Aufruhr in Oxford

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Impressum

Dieses E-Book basiert auf der gedruckten Ausgabe des Titels, die 2001 im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, erschien.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Die Originalausgabe erschien 1935 unter dem Titel «Gaudy Night» im Verlag Victor Gollancz Ltd., London.

«Gaudy Night» Copyright © 1935 by Anthony Fleming

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Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

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ISBN 978-3-644-21881-9

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-21881-9

Fußnoten

Diesem Buch zuliebe soll der Mansfield Lane hinter dem Shrewsbury College vorbei von der Mansfield Road zur St. Cross Road führen, etwa an der Grenze der jetzigen Kricketfelder des Balliol und Merton College entlang.

Die Universität ist ein Paradies, Ströme von Wissen fließen darin, Geistes- und Naturwissenschaften kommen von dort. Die Seminare sind horti conclusi (wie es im Hohelied heißt), verschloßne Gärten, und fontes signati, versiegelte Borne; bodenlose Tiefen unerforschlichen Ratschlusses.

JOHN DONNE

Vorbemerkung der Verfasserin

Es wäre müßig, zu leugnen, daß es die Stadt und Universität Oxford (in aeternum floreant) wirklich gibt und daß sie eine Anzahl von Colleges und anderen Einrichtungen beherbergen, von denen einige in diesem Buch mit Namen genannt sind. Um so nachdrücklicher muß ich versichern, daß von den Personen, die ich auf diese öffentliche Bühne gestellt habe, keine ihr Gegenstück im wirklichen Leben hat. Insbesondere ist das Shrewsbury College mitsamt seinen Professorinnen, Studentinnen und Hausmädchen völlig frei erfunden; und ebensowenig verbergen sich hinter den bestürzenden Ereignissen, die sich hier in seinen Mauern abspielen, solche, die sich irgendwann irgendwo wirklich abgespielt hätten. Kriminalschriftsteller sehen sich durch ihren garstigen Beruf genötigt, ebenso erschreckende wie unerfreuliche Vorfälle und Menschen zu ersinnen, und es steht ihnen frei (wie ich meine), sich auszumalen, was geschehen würde, wenn solche Vorfälle und Menschen über eine unschuldige, wohlgeordnete Gemeinschaft hereinbrächen; darum darf man ihnen aber nicht unterstellen, sie täten so, als wären solche Störungen im Leben einer Gemeinschaft jemals vorgekommen oder könnten möglicherweise einmal vorkommen.

Gewisse Entschuldigungen meinerseits sind jedoch angebracht: erstens bei der Universität Oxford, der ich einen Kanzler und Vizekanzler eigener Machart vorgesetzt und, über die in den Statuten festgesetzte Höchstzahl hinaus, noch ein College mit 150 Studentinnen angedichtet habe; alsdann (und in tiefster Zerknirschung) beim Balliol College – nicht nur, weil ich ihm so einen ungeratenen Alumnus wie Peter Wimsey aufgeladen habe, sondern vor allem für die bodenlose Unverschämtheit, das Shrewsbury College ausgerechnet auf seinem geheiligten Kricketplatz errichtet zu haben. Beim New College ebenso wie beim Christ Church

Bei der Rektorin und den Dozentinnen des Somerville College, an dem ich selbst studiert habe, bedanke ich mich herzlich für ihre großzügige Hilfe in Sachen Haus- und allgemeiner Studienordnung – wobei sie für die einzelnen Hausordnungsbestimmungen am Shrewsbury College, von denen ich manche nach eigenen Bedürfnissen erfunden habe, nicht verantwortlich zu machen sind.

Wen die Chronologie interessiert, der mag aus seinem bisherigen Wissen über die Familie Wimsey schließen, daß dieses Buch im Jahre 1935 spielt; er möge mir dann aber bitte nicht übelnehmen, daß ich das Jubiläum des Königs mit keinem Wort erwähne oder daß ich Wetter und Mondzyklen nach eigenem Gutdünken gestaltet habe. Denn sei der Hintergrund noch so real, die wahre Heimat des Schriftstellers ist das Wolkenkuckucksland, in dem er nichts als Possen treibt, den Mord zur Posse macht; das tut der Welt nicht weh.

1. Kapitel

Du Narrenmal, du selbsterwählte Schlinge,

Des Wahnes Abschaum, dem der Geist verfiel,

Der Übel Ausbund, Nest der Sorgendinge,

Du Willenswirrsal ohne End und Ziel,

Begier, Begier, ich zahlte, ach, zuviel

Durch Geistesnacht dein Gut, das nur geringe.

SIR PHILIP SIDNEY

Harriet Vane saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf den Mecklenburg Square hinaus. Die späten Tulpen in den Beeten hielten sich tapfer, und vier frühe Tennisspieler zählten laut den Punktstand ihres ziemlich verworrenen, ungeübten Spiels. Doch Harriet sah weder Tulpen noch Tennis. Vor ihr auf der Schreibunterlage lag ein geöffneter Brief, doch ein anderes Bild verdrängte dessen Anblick vor ihrem inneren Auge. Sie sah ein steinernes Viereck, erbaut von einem modernen Architekten in einem Stil, der nicht neu noch alt war, vielmehr versöhnliche Hände nach Vergangenheit und Gegenwart ausstreckte. Inmitten der Mauern lag ein gepflegter Rasen mit Blumenbeeten an den Ecken, umrundet von einem breiten steinernen Plattenweg, der Plinthe. Hinter den gleichmäßig hohen Dächern aus Cotswold-Schiefer erhoben sich die Backsteinkamine eines älteren, nicht so strengen Gebäudekomplexes – auch einigermaßen quadratisch angelegt, aber noch an die Biederkeit der ehemals dort stehenden viktorianischen Wohnhäuser erinnernd, in denen die ersten schüchternen Studentinnen des Shrewsbury College einst gewohnt hatten. Vorn standen die Bäume des Jowett Walk, und dahinter ragten die alten Giebel und der Turm des New College empor, von seinen Dohlen umkreist, die sich von einem stürmischen Himmel abhoben.

Ihre Erinnerung belebte den Hof mit Gestalten. Paarweise schlenderten Studentinnen dahin; andere eilten in die Vorlesung, die Talare eilig über leichte Sommerkleider geworfen, die Barette vom Wind gezaust, daß sie Narrenkappen ähnelten. In die Pförtnerloge waren Fahrräder eingestellt, die Gepäckträger hoch beladen mit Büchern, die Lenkstangen mit Talaren umwickelt. Eine angegraute Professorin schritt verträumten Blickes über den Rasen, die Gedanken auf philosophische Fragen des sechzehnten Jahrhunderts gerichtet, mit wehenden Talarärmeln, die Schultern

Es war ja alles so lange her; so fest verpackt und abgeschlossen; so wie mit Schwertern abgetrennt durch die bitteren Jahre, die dazwischen lagen. Konnte sie sich dem allem jetzt stellen? Was würden diese Frauen über sie sagen, über Harriet Vane, die mit einer Eins in Englisch abgeschlossen hatte und nach London gegangen war, um Kriminalromane zu schreiben, dort mit einem Mann zusammengelebt hatte, mit dem sie nicht verheiratet war, und sich für seine Ermordung in einem aufsehenerregenden Prozeß vor Gericht hatte verantworten müssen? Dies war keine Karriere, wie sie das Shrewsbury College von seinen ehemaligen Studentinnen erwartete.

Sie war nie mehr zurückgegangen; zuerst nur, weil sie den Ort zu sehr geliebt hatte und eine glatte Trennung ihr besser schien als ein langsames, schmerzhaftes Sich-los-Reißen; auch weil sie nach dem Tod ihrer Eltern völlig mittellos dastand und der Kampf ums tägliche Brot all ihre Zeit und Gedanken in Anspruch nahm. Und dann war später der schwarze Schatten des Galgens zwischen sie und dieses sonnenbeschienene, grau-grüne Viereck gefallen. Aber jetzt –?

Sie nahm den Brief von neuem zur Hand. Es war eine dringliche Bitte an sie, an der Jahresfeier des Shrewsbury College teilzunehmen – eine Bitte von der Art, die man nicht gut ausschlagen kann. Eine Freundin, die sie seit ihrer gemeinsamen Studienzeit nicht mehr gesehen hatte; inzwischen verheiratet und ihr entfremdet, jetzt aber krank, und bevor sie sich zu einer schwierigen und gefährlichen Operation ins Ausland begab, wollte sie Harriet unbedingt noch einmal wiedersehen.

Mary Stokes, so hübsch und zierlich wie Miss Patty in dem Schauspiel, das sie nach dem zweiten Studienjahr aufgeführt hatten; so charmant und vollendet in ihrem Auftreten, so sehr der gesellschaftliche Mittelpunkt ihres Jahrgangs. Sonderbar, daß

«Aber mein Gott», dachte Harriet, «ich will kein Feigling sein! Ich gehe hin und basta. Schlimmer, als man mir weh getan hat, kann mir nichts mehr weh tun. Und was macht es schließlich aus?»

Sie füllte die Antwortkarte aus, adressierte sie, knallte eine Briefmarke darauf und lief schnell nach unten, um sie in den Briefkasten zu werfen, bevor sie es sich doch noch anders überlegte.

Sie kam langsam durch die Parkanlage zurück, stieg die steinerne Adam-Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, kam dort nach fruchtloser Durchsuchung eines Kleiderschranks wieder heraus und stieg weiter hinauf zum Speicher. Sie schleifte eine alte Truhe auf den Gang, schloß sie auf und klappte den Deckel hoch. Ein dumpfer, kalter Geruch. Bücher. Ausrangierte Kleidung. Alte Schuhe. Alte Manuskripte. Eine verblaßte Krawatte, die einmal ihrem verstorbenen Liebhaber gehört hatte – wie schrecklich, daß

 

Harriet war froh, daß sie sich inzwischen ein eigenes kleines Auto leisten konnte. Dadurch würde ihr Einzug in Oxford sie nicht an ihre früheren Ankünfte mit der Eisenbahn erinnern. Noch ein paar Stunden länger konnte sie das wimmernde Gespenst ihrer toten Jugend ignorieren und sich einreden, sie sei eine Fremde, eine Durchreisende, eine wohlhabende Frau mit einer Stellung in der Welt. Die heiße Landstraße blieb hinter ihr zurück. Ortschaften wuchsen aus der grünen Landschaft, drängten sich dicht an sie heran mit ihren Wirtshausschildern und Tankstellen, ihren Läden und Polizeistationen und Kinderwagen, wirbelten hinter sie zurück und waren vergessen. Der Juni ging inmitten von Rosen dem Ende entgegen, und die Hecken verdunkelten sich zu einem stumpferen Grün; das aufdringliche Rot der Ziegelbauten entlang der Landstraße mahnte sie daran, daß die Gegenwart unerbittlich die leeren Felder der Vergangenheit verbaute. In High Wycombe nahm sie in aller Ruhe ein kräftiges Mittagessen zu sich, bestellte dazu eine halbe Flasche Weißwein und gab der Kellnerin ein großzügiges Trinkgeld. Sie wollte sich so deutlich wie möglich von der vormaligen jungen Studentin unterscheiden, die sich im Schatten eines Waldweges mit einem Packen Butterbrote und einer Thermosflasche Kaffee hätte begnügen müssen. Wenn man älter wurde, sicherer in seiner Persönlichkeit, bekam man wieder mehr Geschmack an äußeren Formen. Ihr Kleid für das Gartenfest, passend zu ihrer akademischen Tracht gewählt, lag säuberlich zusammengefaltet im Koffer. Es war lang und schlicht, aus glatter schwarzer Georgette und von untadeliger Korrektheit. Darunter lag fürs Festbankett ein Abendkleid aus sattem Petunienrot, von ausgezeichnetem, aber dezentem Schnitt, der nicht ungehörig viel Brust oder Rücken zeigte; damit würde sie sicher nicht die Porträts toter Rektorinnen beleidigen, die von den allmählich verblassenden Eichentäfelungen des großen Speisesaals blickten.

Headington. Sie war jetzt sehr nah, und trotz allem krampfte ihr ein kaltes Unbehagen den Magen zusammen. Headington Hill, wo man so oft sein klappriges Fahrrad mühsam hinaufgeschoben hatte. Jetzt kam er einem lange nicht mehr so steil vor, wenn man hinter vier rhythmisch pulsierenden Zylindern sittsam hier hinunterfuhr; aber jedes Blatt, jeder Stein grüßte einen mit der zudringlichen Vertrautheit einer alten Schulfreundin. Dann die schmale Straße mit ihren eng zusammengedrängten, unordentlichen Läden, wie eine Dorfstraße; hier und da war sie ein wenig verbreitert und ausgebessert worden, aber es gab wenig wirkliche Veränderungen, die einem Zuflucht boten.

Die Magdalen-Brücke. Der Magdalen-Turm. Hier war überhaupt kein Wandel sichtbar – nur die herzlose, gleichgültige Dauerhaftigkeit menschlichen Werkens. Hier mußte man ernsthaft anfangen, sich zu wappnen. Die Long Wall Street. Die St. Cross Road. Man fühlte die eherne Hand der Vergangenheit an den Eingeweiden. Das Tor zum College; und nun mußte man es auch durchstehen.

Am Eingang in der St. Cross Road saß ein neuer Pförtner, der Harriets Namen ungerührt zur Kenntnis nahm und auf einer Liste abhakte. Sie übergab ihm ihr Gepäck, fuhr den Wagen um die Ecke zu einer Garage im Mansfield Lane[*], ging dann, den Talar überm Arm, über den Neuen Hof in den Alten und gelangte schließlich durch einen häßlichen Toreingang aus Ziegelsteinen in den Burleigh-Bau.

Auf den Korridoren und im Treppenhaus begegnete sie niemandem von ihrem Jahrgang. An der Tür zum Studentengemeinschaftsraum begrüßten sich drei ehemalige Kommilitoninnen eines viel älteren Jahrgangs mit überschäumender, wenn auch verspäteter Mädchenhaftigkeit; sie kannte aber keine von ihnen und ging, ohne etwas zu sagen oder von ihnen angesprochen zu werden, an ihnen vorbei wie ein Geist. Das ihr zugewiesene Zimmer identifizierte Harriet nach einigen Berechnungen als dasjenige, das zu ihrer Zeit von einer ihr ausgesprochen unsympathischen Kommilitonin bewohnt worden war; sie hatte einen Missionar geheiratet und war nach China gegangen. Der kurze Talar der jetzigen Bewohnerin hing hinter der Tür; die Bücher in den Regalen ließen auf ein Geschichtsstudium schließen; nach ihren persönlichen Habseligkeiten zu schließen, schien sie eine Studentin im

Sie packte ihren Koffer aus, zog Mantel und Rock aus, warf sich einen Bademantel über und machte sich auf die Suche nach einem Badezimmer. Sie hatte sich eine dreiviertel Stunde zum Umkleiden und Frischmachen zugebilligt, und die Warmwasserversorgung hatte schon immer zu den bewundernswertesten kleinen Annehmlichkeiten am Shrewsbury College gehört. Sie wußte nicht mehr genau, wo sich die Badezimmer auf diesem Flur befanden, aber sie mußten hier irgendwo links sein. Ein Abspülraum, zwei Abspülräume mit Hinweisschildern an den Türen: GESCHIRRSPÜLEN NACH 23 UHR UNTERSAGT; drei Toiletten mit Hinweisschildern an den Türen: NACH VERLASSEN BITTE LICHT LÖSCHEN; ja, und hier war sie richtig – vier Badezimmer mit Hinweisschildern an den Türen: BADEN NACH 23 UHR UNTERSAGT, und darunter jeweils der entrüstete Zusatz: WENN EINZELNE STUDENTINNEN WEITERHIN NACH 23 UHR BADEN, WERDEN DIE BADERÄUME KÜNFTIG UM 22.30 UHR ABGESCHLOSSSEN. EINE gewisse RÜCKSICHTNAHME AUF ANDERE IST IN EINER GEMEINSCHAFT UNERLÄSSLICH. Unterzeichnet: L. MARTIN, DEKAN. Harriet suchte sich das größte Bad aus. Da hing eine Merktafel mit VERHALTENSMASSREGELN IM BRANDFALLE und in großen Lettern der Hinweis: DER WARMWASSERVORRAT IST BEGRENZT. BITTE NICHT UNNÖTIG VERGEUDEN! Mit dem vertrauten Gefühl, in Vorschriften eingebettet zu sein, drückte Harriet den Stöpsel in den Abfluß und drehte den Hahn auf. Das Wasser war siedendheiß; allerdings hätte der Badewanne ein neuer Emailüberzug gutgetan, und die Korkmatte hatte auch schon bessere Tage gesehen.

Nach dem Bad fühlte Harriet sich schon viel wohler. Wieder hatte sie das Glück, auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer niemandem zu begegnen, den sie kannte. Sie war nicht in der Stimmung für erinnerungsseligen Klatsch im Bademantel. An der Tür zum vorletzten Zimmer vor dem ihren las sie den Namen «Mrs. H. Attwood». Die Tür war zu, und darüber war sie froh. An der nächsten Tür stand kein Name, doch als Harriet vorbeiging, drehte von drinnen jemand am Türknauf, und die Tür bewegte sich langsam. Harriet huschte rasch vorbei und brachte sich in Sicherheit. Sie hatte ganz lächerliches Herzklopfen.

Das schwarze Kleid paßte wie angegossen. Es hatte eine kleine viereckige Passe und lange, schmale Ärmel, durch Rüschen aufgelockert, die fast bis zu den Fingerknöcheln reichten. Es betonte ihre Figur bis zur Taille und fiel von da lose zum Boden, wodurch es ein wenig an die Mode des Mittelalters erinnerte. Der Stoff war matt und trat so hinter dem sanften Schimmer der akademischen Tracht zurück. Harriet zog die schweren Falten des Talars ein wenig über die Schultern nach vorn, so daß das strenge Vorderteil glatt wie eine Stola nach unten fiel. Mit dem Überwurf hatte sie gewisse Schwierigkeiten, bevor ihr wieder einfiel, wie man ihm am Hals den richtigen Dreh gab, so daß die rote Seide nach außen zeigte. Sie steckte ihn unsichtbar an der Brust fest, so daß er unverrückbar in der richtigen Lage blieb – eine schwarze und eine rote Schulter. Gebückt vor dem unzulänglichen Spiegel stehend (die jetzige Bewohnerin des Zimmers mußte recht klein sein), drückte sie sich das weiche Barett flach und gerade auf den Kopf, so daß die Spitze über der Mitte der Stirn herunterklappte. Im Spiegel sah sie ihr Gesicht ziemlich blaß, mit schwarzen, eckigen Brauen rechts und links von einer kräftigen, für gängige Schönheitsideale etwas zu breiten Nase. Ihre Augen starrten ihr aus dem Glas entgegen – ein wenig müde, ein wenig trotzig –, Augen, die schon Angst gesehen hatten und noch immer argwöhnisch dreinblickten. Der Mund verriet einen Menschen, der freigebig gewesen war und die Freigebigkeit bereut hatte; die weit auseinanderstehenden Winkel waren nach hinten gezogen, wie um nichts preiszugeben. Nachdem das dichte, wellige Haar unter dem schwarzen Tuch steckte, wirkte das Gesicht gleichsam entblößt, wie zur Tat bereit. Harriet betrachtete sich stirnrunzelnd und fuhr ein paarmal mit den Händen den Talar hinauf und hinunter; dann drehte sie sich, allmählich ungehalten über den Spiegel, zum Fenster und blickte hinaus auf den Innenhof, der auch Alter Hof hieß. Es war eine rechteckige Grünanlage, um die sich die Collegegebäude gruppierten. An

«Obwohl diese leuchtenden Farben ja durchaus etwas Mittelalterliches haben», dachte sie. «Und die Frauen sind jedenfalls nicht schlimmer als die Männer. Einmal habe ich doch den alten Hammond in der Prozession zum Stiftungsfest im Talar eines Doktors der Musik, einem grauen Flanellanzug darunter, braunen Schuhen und einer blauen, getüpfelten Krawatte gesehen, und niemand hat etwas darüber gesagt.»

Sie mußte plötzlich lachen und fühlte sich zum erstenmal wieder voll Zuversicht.

«Das können sie mir jedenfalls nicht nehmen. Was ich seitdem auch getan habe, dies bleibt: Studium, Magister Artium, Domina, Seniorin dieser Universität (statutum est quod Juniores Senioribus debitam et congruam reverentiam tum in privato tum in publico exhibeant); ich habe eine Stellung im Leben erreicht, die mir niemand streitig machen kann und der man Achtung entgegenzubringen hat.»

Sie verließ festen Schrittes ihr Zimmer und klopfte an die übernächste Tür.

 

Die vier Frauen gingen zusammen durch den Garten – langsam, weil Mary krank war und nicht schnell gehen konnte. Und während sie so gingen, dachte Harriet:

«Es war ein Fehler – es war ein großer Fehler – ich hätte nicht kommen sollen. Mary ist ja ein liebes Ding, das war sie schon immer, und es ist so rührend, wie sie sich freut, mich wiederzusehen, aber wir haben uns nichts mehr zu sagen. Und jetzt werde ich sie immer so in Erinnerung behalten, wie sie heute ist, mit diesem abgehärmten Gesicht und dem geschlagenen Ausdruck. Und sie wird mich in Erinnerung behalten, wie ich bin – verhärtet. Sie hat gesagt, ich sehe erfolgreich aus, und ich weiß, was das heißt.»

Sie war froh, daß Betty Armstrong und Dorothy Collins alles Reden besorgten. Die eine von ihnen war eine vielbeschäftigte Hundezüchterin; die andere führte einen Buchladen in

Dorothy Collins unterbrach sie in ihren Gedanken, indem sie ihr eine Frage nach Verlagsverträgen stellte, deren Beantwortung sie über die Zeit rettete, bis sie auf den Hof hinaustraten. Auf dem Weg kam ihnen eine resolute Gestalt entgegengeeilt und hielt mit einem Begrüßungsruf mitten im Schritt inne.

«Nanu, das ist ja Miss Vane! Wie schön, Sie nach so langer Zeit einmal wiederzusehen.»

Harriet ließ sich dankbar von der Dekanin entführen, zu der sie schon immer eine sehr große Zuneigung gehabt und die ihr damals freundliche Worte geschrieben hatte, als aufmunternde Freundlichkeit ihr mehr hatte helfen können als alles andere auf der Welt. Die andern drei wußten, was die Achtung vor der Autorität ihnen gebot, und gingen weiter; sie hatten der Dekanin schon im Laufe des Tages ihren Respekt erwiesen.

«Wie schön, daß Sie kommen konnten!»

«Ziemlich mutig von mir, nicht wahr?» meinte Harriet.

«Ach, so ein Unsinn!» antwortete die Dekanin. Sie legte den Kopf schief und musterte Harriet mit glänzenden Vogelaugen. «Sie dürfen an das alles nicht mehr denken. Kein Mensch kümmert sich heute noch darum. Wir sind nicht annähernd so ausgetrocknete Mumien, wie Sie glauben. Schließlich ist die Arbeit, die Sie leisten, das einzige, was wirklich zählt, nicht wahr? Übrigens kann die Rektorin es kaum erwarten, Sie zu sehen. Sie war so begeistert von Sand des Verbrechens. Sehen wir mal, ob wir sie noch erwischen, bevor der Vizekanzler eintrifft … Was sagen Sie zum Aussehen von Stokes – ich meine Attwood? Ich kann mir ihre neuen Namen einfach nicht merken.»

«Ziemlich elend, finde ich», sagte Harriet. «Im Grunde bin ich

«Aha!» sagte die Dekanin. «Wahrscheinlich in der Entwicklung stehengeblieben, wie? Sie war mal Ihre Freundin – aber ich fand schon immer, daß sie einen Verstand hatte wie ein eintägiges Küken. Sehr altklug, aber kein Stehvermögen. Trotzdem hoffe ich, daß man sie wieder hochbringt … Mein Gott, dieser Wind – ich kann mein Barett nicht auf dem Kopf halten. Ihres hält erstaunlich gut; wie machen Sie das? Und ich sehe, daß wir beide Dunkel tragen, wie sich’s gehört. Haben Sie Trimmer in diesem entsetzlichen Kleid gesehen? – Wie ein kanariengelber Lampenschirm!»

«Ach, Trimmer war das? Was treibt sie eigentlich?»

«Du lieber Gott! Sie hat sich auf psychologische Heilkunst verlegt, Freude und Liebe und so weiter … Ah, ich hab mir doch gedacht, daß wir die Rektorin hier finden.»

Das Shrewsbury College hatte stets Glück mit seinen Rektorinnen gehabt. In den Anfangstagen hatte eine Frau von Rang sein Ansehen gehoben; in der schwierigen Zeit des Kampfes um akademische Abschlüsse für Frauen hatte es eine Diplomatin an der Spitze gehabt; und jetzt, nachdem es in die Universität eingegliedert worden war, sorgte eine Persönlichkeit für ein annehmbares Bild in der Öffentlichkeit. Dr. Margaret Baring trug ihr Scharlachrot und Grau sehr selbstbewußt. Sie war eine prachtvolle Galionsfigur bei allen öffentlichen Anlässen und verstand es mit viel Takt, die verletzten Gefühle verkrusteter und gekränkter männlicher Akademiker zu besänftigen. Sie begrüßte Harriet freundlich und fragte, wie ihr die Neue Bibliothek gefalle, die den Alten Hof auf der Nordseite abschließen solle. Harriet bewunderte pflichtschuldigst, was von dem Gebäude bisher zu sehen war, nannte es einen großen Fortschritt und fragte, wann es fertig sein werde.

«Zu Ostern, hoffen wir. Vielleicht dürfen wir Sie zur Eröffnung begrüßen.»

Harriet antwortete höflich, sie freue sich darauf, und als sie in der Ferne den wehenden Talar des Vizekanzlers erscheinen sah, zog sie sich taktvoll zurück und mischte sich wieder unter die Ehemaligen.

Talare, Talare, Talare. Es war manchmal schwierig, nach zehn und mehr Jahren die Leute zu erkennen. Diese Frau mit dem blauen Überwurf mit Kaninchenfellbesatz mußte Sylvia Drake sein – demnach hatte sie doch noch ihren Bakkalaureus geschafft. Miss Drakes Baccalaureus Litterarum war am College ein

«Ja, natürlich», antwortete Harriet. «Und du unterrichtest noch?»

«Ja – noch immer an derselben Schule», sagte Mollison. «Im Vergleich mit deiner Arbeit ist meine ja wohl nur Kleinkram.»

Darauf gab es als Antwort nur ein abwehrendes Lachen, und Harriet lachte abwehrend. Bewegung kam in die Versammelten. Man strömte in den Neuen Hof, wo eine Uhr enthüllt werden sollte, und stellte sich auf dem steinernen Weg hinter den Blumenbeeten auf. Eine amtliche Stimme ließ sich vernehmen und legte den Gästen nahe, Platz für den Zug der Honoratioren zu lassen. Harriet benutzte diese Gelegenheit, um sich von Vera Mollison freizumachen und sich hinter eine Gruppe zu stellen, in der sie kein bekanntes Gesicht sah. Auf der gegenüberliegenden Seite des Hofs sah sie Mary Attwood und ihre Freundinnen. Sie winkten ihr zu. Sie winkte zurück. Aber sie würde nicht über den Rasen gehen und sich zu ihnen stellen. Sie wollte sich abseits halten, für sich allein in der großen Masse.

Die Uhr konnte unter ihrer Fahnentuchhülle wohl ihren ersten Auftritt in der Öffentlichkeit nicht erwarten und schlug drei. Schritte knirschten auf dem Kies. Die Prozession kam unter dem Torbogen in Sicht, ein kleiner Zug älterer Leute in Zweierreihe; herausgeputzt in der nicht mehr angemessenen Pracht einer prunksüchtigeren Zeit, schritten sie mit der lässigen Würde dahin, die so typisch für Universitätsveranstaltungen in England ist. Sie überquerten den Hof. Sie bestiegen das Podest unter der Uhr. Die Professoren nahmen zum Zeichen der Ehrerbietung vor dem Vizekanzler ihre akademische Kopfbedeckung ab, die Professorinnen nahmen eine andächtige Haltung ein wie zur Gebetsstunde.

Harriet, die im Gedränge folgte, entdeckte zu ihrem Entsetzen, daß Vera Mollison wieder neben ihr aufgetaucht war und soeben sagte, ihrer Meinung nach müßten alle Kriminalschriftsteller ein großes persönliches Interesse an Uhren haben, da doch so viele Alibis sich um Uhren und Zeitzeichen drehten. An der Schule, an der sie unterrichte, habe es einmal einen merkwürdigen kleinen Zwischenfall gegeben; sie finde, das sei ein hervorragendes Thema für einen Detektivroman – für jemanden, der so klug sei, sich so etwas auszudenken. Sie habe sich darauf gefreut, Harriet wiederzusehen und ihr davon zu erzählen. Und damit baute sie sich in beträchtlicher Entfernung von den Büffettischen auf dem Rasen auf und begann von dem merkwürdigen Vorfall zu berichten, der einiger vorausgehender Erklärungen bedurfte. Ein Hausmädchen kam mit einem Tablett voller Teetassen. Harriet nahm sich rasch eine und wünschte sofort, sie hätte das nicht getan, denn die Tasse hinderte sie an schneller Bewegung und schien sie bis in alle

«Ja?» machte Phoebe. «Ach, du bist es. Gott sei Dank! Ich dachte schon, außer Trimmer und dieser schrecklichen Mollison ist überhaupt niemand von unserm Jahrgang hier. Komm, wir holen uns ein paar Sandwichs; sie sind recht gut, so unglaublich es klingt. Wie geht’s dir denn so? Alles bestens?»

«Nicht schlecht.»

«Jedenfalls machst du gute Sachen.»

«Du auch. Komm, wir suchen uns irgendwo einen Platz zum Hinsetzen. Ich möchte gern etwas über deine Ausgrabungen hören.»

Phoebe Tucker hatte Geschichte studiert und einen Archäologen geheiratet, und die Kombination schien bemerkenswert gut zu klappen. Sie gruben in vergessenen Winkeln der Erde alte Knochen und Steine und Gefäße aus, schrieben Abhandlungen darüber und hielten Vorträge vor der Gelehrtenwelt. Irgendwann dazwischen hatten sie ein fröhliches Kindertrio in die Welt gesetzt, das sie ohne Umstände bei den beglückten Großeltern abzuliefern pflegten, bevor sie wieder zurück zu ihren Knochen und Steinen eilten.

«Also, wir sind gerade erst von Ithaka zurück. Bob ist ganz aus dem Häuschen wegen ein paar neuer Begräbnisstätten und hat eine völlig neue, revolutionäre Theorie über Begräbnisriten aufgestellt. Er schreibt an einem Aufsatz, in dem er allen Schlußfolgerungen des alten Lambard widerspricht, und ich helfe ihm, indem ich seine Adjektive etwas abschwäche und mildernde Fußnoten einflicke. Ich meine, Lambard mag ja ein verschrobener alter Trottel sein, aber es ist würdevoller, das nicht mit ganz so vielen Worten zu sagen. Eine höfliche, tödliche Nettigkeit ist viel vernichtender, findest du nicht auch?»

«Unbedingt.»

Hier hatte sie immerhin jemanden gefunden, der sich keinen Deut geändert hatte, den verflossenen Jahren und der Ehe zum Trotz. Harriet war ganz in der Stimmung, sich darüber zu freuen. Nachdem das Thema der Begräbnisriten ausgiebig erschöpft war, erkundigte sie sich nach der Familie.

«Na ja, die Kinder fangen an, uns Spaß zu machen. Richard –

Von diesem Punkt ging die Unterhaltung ganz natürlich auf die Biologie, die Mendelsche Vererbungslehre und Schöne neue Welt über. Sie wurde unterbrochen, als aus einer Gruppe ehemaliger Studentinnen plötzlich Harriets frühere Tutorin auftauchte. Harriet und Phoebe eilten ihr wie auf Kommando zur Begrüßung entgegen. Miss Lydgate hatte noch genau dieselbe Art an sich wie früher. Den unschuldigen und ehrlichen Augen dieser großen Gelehrten schien sich nie ein moralisches Problem zu stellen. Selbst von untadeliger persönlicher Integrität, beurteilte sie die Irrungen anderer mit einer allumfassenden, rückhaltlosen Nächstenliebe. Wie es sich für Kenner der Literatur gehört, kannte auch sie natürlich alle Sünden dieser Welt mit Namen, aber ob sie eine davon erkannt hätte, wenn sie ihr im wirklichen Leben begegnet wäre, war sehr fraglich. Es war, als ob jede Missetat, begangen von einem Menschen, den sie kannte, bereits durch die persönliche Bekanntschaft entschärft und geläutert wäre. So viele junge Menschen waren schon durch ihre Hände gegangen, und sie hatte so viel Gutes in ihnen allen gefunden; es war ihr unmöglich, zu glauben, daß jemand absichtlich böse sein könnte wie Richard III. oder Jago. Unglücklich, ja; irregeleitet, ja; mit Schwierigkeiten und vielschichtigen Versuchungen konfrontiert, von denen Miss Lydgate selbst gnädig verschont geblieben war, ja. Wenn sie von einem Diebstahl hörte, einer Scheidung oder Schlimmerem gar, kräuselte sie besorgt die Stirn und überlegte, wie unvorstellbar schlecht es den

Miss Lydgate machte nicht den Eindruck, als ob sie sich für Miss Vane schämte. Im Gegenteil, sie begrüßte sie aufs herzlichste, bat sie, am Sonntagmorgen zu ihr zu kommen, sprach anerkennend über ihre Arbeit und hob lobend hervor, daß sie sich selbst im Unterhaltungsroman eines gepflegten Englisch befleißigte.

«Der ganze Lehrkörper hat viel Freude an Ihnen», fügte sie hinzu, «und ich glaube, Miss de Vine gehört auch zu Ihren großen Verehrerinnen.»

«Miss de Vine?»

«Ach ja, die kennen Sie natürlich nicht. Unsere neue Forschungsstipendiatin. Eine sehr reizende Person, und ich weiß auch, daß sie gern mit Ihnen über Ihre Bücher sprechen möchte. Sie müssen mitkommen und sie kennenlernen. Wir haben sie nämlich für drei Jahre hier. Das heißt, sie wird erst ab dem nächsten Trimester hier im College wohnen, aber sie hält sich schon seit ein paar Wochen in Oxford auf und arbeitet in der Bodleiana. Sie arbeitet an einem großen Werk über die Staatsfinanzen unter den Tudors und versteht darüber richtig interessant zu schreiben, sogar für Leute wie mich, die von Geld keine Ahnung haben. Wir sind alle so froh, daß sich das College entschieden hat, ihr das Jane-Barraclough-Stipendium zu geben, denn sie ist eine hervorragende Wissenschaftlerin und hat eine schwere Zeit hinter sich.»

«Ich glaube, ich habe schon von ihr gehört. Hat sie nicht irgendein College in der Provinz geleitet?»

«Doch, sie war drei Jahre lang Rektorin von Flamborough; aber die richtige Aufgabe war das nicht für sie; zuviel Verwaltungsarbeit, obwohl sie natürlich in Finanzfragen unübertrefflich war. Aber es war einfach zuviel – ihre eigene Forschungsarbeit, die Prüfung von Doktorarbeiten und so weiter, und dann noch die

«Jetzt fällt es mir wieder ein», sagte Harriet. «Ich erinnere mich, irgendwo eine Meldung über die Wahl gelesen zu haben, vorige Weihnachten oder um die Zeit.»

«Wahrscheinlich haben Sie es im Shrewsbury-Jahrbuch gelesen. Wir sind natürlich sehr stolz darauf, sie hier zu haben. Eigentlich müßte sie ja eine Professur bekommen, aber ich weiß nicht, ob sie den Lehrbetrieb durchhalten würde. Je weniger Ablenkung sie hat, desto besser, denn sie ist nun einmal eine echte Gelehrte. Dort ist sie, da drüben – ach du lieber Himmel! Ich fürchte, jetzt ist sie an Miss Gubbins geraten. Erinnern Sie sich an Miss Gubbins?»

«Verschwommen», sagte Phoebe. «Sie stand schon im dritten Jahr, als wir anfingen. Eine Seele von Mensch, aber so schrecklich ernst und bei Studentenversammlungen die Langeweile in Person.»

«Sie ist ein sehr gewissenhafter Mensch», sagte Miss Lydgate, «aber sie hat nun einmal die unglückliche Gabe, jedes Thema trocken und langweilig anzugehen. Das ist so schade, weil sie andererseits so ausnehmend vernünftig und verläßlich ist. Aber bei ihrer derzeitigen Arbeit ist das nicht so wichtig; sie hat irgendwo eine Bibliothekarstelle – Miss Hillyard weiß sicher, wo –, und ich glaube, sie beschäftigt sich noch mit der Familie Bacon. Sie arbeitet sehr fleißig. Aber ich fürchte, sie unterzieht soeben die arme Miss de Vine einem Kreuzverhör, und das scheint mir bei einer solchen Gelegenheit nicht ganz das Wahre. Sollen wir ihr zu Hilfe eilen?»

Während Harriet Miss Lydgate über den Rasen folgte, fühlte sie sich auf einmal von einem großen Heimweh erfaßt. Wenn man doch nur hierher in diese stillen Mauern zurückkehren könnte, wo nur intellektuelle Leistungen zählten! Wenn man hier ruhig und zielstrebig an einem klar umrissenen Problem arbeiten könnte, ohne Ablenkung und ohne Rücksicht auf Agenten, Verleger, Verträge, Klappentexter, Interviewer, Verehrer, Autogrammjäger, Geltungssüchtige und Konkurrenten! Alle persönlichen

Aber sie war nicht sicher, ob sie zu einem solchen Rückzug aus der Welt jetzt imstande wäre. Sie hatte vor langer Zeit den Schritt getan, der das grau ummauerte Paradies Oxford für sie in die Vergangenheit verwies. Niemand kann im selben Fluß zweimal baden, nicht einmal in der Isis. Diese beengte Ruhe würde ihr heutzutage auf die Nerven gehen – das sagte sie sich zumindest.

Sie rief ihre abschweifenden Gedanken zurück und hörte gerade noch, wie sie Miss de Vine vorgestellt wurde. Auf den ersten Blick sah sie, daß sie hier eine Gelehrte völlig anderer Art vor sich hatte als zum Beispiel Miss Lydgate, und erst recht anderer Art als das, was aus Harriet Vane je werden könnte. Diese Frau war eine Kämpferin, o ja; aber eine, für die der Hof des Shrewsbury College gerade die richtige Arena war, in der sie sich zu Hause fühlte: eine Kämpferin, die keine persönlichen Loyalitäten kannte und deren Treue nur den Fakten galt. Eine Miss Lydgate konnte die Welt, von der sie nicht berührt war, mit echter, warmer Liebe umfangen; diese Frau aber, die von der Welt unendlich viel mehr verstand, würde über diese ein gerechtes Urteil sprechen und sie aus ihrem Weg räumen, wenn sie sich durch sie behindert fühlte. Das schmale, interessierte Gesicht mit den großen, grauen, tief und funkelnd hinter dicken Brillengläsern liegenden Augen war für Eindrücke durchaus empfänglich; aber hinter dieser Empfänglichkeit lag ein Verstand so hart und unverrückbar wie Granit. Die Leitung eines Mädchencollege mußte ihr eine sehr unangenehme Aufgabe gewesen sein, fand Harriet, denn sie sah aus, als ob das Wort «Kompromiß» aus ihrem Wörterbuch gestrichen wäre; und dabei war doch alle Staatskunst Kompromiß. Sicher tolerierte sie