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ERFINDE DICH NEU

Verändere deine Verhaltensmuster
und werde glücklicher, produktiver
und besser als je zuvor

GRETCHEN RUBIN

ERFINDE DICH NEU


Verändere deine Verhaltensmuster
und werde glücklicher, produktiver
und besser als je zuvor


GRETCHEN RUBIN

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Originalausgabe

1. Auflage 2015

© 2015 CBX Verlag, ein Imprint der Singer GmbH

Frankfurter Ring 150

80807 München

info@cbx-verlag. de

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf in keinerlei Form – auch nicht auszugsweise – ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Übersetzt von Regina Laska und Martin Laska

Lektorat: Ulla Bucarey

Umschlaggestaltung: nach einer Vorlage von Christopher Brand /

Ben Wiseman

Layoutgestaltung: nach einer Vorlage von Lauren Dong

Satz: Julia Swiersy

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN: 978-3-945794-45-6

 

Erneut meiner Familie gewidmet

Die größte Herrschaft ist die Selbstbeherrschung

– PUBLILIUS SYRUS


Inhalt

Ein Wort an den Leser

 

Endlich Schluss mit den Entschlüssen: Einführung

SELBSTERKENNTNIS

Folgenschwere Anlagen, die wir in die Welt mitbringen: Die vier Grundverhaltensmuster

Unterschiedliche Lösungen für unterschiedliche Menschen: Unterscheidungsmerkmale

DAS FUNDAMENT DER GEWOHNHEITEN

Was wir kontrollieren können wir steuern: Kontrolle

Das Wichtigste zuerst: Grundlagen

Was im Kalender steht findet auch statt: Zeitplanung

Du wirst beobachtet: Verantwortlichkeit

DIE BESTE ZEIT ZU BEGINNEN

Genug für den Anfang: Erste Schritte

Vorläufiges wird dauerhaft: Neuanfang

Ein einzelner Punkt in der Datenmenge: Blitzeinschlag

VERLANGEN, BEQUEMLICHKEIT UND AUSREDEN

Befreit von Pommes frites: Verzichten

Es ist schwer, Dinge leichter zu machen: Bequemlichkeit

Verändere deine Umgebung, nicht dich selbst: Unbequemlichkeit

Stolpern kann den Fall verhindern: Schutzmaßnahmen

Nichts bleibt unter dem Teppich: Schlupflöcher aufspüren

Warte 15 Minuten: Ablenkung

Keine Ziellinie: Belohnung

Einfach nur so: Kleine Vergnügungen

Sitzen ist das neue Rauchen: Koppelungen

UNVERWECHSELBAR, WIE JEDER ANDERE

Entscheide dich für einen Heuballen: Klarheit

Ich bin die Wählerische: Identität

Nicht jeder ist wie ich: Andere Menschen

 

Alltag im Lande Utopia: Schlussbetrachtung

 

Danksagung

Test: Die vier Grundverhaltensmuster

Materialien für Sie

Gründen Sie eine Erfinde-Dich-Neu-Gruppe

Weiterführende Literatur

Anmerkungen

 


EIN WORT AN DEN LESER

 

Erfinde Dich Neu konzentriert sich auf die Frage: Wie verändern wir Menschen uns? Die simple Antwort: mit Hilfe von Gewohnheiten.

Gewohnheiten sind wie unsichtbare Gerüste unseres Alltags. Immerhin besteht nahezu 45 % unseres tagtäglichen Verhaltens aus Wiederholungen. Das bedeutet: Unsere Verhaltensmuster formen tatsächlich unser Dasein – und unsere Zukunft. Wenn wir unsere Verhaltensmuster ändern, dann ändern wir gleichzeitig unser Leben.

Diese Feststellung wirft sofort die nächste Frage auf: Schön und gut, aber wie genau können wir unsere Gewohnheiten ändern? Genau das will dieses Buch beantworten.

Erfinde Dich Neu konzentriert sich zwar auf die Frage, wie wir eine Änderung unserer Gewohnheiten hinbekommen, nicht aber, welche speziellen Verhaltensmuster wir annehmen sollten. Sie werden hier nicht lesen, dass Sie am besten gleich morgens trainieren sollten, dass Sie zweimal pro Woche Nachtisch essen dürfen oder dass Sie endlich Ihr Büro aufräumen sollten. (Obwohl es einen Abschnitt gibt, in dem ich darüber spreche, welche Art von Gewohnheit meines Erachtens am besten wäre. Aber es bleibt bei dieser einen Stelle.)

Tatsache ist: Patentlösungen, die für alle gelten, gibt es nun einmal nicht. Es wäre zwar ein schöner Traum, aber leider können wir nicht einfach die Gewohnheiten produktiver und kreativer Menschen übernehmen – und schwupps sind wir so erfolgreich wie sie. Allerdings kann jeder einzelne von uns an den Gewohnheiten feilen, die für uns funktionieren. Für manche Menschen ist es besser, wenn sie erst einmal klein anfangen, andere brauchen von Anfang an ganz große Schritte. Manche von uns müssen an ihre Verantwortung erinnert werden, andere wiederum wehren sich dagegen. Die einen blühen förmlich auf, wenn sie sich gelegentlich eine Pause von ihren positiven Gewohnheiten gönnen, die anderen sind glücklicher, wenn sie diszipliniert an ihnen festhalten. Kein Wunder, dass es so schwer ist, neue Verhaltensmuster zu entwickeln.

Das Wichtigste aber ist: Wir müssen uns selbst kennen und die Strategien wählen, die bei uns selbst funktionieren.

Bevor Sie jetzt loslegen: Überlegen Sie sich bitte ein paar Verhaltensweisen, die Sie gerne annehmen, oder Veränderungen, die Sie gerne angehen würden. Während Sie das Buch lesen, können Sie dann darüber nachdenken, welche Schritte Sie ausprobieren möchten. Vielleicht notieren Sie sich einfach das heutige Datum vorne in Ihrem Buch. Dann wissen Sie immer, wann Sie mit dem Veränderungsprozess begonnen haben.

Als Unterstützung veröffentliche ich in meinem Blog regelmäßig Tipps und Tricks, wie Sie an Ihren Verhaltensmustern feilen können. Außerdem habe ich Hilfreiches für Sie zusammengetragen, womit Sie Ihr Leben neu erfinden können. Ich hoffe aber, dass das Buch, das Sie gerade in den Händen halten, Ihre hauptsächliche Inspirationsquelle zu diesem Thema sein wird.

Natürlich sehe ich Gewohnheiten und Verhaltensweisen durch meine ganz persönliche Brille. Daher ist alles, was ich Ihnen erkläre, durch meine ganz persönliche Sicht der Dinge und meine Interessen geprägt. Natürlich könnten Sie jetzt denken: „Wenn ohnehin jeder seine Verhaltensmuster auf ganz individuelle Weise ausbildet, wozu sollte ich dann ein Buch lesen, in dem steht, wie jemand anderes damit umgegangen ist?“

Als ich mich mit der Thematik der Gewohnheiten und des Glücks intensiver beschäftigt habe, fiel mir etwas sehr Überraschendes auf: Die ganz eigenen Erfahrungen eines Menschen sagen mir oft mehr als jede wissenschaftliche Studie oder philosophische Abhandlung. Aus genau diesem Grund enthält Erfinde Dich Neu jede Menge Beispiele, wie Menschen ihre Verhaltensmuster geändert haben. Womöglich bringt Nutella Sie persönlich überhaupt nicht in Verführung, sind Sie zu oft auf Geschäftsreise, oder es fällt Ihnen schwer, ein Tagebuch der Dinge, für die Sie dankbar sind zu führen. Egal, worum es sich im Einzelnen handelt, unterm Strich können wir alle voneinander lernen.

Gewohnheiten ändern ist leicht, aber leicht fällt es nicht.

Hoffentlich kann Erfinde Dich Neu Sie aufrütteln. Denn wenn Sie die Power nutzen, die in Ihren Gewohnheiten steckt, verändern Sie Ihr ganzes Leben. Legen Sie einfach los, egal wann und wo Sie gerade dieses Buch lesen: Genau jetzt ist der ideale Augenblick für einen Neuanfang.

 

Gretchen Rubin

ENDLICH SCHLUSS
MIT DEN ENTSCHLÜSSEN


Einführung

Die Binsenweisheit, man solle mit den Gedanken stets bei dem sein, was man gerade tut, ist ein grundlegender Irrtum. Das genaue Gegenteil trifft zu. Die Zivilisation schreitet voran, indem sie die Anzahl wichtiger Handlungen, die wir ohne Nachdenken ausführen können, erweitert.

 

–ALFRED NORTH WHITEHEAD, Einführung in die Mathematik

 

Solange ich denken kann, fasziniert mich alles, was mit einem „Vorher-Nachher“-Effekt zu tun hat, ob in Büchern, Zeitschriften, Theaterstücken oder im Fernsehen. Nach diesen beiden kleinen Wörtern bin ich geradezu süchtig. Der Gedanke an Verwandlungen jeder Art begeistert mich. Dabei ist es völlig egal, ob es um etwas Bedeutendes wie das Rauchen aufgeben geht oder etwas Triviales wie den Schreibtisch aufräumen. Ich liebe es zu erfahren, wie und warum jemand diese Veränderung geschafft hat.

Dieses „Vorher-Nachher“ spornte meine Phantasie an und machte mich extrem neugierig. Warum können sich Menschen manchmal auf fulminante Weise verändern, aber warum klappt es meistens nicht?

Als Autorin gilt meine größte Leidenschaft der menschlichen Natur. Genauer gesagt: dem menschlichen Glück. Vor einigen Jahren fiel mir ein Muster auf: Immer wenn mir Menschen von ihrer beglückenden „Vorher-Nachher“ -Veränderung erzählten, ging es in der Regel um die Entwicklung eines entscheidenden Verhaltensmusters. Waren sie unglücklich, weil sie eine Veränderung nicht hinbekamen, lag dies meist auch an einem ihrer Verhaltensmuster.

Als ich eines Tages mit einer langjährigen Freundin beim Mittagessen zusammen saß, sagte sie etwas, das mein bis dahin eher beiläufiges Interesse an menschlichen Gewohnheiten und Verhaltensmustern schlagartig in eine Vollzeitbeschäftigung verwandeln sollte.

Wir hatten gerade die Speisekarte durch, als meine Freundin meinte: „Ich würde so gerne wieder regelmäßig Sport treiben, aber irgendwie kriege ich das nicht hin. Das ärgert mich so.“ Dann folgte eine Bemerkung, die mich aufhorchen ließ und die mich noch lange beschäftigen sollte: „Das Merkwürdige ist ja: In der Schule gehörte ich sogar zum Leichtathletik-Team und habe nicht ein einziges Training verpasst. Und heute schaffe ich es einfach nicht, mich zum Joggen aufzuraffen. Warum ist das bloß so?“

„Warum?“ wiederholte ich und ging im Geiste alle Karteikarten meiner Untersuchungen zum menschlichen Glück durch, um auf relevante Einsichten oder hilfreiche Erklärungen zu kommen. Aber da war nichts.

Unser Gespräch verlagerte sich auf andere Dinge, aber dieser kurze Dialog ging mir auch nach Tagen nicht mehr aus dem Kopf. Derselbe Mensch, dieselbe Aktivität, völlig unterschiedliches Verhalten. Warum? Warum konnte meine Freundin früher gewissenhaft trainieren und jetzt nicht mehr? Wie könnte sie das wieder ändern? Ihre Frage zermarterte mir das Hirn. Irgendwann beschlich mich das Gefühl: Hier bist du auf etwas sehr Wichtiges gestoßen!

Als ich schließlich unser Gespräch mit dem, was mir bei anderen Menschen bezüglich ihrer „Vorher-Nachher“-Berichte aufgefallen war verknüpfte, kam mir schlagartig die Erkenntnis: Wenn ich wirklich verstehen will, wie Menschen sich ändern können, muss ich Verhaltensmuster genauestens unter die Lupe nehmen. Ich empfand dieselbe Vorfreude und Erleichterung wie jedes Mal, wenn ich eine Idee für mein nächstes Buch gefunden habe. Die Sache war glasklar! Verhaltensmuster.

Immer wenn mich ein Thema packt, lese ich so ziemlich alles, was damit zu tun hat. Auch diesmal wühlte ich mich durch die Bücherregale und stolperte über Kognitionswissenschaften, Verhaltensökonomie, Klosterstrukturen, Philosophie, Psychologie, Produktdesign, Suchtforschung, Konsumforschung, Produktivität, Tierdressur, Entscheidungstheorien, Gesellschaftspolitik, und die Gestaltung von Räumen und Alltagsroutine in Kindergärten. Eine unglaubliche Menge an Informationen zum Thema Verhaltensmuster schwirrte mir durch den Kopf, ich musste aber irgendwie die Spreu vom Weizen trennen.

Daher verbrachte ich eine halbe Ewigkeit mit der Lektüre von Abhandlungen, Geschichten, Biografien und insbesondere mit dem neuesten Stand der Forschung. Gleichzeitig legte ich großen Wert auf meine Beobachtungen des ganz alltäglichen Lebens. Zwar sind Laborversuche ein Weg zur Erforschung der menschlichen Natur, aber nicht der einzige. Ich bin eine Art Forscherin der Straße. Ich verbringe die meiste Zeit damit, das Offensichtliche zu erfassen – nicht das, was keiner bislang gesehen hat, sondern das, was direkt sichtbar vor mir liegt. Irgendein Satz springt mich förmlich an, oder eine ganz beiläufige Bemerkung wie die meiner Freundin über ihr Leichtathletik-Training erscheint mir aus unerfindlichen Gründen plötzlich außerordentlich bedeutungsvoll. Je mehr ich dann dazulerne, desto einfacher fügten sich diese einzelnen Puzzleteile zusammen, bis sie schließlich ein klares Bild ergeben.

Je mehr ich über Verhaltensmuster erfuhr, desto mehr interessierte ich mich dafür –, aber ich wurde auch immer frustrierter. Überraschenderweise sagten die Quellen, die ich zu Rate zog, nur wenig zu dem, was mir am wichtigsten erschien:

Ich war entschlossen, auf all diese Fragen Antworten zu finden und jeden Aspekt zu beleuchten, wie Verhaltensmuster geschaffen und gebrochen werden.

Gewohnheiten waren der Schlüssel zum Verständnis dafür, wie Menschen in der Lage waren sich zu ändern. Aber warum machten Verhaltensmuster es Menschen möglich, sich zu ändern? Einen Teil der Antwort darauf entdeckte ich in einigen wenigen Sätzen, in deren trockener Gelassenheit sich eine Erkenntnis verbarg, die für mich von höchster Brisanz war. „Forscher fanden zu ihrer Überraschung heraus,“ so schreiben Roy Baumeister und John Tierney in ihrem faszinierenden Buch Willpower, „dass Menschen mit einer starken Selbstkontrolle weniger Zeit damit verbringen, Gelüsten zu widerstehen als andere Menschen es tun … Menschen mit funktionierender Selbstkontrolle benutzen diese nicht hauptsächlich zur Rettung aus ausweglosen Situationen, sondern um effiziente Verhaltensmuster und Arbeitsabläufe in der Schule und in der Arbeit zu entwickeln.“ Oder anders formuliert: Gewohnheiten können die Selbstkontrolle sogar ganz überflüssig machen.

Selbstkontrolle ist jedoch ein entscheidender Bestandteil unseres Lebens. Menschen mit besserer Selbstkontrolle (oder auch Selbstregulierung, Selbstdisziplin oder Willenskraft), sind glücklicher und gesünder. Sie sind altruistischer, ihre Beziehungen sind intensiver, sie haben mehr Erfolg im Beruf, sie können besser mit Stress und Konflikten umgehen, sie leben länger, und sie halten sich von schlechten Angewohnheiten fern. Durch Selbstkontrolle können wir unsere Verpflichtungen uns selbst gegenüber besser einhalten. Dennoch weist eine Studie darauf hin: Wollen wir mit Hilfe unserer Selbstkontrolle bestimmten Verlockungen widerstehen, scheitern wir oft auf halbem Wege. Bei einer groß angelegten internationalen Studie, bei der Menschen nach den Ursachen ihrer Fehlschläge befragt wurden, wurde sogar am häufigsten fehlende Selbstkontrolle genannt.

Über die Natur der Selbstkontrolle wird oft diskutiert. Manche nehmen an, wir verfügen nur über ein begrenztes Maß an Selbstkontrolle. Je öfter wir davon Gebrauch machen, desto schneller erschöpft sie sich. Andere wiederum entgegnen, unsere Willenskraft ist nicht in dieser Weise begrenzt, wir können sie erneuern, indem wir unsere Handlungen neu strukturieren. Bei mir ist es beispielsweise so: Morgens wache ich mit einem passablen Maß an Selbstkontrolle auf. Je mehr ich aber davon zehre, desto schwächer wird sie. Ich erinnere mich an ein Meeting, in dem ich mehr als eine Stunde dem Teller mit Keksen widerstand – beim Hinausgehen griff ich mir dann aber gleich zwei davon.

Und genau deshalb sind Verhaltensmuster so wichtig. Denn durch Verhaltensmuster bewahren wir unsere Selbstkontrolle. Räumen wir zum Beispiel eine schmutzige Kaffeetasse aus Gewohnheit sofort in die Spülmaschine, benötigen wir für diese Handlung keine Selbstkontrolle. Wir machen das einfach aus Gewohnheit und denken nicht darüber nach. Natürlich benötigen wir Selbstkontrolle, wenn wir positive Gewohnheiten aufbauen wollen. Wenn dieses Verhaltensmuster aber erst einmal etabliert ist, dann können wir ohne jede Anstrengung die Dinge erledigen, die wir erledigen wollen.

Und es gibt einen ganz speziellen Grund, warum Verhaltensmuster uns unsere Selbstkontrolle bewahren lassen.

Im Allgemeinen können wir eine „Gewohnheit“ als ein Verhalten definieren, das wiederholt auftritt, durch bestimmte Umstände hervorgerufen wird, häufig kaum wahrgenommen wird oder bewusst mit Absicht passiert, und man gewöhnt es sich durch häufige Wiederholung an.

Ich kam jedoch allmählich zur Überzeugung, dass der entscheidende Aspekt bei Gewohnheiten nicht die Häufigkeit oder die Wiederholung, oder die Vertrautheit mit den Auslösern eines bestimmten Verhaltens ist. Diese Faktoren spielen eine gewisse Rolle. Dennoch gelangte ich zu der Erkenntnis: Der wahre Schlüssel zu Gewohnheiten ist Entscheidungsfähigkeit – oder, genauer gesagt, mangelnde Entscheidungsfähigkeit. Eine Gewohnheit erfordert von mir keine Entscheidung, ich habe mich nämlich längst entschieden. Putze ich mir nach dem Aufstehen die Zähne? Nehme ich jetzt diese Tablette? Einmal entscheide ich, ein anderes Mal nicht. Einmal bewusst, ein anderes Mal unbewusst. Ich sollte mir keine Gedanken machen über gesunde Entscheidungen. Ich sollte einmal eine gesunde Entscheidung treffen, und dann nicht mehr darüber entscheiden müssen. Die Befreiung von Entscheidungen ist etwas ganz Entscheidendes. Denn wenn ich mich entscheiden muss – wobei es häufig darum geht, Verlockungen zu widerstehen oder Belohnungen aufzuschieben – strapaziere ich den Grad meiner Selbstkontrolle.

War meine Frage „Warum können Gewohnheiten bei Menschen Veränderungen bewirken?“, so kannte ich jetzt die Antwort: Gewohnheiten machen Veränderungen möglich, weil sie uns sowohl Entscheidungen als auch den Einsatz von Selbstkontrolle ersparen.

Eines Tages, nachdem ich sichergestellt hatte, dass es für einen Anruf nach Los Angeles nicht noch zu früh am Morgen war, rief ich meine Schwester Elizabeth an. Ich wollte mit ihr über meine Forschungen sprechen. Sie ist zwar fünf Jahre jünger als ich, aber ich nenne sie trotzdem „meine weise Schwester“, weil sie immer einen unglaublichen Sinn für die Dinge hat, über die ich gerade nachgrüble.

Nachdem wir die jüngsten Eskapaden meines Neffen Jack abgehakt hatten und Elizabeth mir das Neueste über die Fernsehsendung, für die sie schreibt, erzählt hatte, schilderte ich ihr, wie sehr mich das Thema Verhaltensmuster in Beschlag genommen hatte.

„Ich glaube, ich habe herausgefunden, warum Gewohnheiten so wichtig sind“, sagte ich. Während ich ihr meine Erkenntnisse erklärte, konnte ich mir meine Schwester genau vorstellen, wie sie an ihrem überquellenden Schreibtisch in den ewig gleichen Klamotten saß: Turnschuhe, Jeans, Kapuzenpulli. „Durch die Verwendung von Gewohnheiten brauchen wir keine Entscheidungen und auch keine Selbstkontrolle mehr, wir erledigen einfach die Dinge, die wir tun wollen — oder eben auch nicht tun wollen. Findest du das einleuchtend?“

„Klingt ziemlich einleuchtend“, stimmte Elizabeth mir zu. Sie kennt das schon, wenn ich mich in ein Thema verbeiße.

„Aber da stellt sich noch eine ganz andere Frage. Wie lassen sich Menschen miteinander vergleichen? Manche lieben Gewohnheiten und manche hassen sie. Manche Leute nehmen Gewohnheiten ganz leicht an, andere müssen hart dafür kämpfen. Warum?“

„Du solltest damit anfangen, das an dir selbst herauszufinden — immerhin bist du das größte Gewohnheitstier das ich kenne.“

Als ich aufgelegt hatte, wurde mir klar: Wie immer hatte mir Elizabeth eine entscheidende Erkenntnis mit auf den Weg gegeben. Tatsächlich hatte ich diese Seite meines Ichs noch gar nicht richtig gesehen, bis sie mich darauf aufmerksam gemacht hatte: Ich liebe Gewohnheiten – und das aus tiefstem Herzen. Ich liebe die Entwicklung von Gewohnheiten, und je mehr ich über sie herausbekomme, desto klarer sehe ich die zahlreichen Vorteile davon.

Unser Gehirn nutzt jede Möglichkeit, damit wir ein Verhalten in eine Gewohnheit verwandeln. Das spart uns Kraft und verleiht uns mehr Leistungsfähigkeit für komplizierte, neue oder auch dringende Angelegenheiten. Gewohnheiten bedeuten: Wir plagen uns nicht mehr mit Entscheidungen herum, dem Abwägen von Alternativen oder dem Einteilen von Belohnungen. Wir müssen uns auch nicht mehr dazu zwingen, mit etwas überhaupt anzufangen. Das Leben wird einfacher, und eine ganze Menge Alltagsärger verschwindet ganz einfach. Statt über die vielen kleinen Schritte beim Einsetzen meiner Kontaktlinsen nachzudenken kann ich mich beispielsweise voll und ganz dem Leck in meiner Heizung widmen und wie ich sie wieder zum Laufen kriege.

Gewohnheiten tun uns auch dann gut, wenn wir Sorgen haben oder überfordert sind. Forschungen ergaben, dass Menschen, deren Verhalten von Gewohnheiten bestimmt ist, sich besser im Griff haben und weniger ängstlich sind. Meine blaue Jacke ist so ein Hilfsmittel: Seit zwei Jahren trage ich sie bei jedem Vortrag. Sie sieht inzwischen etwas ramponiert aus – doch wenn ich wegen einer bevorstehenden Präsentation irgendwie verunsichert bin, greife ich auf genau diese alte Jacke zurück. Überraschenderweise lässt uns Stress nicht zwangsläufig in schlechte Angewohnheiten verfallen. Wenn wir verängstigt oder erschöpft sind, fallen wir in alte Verhaltensmuster zurück, ob sie nun gut oder schlecht sind. Eine Studie mit Studenten im Examen ergab: Hatten Sie aus Gewohnheit bisher gesund gefrühstückt, aßen sie auch während der Prüfungszeit gesund. Diejenigen, die normalerweise eher ungesund frühstückten, griffen auch im Examen zu Ungesundem. Schon allein aus diesem Grund sollten wir unsere Gewohnheiten mit Bedacht entwickeln, denn wenn wir in Stresszeiten in alte Gewohnheiten zurückfallen, sollten sie unsere Situation erleichtern und nicht noch verschlimmern.

Doch selbst positive Verhaltensmuster haben nicht nur Vorteile, sondern auch Nachteile. Gewohnheiten lassen die Zeit schneller vergehen. Ist nämlich ein Tag wie der andere, komprimieren wir unsere Erlebnisse und lassen sie ineinander verschwimmen. Wenn Gewohnheiten jedoch unterbrochen werden, scheint die Zeit langsamer zu vergehen, denn das Gehirn muss neue Informationen erst nach und nach verarbeiten. Aus diesem Grund kommt uns der erste Monat in einem neuen Job wesentlich länger vor im Vergleich zum fünften Jahr, das wir im gleichen Job verbringen. Gewohnheiten beschleunigen aber nicht nur die Zeit, sie können auch abstumpfen: Eine Tasse Kaffee am frühen Morgen war die ersten Male für mich ein großer Genuss. Als dieses Ritual allmählich Teil meines normalen Alltags wurde, geriet es langsam in den Hintergrund. Wenn ich morgens allerdings keinen Kaffee bekomme, könnte ich durchdrehen. Gewohnheiten führen also ganz leicht dazu, dass wir unserem eigenen Dasein gegenüber abstumpfen.

So sind Gewohnheiten – im guten wie im schlechten Sinne – die unsichtbaren Gerüste unseres Alltags. Studien haben ergeben: Ungefähr 45 % unseres Verhaltens wiederholen wir Tag für Tag, häufig im gleichen Kontext. Ich könnte wetten, dass mein ganz persönlicher Prozentsatz sogar höher liegt: Ich wache täglich zur gleichen Zeit auf; ich gebe meinem Mann Jamie immer zur gleichen Zeit einen Guten-Morgen-Kuss; ich trage ewig die gleichen Klamotten: Turnschuhe, Yoga-Hose, weißes T-Shirt; ich arbeite jeden Tag an den gleichen Orten mit meinem Laptop; ich laufe immer die gleichen Strecken in meiner New Yorker Nachbarschaft ab; ich bearbeite meine Emails immer zur gleichen Zeit und meine Töchter, die 13jährige Eliza und die 7jährige Eleanor, erleben jeden Abend das gleiche Zubettgeh-Ritual. Wenn ich mich frage: „Warum ist mein Leben so, wie es heute ist?“, dann erkenne ich, dass es in hohem Maße von meinen Gewohnheiten geprägt ist. So beschrieb das auch der Architekt Christopher Alexander:

„Wenn ich mein Leben ehrlich betrachte, dann sehe ich, dass es geprägt ist von bestimmten, nicht sehr zahlreichen sich wiederholenden Ereignissen.

Schlafen, duschen, Frühstück in der Küche, am Schreibtisch sitzen, Spaziergänge im Garten, Kochen und gemeinsames Mittagessen mit meinen Freunden im Büro, ab und zu ins Kino, mit meiner Familie ins Restaurant, ein Drink bei Freunden, zurück auf die Autobahn, wieder ab ins Bett. Und es gibt noch ein paar mehr davon.

Es gibt im Leben eines jeden Menschen überraschend wenige solcher Ereignismuster, vielleicht nicht mehr als ein Dutzend. Betrachten Sie einmal Ihr eigenes Leben, Sie werden das Gleiche feststellen. Auf den ersten Blick ist es ein ziemlicher Schock zu erkennen, wie wenige Arten von Ereignissen es eigentlich sind.

Nicht, dass ich mehr davon bräuchte. Doch wenn ich sehe, wie verschwinden gering deren Anzahl tatsächlich ist, dann schwant mir allmählich, welch enormen Einfluss diese wenigen sich wiederholenden Ereignisse auf mein Leben und meine Daseinsmöglichkeiten haben. Wenn mir diese wenigen Muster gut tun, dann kann ich prima damit leben. Wenn sie mir schaden, wird mir das sicher nicht gelingen.“

Unreflektiertes Handeln kann allein schon auf unsere Gesundheit tiefgreifende Auswirkungen haben. Ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Rauchen und Alkohol sind die Hauptverursacher von Krankheiten und Todesfällen in den USA. Dabei liegt die Entscheidung für oder gegen diese Angewohnheiten ganz allein bei uns. Unsere Gewohnheiten bestimmen auf vielfältige Weise unser Schicksal.

Wir müssten nur unsere Gewohnheiten ändern, schon würde unser Schicksal anders verlaufen. Ganz allgemein fiel mir auf: Das, was wir ändern möchten, fällt in der Regel unter die „7 Kernbereiche“. Meist möchten Menschen – ich übrigens auch – insbesondere die Gewohnheiten ausbauen, die ihnen bei Folgendem helfen:

 

1. Gesünder essen und trinken (Zucker weglassen, mehr Gemüse essen, weniger Alkohol trinken)

2. Regelmäßig Sport treiben

3. Geld sparen, es mit Bedacht ausgeben und auf kluge Weise verdienen (regelmäßig sparen, Schulden abzahlen, hin und wieder für eine gute Sache spenden, das Budget einhalten)

4. Ausruhen, entspannen, genießen (kein Fernsehen im Schlafzimmer, Handy ausschalten, Zeit in der Natur verbringen, Stille erleben, ausreichend schlafen, weniger Zeit im Auto verbringen)

5. Mehr zu Ende bringen, nichts mehr auf die lange Bank schieben (Musikinstrument üben, durcharbeiten ohne Unterbrechungen, Fremdsprache lernen, einen Blog betreiben)

6. Dinge vereinfachen, klären, säubern und organisieren (das Bett machen, Unterlagen regelmäßig abheften, Schlüssel immer am gleichen Platz ablegen, Müll recyceln)

7. Beziehungen vertiefen und pflegen – mit anderen Menschen, mit Gott, mit der Welt (Freunde anrufen, ehrenamtlich arbeiten, mehr Sex, mehr Zeit mit der Familie, Gottesdienst besuchen)

Ein und dasselbe Verhaltensmuster kann verschiedene Bedürfnisse befriedigen. Der Morgenspaziergang im Park könnte eine Art Sport sein (Nr. 2), eine Möglichkeit auszuruhen und zu genießen (Nr. 4), oder, in Begleitung eines Freundes, der Pflege und Vertiefung einer Beziehung dienen (Nr. 7). Jeder Mensch schätzt andere Verhaltensweisen. Für die einen entsteht erst durch penible Ordnung Raum für Kreativität, die anderen fühlen sich eher durch kreatives Chaos inspiriert.

Die „7 Kernbereiche“ spiegeln auch wieder, dass wir uns häufig gleichzeitig erschöpft und aufgedreht fühlen. Wir fühlen uns eigentlich ausgelaugt, gleichzeitig aber aufgeputscht durch Adrenalin, Koffein und Zucker. Wir haben das Gefühl, total beschäftigt zu sein, gleichzeitig spüren wir, dass wir nicht genug Zeit für Dinge aufbringen, die wirklich wichtig sind. Wenn ich mal wieder zu spät ins Bett bin, lag das nicht etwa an lieben Freunden, mit denen ich die Nacht durchgeplaudert hatte. Von wegen! Ich schaute mir um Mitternacht eine Folge von The Office an, die ich schon in- und auswendig kannte. Oder ich übertrug nicht etwa meine Arbeitsnotizen ins Reine oder las einen Roman, sondern scrollte völlig gedankenverloren immer wieder durch die „Personen, die Sie vielleicht kennen“-Rubrik auf LinkedIn.

Langsam, je weiter ich mit meinen Studien kam, wurden meine Erkenntnisse über Verhaltensmuster immer stimmiger. Ich kam zu dem Schluss: Gewohnheiten machen Veränderungen möglich, indem sie uns Entscheidungen und den Einsatz von Selbstkontrolle ersparen. Das führte mich zur nächsten Schlüsselfrage: Wenn Gewohnheiten uns die Möglichkeit zur Veränderung geben, wie genau bilden wir unsere Gewohnheiten eigentlich aus? Diese umfangreiche Frage wurde mein Hauptthema.

Dafür musste ich zuerst einige grundlegenden Definitionen und Fragen klären. Meine Studie sollte zunächst eine allgemeine Vorstellung des Begriffes „Gewohnheit“ erfassen, um herauszufinden, wie der Begriff im Alltag verwendet wird: „Ich gehe aus Gewohnheit ins Fitness-Studio“ oder „Ich will meine Essgewohnheiten ändern.“ Eine „Routine“ ist eine Reihe von Gewohnheiten. Ein „Ritual“ hingegen ist ein Verhaltensmuster, das eine übergeordnete Bedeutung beinhaltet. Es ging mir nicht um den Versuch der Bewältigung von Süchten, Zwangsverhalten, Krankheitsbildern oder nervösen Ticks. Ich wollte Gewohnheiten auch nicht neurobiologisch erklären (es interessierte mich auch nur am Rande, warum mein Hirn einen Luftsprung tut, sobald ich einen Zimt-Rosinen-Bagel erblicke). Während manche jetzt einwenden werden, wie wenig hilfreich die Einteilung von Gewohnheiten in „gut“ und „schlecht“ ist, entschied ich mich, den umgangssprachlichen Ausdruck „positive Gewohnheit“ für alle Gewohnheiten, die ich fördern möchte, zu verwenden. Der Ausdruck „schlechte Angewohnheit“ steht dagegen für all diejenigen, die ich gerne ausmerzen möchte.

Doch mein Hauptfokus sollte auf den Methoden beim Ändern von Verhaltensmustern liegen. Aus meinem riesengroßen Fundus an Notizen zum Thema Gewohnheiten — bestehend aus den Details meiner Forschungsergebnisse, Situationen, die ich erlebt und aus Ratschlägen, die ich in der Literatur gefunden hatte — wollte ich die verschiedenen „Strategien“ herausarbeiten, mit deren Hilfe wir eine Verhaltensweise grundlegend ändern können. Seltsamerweise wird in den meisten Debatten über das Ändern von Verhaltensmustern nur eine einzige Vorgehensweise favorisiert, als könnte eine einzige Vorgehensweise für jeden funktionieren. Die harte Schule des Lebens lehrt aber, dass diese Annahme falsch ist. Wenn es denn nur so eine Universallösung gäbe! Mir war aber klar, dass unterschiedliche Menschen auch unterschiedliche Lösungen benötigen. Aus diesem Grund wollte ich alle möglichen Ansätze ermitteln.

Da Selbsterkenntnis für das erfolgreiche Annehmen von Gewohnheiten unverzichtbar ist, erkläre ich im ersten Abschnitt, „Selbsterkenntnis“, zwei Strategien, mit denen wir uns selbst besser verstehen lernen: „Die vier Grundverhaltensmuster“ und die „Unterscheidungsmerkmale“. Im darauffolgenden Abschnitt über „Das Fundament der Gewohnheiten“ untersuche ich die bekannten und entscheidenden Strategien: kontrollieren, Grundlagen schaffen, Zeitrahmen festlegen und Verantwortung übernehmen. Der Abschnitt „Die beste Zeit zu beginnen“ stellt insbesondere die Bedeutung des Zeitpunktes heraus, an dem der Beginn der Entwicklung eines neuen Verhaltensmusters stattfinden sollte. Dies wird erläutert anhand der Erste-Schritte-, Neuanfangs- und Blitz-Strategien. Danach folgt der Abschnitt „Wünsche, Bequemlichkeit und Ausreden“. Darin geht es um unsere Wünsche, wie wir sie mühelos umsetzen und dabei Freude empfinden können. Dies spielt eine Rolle, wenn wir Strategien nutzen, mit denen wir Dingen entsagen, und bei denen Bequemlichkeit, Unbequemlichkeit, Schutzmaßnahmen, das Aufspüren von Schlupflöchern, Ablenkung, Belohnung, kleine Vergnügungen und Koppelungen im Vordergrund stehen. (So viel vorab: Das Aufspüren von Schlupflöchern ist die wohl amüsanteste Strategie.) Der Abschnitt „Unverwechselbar, wie jeder andere“ geht auf Strategien ein, die aus einem ganz natürlichen Antrieb erwachsen: Wir wollen uns durch den Vergleich mit anderen Menschen verstehen und definieren. Hierfür nutzen wir Strategien, mit denen wir nach Klarheit und Identität suchen und mit deren Hilfe wir mit anderen Menschen umgehen.

Nachdem ich all diese Strategien entdeckt hatte, wollte ich natürlich mit ihnen experimentieren. Dieses doppelte Rätsel, wie wir uns selbst und gleichzeitig unsere Verhaltensmuster ändern können, beschäftigt schon seit Jahrhunderten Generationen von Menschen. Um Antworten darauf zu finden, musste ich mich selbst zum Versuchskaninchen machen. Nur wenn ich meine Theorien auf den Prüfstand stelle, kann ich herausfinden was wirklich funktioniert.

Als ich jedoch einem Freund von meiner Forschung über Verhaltensmuster erzählte und dass ich neue Verhaltensmuster ausprobieren wollte protestierte er: „Du solltest Gewohnheiten lieber bekämpfen, anstatt sie noch zu verstärken.“

„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen! Ich liebe meine Gewohnheiten“, sagte ich. „Keine Selbstüberwindung. Keine Quälerei. So simpel wie Zähneputzen.“

„Nicht für mich“, entgegnete mein Freund. „Durch Gewohnheiten fühle ich mich wie in einer Falle.“

Ich beharrte entschieden auf meinem Standpunkt, doch diese Unterhaltung gab mir einen wichtigen Hinweis: Eine Gewohnheit ist ein guter Diener, aber ein schlechter Herr. Natürlich wollte ich mit den Gewohnheiten all ihre Vorteile genießen. Was ich nicht wollte: Mich als Paragraphenreiter in den Netzen meiner selbst auferlegten Gesetze verfangen.

Bei der Arbeit an Verhaltensmustern sollte es mir natürlich nur um solche gehen, mit denen ich mich freier und stärker fühlen würde. Dabei sollte ich mir immer wieder die Frage stellen: „Mit welchem Ziel verfolgst du diese oder jene Gewohnheit überhaupt?“ Eine Sache war völlig klar: Meine Gewohnheiten mussten zu mir passen. Denn ein glückliches Leben kann ich schließlich nur auf Basis meiner eigenen Veranlagung aufbauen. Und wenn ich wirklich anderen Menschen beim Ausfeilen ihrer Gewohnheiten helfen wollte – und ich muss gestehen, diese Idee fand ich extrem spannend – dann mussten ihre Gewohnheiten auch zu ihnen passen.

Eines Abends, als wir gerade zu Bett gingen, erzählte ich Jamie von ein paar Highlights meines Verhaltensforscher-Tages. Da er einen ziemlich harten Arbeitstag hinter sich hatte, sah er mich nur müde und gedankenverloren an, lachte aber plötzlich laut los.

„Was?“ fragte ich.

„Okay. Als du deine Glücksbücher geschrieben hast, wolltest du die Frage beantworten: ‚Wie kann ich glücklicher werden?‘ Und dieses Buch über Gewohnheiten könnte man glatt … ‚Im Ernst, wie kann ich wirklich glücklicher werden?‘ nennen.“

„Stimmt!“ antwortete ich. Es war tatsächlich so. „Was meinst du, wie viele Menschen mir erzählen: ‚Ich weiß eigentlich genau, was mich glücklicher machen würde, aber ich bekomme das irgendwie nicht auf die Reihe.‘ Verhaltensmuster sind die Lösung.“

Wenn wir unsere Gewohnheiten ändern, ändern wir unser Leben. Wir können unsere Entscheidungsfähigkeit nutzen und uns die Gewohnheiten aussuchen, die wir annehmen möchten. Wir können unsere Willenskraft nutzen, damit wir eine Gewohnheit einüben, und dann — und jetzt kommt das Beste — können wir dem enormen Potenzial, das Gewohnheiten haben, einfach das Feld überlassen. Einfach mal die Hände vom Entscheidungs-Lenkrad nehmen, Füße weg vom Willenskraft-Gaspedal – und ganz gelassen dem Gewohnheiten-Tempomaten das Steuer überlassen.

Genau das ist es, was Verhaltensmuster uns versprechen.

Für ein glückliches Leben ist es wichtig, Wachstum zu kultivieren – Erlernen ganz neuer Dinge, das Gefühl stärker zu werden, neue Beziehungen zu schmieden, einfach alles besser als je zuvor zu machen und anderen Menschen zu helfen. Wenn wir an uns wachsen wollen, spielen Verhaltensmuster dabei eine enorm wichtige Rolle. Sie helfen uns auf dem Weg zu beständigen und zuverlässigen Fortschritten.

Natürlich, niemand ist perfekt – und das ist vielleicht auch ein unerreichbares Ziel. Aber mit Hilfe von Gewohnheiten machen wir vieles einfach besser. Wenn wir auf unserem Weg zu positiven Gewohnheiten vorankommen und uns neu erfinden, verhindern wir einen dieser elenden Silvesterabende, an denen wir reumütig wünschten, wir hätten einiges anders gemacht.

Gewohnheiten sind berüchtigt – und darin steckt auch ein Körnchen Wahrheit – weil sie unsere Handlungen unter Kontrolle bringen können, sogar dann, wenn wir etwas eigentlich gar nicht wollen. Wenn wir unsere Gewohnheiten jedoch durchdacht auswählen, werden wir mit Sorglosigkeit belohnt, die uns Gelassenheit und Energie verleiht – und uns wachsen lässt.

Erfinde Dich Neu! Genau das wollen wir alle.

 

 


SELBSTERKENNTNIS

 

Für die positive Gestaltung unserer Verhaltensmuster müssen wir uns selbst kennen. Dabei können wir Strategien für die Entwicklung positiver Gewohnheiten leider nicht einfach von anderen übernehmen. Was für den einen optimal ist, mag für andere noch lange nicht funktionieren, weil wir Menschen uns deutlich voneinander unterscheiden. In diesem Abschnitt stelle ich zwei Strategien vor, mit denen wir zentrale Aspekte unseres Umgangs mit Gewohnheiten ermitteln können: die vier Grundverhaltensmuster und die Unterscheidungsmerkmale. Diese aufgrund von Beobachtungen gewonnen Strategien verlangen erst einmal keine Änderung unseres Handelns. Wir können damit zunächst einmal lernen, uns selbst genau zu erkennen.

FOLGENSCHWERE ANLAGEN,
DIE WIR IN DIE WELT MITBRINGEN


Die vier Grundverhaltensmuster

Erst wenn wir jemandem aus einer ganz anderen Kultur begegnen, beginnen wir zu verstehen, welche Glaubenssätze wir wirklich haben.

 

GEORGE ORWELL, Der Weg nach Wigan Pier

 

Ich wusste genau, wo ich bei meinen vertieften Studien über Gewohnheiten ansetzten würde.

Seit Jahren mache ich mir Aufzeichnungen über die „Geheimnisse des Erwachsenseins“. Dabei handelt es sich um Lektionen, die ich irgendwann im Leben durch Erfahrungen begriffen hatte. Manches davon ist durchaus ernst gemeint, wie etwa „Was jemand anderem Spaß macht, muss mir noch lange keinen machen“. Andere waren eher albern: „Mir schmeckt Essen besser, wenn ich es mit den Händen esse.“ Zu meinen wichtigsten „Geheimnissen des Erwachsenseins“ gehört: „Ich bin anderen Menschen viel ähnlicher und gleichzeitig weniger ähnlich als ich vermute.“ Auch wenn ich mich von anderen Menschen nicht so sehr unterscheide, sind diese Unterschiede doch sehr wichtig.

Genau aus diesem Grund funktionieren die gleichen Verhaltensstrategien nicht bei jedem Menschen gleich. Wenn wir uns selbst kennen, können wir auch besser mit uns selbst umgehen. Wenn wir versuchen, mit anderen daran zu arbeiten, können wir auch sie besser verstehen.

Ich begann also mit der eigenen Selbsterkenntnis: Wie beeinflusst meine ganz persönliche Veranlagung meine Verhaltensmuster? Die Antwort darauf ist jedoch nicht ganz so einfach. Der Schriftsteller John Updike bemerkte dazu: „Überraschenderweise verfügen wir nur über ganz wenige Schlüssel zur Selbsterkenntnis.“

Bei meinen Forschungen hatte ich bisher nach stimmigen Erklärungen für die Unterschieden gesucht, mit denen Menschen auf Verhaltensmuster ansprechen. Zu meiner Überraschung gab es solche Erklärungen aber nicht. War ich wirklich der einzige Mensch, der sich fragte, warum manche Menschen Gewohnheiten mehr oder weniger bereitwillig annahmen als andere? Oder warum sich manche vor Gewohnheiten sogar fürchten? Oder warum Menschen gewisse Gewohnheiten in bestimmten Situationen aufrechterhalten können, in anderen aber nicht?

Ich konnte kein Muster entdecken, bis es eines Nachmittags plötzlich Klick machte! Die Antwort stand allerdings nicht in meinen Büchern, sondern entstand durch das Grübeln über das, was meine Freundin mich gefragt hatte. Wieder und wieder ging mir ihre simple Beobachtung durch den Kopf: Sie hatte nicht ein einziges Training der Schulmannschaft verpasst, kann sich aber heute nicht mehr zum Joggen aufraffen. Warum?

Als mir die Erleuchtung kam, war ich vermutlich so aufgeregt wie Archimedes, als er in den Waschzuber stieg und das Prinzip der Wasserverdrängung entdeckte. Ich konnte die Antwort plötzlich greifen. Die erste und wichtigste Frage zum Thema Gewohnheiten lautet: „Wie reagiert ein Mensch auf Erwartungen?“ Wenn wir ein neues Verhaltensmuster annehmen möchten, stellen wir gewisse Erwartungen an uns selbst. Aus diesem Grund sollten wir unbedingt erkennen, wie wir selbst auf Erwartungen reagieren.

Dabei müssen wir zwischen zwei Erwartungen unterscheiden: äußere Erwartungen (Termine bei der Arbeit einhalten, Verkehrsregeln beachten) und innere Erwartungen (nicht einnicken, Silvestervorsatz einhalten). Nach meiner Beobachtung gehört nahezu jeder Mensch zu einer von vier unterschiedlichen Gruppen:

Die Macher erfüllen bereitwillig äußere und innere Erwartungen

Die Hinterfrager stellen sämtliche Erwartungen in Frage und erfüllen sie nur dann, wenn sie sie für gerechtfertigt halten

Die Mitmacher erfüllen bereitwillig äußere Erwartungen, kämpfen aber mit inneren Erwartungen (so wie meine Freundin mit ihrer Sportmannschaft)

Die Rebellen verweigern sich äußeren wie inneren Erwartungen

 

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Natürlich grübelte ich über einen Namen für dieses Denkmodell nach. Dabei schoss mir eine meiner Lieblingspassagen aus Sigmund Freuds Schrift „Das Motiv der Kästchenwahl“ durch den Kopf. Freud erklärt darin die Namen der Schicksalsgöttinnen. Der eine bedeutet in Freuds Augen das „Zufällige […] innerhalb der Gesetzmäßigkeit des Schicksals“, der zweite „das Unabwendbare“ und der dritte steht für „folgenschwere […] Anlagen“ eines jeden. Diese folgenschweren Anlagen bringt jeder von uns in die Welt mit.

Ich nannte mein Denkmodell die „Vier Grundverhaltensmuster“. („Vier folgenschwere Anlagen“ wäre als Titel zwar präziser gewesen, schien mir aber doch ein wenig zu melodramatisch.)

Als ich die Theorie der „Vier Grundverhaltensmuster“ entwickelte, fühlte ich mich fast so, als würde ich das Periodensystem der Elemente entdecken – der Charakterelemente. Dabei hatte ich gar kein System aufgestellt – ich hatte ein Naturgesetz enthüllt. Oder so etwas wie Harry Potters „Sprechenden Hut“ für Verhaltensmuster erschaffen.

Unsere Grundverhaltensmuster färben unsere Sicht auf die Welt und haben deshalb enorme Auswirkungen auf unsere Gewohnheiten. Natürlich sind sie nur Veranlagungen, aber ich fand etwas für mich völlig Überraschendes heraus: Die meisten Menschen gehören zu genau einer dieser Gruppen. Als ich bei anderen testweise das jeweilige Grundverhaltensmuster bestimmt hatte, fiel ich fast vom Stuhl. Denn diejenigen, die zu einer Gruppe gehörten, argumentierten unisono stets in die gleiche Richtung. Hinterfrager beispielsweise geben häufig an, wie sehr sie Schlange stehen hassen.

MACHER

Macher reagieren bereitwillig auf äußere und innere Erwartungen. Sie wachen morgens auf und denken: „Was steht heute auf dem Programm und auf meiner To-do-Liste?“ Sie wollen genau wissen, was von ihnen erwartet wird, und das wollen sie auch erfüllen. Sie vermeiden Fehler und sie wollen niemanden enttäuschen – sich selbst eingeschlossen.

Andere Menschen können sich getrost auf Macher verlassen, so wie sich Macher auf sich selbst verlassen können. Sie handeln selbstgesteuert und haben so gut wie keine Probleme beim Erfüllen von Verpflichtungen, beim Einhalten von Beschlüssen oder von Terminen (meist haben sie ihre Arbeit schon vorher erledigt). Sie wollen die Spielregeln erfassen und suchen noch nach der Bedeutung dahinter – wie beispielsweise bei Kunst oder Ethik.

Einer meiner Freunde war mit einer solchen „Macherin“ verheiratet. Er erzählte mir: „Wenn etwas im Terminkalender steht, zieht meine Frau das garantiert durch. Als wir im Urlaub in Thailand waren, planten wir ein paar Tempelbesichtigungen ein und marschierten los, obwohl meine Frau sich unterwegs erbrechen musste, weil sie sich die ganze Nacht vorher mit einer Lebensmittelvergiftung gequält hatte.“

Macher fühlen sich ihren eigenen Erwartungen gegenüber außerordentlich verpflichtet. Deshalb verfügen sie über einen stark ausgeprägten Selbstschutzmechanismus. Damit schützen sie sich bisweilen selbst vor ihrer Neigung, sämtliche Erwartung anderer zu erfüllen. „Ich brauche viel Zeit für mich selbst“, erklärte mir ein Macher-Freund, „ich treibe Sport, brüte neue Ideen für meinen Job aus und höre gern Musik. Wenn jemand was von mir will, das mich in diesem Moment stört, kann ich ohne Wimpernzucken „nein“ sagen.“

Trotzdem geraten auch Macher mitunter in Situationen, in denen die Erwartungen nicht klar genug formuliert oder die Regeln dafür noch nicht aufgestellt sind. Dann können sie sich zur Erfüllung von Erwartungen genötigt fühlen, selbst wenn diese unsinnig erscheinen. Sie fühlen sich unbehaglich, wenn sie wissentlich Regeln brechen – selbst unnötige Regeln. Es sei denn, sie finden eine schlagkräftige Rechtfertigung dafür.

Das ist übrigens auch mein Grundverhaltensmuster. Ich bin eine Macherin.

Die Macherin in mir bremst mich allerdings manchmal aus, da ich bisweilen nur die Einhaltung der Regeln im Kopf habe. Es ist jetzt einige Jahre her, als ich in einem Cafe meinen Laptop hervorholte und die Bedienung mich anfuhr: „Laptops sind hier verboten.“ Seitdem frage ich mich jedes Mal, wenn ich ein Cafe betrete, ob ich dort wohl meinen Laptop benutzen darf.

Es gibt da auch noch eine andere, ziemlich unbarmherzige Eigenschaft von Machern. Jamie ist sicher oft genervt – ich übrigens auch – wenn jeden Morgen um 6 Uhr der Wecker Alarm schlägt. Eine Freundin von mir ist auch so eine Macherin. Sie schwänzt im Jahr nur schlappe sechs Mal das Fitness-Studio.

„Wie geht deine Familie damit eigentlich um?“, fragte ich.

„Klar, mein Mann hat anfangs darüber immer gemeckert. Inzwischen hat er sich daran gewöhnt.“

Ich gestehe: Ich bin eine leidenschaftliche Macherin. Aber ich sehe durchaus auch die dunkle Seite: Die ewige Jagd nach Goldmedaillen, die irrsinnigen Verrenkungen, das manchmal schon stumpfsinnige Befolgen von Regeln.

Als mir klar wurde, dass ich eine Macherin bin, verstand ich auch, warum mich das Thema Verhaltensmuster so fesselte. Gerade für uns Macher ist es relativ einfach, Gewohnheiten zu pflegen. Sie fallen uns zwar auch nicht leicht, aber leichter als anderen. Wir begrüßen sie, weil wir sie als befriedigend empfinden. Dass selbst wir gewohnheitsliebenden Macher uns mit dem Pflegen positiver Gewohnheiten abmühen müssen, weist darauf hin, was für eine irre Herausforderung das Gestalten von Gewohnheiten ist.

HINTERFRAGER

Hinterfrager stellen sämtliche Erwartungen infrage und erfüllen nur diejenigen, die sie für sinnvoll halten. Sie werden von Vernunft, Logik und Fairness angetrieben. Hinterfrager wachen morgens auf und denken: „Was muss ich heute erledigen – und warum?“ Sie entscheiden für sich allein, ob eine bestimmte Vorgehensweise klug ist. Wenn es daran auch nur den leisesten Zweifel gibt, lassen sie es bleiben. Vor allen Dingen münzen sie sämtliche Erwartungen in eigene Erwartungen um. Ein solcher Hinterfrager schrieb in meinem Blog: „Ich pfeife auf willkürlich aufgestellte Regeln (Ich gehe über die Straße, wenn kein Auto kommt. Und nachts stoppe ich nicht an roten Ampeln, wenn ohnehin niemand auf der Straße ist). Doch Regeln, die auf moralischen oder ethischen Grundsätzen beruhen, sind für mich extrem verpflichtend.“

Eine Freundin fragte mich mal: „Warum schlucke ich meine Vitamine eigentlich nicht? Mein Arzt hat sie mir verschrieben, aber ich nehme sie praktisch nie.“

Meine Freundin ist Hinterfragerin, daher fragte ich sie: „Glaubst du überhaupt, dass du sie brauchst?“

„Nein“, antwortete sie nach einer kurzen Pause, „eigentlich glaube ich das nicht.“

„Ich wette, du würdest sie schlucken, wenn du von ihnen überzeugt wärest.“

Hinterfrager verweigern sich Regeln, die um ihrer selbst willen aufgestellt werden. Eine Leserin postete auf meinem Blog: „Der Schuldirektor meines Sohnes will allen Ernstes kein Kind sehen, bei dem das T-Shirt über der Hose schlabbert. Natürlich habe ich ihn gefragt, was diese willkürliche Vorschrift soll. Er blieb hart und meinte: Die Schule habe nun mal jede Menge Regeln, damit die Kinder lernen, Regeln überhaupt zu respektieren. Was für ein idiotischer Grund von jemandem, zumal Kindern, die Befolgung einer Regel einzufordern. Solche Regeln sollten wir abschaffen, dann sähe die Welt besser aus.“