbreite einnimmt. Seine prächtige Mähne trägt er gut frisiert, und mit seinen Zügen, den ausdrucksstarken Winkeln der Nasenflügel, dem breiten Mund und dem besonderen Lächeln, das immer lebhaft mit seinen Augen zusammenspielt, ähnelt er einem berühmten Menschen, dessen Gesicht absolut jeder kennt; ohne dass man allerdings wüsste, wer es ist. Dabei ist die Ähnlichkeit frappierend, viele sind irritiert: von dem offenen Rätsel seiner Erscheinung, das niemand auf die Schnelle zu lösen vermag.
Erst Koroljow sollte später Wadjas geheimnisvolle Ähnlichkeit enträtseln. Die Entdeckung verblüffte ihn keineswegs, aber die Welt erschien ihm mit einem Mal durchschaubar. Wunder erstaunten Koroljow weniger als die schlichte Realität, denn er betrachtete das Wundersame als den Wesenskern der Welt, und darüber erstaunt zu sein, wäre ein Zeichen fehlenden Respekts …
Ebensowenig hatte er seinerzeit gestaunt, als er in der Metro einem Mann begegnete, der aussah wie Joseph Brodsky auf Fotos aus den 1960er Jahren. »Wahrscheinlich sein Sohn«, dachte sich Koroljow damals. »Oder doch nicht, sondern einfach nur einer, der ihm sehr ähnlich sieht. Ist ja auch egal. Gesichter sind, wie alles auf der Welt, flexibel klassifizierbar. Letzten Endes lernt der Mensch, insbesondere der einsame, die Wesen um sich herum nicht als Individuen wahrzunehmen, sondern als Typen. Ein Bettler sortiert die Passanten beispielsweise nicht nach Gesichtern, sondern nach Kategorien wie Großzügigkeit, Geiz, Mitgefühl oder Gleichgültigkeit …«
Der südliche Arm von Wadjas Biografie ist traurig. Ihmzufolge wurde er in einem Dorf bei Astrachan, in der Strelezkojer Steppe geboren. Stromleitungen summten über den menschenleeren Straßen, Häuser blickten blind durch verschlossene Fensterläden; gleich hinter dem Dorfrand wellten sich schwere Sandmassen, entrollte die Achtuba ihr Flussbett. Die Ufergebiete waren vom staubigen, harten Teppich der Schafweiden bedeckt, hier und dort knabberten einzelne Schafe, mal auch ganze Herden das unter ihren Lippen kaum nachgewachsene Gras, kräuselten sich kleine graue Inseln aus Kameldisteln. Kinder trieben mit Stäben verrostete Metallreifen am Ufer entlang, in den Vorgärten verstaubten bucklige Büsche aus Ringelblumen, Bögen der Sonnenhüte und rankende Weinreben. An einer Ausgrabungsstelle schwitzten Archäologen. Sie legten eine Zigarettenpause ein und hörten eine Lerche singen, die im fürs Auge unerträglichen Zenit Purzelbäume schlug.
Zum Wechsel der Jahreszeiten stimmte der Wind seine Leier an. Er trieb meterbreite Wogen stromaufwärts in den Wolganebenarm Aschuluk. Jenseits der Landstraße dampften orange Sandseen. Der Fährschlepper steckte manchmal eine Stunde lang im Flusslauf fest. Der Steuermann riss den Starthebel hin und her, hielt das Steuerrad mit dem Knie, rauchte gut und gerne eine halbe Schachtel weg, während die Maschine sich zentimeterweise durch die reißende Strömung arbeitete.
Im Mai kamen die Heringe von der Küste des Kaspischen Meers in den Aschuluk. Uferrand, Wasserkastanien, Riedgras waren voll ihrer schäumenden Milch. In Fässern und Plastiksäcken für Superphosphat-Dünger brachte Wadja den leicht gesalzenen Fettfisch nach Wolgograd, Tambow und Mitschurinsk.
Wie ein vom Orkan der Umbruchszeiten gejagtes Sandkorn stellte er sich eines Tages mit einem Kumpel an die Landstraße, und sie stoppten den Sattelzug eines Exportunternehmens, der mit einer Ladung von Chochloma-Souvenirs in den Iran unterwegs war.
In Derbent sprangen sie ab. Zuerst verlegten sie auf einem Friedhof »Bruchstein«: verkleideten die Einfriedungen reicher Grabmäler, die Friedhofsmauer, den Sockel der Friedhofswerkstatt, wo schwarzer Marmor geschnitten, geätzt und geschliffen wurde. Den Bruch holten sie vom Meer, wo eine uralte Mauer ins Wasser führte. Bis zur Hüfte oder Brust in der Brandung, trugen sie diese ab. Der Seegang, mächtig und zärtlich, warf sie immer wieder um, während sie die im Wasser leichten Steine hinaustrugen; erst kurz vor dem Ufer nahmen sie sie hoch und klammerten sich daran fest, wenn die Wellen aufprallten, in denen der Kies zischte, pochte und klapperte.
Danach nahm der Friedhofsdirektor sie mit auf seine Datscha in die Berge – zu Sauermilch und hoher, eisiger Morgendämmerung, zu blauen Stoffbahnen aus Schnee, zu unersättlichem Atem: Sie umzäunten die Schafweide mit Pflöcken, schütteten den Kellerboden mit Estrich aus, gruben einen zweiten Keller mit einem unterirdischen Gang zur Hinterseite des Gemüsegartens. Am Ende der Arbeitssaison – sie wollten sich schon nach Hause aufmachen – setzte man sie eines Nachts auf Esel, stellte ihnen für zwei Tage Arbeit einen Batzen Geld in Aussicht und brachte sie weg.
Und zwar tief in die Berge. Sie kamen erst am Nachmittag des übernächsten Tages an und hatten vom Höhenunterschied verlegte Ohren. So landeten sie in der Sklaverei, in einem gottverlassenen Aul.
Sie schliefen in der Scheune bei den Ziegen. Tagsüber bauten sie das Haus um, es war groß, plump, hatte fast keine Fenster. Sie setzten Anbauten dran, deckten das Dach ab, zogen den Dachfirst höher, legten Dachziegel, errichteten einen Bogengang ums Haus und bauten darauf eine überdachte Galerie …
Bei Sonnenuntergang, wenn ein Stück die Straße hinunter der Ruf des Muezzins verklang, legten sie die Arbeit nieder, setzten sich und warteten, dass man ihnen das Essen brachte. Ihr neuer Chef – ein unrasierter, einäugiger Alter in Pelzmütze und Jackett, an dem drei Ordensbänder hingen – sprach nie mit ihnen, er brachte nur die Baupläne: säuberlich gezeichnet, auf Millimeterpapier, mit grüner Mine.
Manchmal, wenn der Alte mit strengem Blick die aufgefächerten Baupläne durchsah, verglich er sie verstohlen mit einem Kinderbuch, in dem Wadja einmal einen Blick auf ein blaues Schloss erhaschte. Auf einer ganzen Doppelseite war dort in allen Einzelheiten ein riesiges Märchenschloss gemalt, ein wildes Durcheinander aus kleinen Hängebrücken, Türmchen, Mansarden, Mezzaninen, Flügeln und Plätzen, auf denen kristallene Orangerien standen, sich Beete blähten und geschnitzte Taubenschläge weiß leuchteten … Winzige Menschlein mit spitzen Mützchen schlenderten auf den kleinen Brücken auf und ab, jäteten Unkraut in Gemüsebeeten, hüteten kugelrunde Schafe mit sechs Beinen, fischten, hackten Feldraine, flochten Zäune …
Wadja verstand nichts von technischen Zeichnungen und verließ sich auf seinen Kumpel. Serjoga war auf der Baufachschule gewesen, hatte sogar Prüfungen gemacht. Aber auch er verstand nicht viel von Plänen, und so kam es, dass sie einfach ihrer Fantasie freien Lauf ließen und so bauten, wie es sich ergab.
Der Alte hasste sie, behandelte sie aber leidlich. Fast ein Gnom, dürr, mit Hakennase und rotem, sehnigen Hals; die Mundwinkel zog er bösartig bis zu den Ohren, wobei zwei Reihen Goldzähne zum Vorschein kamen. Die Tage verbrachte er bei seinen Bienenstöcken. Abends, auf dem Rückweg, mit einer Schüssel voll Wabenhonig, in eine Wespenwolke gehüllt, lief er an der Baustelle vorbei und krächzte beim Anblick seiner Arbeiter fürchterlich, plärrte etwas und spuckte aus. Nachsichtig war er zu ihnen vor allem aus Vernunftgründen: damit sie sich nicht zu Tode schufteten, damit Wadjas Eiterblase am Finger schneller heilte …
Einmal kam die Nachbarin zu ihnen, eine Frau mit unglaublich vielen Kindern. Sie war zu Tode erschöpft und sammelte in einem fort ihre Bengel von der Straße auf. Es hatte immer so ausgesehen, als würde sie die Russen nicht bemerken. Doch einmal kam sie mit einem Backblech voller Maisgrütze in den Hof. Sie stellte es vor sie hin, richtete sich auf und sagte: »Gestern war ich in der Stadt, und da hatte ich den ganzen Tag solche Sehnsucht nach meinen Kindern, hab immer gedacht, wie es ihnen ohne mich wohl geht, was sie wohl essen. Und da habe ich beschlossen, euch das hier zu bringen. Ihr seid doch hier auch mutterlose Kinder.«
Der Alte sah es und sagte nichts.