Die Originalausgabe erschien zuerst 2015 unter dem Titel «Somewhere inside of happy» bei Transworld Publishers, London.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, September 2016
Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Redaktion Tobias Schumacher-Hernández
«Somewhere inside of happy» Copyright © 2015 by Anna McPartlin
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages
Umschlaggestaltung und Illustration: Felicitas Horstschäfer www.felicitas-horstschaefer.de,
Agentur Susanne Koppe, www.auserlesen-ausgezeichnet.de
Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.
Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.
ISBN Printausgabe 978-3-499-27223-3 (1. Auflage 2016)
ISBN E-Book 978-3-644-56801-3
www.rowohlt.de
ISBN 978-3-644-56801-3
Für Donal, meinen Mann. Ohne dich wäre ich verloren.
(Ähnlich wie beim Navi, irgendwie …)
Bis auf Füßescharren, ein Klacken und Maisies eigenen Herzschlag war es still im Saal. Scharr, klack, bumm, scharr, klack, bumm. Komm runter, altes Schaf, beruhig dich. Alles wird gut.
Sie spürte die Hand ihres Mannes auf der Schulter. Er stand direkt hinter ihr am seitlichen Bühnenrand, und sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf. Alles gut, Liebling, du schaffst das. Gar nicht an Schweißausbrüche denken. Immer schön lächeln. Maisie sah ihre Tochter Valerie auf sich zuhumpeln. An ihren Stiefvater gelehnt, zog sie sich den Schuh aus und schüttelte ein Kieselsteinchen heraus.
Maisie schmorte quasi im eigenen Saft; die letzte Hitzewallung hatte ihren Schädel mit Schweiß überzogen und die schöne Föhnfrisur ruiniert. Bei dem Versuch zu lächeln blieb ihre Oberlippe an den Zähnen kleben. Na, ganz toll! Jetzt sehe ich auch noch aus, als hätte ich sie nicht mehr alle.
Der eloquente Akademiker, der sie mit ein paar einleitenden Worten ankündigen wollte, redete schon seit mehreren Minuten; offensichtlich war er ziemlich in seine eigene Stimme verliebt. Es war, das musste Maisie zugeben, eine angenehme Stimme, vornehm und volltönend, und er sprach so sanft, dass sein Vortrag beinahe einlullend wirkte.
Maisie spähte suchend ins Publikum. Sie entdeckte Deirdre, in ein elegantes und kostspieliges dunkles Kostüm gekleidet. Direkt dahinter saßen Mitch und Jonno. Mitch biss gerade in ein riesiges Schinkenbrötchen und ließ die Hälfte auf Jonnos Schoß fallen. Die Jahre vergehen … manche Dinge ändern sich, und gleichzeitig hat sich im Vergleich zu früher überhaupt nichts verändert. Sie hielt nach Dave Ausschau: Er hatte versprochen, es zu versuchen, aber er war momentan viel auf Tour, und seine Freundin hatte eben erst Zwillinge zur Welt gebracht. Maisie lächelte verhalten, als sie ihn durch den Gang kommen sah. Er verscheuchte einen schlaksigen Teenager von seinem Platz, um sich zu seinen alten Kumpels zu setzen. John stieß ihm mit dem Ellbogen in die Rippen und grinste. Dave kitzelte Lynn zur Begrüßung im Nacken, und sie drohte ihm dafür mit der Stricknadel.
Maisie ließ den Blick zu ihrer besten Freundin weiterwandern. Lynn strickte, seit sie ihren Platz eingenommen hatte, völlig unbeirrt, immer eine-rechts-eine-links. Sie fühlte sich in großen Menschenmengen zunehmend unwohl, aber sie war fest entschlossen gewesen, Maisie an diesem Abend beizustehen, und Stricken beruhigte sie. Alle, die Maisie bei der Entstehung des Buchs unterstützt hatten, waren gekommen. Selbst nach so vielen Jahren waren sie noch immer füreinander da. Ihr Herz quoll über. Die ganze Horde ist versammelt.
Dies war ihre erste und vielleicht auch letzte – je nachdem, wie sie sich anstellte – Lesung an einem College. Die schulisch im Grunde ungebildete Maisie Bean Brennan las vor einem Saal angehender Akademiker? So unwirklich sich es auch anfühlte, jetzt stand sie hier. Am seitlichen Bühnenrand, nur ein paar Schritte entfernt von dem großen Hochglanzplakat, das ihr Buch bewarb. Jeremys Geschichte: Eine Erinnerung an Liebe und Missverständnis. Das Plakat zeigte ein Foto von ihrem sechzehnjährigen Sohn Jeremy und seinem besten Freund Rave, strahlend, jung, vor Leben strotzend. Bei dem Anblick kamen Maisie auch nach zwanzig Jahren noch die Tränen.
Der eloquente Akademiker warf ihr einen Blick zu. Es war so weit. «Meine Damen und Herren, ich habe nun die große Freude, Ihnen Maisie Bean Brennan vorzustellen.» Das Publikum klatschte, und Maisie wurde von ihrem Mann sanft auf die Bühne geschubst.
«Los, Ma’sie, zeig’s ihnen», flüsterte Valerie.
Was zum Teufel hab ich hier verloren?
Der Applaus erstarb. Maisie stellte sich ans Rednerpult. Es wurde wieder still im Saal, nur hier und da war ein Flüstern zu hören.
Klack, bumm, klack, bumm.
Maisie räusperte sich, trank einen Schluck Wasser und löste die Oberlippe von den Zähnen. Sämtliche Augen waren auf sie gerichtet. Diese Geschichte hatte lange gebraucht, um zu reifen, und es wurde höchste Zeit, sie zu erzählen. Maisie schloss die Augen, holte tief Luft, öffnete sie wieder und begann zu erzählen.
«Ich heiße Maisie. Mein Ehemann nennt mich Mai, und meine Kinder sagen Ma’sie zu mir. Sie können mich gerne nennen, wie Sie wollen.»
Vereinzelt erklang Gelächter. Maisie war sich nicht sicher, ob das an der Einleitung oder ihrem Vorstadtdialekt lag. Aber das spielte im Grunde keine Rolle.
«Mein Sohn Jeremy wurde gewaltsam gezeugt und er starb gewaltsam, aber während er lebte, war er das Licht meines Lebens.» Maisies Stimme bekam einen rauen Unterton. Mein süßer, liebster Jeremy! «Ich bin heute Abend hier, um Ihnen, wenn Sie mögen, von Jeremy zu erzählen und von dem, was ich aus unserer kurzen gemeinsamen Zeit gelernt habe.»
Alles Flüstern und Kichern erstarb. Der altehrwürdige, mit Mahagoni getäfelte Vorlesungssaal verschwamm. Das Klack, Bumm, Klack, Bumm verstummte.
Maisie fühlte sich, während sie sprach, zwanzig Jahre zurückversetzt. Sie befand sich wieder in ihrem kleinen Reihenhaus in Tallaght, einem Vorort von Dublin. Es war der Neujahrsmorgen des Jahres 1995, der Tag, der ihr Leben für immer verändert hatte, der Tag, an dem ihr Sohn ums Leben kam.
«Der Tag begann damit, dass mein sechzehn Jahre alter Sohn Jeremy mit seiner Oma Bridie um den Küchentisch tanzte …»
«Jeremy»
Pearl Jam, 1992
Bridie Bean, achtundsiebzig Jahre alt, tanzte in den Armen ihres Enkels Jeremy im Walzerschritt durch die Küche. Maisie sah ihnen zu. Bridie zählte bis drei und absolvierte die Drehung. Der Anblick war wunderschön, und die alte Frau wirkte völlig sorglos. Maisie hatte den Morgen damit verbracht, ihre Mutter zu baden und anzuziehen: eine blütenreine weiße Bluse, eine weiche graue Strickjacke und ihren Lieblingsrock. Er war aus Tweed und reichte ihr bis knapp übers Knie. Die langen weißen Haare hatte Maisie ordentlich zu einem lockeren Knoten hochgesteckt. Bridie mochte es ordentlich, und ihre Tochter sorgte dafür, dass sie immer makellos aussah. Das war das Mindeste, was Maisie für ihre Mutter tun konnte. Trotz ihres hohen Alters und der Demenz war Bridie für einen unschuldigen Flirt immer zu haben und außerdem meistens zu Scherzen aufgelegt. Sie war eine «liebenswerte alte Schachtel» und wurde von allen geliebt. Als sie herumschwang, bauschte sich der Rock und entblößte ihre bleistiftdünnen Beine, die sich im Takt der Musik bewegten. Sie hielt mühelos mit ihrem sechzehnjährigen Enkel Schritt, denn auch wenn ihr Verstand inzwischen völlig vernebelt war, war die ehemalige Armeekrankenschwester Bridie Bean körperlich immer noch fit wie ein Turnschuh. Im Radio lief «We’ll Meet Again» von Vera Lynn, und sie summte mit. «Ach, Arthur», sagte sie. «Es ist genau wie früher – du und ich und eine Buddel voll Rum.» Sie fing an zu kichern.
«Grammy, ich bin’s, Jeremy!» Als Bridie ihn das letzte Mal mit ihrem längst verstorbenen Ehemann verwechselt hatte, hatte Jeremy sie nicht korrigiert, woraufhin sie ihm sagte, wie sehr sie seine Männlichkeit vermisste – und als sie dann auch noch das Wort Muschi in den Mund genommen hatte, hatte das bei Maisies Erstgeborenem Würgreiz und heftigen Schwindel ausgelöst. Maisie war klar, dass Jeremy keine Lust auf eine Wiederholung dieser traumatischen Erfahrung hatte. Grinsend sah sie zu, wie er stehen blieb, seine Großmutter losließ und mit dem Finger auf sich deutete. «Jeremy. Dein Enkel. Also bitte, Grammy, kein Wort über deinen Intimbereich.»
«Ich weiß doch, wer du bist, mein Sonnenschein», sagte Bridie. «Ich hab nur ein bisschen mit deinem alten Opa oben im Himmel geplaudert.» Sie streckte die rechte Hand aus, und er ergriff sie mit der Linken. «Noch einmal um den Tisch, das bringt Glück.»
«Na gut, aber dann muss ich los. Heute ist mein letzter Ferientag, und ich hab schließlich auch noch ein Leben, weißt du?»
«Oh ja, weiß ich», flüsterte Bridie. «Ein sehr exotisches Leben, voller Mädchen und Heimlichkeiten.» Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Nase. «Ich habe nämlich auch meine Geheimnisse.»
«Oh nein, Himmel noch mal!», sagte er und schüttelte übertrieben erschöpft den Kopf. «Bitte nicht schon wieder.»
«Na gut, Liebling.»
Jeremy täuschte gern Genervtsein vor, weil sie sich so herrlich darüber amüsieren konnte. Maisie beobachtete die beiden oft bei diesem Geplänkel. Es war eine Art verkehrtes Rollenspiel: er, der Erwachsene und sie, das übermütige Kind. Bridie lächelte ihren Enkelsohn an und schob ihm die dunkelblonden Haare aus der Stirn. Sie sagte nichts, seufzte nur zufrieden und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. «Guter Junge», sagte sie. Sie reckte den Zeigefinger in die Luft, drehte sich langsam um die eigene Achse und zeigte auf den großen Aufkleber mit dem Wort «Kühlschrank». Sie ging entschlossen darauf zu und öffnete die Tür. «Ich will Käse.»
Jeremy grinste seine Mutter an. Die alte Dame hatte einen guten Tag.
Maisie protestierte. «Von Käse kriegst du Blähungen, Ma.»
«Blähungen sind mir furzegal. Gut, oder?» Bridie lachte.
«Ach, Ma’sie, lass sie doch. Mach nur, Grammy, man lebt nur einmal.»
«Ach ja, mein Jeremy liebt mich so sehr, dass er mich in Frieden abkratzen lässt.»
Bridies Kopf steckte tief im Kühlschrank, und sie rumorte lautstark darin herum.
«Jeremy ist ein Teenager. Er muss die Töne aus deinem Hintern superlustig finden», sagte Maisie, und Jeremy grinste.
Bridie kam mit einem Stück Cheddar wieder zum Vorschein. «Ah! Käse!», sagte sie, und Maisie sah das Grinsen ihres Sohnes noch breiter werden. Jeremy Bean liebte seine Großmutter über alles. «Aber nur eine dünne Scheibe. Ich mache hier nämlich gerade Frühstück», sagte Maisie streng, und Bridie nickte ernst, wickelte den Käse aus der Folie und schlug hemmungslos ihre Zähne hinein.
Weil gleichzeitig der erste Tag des neuen Jahres und der letzte Ferientag war, hatte Maisie beschlossen, ein großes Sonntagsfrühstück mit allem Pipapo zu machen. Jeremy und Bridie waren bereits fröhlich bei der Sache. Maisie öffnete die Tür zum Zimmer ihrer Tochter Valerie. Sie lag im Bett und sang laut und schräg zu «Stay Another Day» von East 17 mit.
«Ich schreie mir seit fünf Minuten die Seele aus dem Leib, damit du frühstücken kommst, Valerie Bean!»
«Ich hab noch keinen Hunger, Ma’sie.»
«Du bewegst jetzt augenblicklich deinen knochigen Arsch in die Küche, sonst gehe ich dir an die Gurgel. Noch keinen Hunger? Was, glaubst du, ist das hier? Das Scheißritz?»
«Schön wär’s! Eher Scheißholiday Inn, maximal, zu mehr reicht’s hier doch gar nicht.»
«Sag nicht ständig ‹Scheiß› und beweg deinen Hintern aus dem Bett», sagte Maisie mit warnendem Unterton.
Grummelnd stand Valerie auf.
Mit ihren zwölf Jahren war sie der Inbegriff eines Tweens. Sie liebte laute Popmusik, schwarze Klamotten, ihr Zimmer und sonst eigentlich gar nichts. Als sie elf Jahre alt geworden war, hatte sie ihre Puppen und Kuscheltiere weggepackt und ein paar Wochen später einer Frau in die Hand gedrückt, die an der Haustür geklingelt und um ein paar Kleiderspenden gebeten hatte. Nur einen kleinen rosaroten Teddybären hatte sie behalten, den sie von ihrem Dad geschenkt bekommen hatte, bei seinem einzigen Besuch nach der Trennung. Das Kuscheltier lag in einem Schuhkarton unten in ihrem Schrank, zusammen mit ihrem unbenutzten Tagebuch und einem Riesenlutscher, den ihre beste und einzige Freundin Noleen Byrne ihr von einem Familienausflug nach Blackpool mitgebracht hatte. Valerie hatte den Lutscher ausgewickelt, daran geleckt, verkündet, er würde nach Kacke schmecken, und ihn wieder eingewickelt.
Maisie hatte in den Weihnachtsferien eine Fluchkasse eingeführt, um ihre Tochter dazu zu bringen, sich ihre zwei Lieblingswörter abzugewöhnen, «Scheiß» und «Kacke», aber bis jetzt hatte die Erziehungsmaßnahme lediglich geholfen, Maisies eigenen fragwürdigen Sprachgebrauch ans Licht zu bringen. Dabei hatte sie wirklich ernsthaft versucht, sich am Riemen zu reißen, nachdem sie ins Direktorat von Valeries Schule zitiert worden war, um mit der Schulleiterin Valeries Gebrauch des Wortes «Flachwichser» zu diskutieren.
«Na ja, Mrs. Young, der Fairness halber sollte aber schon erwähnt werden, dass der Kerl ihr Tipp-Ex in die Haare geschmiert hat.»
«Darum geht es aber nicht, Ms. Bean.»
«Bei allem Respekt, da bin ich anderer Meinung.»
«Valerie lernt diese Sprache irgendwo, und zwar definitiv nicht an dieser Schule. Bei uns herrschen, was den Gebrauch von Kraftausdrücken anbelangt, strenge Regeln.» Die Direktorin händigte Maisie eine Liste mit Tabubegriffen aus. Sie überflog die Liste. Das meiste davon gehörte zu ihrem ganz normalen Sprachgebrauch. «Flachwichser ist gar nicht dabei», sagte sie im Versuch, die Stimmung aufzulockern.
Das fand Mrs. Young leider gar nicht lustig. «Mag sein, aber der Begriff ‹Wichser› ist, wie Sie sehen, sehr wohl dabei. Mit dem Ausdruck ‹flach› allein haben wir kein Problem.»
Mrs. Young benahm sich hochnäsig. Maisie vertrug so einiges, aber von oben herab behandelt zu werden, trieb sie auf die Palme. Maisie Bean hatte mit flammend roten Wangen dagesessen und sich auf die Lippen gebissen, denn sosehr Mrs. Youngs herablassende Art sie auch störte, die Frau hatte leider recht. Valerie hatte die wüsten Vokabeln zu Hause gelernt, von ihr und ihrer Mutter, und auch wenn Maisie auf ihr Recht pochte, sich auszudrücken, wie es ihr passte, waren fluchende Kinder tatsächlich unerträglich. In diesem Augenblick beschloss Maisie Bean, ihren Kindern ab sofort ein besseres Vorbild zu sein – so schwer konnte das doch wohl nicht sein.
Wie sich herausstellte, war es für eine alleinerziehende Mutter von zwei halbwüchsigen Kindern fast übermenschlich schwer, nicht zu fluchen, vor allem, wenn die eigene Mutter dement war, und man neben seinem Teilzeitjob in einer Zahnarztpraxis am Wochenende auch noch in die Fabrik zum Putzen ging.
Die Fluchkasse war jetzt schon randvoll. Maisie graute bereits vor dem nächsten Termin bei Mrs. Young.
Als es Bridie noch gutging, hatte sie oft gesagt, Valerie würde Maisie irgendwann ins Grab bringen. «Ich liebe sie aus tiefstem Herzen, aber dieses Kind ist eine Zumutung», hatte sie immer gesagt und dabei gelächelt, als gefiele ihr die Vorstellung. «Aber die wird schon. Sie ist genau wie meine Mutter – die hätte sich sogar mit Jesus am Kreuz angelegt – aber weißt du was, Maisie? Wenn es erst mal hart auf hart kommt, dann zeigt unsere Valerie, was wirklich in ihr steckt.»
Jeremy dagegen war der absolute Sonnenschein. Er kümmerte sich um seine Großmutter, um seine Mutter und sogar um seine kleine Schwester – sofern sie ihn ließ. Abgesehen von seiner Vorliebe für das Wort «Jesus» (Bridie behauptete immer, es wäre bei ihm eher Stoßgebet als Kraftausdruck), fluchte Jeremy nie, zumindest nicht in der Gegenwart von Erwachsenen. Er half seiner Mutter, die Einkaufstüten zu tragen, und sah immer nach, ob die Haustür auch wirklich abgesperrt war und das Kamingitter vor dem Feuer stand. Aber natürlich war auch Jeremy kein Heiliger: Er hatte die nervtötende Angewohnheit, seine Mutter zu erziehen.
«Jesus, Ma’sie, wie oft müssen wir eigentlich noch darüber sprechen, dass es gefährlich ist, seine Strumpfhosen zum Trocknen über das Kamingitter zu hängen?»
«Sorry, Sohn.»
«Im Ernst, Ma’sie.»
«Du hast ja recht. Es tut mir leid.»
«Ich möchte das nicht noch mal sehen.»
«Jetzt bewegst du dich langsam auf sehr dünnem Eis, Freundchen!»
Maisie träumte manchmal davon, ihrem Sohn mit einem Paar Feinstrumpfhosen das Maul zu stopfen. Außerdem hatte er einen fürchterlichen Tick, was das Schließen von Türen betraf. Er verbrachte sein halbes Leben damit, anderen Leuten zu befehlen, die Tür zuzumachen. Besonders peinlich wurde es, wenn derjenige, den er gerade anblaffte, noch dabei war, durch die betreffende Tür zu gehen. Dann zuckte sogar Bridie genervt zusammen. «Ach, Kind, Herrgott noch mal! Darf ich bitte erst mal durch das Scheißteil durch?», hatte sie ihn einmal angebellt. Fing Bridie erst mal an zu brüllen, ging man ihr besser aus dem Weg.
Ehe die sanftmütige, liebenswürdige Bridie anfing, plemplem zu werden, hatte sie niemals irgendwelche Anzeichen von Aggression gezeigt. Wut und Handgreiflichkeiten seien Teil des Krankheitsbildes, hatte der Arzt Maisie erklärt. Sie hatte Verständnis, aber ab und zu, wenn ihre Mutter in Zorn geriet, bekam sie richtig Angst. Als Jeremy sie eines Tages wieder mal wegen einer Tür genervt hatte, hatte Bridie ihn unvermittelt heftig gegen die Wand geschubst. Er war zu Tode erschrocken gewesen und hatte so getan, als wäre nichts passiert, obwohl er sich heftig den Ellbogen am Türrahmen gestoßen hatte. Bridie war an ihm vorbeigeschwebt, als wäre nichts gewesen. Nur Maisie hatte die Tränen in seinen Augen gesehen. Ihr wurde schwer ums Herz. Oh nein! Es war keine große Sache gewesen, im Grunde war nichts passiert, aber es hatte sie verstört und, schlimmer noch, es hatte ihren Sohn verstört. Maisie hatte ihre Kinder aus einem gewalttätigen Zuhause befreit und wollte diese Erfahrung auf gar keinen Fall wiederholen.
Von dem Moment an hatte Maisie dafür gesorgt, dass sie die Wucht der Wutausbrüche ihrer Mutter selbst abbekam. Sie wurde getreten, geboxt, gezwickt und gebissen, meistens beim Umziehen oder Waschen. Auf der Skala dessen, was Maisie an Gewalt kannte, war das gar nichts – sie wehrte die Angriffe ihrer Mutter mit Leichtigkeit ab, ohne je ernsthaft Schaden zu nehmen. Sie sagte sich immer wieder, dass Bridie nicht wusste, was sie tat, dass es in ihrer eigenen Verantwortung war, die Lage unter Kontrolle zu halten. Wenn sie nur die Kinder vor der Gewalt bewahren konnte, war alles gut. Natürlich wurde das Leben dadurch noch anstrengender, aber sie würde ihre Mutter jetzt, wo sie sie am dringendsten brauchte, auf keinen Fall im Stich lassen.
Maisie verließ Valeries Zimmer, ging durch den Flur zurück in die Küche und rückte im Vorbeigehen das Foto von Bridie und ihren beiden Enkelkindern gerade. Bridie bildete den Mittelpunkt, und Jeremy und Valerie kletterten übermütig auf ihr herum. Obwohl es regnete und alle nasse Haare hatten, lachten sie ausgelassen. Sie wirkten glücklich. Maisie wünschte, sie wäre mit auf dem Bild. Bridie hatte sie damals gebeten, den Fotoapparat einfach einem jungen Punk in die Hand zu drücken – «Maisie, komm, bitte doch den jungen Kerl da mit den Stachelhaaren, ein Bild von uns zu machen» –, aber Maisie hatte dem stachelhaarigen Jungen durchaus zugetraut, sich mitsamt ihrer Kamera vom Acker zu machen. Der Apparat war teuer gewesen, und einen neuen hätte Maisie sich nicht leisten können.
«Du hast echt ein Problem mit Vertrauen», hatte Bridie zu ihr gesagt.
Schon möglich. Der Junge hatte Turnschuhe getragen. Den würde ich nie kriegen, hatte sie mit einem Blick auf ihre pitschnassen Flipflops gedacht. Hätte sie damals geahnt, dass sich bei ihrer Mutter nur ein paar kurze Monate später die ersten Anzeichen von Demenz bemerkbar machen würden, wäre sie das Risiko eingegangen.
Maisie setzte sich zu Bridie und Jeremy an den Küchentisch. Die beiden waren fast mit Frühstücken fertig, als Valerie sich schließlich doch noch zu ihnen bequemte.
«Das wurde aber auch Zeit, Maisie Bean», sagte Bridie zu Valerie.
«Ich bin Valerie.»
Bridie starrte sie verständnislos an. Valerie widmete sich stumm ihrem Frühstück und ignorierte den Nebel, der sich hinter den Augen ihrer Großmutter herabgesenkt hatte.
Jeremy blieb geduldig und gelassen. Er wusste meistens instinktiv, wie man mit Bridie umgehen musste, wenn sie in diesem Zustand war. Jetzt nahm er einfach ihre Hand und summte «We’ll Meet Again». Ein, zwei Augenblicke später stimmte sie mit ein, lehnte sich an seine Schulter und gab sich der Musik in ihrem Kopf hin.
«Ich glaube, du brauchst ein bisschen Ruhe, Grammy», sagte Jeremy sanft zu ihr.
«Und ich glaube, du hast recht, Sohn.»
Jeremy führte seine Großmutter in ihr Zimmer, und Maisie sah ihnen nach. Er öffnete ihr die Tür, sie betrat das Zimmer, drehte sich um und sagte: «Guten Abend, gute Nacht.»
«Guten Abend, gute Nacht, Grammy. Und nicht vergessen: Jeremy Bean liebt dich.»
Das sagte er immer; es war ein festes Ritual.
Bridie warf ihm einen Kuss zu, und er schloss sachte die Tür. Auch wenn sie sich später nicht daran erinnern würde: Es sollte das letzte Mal sein, dass Bridie ihren Enkelsohn lebend sah.
Jeremy blieb zu Hause und hütete seine schlafende Großmutter, während Maisie mit Valerie eine geschlagene Stunde im Supermarkt verbrachte, fluchend, weil der Laden mal wieder komplett umgeräumt worden war.
«Warum? Warum tun die so was?», zeterte Maisie.
Valerie zuckte die Achseln. «Vielleicht, weil sie wussten, dass es dich in den Wahnsinn treibt, Ma’sie.»
Maisie bog aus dem Gang mit Milchprodukten ab und stand vor den Waschmitteln. «Das war doch hier, oder? Hier waren letztes Mal noch die Kühlfächer mit dem Fleisch. Oder etwa nicht?»
«Doch.»
Maisie fuhr herum. «Wer räumt denn bitte Milchprodukte neben die Waschmittel?»
«Das ist doch scheißunhygienisch», murmelte Valerie.
«Zehn Pence in die Kasse.» Maisie schlich sich misstrauisch an den nächsten Gang heran und stand vor den Keksen. In dem Augenblick, als sie zum dritten Mal bei Marmeladen und Konserven landete, tauchte ihre Tochter aus einem Quergang auf.
«Hundefutter», sagte Valerie.
«Schön. Also noch mal zurück zu den Kühltruhen – Pizza und TK-Gemüse – da in der Gegend muss es doch irgendwo sein.»
«Mann, da sind wir jetzt schon dreimal gewesen.»
Maisie riss sich schwer am Riemen, um nicht völlig auszuticken. Sie hasste Supermärkte auch dann, wenn die Herrscher der Warenwelt nicht gerade versuchten, sie um den Verstand zu bringen. Ich werde einen Beschwerdebrief schreiben. Sehr geehrte Arschlöcher …
Es war warm und stickig, außerdem hatte Maisie Kopfschmerzen, weil sie am Vorabend zu viel Wein getrunken hatte. Scheißsilvester. Sie hatte den Abend allein verbracht. Ihre Mutter war um kurz nach sieben ins Bett gegangen, ihr Sohn war mit seinen Freunden unterwegs gewesen, und Valerie hatte sich in ihr Zimmer verkrochen. Wenigstens nimmt sie keine Drogen … noch nicht. Maisie hatte einen Horror vor Drogen. Sie las jede Broschüre, die sie in die Finger bekam, und beobachtete ihre Kinder mit Argusaugen, ständig auf der Suche nach allen möglichen verdächtigen Anzeichen, vor allem bei ihrer zwölfjährigen Tochter. Täglich unterzog sie Valerie einer heimlichen Prüfung: Erscheinungsbild? Unverändert. Gut. Essgewohnheiten? Unverändert. Gut. Veränderte Interessen? Nein. Gut. Ungezogen oder rebellisch? War schon immer ungezogen und rebellisch, also unverändert. Gut. Veränderter Freundeskreis? Nein. Noch immer nur eine einzige Freundin. Das macht mir allerdings Sorgen – Jeremy ist so beliebt … Launisch? Klar, in dem Alter … Sich selbst überlassen, hatte Maisie eine Flasche Wein aufgemacht und sie vor dem Fernseher geleert. Um Mitternacht waren draußen ein paar Raketen hochgegangen, und Vera Malones Hund Jake hatte sich lauthals erschreckt. Sein Gejaule wurde von Veras Gebrüll unterbrochen: «Als sie bei uns eingebrochen haben, hast du dich jedenfalls nicht so aufgeführt. Gerade, dass du den Scheißkerlen keine Tasse Tee angeboten hast!» Durch die Mauer ließ sich unmöglich sagen, ob der Köter vor Scham oder Ermüdung verstummt war.
Maisie war Alkohol nicht gewohnt. Sie war ins Bett gewankt, hatte sich dabei den Zeh am Nachttisch angestoßen, und als sie lag, hatte sich das ganze Zimmer gedreht. Als sie morgens aufwachte, war alles wieder gut gewesen, aber hier, im neunten Kreis der Hölle, hatte sie Kopfschmerzen, ihr Zeh pochte, der Schweiß lief ihr aus sämtlichen Poren, und ihr war speiübel.
Sie blieb stehen, seufzte, drehte sich langsam um und ließ den Blick über die Regale mit Haarpflegeprodukten gleiten. «Ich brauche doch nur ein verficktes Hähnchen!»
«Macht schon wieder zehn Pence für dich. Zusammen mit ‹Arsch›, ‹scheiß› und ‹verdammt› bist du jetzt vierzig Pence ärmer, und dabei ist noch nicht mal Mittag», sagte Valerie süffisant.
«‹Arsch› habe ich nicht gesagt», erwiderte Maisie und machte sich auf den Weg zur Feinkosttheke.
«Hast du wohl. Gleich als Allererstes. Du hast zu mir gesagt, ich soll meinen knochigen Arsch in die Küche bewegen.»
Maisie seufzte. Bockmist, dachte sie, als sie den neuen Metzgereibereich direkt neben der Feinkosttheke erreichte. Ein Junge in einem weißen, leicht blutverschmierten Kittel und einer Papiermütze, die oben auf seiner Frisur thronte, stand an die Theke gelehnt. «Wären Sie wohl so freundlich, mir zu sagen, wo um alles in der Welt sich die Tiefkühlhähnchen versteckt halten?» Maisie bemühte sich nach Kräften, aber leider vergebens, die Schärfe aus ihrer Stimme zu halten.
Der verpickelte Junge mit dem überlangen, zur Seite gegelten Pony, beäugte sie. «Na, in der Tiefkühlung.»
«Und wo ist die Tiefkühlung?», fragte sie durch zusammengebissene Zähne.
«Hinter mir.» Er deutete über die Schulter.
Sie sah an ihm vorbei auf eine Wand mit einer schweren Stahltür in der Mitte. «Warum das denn?»
«Weil das hier die Metzgerei ist.»
«Das ist mir klar. Aber das Tiefkühlfleisch war schon immer draußen in den Gängen und nicht in der Metzgereiabteilung.»
«Tja. Öfter mal was Neues, sagt meine Mutter immer.» Er zuckte die Achseln.
«Ach was!» Maisie drehte ihm im Geiste den Kragen um. «Dann würde ich vorschlagen, Sie stellen ein paar Schilder auf, um Ihrer Kundschaft die Orientierung in diesem lächerlichen neuen System zu erleichtern!»
Der Junge ließ den Blick von Maisie zu Valerie schweifen und verdrehte die Augen. Valerie zeigte ihm den Mittelfinger. «Geht’s noch? Wegen meiner Mutter die Augen verdrehen?»
Schon möglich, dass Valerie eine Zumutung war, aber sie war loyal. Abgesehen von der Geste, war Maisie sehr stolz auf ihre Tochter.
«Führe ich hier vielleicht Selbstgespräche?», fuhr Maisie den Jungen an.
«Hören Sie, wollen Sie jetzt ein Tiefkühlhuhn, oder wollen Sie weiter hier rumstänkern?»
Maisie schob sich die Zunge in die Wange. Sie beugte sich über die Theke, um ihm den Marsch zu blasen, als eine vertraute Stimme ertönte.
«Na, so was. Maisie Bean! Frohes neues Jahr.» Plötzlich stand Fred Brennan neben ihr und streckte ihr die Hand entgegen.
Oh, Jesus! Eiskalt erwischt! Der junge Typ grinste und verschwand.
«Officer Brennan, hallo! Wissen Sie, was man anstellen muss, um hier an ein Hühnchen zu kommen?» Sie lachte gekünstelt. O Gott, bin ich peinlich!
«Was auch immer Sie vorhaben, nur bitte keinen Raubüberfall, zumindest nicht, solange ich in der Nähe bin.»
Sie wandten sich von der Fleischtheke ab.
«Wie geht es Ihnen, Maisie?» Die Frage klang aufrichtig.
Maisie lief dunkelrot an. «Gut, wirklich, sehr gut sogar.» Er nickte und wartete eindeutig auf mehr. «Äh, super, ja, wirklich super. Vielen Dank noch mal für alles, was Sie für uns getan haben, Officer Brennan.»
«Sie müssen mir nicht danken, Maisie. Außerdem sollen Sie doch Fred zu mir sagen, schon vergessen?»
«Sorry, Fred.»
«Dann haben Sie also nichts mehr von ihm gehört, oder, Maisie?»
Fred erkundigte sich grundsätzlich nach Maisies Exmann, wenn sie sich über den Weg liefen. Danny war vor Jahren spurlos verschwunden, und in gewisser Weise wünschte Maisie sich, Brennan würde endlich aufhören, immer wieder nachzufragen.
«Nein. Nichts. Der ist endgültig weg.» Und jetzt lass es gut sein, okay?
Fred drehte sich zu Valerie um und sah von sehr weit oben auf sie runter. Bei seiner Größe von eins achtundneunzig war das bei den meisten Menschen so, mit denen er sich unterhielt. «Und wie geht’s dir, Valerie?»
Sie zuckte die Achseln – eine bessere Antwort würde er nicht kriegen. Maisies Kinder fühlten sich in der Gegenwart erwachsener Männer nicht besonders wohl. Und wenn Maisie ehrlich war, ging es ihr genauso.
Er wechselte eilig das Thema. «Wie geht es Jeremy? Und Ihrer Mutter?»
«Super, danke.»
«Und wie läuft’s im Job?» Fred war es gewesen, der Maisie damals die Stelle bei dem Zahnarzt besorgt hatte. Der Arzt war ein Freund aus seinem Golfclub.
«Wunderbar, danke noch mal.»
«Würden Sie bitte damit aufhören, sich ständig bei mir zu bedanken? Ich habe Ihnen lediglich ein Vorstellungsgespräch vermittelt, den Rest haben Sie allein getan. Nur damit Sie’s wissen, Sie machen da einen ganz tollen Job. Und die Putzstelle? Sind Sie da auch immer noch unterwegs?»
«Ach ja … da kommt wenigstens Geld rein.» Einst, als Maisie jung und blauäugig gewesen war, hatte sie große Träume gehabt. Aber dann war sie ihrem Exmann begegnet. Der Snob in ihr hasste es, sich einzugestehen, mit welcher Art von Arbeit sie ihr Einkommen aufbesserte.
«Wenn alle Frauen so wären wie Sie, Maisie Bean, würden Frauen die Welt regieren.»
Valerie gab ein Würgegeräusch von sich, und Maisie warf ihrer Tochter einen bösen Blick zu.
«Sie sind eine tolle Frau, Maisie.»
Maisie hatte keine Ahnung, wie sie darauf reagieren sollte. Sie verstummten, und langsam wurde ihr klar, dass er sich ebenfalls unwohl fühlte. Fred war eigentlich ein gutaussehender Mann, aber im Augenblick war ihm offenbar zu warm, und er schwitzte sichtlich. «Eine tolle Frau!», wiederholte er. Sie fragte sich, ob er so rot im Gesicht war, weil er auch einen Kater hatte, oder ob er sich das Virus eingefangen hatte, das ihre halbe Straße niedergestreckt hatte. Bitte nies mich jetzt nicht an. Ich kann’s mir nicht leisten, krank zu werden. «Ganz schön warm hier, oder?», sagte sie.
«Eine Bullenhitze!» Fred ließ den Blick durch den Gang schießen. Er zog an seinem Bart und zupfte sich energisch an der Nase.
«Also, ich muss dann mal weiter.» Maisie verspürte das dringende Bedürfnis zu fliehen.
Er nickte lächelnd und sah dabei aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Als sie an ihm vorbeiging, fasste er sie mit beiden Händen am Arm – nicht brutal, wie Danny immer, sondern ganz sanft. Es fühlte sich warm an, behaglich und schön. Sein Gesicht war inzwischen dunkelrot geworden. «Ich würde Sie gern zum Essen einladen», platzte er heraus. Die Worte stolperten förmlich aus seinem Mund. Er senkte den Blick wieder zu Boden, ließ ihren Arm los und rieb sich das Kinn.
Maisie stand ein bisschen unter Schock. «Wie bitte?» Sie sah von Fred zu ihrer Tochter. Valerie stand vor Schreck der Mund offen.
«Wann immer Sie wollen.»
«Aha.» Maisie wusste nicht, was sie sagen sollte. In ihrem Kopf schwirrten tausend Gedanken durcheinander. Ist das ein Witz? Warum denn ich? Quatsch, ich habe ihn falsch verstanden, oder? Ich fange langsam an zu spinnen. Was, wenn …? Jesus, ich kann nicht! Niemals! Wobei, unter seinem Scheißbart sieht er eigentlich richtig gut aus. Aber ich habe zwei Kinder! Er weiß zu viel über uns. Trotzdem, er ist echt nett. Nein, das wäre nicht richtig. Ich habe nichts anzuziehen! Obwohl, Mas rotes Satinkleid passt mir, und das geht immer …
«Maisie?» Leise drang seine Stimme durch das gefühlt ewige Schweigen.
«Ja?»
«Hab ich die Chance auf eine Antwort?»
«Ja», sagte sie.
«Toll! Super!», flüsterte er heiser.
Maisie erstarrte. Oh, Jesus! Ich meinte, ja, ich beantworte die Frage. Nicht, ja, ich gehe mit dir aus!
«Wie wär’s denn gleich heute Abend?»
«Heute?» Maisie sah ihre Tochter an, die sie immer noch mit offenem Mund und großen Augen anstarrte.
«Na los, sagen Sie schon ja!» Er bettelte zwar nicht direkt darum, aber der Tonfall in seiner Stimme machte es unmöglich, nein zu sagen.
«Äh. Gut. Ja.»
«Toll. Um sieben. Ich hol Sie ab», sagte er. «Wunderbar!»
«Okay.» Maisie sah sich selbst beim Nicken zu.
Er klatschte in die Hände und rieb sie heftig aneinander. Dann tippte er gegen die Krempe seines unsichtbaren Hutes, zwinkerte und verschwand.
Maisie fühlte sich wie angewurzelt. Sie war vollkommen verwirrt und hatte keinen Schimmer, was zum Teufel da eben passiert war – und wie sie aus der Nummer wieder rauskommen sollte.
Ihre Tochter stand mit fest verschränkten Armen vor ihr. «Das sag ich Jeremy und Grammy.»
Maisie war ein bisschen schlecht. Sie setzte sich mechanisch in Bewegung.
«Was ist mit dem Hühnchen?»
«Es gibt Pizza. Wenigstens wissen wir, wo die Scheißdinger sind.»
«Fünfzig Pence!», rief Valerie und rannte ihrer Mutter hinterher, die bereits im nächsten Gang verschwand.
Auf dem Heimweg sagte Valerie kaum ein Wort. Sie mochte Fred, hatte ihn schon immer gemocht, aber die Vorstellung, dass er mit ihrer Ma ausging, gefiel ihr trotzdem kein bisschen.
Im Gegensatz zu Jeremy konnte sie sich kaum an die Jahre mit ihrem Vater erinnern. Damals hatte sie die Angst in sich noch nicht einordnen können: Sie war zu klein gewesen, um zu begreifen, dass ihr Vater ihre Mutter regelmäßig halbtot prügelte. Sie wachte von erstickten Schreien hinter geschlossenen Türen auf; sie kannte den Anblick von mit Make-up dürftig kaschierten blauen Flecken; sie sah ihre Mutter Blutflecken wegwischen und hörte dürftige Ausreden über abgebrochene Absätze, zurückschwingende Türen, bis hin zum lächerlichen «Aber das ist doch nur ein bisschen Ketchup!» Valerie war erst fünf gewesen, als Ma’sie damals schließlich drei Wochen lang mit schwersten Verletzungen im Krankenhaus gelegen hatte. Ihre Erinnerung an jene Zeit war neblig und verschwommen, voller Lücken und Fragen. Ihre Mutter sprach nie von früher, und auch wenn Valerie kaum etwas wusste, reichte ihr Wissen doch aus, um von sich aus keine Fragen zu stellen. Die Erinnerung an ihren Dad hatte sie tief in sich vergraben, und mit jedem Tag, der verging, driftete er ein Stückchen weiter weg. Wenn er sich doch einmal, was nur selten geschah, in ihre Gedanken schlich, dann als Erinnerung an einen charmanten und witzigen Mann – er hatte sie herumgewirbelt, hoch durch die Luft, und wenn sie dabei quietschte, hatte er gelacht –, doch hinter dieser Vision des vollkommenen Vaters lauerte die verschwommene Erinnerung an einen lauten, angsteinflößenden Mann.
Sieben lange Jahre waren vergangen, seit die Ehe ihrer Eltern geendet hatte und ihr Vater aus ihrem Leben verschwunden war. In dieser Zeit war ihre Mutter kein einziges Mal mit einem Mann ausgegangen. Von Jeremy abgesehen (und Jeremy zählte nicht), war ihr Haus männerfrei, und genau so sollte es auch bleiben. Für Valerie war Fred der Mann mit der Polizeiuniform, der ins Haus gestürmt kam und Probleme löste. Er kam, wenn alle weinten, und wenn sie aufgehört hatten zu weinen, ging er wieder weg. An eine Situation mit ihm konnte sie sich besonders gut erinnern: Sie war in seinen Armen aufgewacht, und er hatte sie zu einem Streifenwagen getragen. Sie hatte ein rosarotes, mit weißen Häschen verziertes Nachthemd getragen. Das Nachthemd roch frisch gewaschen und der Polizist nach Zigaretten und kräftigem Aftershave. Er hatte sie in eine Decke gewickelt und fest an sich gedrückt. Sie hatte Angst gehabt, so wie wohl jedes andere Kind auch, das plötzlich aufwacht und merkt, dass es von einem schwarzbärtigen Riesen festgehalten wird. Sie hatte angefangen zu weinen. Er hatte ihr zugelächelt, mit der freien Hand ihre Tränen weggewischt, ihr gesagt, dass sie in Sicherheit sei und er sich um ihre Mama kümmern würde. «Hast du deine Mama lieb?», hatte er sie gefragt.
Sie hatte genickt.
«Weißt du», hatte er gesagt, «du musst jetzt ganz stark für sie sein, und ich verspreche dir, dass ich auf euch aufpassen werde.» Auch wenn die fünfjährige Valerie all das nicht einordnen konnte, hatte sie sich in diesem Augenblick so sicher gefühlt wie noch nie in ihrem Leben.
Ihr war also klar, dass Fred ein netter Mann war, aber auch den netten Männern durfte man nicht trauen – hatte sie ihre Ma sagen hören. Die Vorstellung, wohin dieses eine Date führen konnte, weckte stumme Panik in ihr. Ihr Herz fing an zu rasen, als sie im Geiste die Hochzeit vor sich sah: Jeremy führte Ma’sie zum Altar, alle lächelten, und sie selbst ging hinterher, in einem bescheuerten gallegelben oder kotzgrünen Kleid, mit saudummen Blumen im Haar und finsterem Gesicht. Ihre Nasenwurzel fing an zu jucken, und sie spürte, dass ihr die Tränen kamen. Valerie rieb sich mit der geschlossenen Faust über die Stelle und starrte geradeaus. Sie riss sich zusammen, obwohl in ihrer Phantasie jetzt auch noch ein Baby – es sah aus wie ein Äffchen – auf dem Arm ihrer Mutter auftauchte. Kann meine Ma überhaupt noch Kinder kriegen?
Sie spürte genau, dass ihre Mutter mit ihr reden wollte, aber sie hatte ihr nichts zu sagen. Sie starrte weiter geradeaus, und innerlich kochte sie vor Wut.
Auf der Heimfahrt warf Maisie ihrer Tochter immer wieder verstohlene Blicke zu.
«Und, Äffchen, freust du dich schon auf die Schule?», fragte Maisie mit einem Anflug von Verzweiflung.
«Du sollst mich nicht Äffchen nennen. Wie wär’s, wenn wir das Wort mit auf die Liste für die Fluchkasse tun?»
«Nein.»
«Unfair!» Das war Valeries drittes Lieblingswort. Es kam direkt nach «Scheiß» und «Kacke».
«Okay», sagte Maisie. «Du darfst ‹Äffchen› mit auf die Liste setzen und ich ‹unfair›.»
Valerie schnaubte, aber wenigstens sah es nicht so aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Das war auch schon was wert.
Maisie startete einen letzten Versuch, auf irgendwie sinnvolle Weise mit ihrer Tochter ins Gespräch zu kommen. «Wie wär’s nächsten Samstag mit einem Mädelstag?»
Valerie warf ihrer Mutter einen zweifelnden Blick zu. «Können wir auch Zeug kaufen gehen?»
«Was denn für Zeug?»
«Meine Schultasche hat ein Loch, und meine Turnhose ist so klein geworden, dass sie an den Knien aufhört. Der Sportunterricht ist schon schlimm genug, ohne dass die Lehrerin einen fragt, warum man im Winter kurze Hosen anhat.» Valerie war nur selten etwas peinlich, und Maisie entging das verräterische Zartrosa auf den Wangen ihrer Tochter nicht.
«Geht klar.» Was bin ich nur für eine Rabenmutter! Schuldgefühle hatten einen festen Platz in Maisies Leben. Sie belud sich ständig mit Selbstzweifeln und Selbstvorwürfen. Als alleinerziehende Mutter lastete sämtliche Verantwortung ausschließlich auf ihren Schultern. Sie setzte sich furchtbar unter Druck, nur ja alles richtig zu machen, damit ihre Kinder nicht zu «Produkten zerrütteter Familienverhältnisse» heranwuchsen. Sie hatte genug darüber gelesen und wusste, dass die Theorie «Zerrüttete Familie = zerrüttete Kinder» breite Zustimmung erfuhr. Im Vergleich zu bürgerlichen Akademikerkindern aus wohlbehüteten Familien war die Gefahr für ihre Kinder ungleich größer, minderjährig zu Eltern oder drogensüchtig oder kriminell zu werden. Sie hätte heulen können.
«Gehen wir auch zu McDonald’s?»
«Ohne McDonald’s wäre es doch kein richtiger Mädelstag», sagte Maisie betont munter.
Valerie lächelte. «Na gut.»
«Schön!» Maisie, beruhige dich! Fred hatte sie eiskalt erwischt, und sie fühlte sich total hilflos. Ein Gefühl, das sie gut kannte, aber das machte den Umgang damit auch nicht leichter. Sie hielt sich nicht für übertrieben ängstlich. Maisie Bean machte sich nur Sorgen, wenn es auch wirklich Grund zur Sorge gab. Fred Brennan war ein attraktiver, netter, fürsorglicher Mann und hatte es definitiv nicht verdient, versetzt zu werden. Wie schaffe ich es, ihm einen Korb zu geben, ohne ihn zu verletzen? Fred war immer unglaublich nett zu Maisie gewesen. Er hatte sie praktisch gerettet, und sie fühlte sich ihm nach all den Jahren noch immer verpflichtet. Sie und ihre Kinder waren ihm offensichtlich immer noch wichtig. Das wollte sie auf keinen Fall kaputt machen.
Maisie fing an, die Hand auf dem Schaltknüppel rhythmisch zu öffnen und wieder zu schließen, und erntete dafür von ihrer Tochter einen misstrauischen Blick. «Ich hab einen Krampf im Arm», log sie. In Wirklichkeit machte sie die Übung, die Lynn ihr empfohlen hatte. Sie hatte zwar keine Ahnung, ob das Öffnen und Schließen der Faust wirklich funktionierte, aber ein Versuch konnte nicht schaden.
Valerie bockte noch ein bisschen vor sich hin, dann schniefte sie und rieb sich die Nase. «Wenn du denkst, dass ein Ausflug zu McDonald’s heißt, ich würde mich über dein Date mit dem Bullen freuen, liegst du daneben.»
«Das habe ich keine Sekunde lang geglaubt», sagte Maisie. In diesem Auto gibt es niemanden, der sich darüber freut, Schätzchen.
«Und Jeremy wird austicken», sagte Valerie warnend.
«Das ist mir absolut klar.»
Als er das letzte Mal dachte, Maisie hätte ein Date, hatte ihr Cousin Matt aus Amerika unangemeldet vor der Tür gestanden. Jeremy hatte ihm die Tür vor der Nase zugeknallt und durch den Briefschlitz gebrüllt: «Sie geht nicht aus! Dafür ist sie nicht zu haben!» Dabei hatte er lediglich das wiederholt, was er seine Mutter am Telefon zu ihren wohlmeinenden Freundinnen hatte sagen hören. Er hatte den Briefschlitz zuschnappen lassen, sich umgedreht, die Küchentür hinter sich zugeknallt und den verwirrten Matt einfach vor der Tür stehen lassen.
Maisie hatte zu dem Zeitpunkt im Garten die Wäsche aufgehängt und erst von Jeremys Verhalten erfahren, als sich Matt abends noch mal bei ihr meldete. Es war ihr fürchterlich peinlich gewesen, und er hatte großes Verständnis signalisiert, aber obwohl er versprochen hatte, vor seiner Abreise noch mal anzurufen, hatte er keinen zweiten Versuch mehr unternommen.
Als sie in die Auffahrt abbogen, hatte Maisie Schmetterlinge im Bauch. Valerie hatte sich abgeschnallt und war aus dem Auto gesprungen und zur Tür reingerast, um nach ihrem Bruder zu rufen, noch bevor Maisie den Motor abgestellt hatte.
«He, Krümel, reiß dich zusammen. Grammy schläft noch.» Er nannte sie immer noch Krümel, obwohl sie inzwischen größer war als die meisten in ihrer Klasse.
«Du glaubst nicht, was passiert ist!», rief Valerie ihrem Bruder zu, der seiner Mutter zwei der vier Einkaufstüten abnahm, mit denen sie beladen war.
«Feuerstein hat Ma gefragt, ob sie mit ihm ausgeht!» Die Kinder nannten Officer Brennan Feuerstein, seit er sie vor zwei Jahren gebeten hatte, ihn nicht Officer Brennan, sondern Fred zu nennen. Böser Fehler.
«Na klar!» Jeremy lachte. Er folgte seiner Mutter, und Valerie war ihm dicht auf den Fersen.
«Willst du mich verarschen?»
Maisie seufzte. Sie hatte im Auto eine Entscheidung getroffen. Wenn sie Fred wirklich enttäuschen musste, dann musste sie es sanft tun, während des Abendessens. Das war unter diesen Umständen das Mindeste. Außerdem kommt er sicher währenddessen selbst zur Vernunft und merkt, dass ich nicht die Richtige für ihn bin.
Ich kann nicht fassen, dass ich das sage!
Jeremy setzte sich auf den Hocker, als hätte er plötzlich nicht mehr genug Kraft in den Beinen, um sich aufrecht zu halten. «Jesus, Ma! Das tust du doch nicht wirklich, oder?»
«Doch.»
Weil ich den Mann unmöglich versetzen kann, Sohn. Maisie hätte wahrscheinlich auch ja gesagt, wenn Fred sie nicht eiskalt erwischt hätte. Fred war all die Jahre immer unglaublich nett zu ihr gewesen. Er hatte für sie und ihre Kinder immer viel mehr getan, als er hätte tun müssen. Er war ihr ein Freund gewesen, als sie dringend einen Freund brauchte. Sie konnte unmöglich nein zu einem Mann sagen, dem es nicht im Traum einfallen würde, ihr etwas abzuschlagen. Auch wenn ihr in diesem Augenblick klar wurde, dass ihre Unfähigkeit, nein zu sagen, dazu geführt hatte, dass sie schwanger wurde und geheiratet hatte. Und wohin das wiederum geführt hatte, sah man ja.
«Wir gehen essen, Jeremy, weiter nichts.»
«Und warum auch nicht!», hörte Maisie sich sagen. Sag mal, Alte, bist du völlig irre geworden?
«Warum auch nicht?»
«Das kannst du nicht wissen!», sagte er scharf, aber in seinen Worten schwang mehr Angst als Aggression mit.
«Nein. Kannst du nicht. Nicht wirklich! Du dachtest ja auch mal, dass mein Vater ein netter Mensch wäre, und dann ist es passiert.»
Danny Fox hatte sie eines Abends gefragt, ob sie mit ihm ausgehen würde, und weil sie nicht unhöflich sein wollte, hatte sie eingewilligt – auch wenn sie eigentlich keine große Lust darauf gehabt hatte. Ehrlich gesagt, war er trotz seines guten Aussehens nicht ihr Typ gewesen. Er war eitel und angeberisch, obwohl es eigentlich nichts zum Angeben gab. Ja zu sagen war leichter gewesen, als nein zu sagen, und schließlich war ja auch nichts dabei. Am Ende des Abends hatte er sie geküsst, und der Kuss war okay gewesen, vielleicht ein bisschen zu heftig, aber sie hatte schon schlechtere Küsse erlebt. Doch als sie sich dann von ihm losmachen wollte, hatte er sie plötzlich gepackt. Maisie hielt noch eine halbe Tüte Pommes in der Hand, als Danny Fox sie brutal gegen die Mauer drückte. Es dauerte ein oder zwei Minuten, bis ihr klar wurde, dass sie Sex hatten. Sie hatte versucht, ihn wegzuschieben, aber er hatte sie nur noch fester gegen die Mauer gepresst und, als er kam, ein-, zwei-, dreimal richtig heftig zugestoßen. Ihr hatte sich der Magen umgedreht.
Maisie war wie betäubt gewesen. Ihr Kopf hatte weh getan, und ihr Höschen war nass und klebrig gewesen. Als sie sich an den Hinterkopf fasste und Danny das Blut an ihren Fingern sah, hatte er wissen wollen, was passiert war.
Was ist denn passiert? Wir haben uns doch nur geküsst, und dann … und dann …
Erst zehn Jahre später, als Maisie einen Artikel in der Zeitung las, begriff sie, dass sie ein Date-Rape-Opfer war. Als Danny Fox damals am nächsten Tag mit einer Schachtel Pralinen vor der Tür stand und sich ihrer Mutter als Maisies neuer Freund vorstellte, schlug sie ihm weder die Tür vor der Nase zu, noch rief sie die Polizei. Sie hatte Angst, er würde schlecht über sie reden, falls sie ihn abblitzen ließ. Ich gebe ihm einen Monat, mache Schluss, und alles ist gut. Es gibt nichts Schlimmeres als den Ruf, ein Flittchen zu sein. Ein Monat verging, und Maisie versuchte währenddessen zu vermeiden, mit ihm allein zu sein, schob ihre Mutter und ihre Freundinnen als Ausreden vor, um sich nicht mit ihm treffen zu müssen. Falls er den Verdacht hegte, dass sie es vermied, mit ihm intim zu werden, so ließ er sich nichts anmerken. Er benahm sich beinahe wie ein Gentleman, jedenfalls relativ betrachtet. Er hielt ihr zwar nicht die Türen auf und rückte ihr keine Stühle zurecht, aber er steckte auch nicht seinen Pimmel in sie rein, wenn sie gerade nicht aufpasste.
«Es ist total super!», sagte er am Telefon zu ihr. «Der Bruder von meinem Dad hatte einen Herzinfarkt, und jetzt ist auf der Golfreise ein Platz frei geworden.»
«Sonntagvormittag.»
Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als zu warten, bis er wiederkam. Zu dem Zeitpunkt wären sie dann fast sechs Wochen zusammen, was auch noch eine völlig akzeptable Zeitspanne war, um Schluss zu machen. Doch als er wieder nach Hause kam, war alles anders geworden. Es gab kein Entrinnen mehr.
Fred ist ein netter Mann, ein guter Mensch. Er ist nicht Danny. Außerdem ist es nur eine Einladung zum Abendessen, und ich bin eine erwachsene Frau, Himmel noch mal!
«Aha. Ich gehe laufen», sagte er schließlich und polterte zur Tür.
«Jesus, Krümel, was willst du eigentlich von mir?», fragte er und warf die Hände in die Luft. Dann drehte er sich um, ging zur Haustür hinaus, knallte sie hinter sich zu und überließ Valerie und Maisie sich selbst.
«Feuerstein ist ein Wichser», murmelte Valerie.
«Ich bin erst zwölf!», murmelte Valerie und ging zur Tür.
Das war zu heftig. Bitte verzeih mir, Liebes!Ich bringe ihr später eine Tasse Heiße Schokolade. Und zwei Marshmallows. Und ganz viel Liebe.Ich sehe aus wie Seven Shades of Scheiße.
«Ja, Sohn?» Sie drehte sich in dem Augenblick zu ihm um, als das Wasser zu kochen begann.
«Glaubst du?» Er hatte sie erschreckt.
Jeremy würde ihr keine Steine in den Weg legen. Diese Erkenntnis machte sie glücklich und traurig zugleich. «Wann bist du so erwachsen geworden?»
Als er aus der Küche ging, spürte sie, wie ein winziger Pfeil sich schmerzhaft in ihr Herz bohrte.