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3. Auflage 2021
© 2015 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Fax: 089 652096
Die englische Originalausgabe erschien 2010 bei Lotus Publishing unter dem Titel Fascial Release for Structural Balance © 2010 by James Earls & Thomas Myers. All rights reserved.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Übersetzung: Dr. Cornelia Panzacchi
Satz und Redaktion: bookwise medienproduktion GmbH
Umschlaggestaltung: Wendy Craig, Melanie Melzer
ISBN Print 978-3-86883-733-9
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86413-997-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86413-998-7
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.rivaverlag.de
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Einleitung und Gebrauchsanweisung für dieses Buch
Kapitel 1: Einführung in die Technik des Faszien-Release
Körperstrukturen
Einführung in das Fasziennetz
Das Tensegrity-Modell
Kapitel 2: Faszien-Release durch Manipulation
Die DASIE-Methode
Die Technik des Faszien-Release
Körpermechanik
Die richtige Richtung
Die Planung einer Behandlungseinheit
Kapitel 3: BodyReading
Die fünf Stadien des BodyReading
Der BodyReading-Prozess
Kapitel 4: Fuß und Unterschenkel
Die Knochen des Beins: so leicht wie 1, 2, 3 … 4, 5
Die Gelenke: Scharniere und Spiralen
Die Fußgewölbe als »Sekundärkurven«
Die Knochen der Fußgewölbe
Das Plantargewebe
Die Wadenmuskeln
BodyReading von Fuß und Unterschenkel
Techniken für Fuß und Unterschenkel
Kapitel 5: Knie und Oberschenkel
Das Kniegelenk
Die Ein- und Zweigelenkmuskeln des Oberschenkels
BodyReading von Knie und Oberschenkel
Techniken für Knie und Oberschenkel
Kapitel 6: Hüfte
Die Knochen
Die Bänder
Die Muskeln
BodyReading des Beckens
Techniken für das Becken
Kapitel 7: Abdomen, Thorax und Atmung
Abdomen und Rippen: Stützen für die Bauchhöhle
Thorax
Atemhilfsmuskulatur
Zwerchfell
BodyReading von Abdomen, Thorax und Atmung
Techniken für Abdomen und Thorax
Kapitel 8: Wirbelsäule
Der Muskelaufbau
Der Hals
BodyReading der Wirbelsäule
Techniken für die Wirbelsäule
BodyReading von Kopf und Hals
Techniken für den Hals
Kapitel 9: Schulter und Arm
Die Schulter
Die Armlinien
BodyReading der Schultern
Techniken für Schulter und Arm
Techniken für die Rotatorenmanschette
Integration
Anhang 1: Die myofaszialen Leitbahnen
Anhang 2: Gegenanzeigen
Bibliografie
Fortbildung und Links
Der strukturelle Aufbau eines jeden Menschen ist einzigartig und ein Produkt der zahlreichen Variablen, die uns ausmachen. Deshalb sind einer Analyse der Körperstruktur von Natur aus Grenzen gesetzt. Bewusste und unbewusste Entscheidungen, Ererbtes und Erlerntes, seelische oder körperliche Traumen formen unseren Körper und das Gewebe, das ihn zusammenhält. All die zahllosen Möglichkeiten zu erfassen, würde den Rahmen dieses Buchs um ein Vielfaches sprengen.
Deshalb stellen wir hier lediglich die häufigsten Tendenzen vor. In jedem Kapitel finden Sie eine Einführung in die strukturelle Anatomie einer Körperregion sowie Anregungen dafür, wonach Sie bei der Untersuchung von Patienten Ausschau halten sollten. Abgerundet wird jedes Kapitel durch Strategien zur Behandlung der Faszienschichten und Zuglinien der betreffenden Region.
Aufgrund der holistischen Natur des menschlichen Körperbaus kann nicht für jede einzelne Variante eine lineare und methodische Analyse geliefert werden. Überall dort, wo die einer Technik zugrunde liegende Logik nicht aus der anatomischen Einführung oder aus dem BodyReading hervorgeht, liefern wir strukturelle Beispiele.
In manchen Fällen geben wir nur ein Beispiel, da es den Leser nur langweilen würde, wenn wir ständig schrieben: »bei einem umgekehrten Aufbau ist die Beziehung zwischen den einzelnen Bindegewebselementen eine umgekehrte«. Die Kenntnis der antagonistischen Funktion von Muskeln wird vorausgesetzt. Obgleich dieses Buch als alleinige Einführung genügen kann, weisen wir darauf hin, dass viele der hier vorgestellten Techniken auf dem Buch »Anatomy Trains: Myofasziale Leitbahnen« (Myers 2009) aufbauen und wir hier nicht alle der in Anatomy Trains, den anatomischen Zuglinien, dargelegten Details wiederholen. Im Anhang finden Sie jedoch kurze Zusammenfassungen. Auch wer mit dem genannten Werk nicht vertraut ist, wird in diesem Handbuch viele nützliche Anleitungen und auch das nötige Hintergrundwissen finden, um die Körperstrukturen seiner Patienten zu verändern.
Die Techniken werden hier in anatomischer Reihenfolge vorgestellt und nicht gemäß der Reihenfolge der Anatomy Trains, doch wird stets angegeben, zu welchem Anatomy Train die jeweilige Körperregion hinzuzurechnen ist. Dadurch kann der Therapeut die Kontinuität der Faszien nutzen, indem er das Release einer Zone auf angrenzende Elemente derselben Linie ausdehnt. Geben beispielsweise die ischiokruralen Muskeln nicht so recht nach, sollte man, der Oberflächlichen Rückenlinie folgend, mit dem M. gastrocnemius oder dem Ligamentum sacrotuberale arbeiten. Einen Schlüssel der Abkürzung für die Linien finden Sie im Anschluss an diese Einführung.
BodyReading erfordert Erfahrung, und für den Fall, dass Sie sich mit dieser Materie weiter befassen wollen, bieten wir einige Fortbildungen an. Auch veranstalten wir weltweit Workshops zu Anatomy Trains, BodyReading und der Technik des Faszien-Release (TFR). Einen Überblick über unser aktuelles Kursprogramm finden Sie im Internet unter www.anatomytrains.co.uk.
Die Palette der hier vorgestellten Techniken ist unvollständig, weil manche Körperregionen zu empfindlich sind, als dass man ihre Behandlung aus einem Handbuch erlernen könnte. Durch die Richtung und Tiefe Ihrer Einwirkung, Ihre eigene Position und die Wahl Ihrer Manipulationstechnik – mit Fingern, Handfläche, Knöchel oder Ellbogen – können alle hier vorgestellten Techniken kreativ verändert werden. Wichtig ist, dass Ihnen bewusst ist, was Sie zu erreichen versuchen und wie das Gewebe beschaffen ist, an dem Sie arbeiten. Viel hängt dabei von Ihrem Tastgefühl ab, das Sie nur durch Erfahrung und unter einem gewissen Maß an Anleitung schulen können. Wir verstehen die hier vorgestellten, vom Therapeuten gründlich zu studierenden Techniken als Schablonen, die an die Bedürfnisse des jeweiligen Patienten anzupassen sind. Für unseren Ansatz ist es wichtig, zu begreifen, dass jeder Eingriff eine »Kommunikation zwischen zwei intelligenten Systemen« darstellt und dass jeder Therapeut eine Verbindung zum Gewebe seines Patienten aufnehmen und aufrechterhalten muss. Aus diesem Grund empfehlen wir auch erfahrenen Therapeuten, sich eingehend mit den einleitenden Kapiteln dieses Buchs zu befassen.
Die heutige Anatomielehre beschäftigt sich mit den traditionellen Elementen des Körpers und vernachlässigt die Wichtigkeit des Fasziennetzes, und ganz besonders der Myofaszien, um die es in diesem Buch geht. Die Verwendung der Namen einzelner Muskeln kann den Eindruck erwecken, dass es sich bei ihnen um einzelne voneinander deutlich getrennte Elemente handelt. Doch neuere Forschungen widerlegen dieses Denkmodell (Myers 2009, Hujing 2008, Stecco 2009, Van der Wal 2009). Für die Beschreibung der Mechanik der hier vorgestellten Techniken verwenden wir diese übliche Muskelterminologie, bitten den Leser jedoch, sich dabei das Bild des großen Ganzen aus elastischen Schichten und Ebenen zu vergegenwärtigen, in dem jene kontraktilen Elemente enthalten sind, die wir Muskeln nennen. Stets sollte die Vorstellung mitschwingen, dass jeder einzelne Muskel über seine Körperregion hinaus mit dem gesamten Körper verbunden ist.
Unser wichtigstes Anliegen ist es, Sie zu ermutigen, auf eine neue Weise zu denken und zu analysieren, um jenseits der Beschreibung, die der Patient von seinen Schmerzen liefert, die Struktur seines Körperbaus zu erkennen, sie gemeinsam mit dem Patienten zu erkunden und sie durch Faszien-Release zu verbessern. Dieses Buch ist als Einführung in diesen aufregend neuen, lohnenden Therapieansatz konzipiert und soll dazu anregen, die weltweit veranstalteten Workshops zu besuchen. Wir freuen uns darauf, Sie eines Tages persönlich kennenzulernen, und wünschen Ihnen viel Erfolg!
Thomas Myers & James Earls
Schlüssel zu den Abkürzungen der Anatomy Trains
OFL – Oberflächliche Frontallinie
ORL – Oberflächliche Rückenlinie
LTL – Laterallinie
SPL – Spirallinie
TFL – Tiefe Frontallinie
OFAL – Oberflächliche Frontale Armlinie
TFAL – Tiefe Frontale Armlinie
ORAL – Oberflächliche Rückwärtige Armlinie
TRAL – Tiefe Rückwärtige Armlinie
FFL – Funktionelle Frontallinie
FRL – Funktionelle Rückenlinie
Häufig verwendete Abkürzungen
HKB – hinteres Kreuzband
IS – Iliosakralgelenk
Lig. – Ligamentum
LKB – aterales Kollateralband
M. – Musculus
MKB – mediales Kollateralband
Mm. – Musculi
OCP – M. obliquus capitis posterior
OCS – M. obliquus capitis inferior
PS – Processus spinosus
PT – Processus transversus
QL – M. quadratus lomborum
RCPM – M. rectus capitis posterior minor
RCPMaj – M. rectus capitis posterior major
SCM – M. sternocleidomastoideus
SIAI – Spina iliaca anterior inferior
SIAS – Spina iliaca anterior superior
SIPI – Spina iliaca posterior inferior
SIPS – Spina iliaca posterior superior
TFL – M. tensor fasciae latae
TFR – Technik des Faszien-Release
TIT – Tractus iliotibialis
VKB – vorderes Kreuzband
Körperstrukturen
Therapeuten jeglicher Richtung, vor allem aber manuelle Therapeuten, suchen nach einer höheren Ordnung in menschlichen Bewegungsmustern und dringen dabei in den Grenzbereich zwischen Struktur und Funktion vor. Jegliche Veränderung des Verhaltens bedeutet eine Veränderung der Bewegungen. Doch nur wer sein Augenmerk auf das Fasziengewebe und dessen Eigenschaften lenkt, kann im Fundament aller Bewegungsabläufe tatsächliche Veränderungen erzielen.
Jegliche Struktur in der realen Welt stellt einen Kompromiss zwischen dem Bedürfnis nach Stabilität und Mobilität dar. Während beispielsweise Berge mit ihrer Stabilität am einen Ende der Skala liegen, tendieren Lebewesen mit ihren unterschiedlichen Mobilitäten zum anderen Ende der Skala hin. Die zumeist in einem Untergrund verankerten Pflanzen bestehen überwiegend aus Fasern des Kohlenhydrats Zellulose.
Dem Körper großer Landtiere, darunter auch dem des Menschen, geben aus dem elastischen Eiweiß Kollagen aufgebaute Strukturen einerseits stabilen Halt; andererseits sind sie jedoch auch so beweglich, dass sie es dem Körper ermöglichen, mobil zu sein und auf seine Umwelt einzuwirken.
Deshalb stellt die Kenntnis der Eigenschaften des Kollagengewebes, aus dem größtenteils Sehnen, Bänder, Aponeurosen, Muskelscheiden, Organhüllen und Bindegewebsschichten bestehen, die Grundlage der manuellen Therapie und der Bewegungstherapie dar. Es genügt nicht, sich mit Muskeln und Nerven auszukennen, so wichtig das auch sein mag. Der Umgang mit den Faszien erfordert ein besonderes Gespür, eine andere Form von Manipulation und auf dieses Gewebe abgestimmte Techniken.
Der Kompromiss zwischen Stabilität und Mobilität kann an beiden Enden des Spektrums zu »kompromittierenden« Situationen führen. Am »Stabilitätsende« können Teile, die im Verhältnis zu anderen Teilen beweglich bleiben sollten, an Faszien oder Nerven verkleben und die Fähigkeit verlieren, sich voneinander unabhängig zu bewegen. Das kann zu einer Anstauung oder lokalen Verspannungen führen, oder aber auch miteinander verbundene und mitunter relativ weit entfernte Regionen beeinträchtigen (Abb. 1.1).
Andererseits können auch Teile, die eng verbunden bleiben sollten, im Verhältnis zueinander allzu beweglich werden. Diese Hypermobilität kann Reibungen (und als deren Konsequenz Entzündungen) verursachen. Die nicht vorgesehene Beweglichkeit muss zudem durch Muskeln oder Faszien andernorts ausgeglichen werden, sodass sich der Körper weiter bewegen, also z. B. gehen, stehen, sitzen, arbeiten oder Sport treiben kann, ohne in sich zusammenzufallen.
Muskelknoten, langfristige Verspannungen an Trigger Points, Spasmen, nicht ausreichend effiziente Bewegungsmuster, verdickte oder verklebte Faszien, »tote« sensomotorische Zonen und natürlich Schmerzen stellen allesamt Reaktionen des Körpers auf bestehende Stabilitäts-/Mobilitäts-Probleme dar.
Abb. 1.1: Die myofaszialen Meridiane der anatomischen Zuglinien bilden eine Karte, die anzeigt, wie sich Kompensationen von einer Körperregion auf andere, weiter entfernte verlagern können.
Als Therapeuten, die versuchen, bei ihren Patienten strukturelle Integrität und Balance wiederherzustellen, befassen wir uns täglich mit dem komplexen System von Reaktionen des »neuromyofaszialen« Netzes. Deshalb haben wir ein Handbuch entwickelt, das zeigt, wie diese Muster mittels Manipulation der von dichtem Nervengeflecht durchdrungenen Muskeln und Bindegewebe behandelt werden können. Wir konzentrieren uns auf das Faszien-Bindegewebselement dieser musterbildenden Troika: Muskeln und Knochen wurden bereits zahlreiche Forschungen gewidmet. Das zwischen den beiden vermittelnd wirkende Bindegewebe wurde weit weniger gründlich untersucht. Ihm und seinen Eigenschaften wenden wir unsere Aufmerksamkeit zu.
Zuvor sei allerdings bemerkt, dass jegliche lineare Darstellung, wie sie auch in diesem Buch erfolgt, mit individuell benannten »Teilen« arbeitet; andererseits besteht die Arbeit eines Therapeuten darin, aus den einzelnen Techniken einen holistischen Ansatz für die Behandlung eines Patienten und seines individuellen Körperaufbaus zu komponieren. Besonders an chronischen Problemen sind verschiedene, im Körper relativ weit voneinander entfernt positionierte Gewebe beteiligt, sodass eine Besserung nicht durch ausschließliche Behandlung der schmerzenden oder dysfunktionalen Region erfolgen kann.
Die Förderung der visuellen und palpatorischen Fähigkeiten, die notwendig sind, um mit unseren Techniken den gesamten Körper berücksichtigende Strategien zu entwickeln, sind das Ziel der von uns angegebenen Workshops und Kurse (siehe Kap. Fortbildung und Links).
Einführung in das Fasziennetz
Faszien sind das fehlende Glied in der Stabilitäts-/Mobilitäts-Gleichung. Das Verständnis ihrer Plastizität und Reaktionsfähigkeit ist ein wichtiger Schritt zu einer dauerhaften und wesentlichen Veränderung des therapeutischen Ansatzes.
Auch wenn in Anatomie- und Handbüchern wie diesem alle Teile des Körpers Namen zugewiesen bekommen, darf man nicht vergessen, dass Menschen, anders als Autos, nicht aus einzelnen Teilen zusammengefügt sind. Kein »Teil« eines Lebewesens kann ohne konstante Verbindung zum Ganzen weiterexistieren.
Ein großes Netz
Das Fasziennetz entsteht als geeintes Ganzes ungefähr in der zweiten Woche nach der Befruchtung der Eizelle und bleibt bis zum Tod ein zusammenhängendes Netz. Im Laufe der komplexen embryonalen Entwicklung dehnt es sich aus und faltet sich nach und nach zum Körper eines Menschen auf. Auch wenn wir den verschiedenen Teilen dieses Netzes Namen gegeben haben, wie Dura mater, Aponeurose lumbalis, Mesenterium, Tractus iliotibialis oder Aponeurosis plantaris, dürfen wir nie vergessen, dass es sich dabei nur um Regionen eines unteilbaren Ganzen handelt.
Abb. 1.2: Eine präparierte Oberflächliche Rückenlinie. Legt man die Muskeln inklusive des sie umgebenden Gewebes frei, erkennt man die Faszienverbindungen, die sie zu einer Längsreihe verbinden – Teile jenes Fasziennetzes, das von den Zehen (unten) bis zur Nase (oben) verläuft.
Auch wenn Anatomiebücher über 600 einzelne Muskeln auflisten, ist es doch korrekter zu sagen, dass es nur einen einzigen Muskel gibt, der in 600 Taschen des Fasziennetzes gegossen wurde. Die »Illusion« einzelner Muskeln entstand durch das Skalpell des Anatomen, das Gewebe voneinander trennte und dadurch die Existenz des verbindenden Netzes in den Hintergrund drängte (Abb. 1.2). Natürlich sind diese Unterscheidungen nützlich, doch dürfen sie uns nicht die Sicht auf das einende Ganze verstellen.
Nach der Geburt ist dieses »Organ« der Schwerkraft ausgesetzt, die es in einem Zusammenspiel mit genetischer Veranlagung und Umwelt formt. Es kann durch Verletzungen oder notwendige chirurgische Eingriffe Risse oder Schnitte bekommen und wird sich nach Möglichkeit selbst wieder reparieren. Es passt sich unseren spezifischen Bewegungs- und Atemmustern an und wird von unseren geistigen Neigungen und den Bewegungen, die diese fördern oder hemmen, mitgestaltet. Mit zunehmendem Alter wird das Fasziennetz immer mehr degenerieren, verkleben, verfransen oder austrocknen – bis wir es schließlich hinter uns lassen.
Unser Leben lang bleibt es ein einziges einendes, die Kommunikation zwischen einzelnen Körperregionen ermöglichendes Netzwerk, das uns eine charakteristische, physiologisch funktionierende Gestalt gibt, das Kontraktionen des Muskelgewebes in Bewegungen des Körpers umsetzt und das in Zusammenarbeit mit den Nerven und den Muskeln auf die mechanischen Kräfte reagiert, die durch unsere Umweltkontakte auf uns einwirken.
Man kann nicht einmal das winzigste Stück Fleisch aus dem Körper entnehmen, ohne dass dabei ein Stück des Fasziennetzes mitkommt. Das Fasziensystem, das aus zähen Fasern und gallertartigen, klebrigen Proteoglykanen (Grundsubstanz) in einem wässrigen Trägermedium besteht, umgibt jede einzelne Körperzelle, sämtliche Gewebe und Organe und hält den gesamten Organismus zusammen und in Form. Aufgrund seiner innigen Verbindung zu sämtlichen Gewebearten spielt es bei der physiologischen Erhaltung und der Immunabwehr eine wichtige Rolle. Diese Aspekte zu erläutern, wollen wir lieber anderen überlassen. Wir konzentrieren uns hier auf ihre mechanischen Funktionen.
Faszienelemente
Um mit den vielfältigen Kräften und Faktoren fertig zu werden, produzieren unsere Bindegewebszellen ein ebenso vielseitiges Sortiment von Baumaterialen, indem sie erstaunlich wenige, einfache Elemente modifizieren. Knochen, Knorpel, Sehnen, Bänder, Herzklappen, das zähe Bindegewebe, das unsere Muskeln umgibt, die zarte Gehirnhaut, die durchsichtige Hornhaut des Auges und das Dentin der Zähne – sie alle, und viele Gewebetypen mehr, bestehen aus Bindegewebszellen (Abb. 1.3).
Gewebetyp |
Zelle |
Fasertypen (unlösliche Faserproteine) |
Interfibrilläre Elemente, Grundsubstanz, wasserbindende Proteine |
Knochen |
Osteozyt, Osteoblast, Osteoklast |
Kollagen |
Ersetzt durch Mineralsalze, Calciumcarbonat, Calciumphosphat |
Knorpel |
Chondrozyt |
Kollagen und Elastin |
Chondroitinsulfat |
Bänder |
Fibroblast |
Kollagen (und Elastin) |
Geringer Anteil von Proteoglykanen zwischen den Fasern |
Sehnen |
Fibroblast |
Kollagen |
Geringer Anteil von Proteoglykanen zwischen den Fasern |
Aponeurosen |
Fibroblast |
Kollagenmatte |
Einige Proteoglykane |
Fettgewebe |
Adipozyt |
Kollagen |
Zahlreiche Proteoglykane |
Areolargewebe |
Fibroblasten, weiße Blutkörperchen, Adipozyten, Mastzellen |
Kollagen und Elastin |
Signifikanter Anteil von Proteoglykanen |
Blut |
Rote und weiße Blutkörperchen |
Fibrinogen |
Plasma |
Bindegewebszellen produzieren ein erstaunlich vielseitiges Sortiment von Baumaterialien, indem sie nur wenige Fasertypen und interfibrilläre Elemente modifizieren. Die Tabelle zeigt nur die Haupttypen des Bindegewebes von fest zu flüssig.
Abb. 1.3: Zellen wie Fibroblasten und Mastzellen bilden Bindegewebe, indem sie die Elemente in den Interstitien und die Anteile von deren Bestandteilen – Fasern, Proteoglykane und Wasser – verändern.
Mithilfe von Proteinen aus unserer Nahrung, die sie vom Blut geliefert bekommen, erzeugen Bindegewebszellen die interzellularen Elemente, die unsere Billionen von Zellen zusammenhalten. Hauptelement ist die zähe Kollagenfaser, die mit anderen Fasern – Elastin und retikulären Fasern – verbunden in einem Bett klebriger Mucopolysaccharide ruht, die ebenfalls von diesen Zellen erzeugt wurden. Diese großen Zucker- und Eiweißpolymere binden unterschiedlich große Mengen Wasser, um verschiedene Konfigurationen mit einem Spektrum von Eigenschaften zu erzeugen, die unseren unterschiedlichen Bedürfnissen nach Stabilität und Mobilität gerecht werden.
Im Fall der Knochen ist das ledrige Kollagennetz in eine Apatitgruppe aus Calcium- und anderen Mineralsalzen eingebettet und bildet das steifste Gewebe in unserem Körper, das dennoch über eine gewisse Elastizität verfügt und nach unserem Tod all unsere anderen Gewebetypen lange überdauert. Der Knorpel besitzt dieselbe ledrige Grundeigenschaft (auch wenn er mehr oder weniger Kollagen oder Elastin enthalten kann), doch die Zwischenräume sind mit silikonartigem Chondroitin gefüllt.
Bei Sehnen und Bändern dominieren Fasern. In ihrem Netz aus Fasern, in gleichmäßigen kristallinen Reihen angeordnet, sind nur kleine Mengen von Glykoproteinen eingebettet. Das Verhältnis zwischen Fasern und Glykoproteinen ist bei Aponeurosen ähnlich. Allerdings verlaufen die Fasern bei diesem Gewebetyp in sämtliche Richtungen, so wie Wollfäden im Filz.
Bei lockerem Bindegewebe wie z. B. Fettgewebe lagert zwischen den Fasern eine größere Menge wasserhaltiger Glykosaminoglykane. Die geringere Viskosität erleichtert die Verteilung einer Vielzahl von Metaboliten und weißer Blutkörperchen.
In gewissem Maß kann das Bindegewebssystem diese Elemente modifizieren, um auf lokale mechanische Veränderungen zu reagieren und z.B. in Reaktion auf verstärktes Training Bänder kräftiger und Knochen dichter werden zu lassen. Dies ist auch der Grund, warum verletzte Haut heilt und gebrochene Knochen wieder zusammenwachsen. Leider kann es sich auch in eine andere Richtung verändern, etwa als Reaktion auf eine bewegungsarme Lebensweise oder eine psychisch oder durch berufliche Tätigkeit bedingte Körperhaltung.
Neuere Forschungen ergaben, dass sich auch die Zellen selbst, zumindest ein besonderer Typ von Fibrozyten, nämlich die Myofibroblasten, selbst verändern, an das von ihnen geschaffene Fasziennetz andocken und eine Kraft ausüben können, die seine Kontraktion bewirkt (Abb. 1.4). Vor dieser Entdeckung dachte man, nur die Muskeln wären dazu imstande, sich zusammenzuziehen, und das Fasziensystem wäre nur passiv plastisch. Inzwischen wissen wir, dass sich, unter bestimmten Bedingungen, durch diese sich wie glatte Muskelzellen verhaltende Bindegewebszellen auch das die Muskeln umgebende Fasziennetz aktiv zusammenziehen kann.
Das ist deshalb interessant, weil diese hybriden Bindegewebszellen, anders als alle anderen Muskelzelltypen, nicht von Nerven durchwachsen sind. Sie werden von bestimmten chemischen Stoffen wie z. B. Antihistaminika oder Oxytocin stimuliert, oder durch andauernde mechanische Spannungen in den angrenzenden Faszien.
Myofibroblasten benötigen mindestens 20 Minuten, um eine derartige Kontraktion aufzubauen, und mehrere Stunden, um sich wieder vollständig zu entspannen. Doch die kombinierte Kontraktion vieler Myofibroblasten übt auf große Bindegewebsflächen wie z. B. die Krural-Faszien rings um den Unterschenkel, die Thorakolumbale Faszie (Große Rückenfaszie) im unteren Rückenbereich oder aber die Faszien der Fußsohlen und Handflächen, wo eine überhöhte Aktivität dieser Zellen zu Fibromatose oder Morbus Dupuytren führen kann, einen beträchtlichen Zug aus.
Abb. 1.4: Myofibroblasten ergänzen unser Bild vom Fasziennetz durch Zellenkontraktionen. Unter bestimmten Bedingungen hängen einige Fibroblasten ihre Zellstruktur in die Bindegewebsmatrix ein und üben sodann eine langsame, muskelartige Kontraktion auf das Fasernetz aus.
Während derzeit erst wenig über die klinischen Implikationen der Anwesenheit oder Kontraktion von Myofibroblasten und ihrer Bedeutung für die manuelle Therapie bekannt ist, zeichnet sich doch ab, dass diese Entdeckung den Abschied von etablierten Vorstellungen nach sich zieht und uns zeigt, dass unser Wissen über Faszien noch lückenhaft ist.
Faszien und Signale
Die Geheimnisse der biochemischen Signale, die derartige Veränderungen im Gewebe auf zellularer Ebene steuern, sind noch nicht restlos aufgedeckt. Klar aber ist, dass diese Mechanobiologie bedeutet, dass in der Physiotherapie neue Wege zu beschreiten sind. Jede Zelle, und besonders jede Fibrozyte, »kostet« nicht nur das sie umgebende chemische Milieu (im Sinne der Arbeiten von Candance Pert u. a., 1997) mittels Neuropeptiden, sondern ist auch imstande, die Spannungen und Verdichtungen ihrer mechanischen Umgebung zu »hören« und auf sie zu reagieren.
Das geschieht mithilfe besonderer Moleküle, die auf der Oberfläche der meisten Körperzellen liegen, besonders aber durch die Fibroblasten und ihre »Cousins«, die Integrine (Abb. 1.4). Zellen fixieren sich mittels Integrine im Gewebenetz. Sie bewegen sich im Körper primär dadurch, dass sie an ihrem »Kopfende« neue Integrinverbindungen bilden und bereits an ihrem »Schwanzende« bestehende Verbindungen lösen. Die Integrine sind durch das Zytoskelett tief in der Zelle verankert, sodass ein am verbindenden Gewebe neu auftretender Zug das Verhalten der Zelle und ihrer Gene beeinflussen kann.
Dies impliziert, dass wir strukturelle Gesundheit als einen Zustand definieren könnten, in dem sich jede Zelle des Körpers in ihrer idealen mechanischen Umgebung befindet. Wie sich »ideal« definiert, hängt vom jeweiligen Zelltyp ab sowie von der Körperregion, in der sich eine Zelle befindet.
Muskelzellen stehen gerne ein wenig unter Spannung, während Nervenzellen in einer spannungsarmen Umgebung am besten funktionieren. Epithelzellen leben ihre Gene in einer eher angespannten Umgebung anders aus als in einer eher kontrahierten. Im Extremfall neigen unter allzu starker Spannung stehende Zellen dazu, ihren »Job« aufzugeben, um mehr von Ihresgleichen zu erzeugen und dadurch die hohe Spannung aufzulösen. Alle stark komprimierten Zellen begehen lieber »Selbstmord« (Apoptose), als Geschwüre zu bilden (die entstehen, wenn sich zu viele Zellen auf engem Raum befinden).
Auf der Suche nach idealen Körperproportionen entdeckten die Menschen den goldenen Schnitt und die relativen Proportionen des Körpers. Wir können heute ein neues Körperideal definieren, das auf der optimalen biometrischen Umgebung für jede einzelne Zelle gründet. Zwar sind wir noch weit davon entfernt, dieses Optimum feststellen zu können, doch seine Entdeckung weist bereits jetzt auf die Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Zellbiologie und manueller Therapie hin.
Eine weitere Form von Kommunikation innerhalb der Faszien könnte darin bestehen, dass das feuchte Kollagen einen flüssigen Kristall bildet, ein Halbleiternetzwerk, in dem Druck oder Spannung einen Piezoelektrizität genannten Ionenfluss erzeugt, der die Fibroblasten stimuliert oder niederdrückt, sodass sie neue Fasern bilden bzw. nicht bilden (Abb. 1.5).
Auf diese Weise bewirkt die durch unsere Bewegungen – und besonders durch oft wiederholte Bewegungen – erzeugte Spannung, dass Bindegewebe, Knochen und Bänder laufend »umgeformt« und angepasst werden. Das erklärt Veränderungendes Bewegungsapparats, die durch neu aufgenommene Sportarten, neue hinzugekommene Stimmungen oder das fortschreitende Alter ausgelöst werden.
Wenn wir also auf das neuro-myofasziale Netz unserer Patienten einwirken, versuchen wir, natürliche Prozesse in eine heilende oder die Effizienz steigernde Richtung zu lenken.
Obgleich die Wirkung der Deep-Touch-Massage auf die neuralen Rezeptoren in den Faszien noch nicht gründlich erforscht ist, kann man bereits sagen, dass Deep Touch allgemein die Nerven in ihren »Auslieferungszustand« zurückversetzt, taube Nerven reaktiviert und die Reizschwelle von motorischen Nerven, die im »Einschaltmodus« hängengeblieben sind, herabsetzt (Abb. 1.6).
Abb. 1.5: Seit Langem schon kennen wir die Funktion des neuralen Netzes als Signalnetzwerk, doch möglicherweise stellt das Bindegewebe ein zweites, vielleicht primitiveres, aber dafür fünfmal schnelleres Signalnetz dar.
Abb. 1.6: Faszien sind unsere vielseitigsten Sinnesorgane, denn sie enthalten Nerven, freie Nervenenden, Golgi-Sehnenorgane, Pacini-Körperchen, Krause-Endkolben und Ruffini-Körperchen, die gemeinsam dem Gehirn ein deutliches Bild von Druck, Vibrationen und Rissen sowie allen anderen Deformationen der Faszien liefern.
In den Faszien scheint Deep Touch zäh gewordene Glykoproteine flüssiger zu machen. Das Bindegewebe ist ein kompliziertes Kolloid, das man mit einem Wackelpudding vergleichen könnte: Im Kühlschrank wird er fest, in einem Topf auf dem Herd verflüssigt er sich (er wird thixotrop). Ähnlich ergeht es den Glykoproteinen unter dem Einfluss von Deep Touch (und vermutlich auch bei dynamischen Übungen und streckendem Yoga).
In einer bestimmten Richtung angewandter Deep Touch bewirkt das Verflüssigen der Glykoproteine, das wiederum ein aneinander Vorbeigleiten der Kollagenfasern ermöglicht. Die daraus entstehende plastische Deformation begünstigt ein Längerwerden des Gewebes. Sowohl hinsichtlich Absicht, Gefühl und Ergebnis unterscheidet sich dies vom Dehnen elastischen Muskelgewebes. Es ist diese Formbarkeit der Faszien, die der Dauerhaftigkeit und dem progressiven Wesen durchdachter Faszienmanipulation zugrunde liegt. Anders als Muskeln springen Faszien, wenn sie erst einmal erfolgreich verlängert wurden, nicht in ihre alte Form zurück.
Damit die Faszien nachgeben, ist die Dauer des Drucks ebenso wichtig wie seine Tiefenwirkung und Ausrichtung. Deep Touch wirkt sich zudem auf die vielen Nervenenden in den Faszien aus, sodass sich der Verlängerungseffekt auch aus der neurologischen Wirkung, der thixotropen Wirkung oder einer Kombination von beiden ergeben könnte. Ziel dieses Buchs ist es, Ihnen zu helfen, ein Gespür für die Gewebeveränderungen zu entwickeln, das Ihnen bei minimalem Krafteinsatz zu maximalen Ergebnissen verhilft.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Nerven, Muskeln und Faszien myofasziales Gewebe zu etwas Dynamischem machen. Deep-Touch-Massage kann sich auf alle drei Gewebearten auswirken. Allerdings ist die Wirkung auf die durch sie geschmeidig gemachten und gedehnten Faszien von Dauer, was wiederum den anderen beiden Gewebearten Zeit gibt, sich an die veränderte Mechanik ihrer Umgebung anzupassen. Fasziengewebe kann durch Verletzungen, Überanstrengung oder Passivität verformt werden, aufgrund der »Formbarkeit« jedoch auch wieder in den alten Zustand zurückversetzt bzw. in einen optimierten Zustand gebracht werden.
In diesem Abschnitt wurden die lokalen Auswirkungen von mechanischer Einwirkung und therapeutischer Dehnung auf das Bindegewebe in einiger Ausführlichkeit beschrieben. Wir wissen inzwischen, dass jede Zelle imstande ist, mechanische Signale aus ihrer Umgebung wahrzunehmen und sich an sie anzupassen. Als Therapeuten wissen wir außerdem, dass Einwirkungen auf eine Körperregion Veränderungen in einer anderen, auch entfernten Körperregion auslösen können. Dadurch ist es z. B. möglich, dass Manipulationen an den Knöcheln Schmerzen im unteren Rückenbereich lindern oder eine Entspannung der Halsmuskulatur zu einer Verbesserung der Atembewegungen führt.
Um herauszufinden, wie lokale Veränderungen ganzheitliche Ergebnisse hervorbringen können, müssen wir uns wieder die Gesamtheit der Faszien eines Körpers als ein einziges Netz vorstellen, das nach einem Prinzip konstruiert ist, das wir hier »Tensegrity« nennen.
Das Tensegrity-Modell
Der menschliche Körper ist so gebaut, dass sich der in einer Region auftretende Zug auf den gesamten Körper verteilt. Die Auswirkungen sowohl der Schwerkraft als auch anderer Zug ausübender Kräfte, wie z. B. der Lastwechsel bei sportlicher Belastung oder eine Kompensation bei Verletzungen, lassen sich anschaulich anhand eines als »Tensegrity« bezeichneten Modells erläutern.
Die Beschäftigung mit Zug, Druck, Biegespannung und Rissen ist das tägliche Brot der Ingenieure. Seit Descartes wird unser Körper immer wieder als »weiche Maschine« beschrieben, mit den Knochen als Trägern, den Muskeln als Kabeln, der gesamten Konstruktion als so etwas wie einem Kran, wie ein System von Flaschenzügen und Hebeln, das durch Newtons Bewegungsgesetze und, auf tieferer Ebene, durch Thermodynamik erklärbar ist. Diesem mechanischen Ansatz in der Kinesiologie verdanken wir wertvolle Einsichten in die Biomechanik der Bewegung. Doch kann er andererseits nicht einmal so einfache Bewegungsabläufe wie das Gehen zufriedenstellend erklären, geschweige denn die Prozesse ganzheitlicher Kompensationen von Schädigungen, um die es in diesem Buch geht.
Das Aufkommen der Chaostheorie, von nichtlinearen Gleichungen und tiefere Einblicke in die Komplexität lebender Systeme führten zu einem neuen Verständnis der Stabilitäts-/Mobilitäts-Dynamik des menschlichen Körpers. Anstatt unseren Körper mit einem Haus oder einer Brücke zu vergleichen, sehen wir ihn inzwischen als ein Beispiel für »Tensegrity« (ein aus den englischen Wörtern tension, »Spannung«, und integrity, »Einheit« oder »Zusammenhalt«, zusammengesetzter Begriff), bei dem der Zusammenhalt einer Konstruktion auf dem Gleichgewicht der Spannungskräfte beruht, anstatt auf der Kontinuität der Kompressionskräfte.
Die von dem Künstler Kenneth Snelson erdachten und dem Architekten Richard Buckminster Fuller konstruierten Stabwerke bieten uns ein neues Bild des menschlichen Körpers: Anstatt das Skelett als einen stabilen Rahmen zu begreifen, an dem die Muskeln aufgehängt sind, stellen sie den Körper als ein unter Spannung stehendes, dreidimensionales Netzwerk dar, in dem die Knochenstreben scheinbar frei »schweben« (Abb. 1.7).
Versuche, das Tensegrity-Modell mit Worten zu beschreiben, scheitern meistens. Illustrationen sind hilfreich, doch ein Modell selbst zu bauen oder damit zu spielen, vermittelt am ehesten einen Eindruck, wie diese Konstruktion funktioniert (Abb. 1.8).
Abb. 1.7: Ein neues Verständis des menschlichen Körperbaus: Das Tensegrity-Modell, in dem die Knochen in einem Meer weichen Gewebes »schweben« (Modell und Foto von Tom Flemons, www.intensiondesigns.com). Die Konstruktion verhält sich in einigen Hinsichten wie ein menschlicher Körper.
Abb. 1.8: Die Wirbelsäule als Tensegrity-Modell. Natürlich übertrifft die Wirbelsäule derartige Modelle um ein Vielfaches an Komplexität. Dennoch können sie einige Aspekte unserer Bewegungen und unseres Verhaltens sowohl in Funktion als auch in Dysfunktion nachahmen.
Die Tensegrity-Konstruktionen sind resilienter als die Kräne oder andere Maschinen, mit denen man den menschlichen Körper häufig vergleicht, und sie besitzen einige einzigartige Eigenschaften, dank derer sie sich als Modelle für die Funktionsweise unseres Körpers eignen:
1. Innerer Zusammenhalt
Ein Haus oder ein Kran würde, auf den Kopf gestellt, nicht mehr so gut funktionieren. Der Körper eines Tiers oder der des Menschen bewahrt jedoch seinen inneren Zusammenhalt auch in dem Fall, wenn er sich von einem Ast hängen lässt, wenn er einen Kopfstand oder einen schwungvollen Luftsprung macht. Aufgrund eines inneren Gleichgewichts von Spannung und Kompression behalten die Konstruktionen, die dem Tensegrity-Modell entsprechen, ihre Form, egal, wie sie ausgerichtet sind.
2. Zugverteilung
Weil die elastischen Bänder in einer Tensegrity-Konstruktion durchgehend sind und die komprimierten Teile (»Knochen«) isoliert schweben, erzeugt jegliche durch Druck auf einen Knochen oder Zug an einem einzelnen Band verursachte Deformation eine Spannung, die sich gleichmäßig auf die gesamte Konstruktion verteilt. Diese wiederum löst nicht eine große Deformation an einer Stelle aus, sondern viele kleine, über die gesamte Konstruktion verteilte Deformationen.
Dieses Phänomen wurde in biologischen Experimenten veranschaulicht (Huijing 2009) und wird nach Ansicht der Autoren dieses Buchs in der aktuellen Fachliteratur zu wenig berücksichtigt. Tatsächlich führt eine Verletzung an einem Körperteil bald zu einer Reihe von über den ganzen Körper verteilten Phänomenen und macht ein ganzheitliches Behandlungskonzept erforderlich. Ein Schleudertrauma ist einige Tage lang ein Problem für den Hals, wird dann für Wochen ein Problem der Wirbelsäule und betrifft anschließend den ganzen Körper. Nach diesem zeitlichen Abstand nur den Hals zu behandeln, ist ein leider nur allzu verbreiteter Fehler.
3. Expansion oder Kontraktion auf allen Achsen
Drückt man einen aufgeblasenen Luftballon in der Mitte zusammen, wird er länger. Zieht man an einem Seil, wird es in dem Maße schmäler, in dem der Zug an seinen Enden zunimmt. Aufgrund ihrer distributiven Eigenschaften verhalten sich Tensegrity-Konstruktionen unterschiedlich – dasselbe gilt für menschliche Körper. Dehnt man eine Tensegrity-Konstruktion in einer Dimension, dehnt sie sich u. U. in alle Richtungen aus. Komprimiert man sie, so komprimiert sie sich nicht nur entlang der Drucklinie, sondern in allen Dimensionen und wird dabei immer dichter und resilienter.
Dieses Phänomen lässt sich auch an Körpern beobachten. Ein lokal schwer verletzter Körper kann sich auf all seinen Achsen zusammen- und zurückziehen, nicht nur in der von der Verletzung betroffenen Achse. Wenn wir andererseits den Körper in eine Richtung öffnen, scheint er sich in alle Dimensionen auszudehnen.
Die Sicht des Körpers als Tensegrity-Struktur ermöglicht kohärente ganzheitliche Strategien, welche die Wirksamkeit und Dauerhaftigkeit lokaler Behandlungen verstärken.
Obgleich die Faszien aufgrund der hier aufgezählten Eigenschaften – ihrer Formbarkeit, ihrer Resilienz, ihres holistischen Charakters und ihrer Kommunikationsfähigkeit – sehr wichtig sind, stehen sie in unserem Körper natürlich nicht alleine da. Von großer Bedeutung für unseren »Faserkörper« sind noch zwei weitere Systeme: der Kreislauf und das Nervensystem. Sie sind wesentlich besser erforscht als das Fasziensystem, und wir kennen ihre nährende bzw. Signale übermittelnde Beziehung zu den Muskeln. Deshalb konzentrierten sich die meisten Therapien für den Bewegungsapparat lange Zeit darauf, den freien Fluss von Flüssigkeiten zu und von den Muskelzellen sowie die Koordination von Bewegungen durch unbehinderte Nerven zu fördern (Abb. 1.9).
Natürlich sind diese gut dokumentierten Auswirkungen auf das neuro-myofasziale Netz außerordentlich wichtig und in der Praxis untrennbar miteinander verbunden. Dennoch gründet unsere These auf den Eigenschaften der Faszienkomponente dieses Netzes, die zwischen Stabilität und Mobilität vermittelt.
Verglichen mit diesen anderen Netzwerken erfolgt die Kommunikation im Fasziennetzwerk schneller – mit 1 160 km/h, während es beim Nervensystem nur 240 km/h sind – und die Reaktion langsamer. Umbaureaktionen der Faszien messen sich in Tagen und Wochen, anstatt in Sekunden oder Minuten. Von außen ausgelöste Veränderungen setzt das Fasziensystem nur langsam um, Änderungen behält es dauerhaft bei. Das macht das Fasziensystem zu einem Speicher für chronische Angelegenheiten. Natürlich kann das Bindegewebe auch akute Traumen erleiden, doch die Auswirkungen dieser Traumen verteilen sich über das Bindegewebenetz und bleiben noch lange nach Heilung der ursprünglichen Verletzung bestehen.
Abb. 1.9: Diese drei Ganzkörper-Netzwerke (um 1548) stammen von Vesalius. Jedes der Netze auf seinen wunderbaren Stichen zeigt uns die Form des Körpers. Das Fasziennetz ist das ungenaueste. In den 450 Jahren seit der Entstehung der Stiche blieb das Wissen um die Faszien lückenhaft.
Entzündungsreaktionen, die ein beschädigtes Gewebe sowohl anschwellen lassen als auch mit heilenden Proteinen versorgen, können allerdings auch zu verstärkter Fibrose führen, zur Abnahme von Beweglichkeit zwischen Schichten und zu Verklebungen interstitieller Elemente, die den freien Fluss von Blut oder Lymphe behindern. Durch unangemessene Kürze der Faszien bedingte chronische Spannung oder Schlaffheit kann neuromuskuläre Trigger Points entstehen lassen. Umgekehrt kann durch Angst oder Fehlhaltung bedingte chronische Anspannung eine Verdickung der Faszien hervorrufen.
Zusammenfassend stellen wir fest, dass es trotz der Existenz zahlreicher wertvoller Therapien für das neuro-myofasziale Netz durchaus Sinn macht, sowohl bei kurz- als auch bei längerfristigen Behandlungen zur Verbesserung der Körperhaltung die Faszienkomponente zu berücksichtigen (Abb. 1.10).
Abb. 1.10: Eine moderne Darstellung des Fasziennetzes, von Jeff Linn mithilfe des Visible Human Data Project angefertigt. Wir erkennen darauf das Fasziennetz des Oberschenkels und können uns vorstellen, wie das gesamte Fasziennetz des Körpers einschließlich Hirnhaut, das die Organe umgebende Gewebe, Epimysia und intermuskuläre Septa, tiefe Faszienschicht, oberflächliches Areolargewebe und oberste Hautschichten aussehen.
Berührung ist lebenswichtig, eine »Nahrung« für Körper und Geist. Sie erfrischt uns, stabilisiert uns, tröstet uns. Berührungen sind Teil unserer Arbeit und unserer Kommunikation. Über die unterschiedlichen Arten von Berührungen wurde schon viel geschrieben, sie wurden auf vielseitigste Weise erforscht, doch darüber, wie das Fasziengewebe sicher, effektiv und nachhaltig durch Berührung therapiert werden kann, findet man wenig.
Dieses Buch will mehr sein als eine Auflistung von Techniken. Es versteht sich als ein Katalog von »Absichten«, von Anregungen, wie man durch verschiedene Arten von Berührungen unterschiedliche Auswirkungen auf das Gewebe erzielt. Im folgenden Abschnitt werden wir uns eingehender damit befassen. Vorher stellt sich allerdings die Frage, wie diese Berührungen erfolgen sollen und wie sie zu benennen sind. Es gibt sehr viele unterschiedliche Arten von Berührung: richtungsweisende, informierende, liebevolle, pflegende, beleidigende, heilende, beruhigende, herablassende oder verführerische. Indem wir die Palette unserer Griffe und Manipulationen erweitern, können wir zu vielseitigeren Therapeuten werden.
In seiner klassischen Arbeit schrieb Montagu (1986) über die fördernde Wirkung von Kontakt, doch über die Mechanik unserer wichtigsten Therapieform wurde nur sehr wenig veröffentlicht. Einige Autoren und Ausbilder betonten aufgrund eigener Erfahrungen die Auswirkungen der Striche, Griffe und Manipulationen. Chaitow (2006) spricht von einer »schmelzenden« Einwirkung; Hungerford (1999) ermahnt, »das Bindegewebe nicht fallen zu lassen«; Myers (1999) zählt die drei I’s Invitation, Intention, Information (»Einladung, Intention, Information«) auf. Was aber fehlt, ist ein an verschiedene Erfordernisse anpassbares Modell und ein Vokabular für die Elemente einer Behandlung.
Wir hoffen, durch den Einsatz dieses Modells eine Sprache zu entwickeln, die die Diskussion erleichtert. Mithilfe eines Katalogs von Begriffen für die eingesetzten Methoden können wir als individuelle Therapeuten und als Berufsstand nicht nur detaillierter mit dem Gewebe und seinem Potenzial arbeiten, sondern auch klarer die einzelnen Phasen einer Behandlung planen und nachvollziehen sowie uns der unterschiedlichen Typen von Informationen bewusster werden, die wir bei jedem einzelnen Handgriff vermitteln können oder vom Patienten erhalten.
Von einem erfahrenen Therapeuten angewendet, ist die Technik des Faszien-Release (TFR) für den Patienten eine wunderbar entspannende, angenehme, mitunter aber auch anstrengende Erfahrung. Von einem Anfänger durchgeführt, kann sie ziemlich unangenehm werden. Um Ihren Patienten kein Unbehagen zu bereiten, empfehlen wir Ihnen, einige Zeit auf das Studium der hier vorgestellten fünf Phasen zu verwenden und sich eingehend mit ihnen vertraut zu machen. Es ist ein weitverbreiteter Fehler, anzunehmen, dass es einzig und allein darum geht, »die Arbeit zu erledigen«. Bei einer Therapie, in deren Mittelpunkt der Patient steht, muss uns bewusst bleiben, dass wir an einem Menschen arbeiten und nicht an einer Ansammlung dysfunktionalen Gewebes.
Die Fünf-Phasen- oder DASIE-Methode gliedert sich folgendermaßen:
Die DASIE-Methode: Development, Assessment, Strategie, Intervention, Ending
Erstmals wurde die DASIE-Methode für die Psychotherapie entwickelt (Nelson-Jones, 1995). Wir haben sie an die Erfordernisse der Physiotherapie angepasst. Sie wirkt vielleicht auf den ersten Blick, als sei sie für einen Neuling entwickelt, doch das ist Absicht. Auf diese Weise können Sie feststellen, wo Ihr Stil abweicht, was Sie vielleicht weglassen können und welche Aspekte ihre Behandlungen betonen, welche vernachlässigt werden. Wir sind der Ansicht, dass auch sehr erfahrene Therapeuten von einer Analyse profitieren, die diese Methode ermöglicht.
Phase 1: Development
Bei vielen Therapieansätzen heißt es, man solle »schmelzend« auf das Gewebe einwirken, »sich durch die Schichten sinken lassen«, und das gilt auch für die TFR. Machen Sie sich bewusst, durch welche Schichten Sie sich gerade arbeiten, und erlauben Sie dem Gewebe, sanft nachzugeben, anstatt es wie ein Bulldozer beiseitezuschaufeln. Formen Sie Ihre Hände, Finger, Knöchel oder was auch immer Sie einsetzen nach der Gestalt der Körperregion, an der Sie aktuell arbeiten. Setzen Sie gerade so viel Spannung und Druck ein, dass Sie die erste Widerstand leistende Schicht erreichen, und gehen Sie so lange behutsam vor, bis sie »in die Schicht eingeladen« werden.
In dieser Phase stellen Sie eine Beziehung zu der betreffenden Gewebeschicht her. Hier beginnt Ihre Reise durch das Energiefeld des Patienten, durch die aufeinanderfolgenden Gewebeschichten zur eigentlichen Zielschicht. Gleichzeitig ist es ein durchdachter Prozess, bei dem es um die Übertragung von Energie und das Warten auf die Einladung geht (Myers, 2009), oder, wie es Maupin (2005) formulierte, darum, in einen Schwamm hineingesogen zu werden.
Manche Schulen empfehlen, den Patienten aufzufordern, einzuatmen, während Sie »hineinschmelzen«, und häufig ist das bei der Behandlung schwieriger Regionen hilfreich. Übertreibt man es damit, wirkt das Ausatmen allerdings eher ablenkend als unterstützend. Versuchen Sie einmal, beim Einsinken in das Gewebe selbst auszuatmen. Indem Sie Ihren Schwerpunkt hoch und Ihre Fersen erhoben halten, können Sie sich genau über der zu behandelnden Zone positionieren. Wenn Sie (leise!) ausatmen und Ihren Schwerpunkt absenken, fühlt sich der Handgriff für Ihren Patienten wesentlich angenehmer an, als wenn Sie mit der Muskelkraft Ihrer Arme und Hände manipulieren. Die für den Druck notwendige Spannung regt das behandelte Gewebe dazu an, Widerstand zu leisten, und so kommt es zu einem behutsamen Kampf, den einer gewinnen muss.
Indem man einen entspannten Kontaktpunkt beibehält, vermeidet man, in der betreffenden Region Spannung aufzubauen, bewirkt aber auch, dass sie für Veränderungen in den Myofaszien empfänglicher ist. Je weniger Tonus in Ihren arbeitenden Gliedmaßen entsteht, desto besser spüren Sie Veränderungen, die in Ihrem Patienten vorgehen.
Das erreichen Sie, indem Sie möglichst viel Kraft aus den Muskeln beziehen, die vom Kontaktpunkt möglichst weit entfernt liegen. Benutzen Sie z. B. die Fingerspitzen, sollten diese nur so viel Spannung aufweisen, dass sie die Schichten durchdringen können. Die eigentliche Kraft kommt von Ihrem über der Behandlungszone eingesetzten Körpergewicht. Um zu tiefer liegenden Schichten vorzudringen, verstärken Sie dessen Wirkung, indem Sie den Winkel Ihres hinteren Fußes verändern. Drücken Sie von der Ferse aus (unter Mitwirkung des Körperzentrums), stabilisieren Sie Schultergürtel und Arme und spannen Sie Ellbogen und Handgelenke sanft an. Nur wenn keine andere Möglichkeit besteht, sollten Sie mit den Fingern selbst Druck ausüben, denn für den Patienten fühlt sich das oft »pieksig« und unangenehm an.
Phase 2: Assessment