Der Autor
Habib Selmi wurde 1951 in Kairuan (Tunesien) geboren. Er ist Universitätsdozent für Arabisch und lebt seit 1983 in Paris. Selmi hat Romane und Erzählbände veröffentlicht und gilt als einer der wichtigsten tunesischen Autoren arabischer Sprache.
Auf Deutsch erschienen im Lenos Verlag Bajjas Liebhaber und Die Frauen von al-Bassatîn.
Die Übersetzerin
Regina Karachouli, geboren 1941 in Zwickau. Studium der Arabistik und der Kulturwissenschaften in Leipzig. Promotion über Dramatik und Theater in Syrien. Von 1975 bis 2002 Lehr- und Forschungstätigkeit am Orientalischen Institut der Universität Leipzig. Übersetzerin zahlreicher literarischer Werke aus dem Arabischen (u.a. von Iman Humaidan, Sahar Khalifa, Alia Mamduch, Hanna Mina, Sabri Mussa, Alifa Rifaat, Tajjib Salich und Nihad Siris).
Die Übersetzung aus dem Arabischen wurde aus Mitteln der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterstützt durch litprom – Gesellschaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika e.V.
Meine Zeit mit Marie-Claire
»Hast du dich gewaschen?«
Damals begnügte ich mich mit einem leichten Kopfnicken, das wohl niemand ausser ihr wahrgenommen hätte. Jedes Mal, wenn ich den Stuhl zurückzog, um mich ihr gegenüber an den Frühstückstisch zu setzen, stellte sie mir diese Frage in einem Ton, der sich nicht verändert hatte, seit sie bei mir wohnte.
Danach sprachen wir nichts mehr. Hingegeben widmeten wir uns dem Frühstück, als zelebrierten wir ein altes, so oft geübtes Ritual, dass es uns mit all seinen Details in Fleisch und Blut übergegangen war. Immer die gleichen Bewegungen … Die ganze Zeit, während wir assen, blickten wir uns kaum einmal an. Doch ich war sicher, dass Marie-Claires rundes, sommersprossiges Gesicht glücklich aussah, denn das gemeinsame Frühstück nach der Morgentoilette gehörte zu den Dingen, die sie am meisten liebte.
Bevor sie bei mir einzog, war Marie-Claire, sobald sie die Augen aufschlug, in ihre Küche geeilt. Hastig schlang sie irgendetwas hinunter, rauchte ein, zwei Zigaretten und trank dazu ihren Kaffee. Erst hinterher ging sie ins Bad, um sich frisch zu machen. All das hatte sie mir eines Tages gestanden, als wir schon enger und fester miteinander befreundet waren. Ich war erschüttert, und das zeigte ich auch. Aber nach und nach gelang es mir, ihr diese schlechte Angewohnheit auszutreiben. Essen – das sei doch etwas Heiliges, erklärte ich ihr. Oder wie meine Mutter immer sagte: »Speise ist Gottesgab.« Und deshalb müsse man sauber sein, um sie zu sich zu nehmen. Es dauerte gar nicht lange, und Marie-Claire war mehr als ich darauf bedacht, sich vor jeder Mahlzeit zu waschen.
Jetzt sehe ich sie wieder vor mir, wie sie sich über ihre getoastete Brotschnitte beugt. Sie streicht eine dünne Schicht Butter darauf, dann eine dickere mit Konfitüre aus Kirschen, Aprikosen, Bärentrauben oder Erdbeeren. Sie tunkt die Scheibe in den heissen Milchkaffee und führt sie an ihre Lippen, die ich nie aufhörte zu begehren, seit ich sie das erste Mal sah – und bis sie mich verliess.
War sie fertig mit Essen, fuhr sie mit den Fingerspitzen langsam über diese feuchten, vom Schlaf ein wenig geschwollenen Lippen. »Wie schön, dass du mit mir frühstückst!«, sagte sie mit sichtlicher Freude. Sie zündete sich die erste Zigarette an und begann zu rauchen. »Ach, weisst du, es gibt doch nichts Besseres als ein gutes Frühstück«, setzte sie hinzu.
Ich nickte – gerade ich, der in einem kleinen Beduinendorf geboren wurde, wo die Leute kein Wort über das Essen verloren, ausgenommen sie sagten, es sei eine Gottesgabe. Ich, der während meiner Kindheit nichts kannte, was die Bezeichnung »Frühstück« verdient hätte. Wenn ich morgens überhaupt etwas zu essen bekam, so war es ein steinharter Kanten Gersten- oder Weizenbrot, den ich erst lange einweichen musste, bevor ich ihn zerkauen konnte, ohne mir meine spät gewachsenen Zähne daran auszubrechen. Ich tauchte ihn in Wasser ein oder in ein Restchen Schakschûkasauce, das vom Abendessen übrig war, sogar in altes Couscous, das schon ranzig schmeckte, obwohl es die Nacht über im Freien gestanden hatte, oder in einen Schwapp Buttermilch, der vom Vortag im Schüttelschlauch geblieben war. Gelegentlich stibitzte ich auch ein paar Feigen oder Aprikosen.
Marie-Claire blies den Rauch aus, wobei sie sich mit dem ganzen Oberkörper zum geöffneten Fenster drehte. Fürsorglich achtete sie darauf, den Qualm von mir fernzuhalten, denn sie wusste, dass ich ihn morgens gar nicht vertrug. Manchmal gähnte sie ausgiebig, so dass ich die feine Goldschicht auf einem ihrer Backenzähne deutlich erkennen konnte. Hatte sie zu Ende geraucht, reckte und streckte sie ihre Arme, legte dann die gefalteten Hände auf ihren Hinterkopf und gewährte mir einen Blick in ihre Achselhöhlen.
Seit jener Zeit bin ich scharf auf weibliche Achselhöhlen. Allmählich war mir aufgegangen, dass diese sanften, ungeniert entblössten Mulden zu den aufregendsten Stellen eines Frauenkörpers gehören – besonders wenn sie enthaart sind. Sobald ich meine Nase hineinschob und ihren Duft einatmete, erfasste mich eine wohlige Geborgenheit, als wäre ich wieder ein kleiner Junge, der sich zwischen die Brüste seiner grossen Schwester schmiegt.
Als ich Marie-Claire das erste Mal davon erzählte, hob sie erstaunt die Augenbrauen. Dann lachte sie. »Du bist doch wirklich ein Schwein … Was findest du denn so toll an meinen Achselhöhlen? Die Haare oder den Schweissgeruch?« Trotzdem hat sie die ganze Zeit, die wir miteinander verbrachten, niemals vergessen, dass ich nach dieser Stelle ihres Körpers verrückt war. Wollte sie mir zeigen, dass sie mich liebte, wollte sie mich verführen oder mir sagen, dass ich ihr gerade aus irgendeinem Grund gefiel, brauchte sie nur ihre Arme zu heben. Oder sie packte einfach meinen Kopf und schob ihn in eine ihrer Achselhöhlen.
Nach dem Essen und dem Rauchen blieb Marie-Claire gern noch ein bisschen auf ihrem Platz sitzen. In den ersten Jahren habe ich versucht, es genauso wie sie zu machen. Ich wusste, dass sie in diesen Augenblicken, da ich neben ihr sass, ein ähnliches Behagen fühlte wie bei unserem gemeinsamen Frühstück. Marie-Claire schaute nach dem Himmel. Das tat sie beinahe jeden Morgen. »Gar kein schönes Wetter«, meinte sie, wenn die Sonne sich hinter den Wolken verkroch. Manchmal konnte ich meinen Mund nicht halten und wandte ein, Regen, Wolken und Wind seien doch auch etwas Schönes … »Na, du bist aber komisch!«, ereiferte sie sich. »Immer musst du anders sein als die anderen! Wieso findest du das Wetter schön, wenn der Himmel trüb ist?« Da sagte ich nichts mehr. Eine Weile starrte ich auf die Löffel und Messer. Dann schob ich die Brotkrümel auf dem Tisch zusammen und goss die Kaffeereste aus den Tassen zurück in die Kanne.
Wenn Marie-Claire den Kopf ein wenig neigte und in tiefes Schweigen versank, was hin und wieder bei ihr vorkam, nutzte ich die Gelegenheit, sie heimlich zu betrachten. Zunächst schielte ich auf ihre Brüste, die mir im Vergleich zu anderen, deren Anblick mir vergönnt gewesen war, immer recht klein erschienen, beäugte darauf ihre Schultern und Arme, ihren Hals, der in Länge und Schlankheit, wie ich später herausfand, dem ihrer Maman ähnelte, und ihre zarten, feingliedrigen Hände. Schliesslich blieb mein Blick an ihrem runden, sommersprossigen Gesicht hängen. Wie oft versuche ich, mir ihr Bild zurückzurufen oder den Eindruck zu beleben, den sie auf mich machte, als ich sie zum ersten Mal sah.
Ich liebte Marie-Claires Gesicht. Nicht nur wegen der Lippen, die ich stets von neuem begehrte, oder seiner hübschen Züge wegen, sondern weil es rund und weiblich war, und vor allem so tröstlich. Es besass Ausstrahlung – eine eigentümliche Mischung aus Vertrautheit und Ungestüm, Ruhe und Klugheit. Zuweilen hatte ich das Gefühl, ins Gesicht eines kleinen Mädchens zu blicken statt in das einer Frau, die schon über dreissig war. Ich liebte es auch wegen seiner Sommersprossen, die ihm etwas Apartes verliehen und zusammen mit dem feinen, fast schulterlangen blonden Haar seinen besonderen Reiz ausmachten.
Sobald sie merkte, dass ich sie beobachtete, streckte sie mir prompt die Zunge heraus. Sie spitzte die Lippen, reckte den Hals und hielt mir ihr Gesicht direkt vor die Nase. Oder sie lehnte sich zurück und sah mich schmachtend an, nachdem sie mit grosser theatralischer Geste, als posierte sie vor einer Kamera, ihr Haar gerafft hatte … Dabei kicherte sie, oder sie lachte hellauf. Manchmal sprang sie mit einem Satz auf mich los, bedeckte meine Augen mit beiden Händen oder umklammerte meinen Hals, als wollte sie mich erwürgen. Oder sie packte mich bei den Schultern und schüttelte mich so lange, bis ich zugab, ein »krankhafter Voyeur« zu sein. Ich musste ihr hoch und heilig versprechen, auf der Stelle mit dieser »Unsitte« aufzuhören und sie nie wieder »mit Stielaugen anzuglupschen« – vor allem nicht kurz nach dem Frühstück. Nach dieser Rede fuchtelte sie drohend mit der Hand in der Luft herum, schüttelte spöttisch den Kopf oder warf mir einen möglichst kalten und strengen Blick zu, was ihr offensichtlich Mühe bereitete. Wenn sie dann noch etwas sagte, so erkundigte sie sich etwa, ob ich denn letzte Nacht gut geschlafen hätte, ob ich mich so weit ganz normal fühlte und wirklich keine Beschwerden hätte. Oder sie empfahl mir, lieber mal wieder die Zehennägel zu schneiden, die viel zu lang gewachsen seien, ohne dass ich es, wie üblich, bemerkt hätte. Jedenfalls würde das mehr bringen, versicherte sie mir, als sie anzuglotzen wie ein Spanner, der in seinem Leben kein Fleckchen nackte Haut an einer Frau gesehen habe.
An unseren seltenen freien Tagen, die wir gemeinsam verbrachten, dauerte das Frühstück länger, als ich ertragen konnte. Aus Sorge, mich beim Herumsitzen so zu langweilen, dass ich womöglich abrupt aufstand oder schlechte Laune bekam, zog ich mich in mich selbst zurück und versank in meinen Erinnerungen. Meistens dachte ich an den Tag, als meine Mutter starb. Damals waren die Leute freundlicher zu mir gewesen als je zuvor. Die Dorfjungen, die mich beim Fussball nie mitspielen liessen, weil ich, wie sie spotteten, nicht mal richtig einen Ball kicken könne, ermöglichten mir, sie wiederholt und ganz zweifelsfrei auszutricksen, ja eine Menge Tore zu schiessen. Ich erinnerte mich auch, dass die Männer mir erlaubten, im Leichenzug mitzugehen, was sie Kindern meines Alters sonst strengstens verboten. Und auf dem Friedhof durfte ich sogar alle Bräuche der Beerdigung mit ansehen. Mehr noch: Sie überreichten mir die Decke, mit der sie die Bahre verhüllt hatten, damit ich sie nach Hause mitnähme. Als ich in unseren Hof trat, erhoben sich sämtliche Frauen, die dort am Boden hockten, um nach dem stundenlangen Weinen und Klagen ein wenig auszuruhen. Von allen Seiten umringten und küssten sie mich. An jenem Tag, an dem ich meine arme Mutter hätte betrauern sollen, war ich so froh wie noch nie in meinem Leben.
Ab und zu, wenn ich zur Abwechslung mal an etwas anderes als den Todestag meiner Mutter denken wollte, versuchte ich, mich an meine letzten Träume zu erinnern. Mir war natürlich klar, dass sich diese Traumfetzen verwirrten und vermischten und so noch rätselhafter und seltsamer erschienen. Doch das störte mich absolut nicht, im Gegenteil, bisweilen hielt ich es für ganz nützlich, denn es brachte mich zum Nachdenken über Dinge, auf die ich niemals gekommen wäre, wenn ich jeden Traum vollständig und abgeschlossen für sich im Gedächtnis bewahrt hätte.
Sobald Marie-Claire fand, sie habe ihr Frühstück bis zur Neige ausgekostet und ihre in den vergangenen Arbeitstagen verbrauchte Energie sei ausreichend ersetzt, erhob sie sich geräuschlos, ohne ihren Stuhl zu rücken, als fürchtete sie, mir dadurch den Genuss meiner meditativen Versenkung zu verderben. Langsam und ruhig stellte sie alles aufs Tablett – die Tassen, die Kaffeelöffel und Messer, die Kanne, die Dose mit Zucker, die Schälchen mit Butter und Marmelade, die übrig gebliebenen Brotscheiben – und trug es in die Küche. Obwohl sie den Hahn nicht voll aufdrehte, drang das Geräusch von plätscherndem Wasser zu mir herüber.
Augenblicke später kehrte sie mit einem Krug Wasser zurück und trat zu ihren Pflanzen, die sie immer dicht ans Fenster schob, damit sie genug Licht bekamen. Sie wandte mir den Rücken zu, beugte sich ein wenig vor und begann sie zu giessen. Marie-Claire zog sich nach der Morgentoilette nicht sofort um, sie trug noch ihre Schlafsachen, eigentlich nur ein Flatterhemdchen mit nichts darunter, denn sie hasste Pyjamas, genau wie ich, und ebenso Nachthemden, die sie, wie sie sagte, an Klinikpatienten erinnerten. So kam es, dass ich von meinem Platz aus gewisse intime Stellen ihres Körpers deutlich erkennen konnte.
Gewöhnlich beherrschte ich mich und sah nicht mehr hin. Ja, ich wandte mich ab, um in den Himmel zu schauen, das Bild an der Wand gegenüber zu betrachten oder mich erneut in mich selbst zu versenken. Aber manchmal riss es mich einfach fort, und mich überkam eine wahnsinnige Begierde, sie zu nehmen, jetzt, während sie sich über die Pflanzen beugte. Dabei wusste ich genau, dass Marie-Claire so etwas gar nicht mochte. Schliesslich sei sie keine Kuh und ich kein Bulle, sagte sie. Ihrer Meinung nach passte das nicht zur Morgenstimmung. Trotzdem erlaubte sie es mir hin und wieder, vor allem zu Zeiten, wenn sie mich sehr liebhatte. Dann durfte ich sie tränken, während sie die Pflanzen tränkte – selbstverständlich erst, nachdem wir die Vorhänge zugezogen hatten.
Ich sah sie im Spiegel gegenüber dem Tisch, an dem ich sass.
Hin und wieder versuche ich, mir das Bild zurückzurufen, das ich von ihr gewann, als mein Blick zum ersten Mal auf sie fiel – aber es gelingt mir nicht. Als ich den Kopf hob, sah ich sie. Ich weiss nicht, ob sie mich da schon bemerkt hatte. Ebenso wenig weiss ich, wann sie in das Café gekommen war, denn ich hatte weder eine Bewegung gespürt noch irgendeinen Laut vernommen. Sicher war ich viel zu sehr in mein Buch vertieft gewesen. Und sicherlich hatte sie sich bemüht, beim Hinsetzen kein Geräusch zu machen, das die Aufmerksamkeit der Leute auf sie lenkte. Alles, was ich weiss, ist, dass sie genau hinter mir sass, höchstens einen halben Meter von meinem Tisch entfernt.
Ich warf nur einen flüchtigen Blick auf ihr Spiegelbild. Vielleicht kann ich mich deshalb nicht an meinen ersten Eindruck von ihr erinnern. Danach vertiefte ich mich wieder in meine Lektüre. Als ich nach langer Zeit erneut aufschaute, begann sie mich zu interessieren. Sie hatte ihre Sitzhaltung ein wenig verändert, und plötzlich erschien sie mir wie verwandelt.
Ihr langer, gerader Hals war das Erste, was mir auffiel. Das Zweite waren die Sommersprossen, die ihre Wangen bedeckten. Aber trotzdem gab es noch etwas in diesem runden Gesicht, was mich unwiderstehlich anzog. Im nächsten Moment, während ich sie im Spiegel musterte, begriff ich, dass sie überaus verführerische Lippen besass.
Unverwandt starrte ich in ihr Gesicht. Und je länger ich es betrachtete, desto charmanter fand ich es. Aus ihrem offenen Lächeln für den Kellner, der ihr einen Kaffee servierte, schloss ich, dass sie zu den Stammgästen gehörte. Langsam verrührte sie den Zucker in der Tasse und leckte dann umständlich den kleinen Löffel ab, bevor sie den Kaffee genüsslich zu schlürfen begann.
Ich war mir sicher, dass auch sie mich im Spiegel sehen konnte, wusste jedoch nicht, ob sie mich beachtete. Ständig schaute sie hinaus auf die Strasse oder zur Eingangstür rechts neben ihr, als ob sie jemanden erwartete.
Ich drehte mich um und lehnte meinen Rücken an die Glasscheibe des Cafés, durch die sie hinaussah. Nach einer kleinen Weile blickte ich auf, um ihr direkt ins Gesicht zu schauen – und stellte fest, dass ihre Augen auf mich gerichtet waren! Es wunderte mich nicht einmal. Ich lächelte sie an, und sie gab mir ein Lächeln zurück, das mir echt und ungekünstelt erschien. Da sprach ich sie an.
Leicht und frei sprudelten die Worte aus meinem Mund, als hätten sie dort für sie bereitgelegen. Ich musste nicht erst meinen Mut zusammennehmen, wie es mir gewöhnlich passierte, wenn ich eine Frau ansprach. Es war, als redete ich mit einem Menschen, den ich seit langem kannte. Ich erinnere mich nicht mehr genau, was ich zu ihr sagte, aber ich bin überzeugt, dass es lauter Floskeln waren, wie »Wir müssen uns schon mal irgendwann, irgendwo begegnet sein …« oder »Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor …« oder sonst etwas in der Art.
Sie lachte. Wie alle Frauen der Welt wusste sie, dass nichts an diesem Geschwafel stimmte … Ihr Lachen freute mich. Als ich ihre Lippen betrachtete, um mir zu bestätigen, dass sie in Wirklichkeit genauso verführerisch waren wie im Spiegel, bemerkte ich zum ersten Mal die feine Goldschicht auf einem ihrer Backenzähne. Ja, es war überhaupt das erste Mal, dass ich in einem europäischen Mund Zahngold sah. Es wunderte mich schon ein wenig. Damals wusste ich noch nicht, dass man in Europa kariöse Zähne damit saniert. Ich glaubte, nur die Bauern und Provinzler bei uns vergoldeten sich ihr Gebiss, weil sie mit ihrem Reichtum protzen wollen und weil sie meinen, alles, was da blitzt und glänzt, müsse auch schön sein, ganz besonders, wenn es aus einem so teuren Metall wie Gold bestand.
Als ich Marie-Claire in jenem Café gegenüber dem Haupteingang des Jardin du Luxembourg kennenlernte, lebte ich bereits neun Jahre in Paris, fünf davon hatte ich mit dem Studium verbracht. Nachdem ich promoviert hatte, ohne grosse Begeisterung übrigens, wollte ich nicht mehr nach Tunesien zurückkehren. Ich jobbte weiter in Hotels, die Arbeit gefiel mir. Sie sicherte mein Auskommen und erlaubte mir zugleich, als Lehrbeauftragter Seminare an der Universität zu halten, sooft mein Vertrag dort erneuert wurde. Hinzu kam, dass ich fürchtete, bei meiner Rückkehr in Tunesien festzusitzen und auf einen Schlag definitiv von Paris abgeschnitten zu sein, denn man beschlagnahmte die Pässe all jener, die längere Zeit im Ausland gelebt hatten, um zu überprüfen, ob ihr Geist unverdorben und ihre Vaterlandsliebe intakt geblieben waren.
Ich weiss nicht, wie lange wir in dem Café sassen. Jedenfalls waren wir die Letzten, die es verliessen. Ihr Lachen hatte mich ermutigt, an ihren Tisch zu wechseln. Tatsächlich musste ich dazu nicht einmal aufstehen, eine kleine Drehung genügte, um ihr gegenüberzusitzen. Nun brauchte ich nur noch mit meinem Stuhl heranzurücken.
Da Unterhaltungen, zumal in solchen Situationen, einer eigenen Logik folgen und niemand ihren Kurs zu steuern vermag, sprangen wir spontan von einem Thema zum anderen. Nicht für einen Moment riss uns der Gesprächsfaden. Verstummte sie, redete ich. Stockte ich, sprach sie. Es war, als hätten wir eine Übereinkunft. Als fürchteten wir, etwas Verbindendes zwischen uns zu zerstören oder zu verlieren, wenn wir eine Pause einlegten, durch die sich das grosse Schweigen einschleichen könnte. So geschah es, dass ich schon bei jener Begegnung in jenem Café, das ich ganz zufällig aufgesucht hatte, viele Dinge über die erste Frau in meinem Leben erfuhr, die mir etwas bedeutete.
Ich erfuhr, dass Marie-Claire ihr Studium der Geschichte und der Geographie an der Universität Nanterre abgebrochen hatte. Sie wollte nicht mehr Lehrerin werden, wie sie früher geträumt hatte. Seit ein paar Monaten arbeitete sie als Angestellte beim Post-, Telegrafen- und Telefonamt am Boulevard du Montparnasse, nachdem sie von der Behörde für den öffentlichen Dienst zugelassen worden war. Sie hatte sich für die Arbeit bei der Post entschieden, weil ihr der staatliche Sektor im Gegensatz zum privaten eine Lebensstellung garantierte. Marie-Claire hatte keine Lust, eines Tages arbeitslos dazustehen. Natürlich hätte sie im staatlichen Bereich auch etwas anderes finden können, irgendeine Beschäftigung mit Bezug zu ihrem Studium oder zur Welt der Bücher und der Schulen. Als Bibliothekarin beispielsweise. Aber sie wählte die Post, denn von klein auf liebte sie Briefe, Päckchen, Telegramme und alles, was damit zusammenhing.
Die Tätigkeit, die sie ausübte, ermöglichte ihr zwar keinen direkten Kontakt mit den Postsendungen – aufgrund ihres Hochschulstudiums war sie überqualifiziert für solch niedere Arbeiten wie das Frankieren und Stempeln am Schalter oder das Zustellen an den Empfänger. Trotzdem fand sie immer wieder Gelegenheit, sich am Anblick und an einer flüchtigen Berührung der Briefe zu freuen.
»Die ersten Tage«, erzählte sie, »habe ich mich oft über die Wagen gebeugt, auf denen die Briefe vor dem Einsortieren gesammelt werden. Ich betrachtete die Marken in den verschiedensten Farben und Grössen, las die Adressen in unterschiedlichsten Schriftzügen. Ich fuhr mit der Hand mitten hinein in den Haufen, rührte die Briefe um und atmete ihren Geruch ein. Ich weiss nicht, warum, aber jedes Mal denke ich, dass sie freudige Nachrichten befördern. Ich finde es aufregend, mir vorzustellen, wie sie überallhin in die weite Welt reisen – auf Schiffen, in Flugzeugen, Zügen und Bussen, am Himmel, über die Meere und Ozeane, Länder und Kontinente …
Noch faszinierender ist es, wenn ich einen von den Säcken öffne, die bei uns eingehen. Manche Briefe kommen ganz zerknüllt an, zerkratzt und mit ausgefransten Rändern. Auf ihrer langen Reise von einem Postamt zum anderen müssen sie durch unzählige Hände gegangen sein. Mitunter entdecke ich Briefe aus Ländern, von denen ich noch nie gehört habe, ja ich würde bestreiten, dass es sie überhaupt gibt, wenn ich nicht mit eigenen Augen ihren Namen auf dem Absender und den Briefmarken gelesen hätte. Obwohl ich Geschichte und Geographie studiert habe, sind sie für mich wie weisse Flecken auf der Landkarte …«
Weiter erfuhr ich, dass sie allein wohnte, in einer sogenannten Domestikenkammer im sechsten Stock eines alten Mietshauses, gelegen in einer kleinen Strasse zwischen Pantheon und Place de la Contrescarpe, die wegen ihrer vielen Bistros und Bars gern von Touristen aufgesucht wird. Marie-Claire war froh und glücklich über ihr enges Zimmerchen, denn die meisten Bewohner des Hauses waren nette Singles oder Rentner, die sie freundlich grüssten, wenn sie ihnen an der Haustür oder im Fahrstuhl begegnete.
Die ersten beiden Jahre an der Uni gehörten zu den schönsten Zeiten ihres Lebens, erzählte Marie-Claire. »Tolle Jungs« habe sie damals kennengelernt, einige aus Schwarzafrika, andere aus Guadeloupe, Martinique und Algerien. Die wundervollsten ausländischen Romane habe sie verschlungen, und mit dem Auto sei sie durch mehrere Länder getourt, ohne dass es sie viel kostete. Sie habe sich eben mit Gemüse und Obst oder aus Dosen ernährt, und geschlafen habe sie in grossen Bahnhofshallen oder in ihrem Zelt, das sie irgendwo aufschlug. Ich merkte auch, dass Marie-Claire nichts von der Politik und ihren Repräsentanten hielt. »Allesamt Lügner und Heuchler!«, sagte sie. Rassismus fand sie ganz abscheulich, sie sympathisierte mit den Palästinensern und hasste Gewalt, Terror und Kriege jeder Art.
Ich erfuhr noch viele andere Dinge, an die ich mich bis jetzt erinnere, obwohl es lauter unwichtige Kleinigkeiten sind. So schwärmte sie für die Tuareg und ihre Lebensweise und träumte davon, einen einzigen Tag bei ihnen zu verbringen. Sie würde auf ihren Kamelen reiten. Ihre Stuten und Ziegen melken. Mit ihnen in der weiten Wüste nächtigen. Marie-Claire liebte auch die Malerei und Bildhauerei, ging aber nicht allzu oft in Museen, weil sie meinte, das seien »bloss traurige Friedhöfe der Kunst«. Was sie gar nicht mochte, waren Plastikblumen, es grauste sie, das Zeug auch nur anzufassen! Und dann gab sie Schwarzweissaufnahmen den Vorzug vor Farbfotos.
Nach vielen Rendezvous in diesem und in anderen Cafés nahe dem Haupteingang des Jardin du Luxembourg beschloss ich, sie in meine Wohnung, unweit der Place de la Bastille, einzuladen. Als ich ihr das sagte, wollte sie unbedingt, dass ich zuerst sie besuchte. Ihre Beharrlichkeit überraschte mich. Bis heute weiss ich nicht, warum sie so hartnäckig darauf bestand.
Ihr Zimmer war schön und richtig behaglich. Vor dem einzigen grossen Fenster gab es eine hohe Pflanze in einem mächtigen Kübel aus Steingut. Gegenüber befand sich ein niedriges Bett, am Kopfende stand ein kleiner Tisch mit einer Stereoanlage darauf und am Fussende ein Regal voller Bücher, Souvenirs und Döschen. An den Wänden, die in lichtem Gelb gestrichen waren, hingen Reproduktionen berühmter impressionistischer Gemälde.
Sie fand meine Wohnung ebenfalls ganz nett und vor allem, im Vergleich zu ihrem Zimmer, sehr geräumig. Und dennoch – als ich ihr nach Monaten, in denen sich unsere Beziehung weiter gefestigt hatte, den Vorschlag machte, sie könne doch zu mir übersiedeln, zögerte sie lange, bevor sie zustimmte. Ich glaube, nicht einmal ihre starke Anhänglichkeit an mich, die sich in dieser Zeit deutlich zeigte, war für sie ein ausreichender Grund, in meine Wohnung einzuziehen. Bisweilen frage ich mich, ob sie nicht mir angeboten hätte, mich bei ihr einzuquartieren, wenn nur ihr Zimmer grösser gewesen wäre …
An dieser Stelle muss ich zugeben, dass mich Marie-Claires ständige Gegenwart in den ersten Monaten überglücklich machte. Ja, ich fürchtete, dieses unfassbare Glück könnte sich plötzlich in sein Gegenteil verkehren. Noch nie in meinem Leben hatte mich eine Frau so geliebt wie Marie-Claire. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich mit einer Frau auf diese Weise zusammenlebte. Ich sah sie jeden Tag. Ich roch ihren Duft. Berührte ihre Kleidung. Hörte ihre Schritte. Ich streichelte ihren Körper. Ich untersuchte ihre Kämme. Ihre Haarspangen. Ihre Parfümflakons. Ich betrachtete ihre Schuhe. Ihre Handtaschen. Ich sah sie duschen. Sah sie zur Toilette gehen. Ich beobachtete, wie sie ihre Hände bewegte. Wie sie gähnte. Wie sie ins Bett schlüpfte. Und es am Morgen verliess. Ich schaute ihr zu, wenn sie sich die Wimpern tuschte. Die Lippen schminkte. Die Augenbrauen zupfte. Dies und vieles andere durfte ich tun, wann immer ich wollte, und konnte dabei oft selbst nicht glauben, dass dieses einmalig schöne Wesen mein war. Mit all ihrer Fröhlichkeit. Ihrer Stärke. Ihrem Zauber. Ihren Marotten. Ihrer Extravaganz. Mit ihren Widersprüchen. Ihren Verwandlungen. Ihren Leidenschaften. Dass sie mit all dem mir gehörte. Mir ganz allein.
Aber zugleich muss ich gestehen, dass mich ihre Anwesenheit in meiner Wohnung, an meiner Seite, die erste Zeit auch oft in Verlegenheit brachte. Ich besass gar keine Übung im Umgang mit Frauen, und trotz allem, was sie mir bei unseren Cafébesuchen erzählt hatte, wusste ich weder, was sie liebte, noch, was sie hasste. Ausserdem sind Frauen ja bekanntlich sehr unberechenbar. Ich fürchtete, irgendeinen dummen Fehler zu begehen und sie zu enttäuschen. Deshalb versuchte ich bei allem, was ich tat, möglichst bedachtsam zu handeln und auf jede ihrer Reaktionen genauestens zu achten. Nach dem Toilettengang prüfte ich sorgfältig das Klobecken, um sicher zu sein, dass es wirklich ganz sauber war. Bevor ich das Örtchen verliess, versprühte ich Raumduft. Die Flasche mit Leitungswasser, das ich zum Säubern benutzte, rückte ich in die Ecke, damit Marie-Claire ohne Mühe an ihre Rolle Toilettenpapier herankam. Ich liess meine Schuhe nicht mehr wie früher, als ich noch allein wohnte, einfach da liegen, wo ich sie ausgezogen hatte, sondern stellte sie fein säuberlich auf den Abtreter. Ich duschte beinahe jeden Tag, und war ich damit fertig, drehte ich den Hahn voll auf, um alle abgefallenen Körperhaare mit einem starken Wasserstrahl fortzuspülen. Ich wechselte täglich meine Unterwäsche, was mir zuvor nie in den Sinn gekommen wäre. Ausserdem verabschiedete ich mich von gewissen, durchaus angenehmen Gewohnheiten: Ich bohrte nicht mehr mit dem Finger in der Nase herum. Ich unterdrückte das Rülpsen und liess auch keinen Wind mehr fahren, egal, wo und wie es mir gerade passte. Ich vermied es, mit meinen Gelenken zu knacken. Ich schnäuzte nicht mehr geräuschvoll. Ich verkniff mir das Kratzen, aus Angst, sie könnte glauben, dass ich mich nicht genug wasche.
Aufmerksam hörte ich ihr zu, wenn sie etwas zu mir sagte, und zeigte mich überhaupt sehr interessiert an allen ihren Äusserungen. Unverzüglich gab ich Antwort auf ihre Fragen, bereitwillig stimmte ich ihren Vorschlägen zu. Ich beeilte mich, ihr zu helfen, sooft sie etwas brauchte. Ich lächelte, wenn sie lächelte. Ich verzichtete aufs Fernsehen, wenn sie keine Lust dazu hatte. Und war sie müde oder klagte sie über Kopfschmerzen, unterliess ich jede Bewegung und blieb mucksmäuschenstill.
Ich wusste, dass ich meine Vorsicht übertrieb. Marie-Claire war gewiss nicht so streng, dass ich mich auf diese Weise verhalten musste, und sie achtete auch nicht ständig auf solche Dinge. Aber ich hatte mir nun einmal vorgenommen, auf der Hut zu sein und alles auszuschliessen, was Marie-Claire – und sei es auf indirekte Weise – dazu hätte veranlassen können, in dieser entscheidenden Phase unserer Beziehung ihre Meinung über mich zu revidieren.
Nachdem ich meine anfängliche Verlegenheit und Besorgnis überwunden hatte, beschloss ich, mich mit der Lösung eines Problems zu befassen, dem ich bisher nicht die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt, ja das ich vernachlässigt und verdrängt hatte, obwohl es mich ungemein störte. Es betraf die Art und Weise, wie Marie-Claire meinen Namen verunstaltete. Wenn sie mich rief, fühlte ich mich oft gar nicht angesprochen. Und das schmerzte mich.
Ich scheute weder Zeit noch Mühe, um ihr die richtige Aussprache beizubringen. »Machfûdh …«, artikulierte ich mit lauter Stimme, »nein, nicht Mâfud … jetzt hör mal genau hin … Mach-fû-dh …« Ich versuchte, die Laute so deutlich und so präzise wie möglich zu formen. Und ich muss zugeben, dass sich Marie-Claire, die zunächst wenig Begeisterung gezeigt und das Ganze wohl eher für einen Scherz gehalten hatte, bei diesen Übungen gewaltig anstrengte, nachdem ihr klargeworden war, wie viel mir daran lag.
Die ganze Zeit über, solange der Unterricht dauerte, war ich immer auf dem Sprung, ihr beizustehen. Mitunter schlüpfte ich in die Rolle des Pädagogen. Ich regte mich nie auf, zeigte nicht den geringsten Ärger. Ich bewahrte Ruhe. Ich lächelte ihr zu, und jedes Mal, wenn sie einen spürbaren Fortschritt erzielte, lobte ich sie. Geduldig erläuterte ich ihr die verflixten, schwierigen Laute, die einfach nicht locker aus ihrem Mund kommen wollten. »Das ›ch‹ ist ein stimmloser Reibelaut«, dozierte ich, bevor ich ihn, über meine Kehle streichend, wieder und wieder ausstiess. Marie-Claire öffnete den Mund. Sie reckte den Hals und setzte zum Sprechen an. Ihr Gesicht wurde puterrot, ihre Augen glänzten, und an ihrem Hals traten die Adern hervor, so dass ich schliesslich Erbarmen mit ihr hatte.
Dennoch gelang es ihr, zahlreiche Hürden zu nehmen, und ihre Aussprache verbesserte sich so weit, dass sie in manchen Momenten beinahe richtig war. Nur an meinem Namen scheiterte sie, nie konnte sie ihn so herausbringen, wie es hätte sein sollen. Doch nun konnte ich es verschmerzen, wenigstens hatte ich dank ihrer enormen phonetischen Fortschritte nicht mehr das Gefühl, ein anderer sei gemeint, wenn sie mich rief.
Seit ihrem Einzug waren kaum ein paar Monate vergangen, als Marie-Claire meine Wohnung vollkommen umzukrempeln begann. Sie fand die Einrichtung zwar ganz schön. Nur schwebte ihr eine andere Art von Schönheit vor. Eine schlichtere, unaufdringlichere, besonders im Wohnzimmer. Als Erstes entsorgte sie den Teppich im Schlafzimmer – der habe ausgedient! Danach entfernte sie die Tapeten von den Wohnzimmerwänden. Diese Blümchen, dieser Farbton, alles viel zu düster, meinte sie. Ausserdem wirke es schäbig, das erinnere sie an die Tristesse von Billighotels.
Wider Erwarten holte sie niemanden zu Hilfe. Rasch und geschickt erledigte sie alles selbst. Sie kaufte die Tapeten ein, schnitt sie zurecht und klebte sie an die Wände. Sie wählte Muster und Farbe des Teppichbodens und berechnete die für das Schlafzimmer erforderliche Menge. Sie legte die Bahnen aus und befestigte sie.
Später wechselte sie auch die Vorhänge. Dieses Design und vor allem die Dekoration: »wie bei Oma«, meinte sie scherzhaft. Sie baute ihr Regal im Wohnzimmer auf, um mehr Platz zu gewinnen – meins sei dafür zu wuchtig, das Holz zu ramponiert –, und liess mir zwei Fächer frei für einen Teil meiner Bücher. Alle restlichen Bücher von ihr und von mir räumte sie in mein Regal, das sie ins Schlafzimmer transportiert hatte. Couch und Tisch, die ich beide auf dem Flohmarkt erstanden hatte, durften bleiben, aber sie rückte sie beiseite, um »einen würdigen Platz«, wie sie sagte, für ihren kleinen Tisch mit der Stereoanlage zu finden. Sie hängte meine Bilder und ihre impressionistischen Repros an die Wände. Zuletzt stellte sie ihren grossen Blumentopf ans Fenster zwischen die Pflanzen, die sie gleich nach ihrem Einzug gekauft hatte.
Sie besorgte noch viele andere Kleinigkeiten, die ich niemals beachtet hätte. Einen Klodeckel. Spiegel und Läufer fürs Bad, Haken für die Handtücher. Mehrere Glühbirnen und Lampenschirme fürs Schlafzimmer und Wohnzimmer. Die meisten Schüsseln und Töpfe warf sie in die Abfalltonne und kaufte neues Geschirr und Kochgerät.
Bei alldem war sie stets darauf bedacht, meine Meinung einzuholen. Jedes Mal setzte sie mir die Sache erst klar und deutlich auseinander, wobei sie sich auf die Gründe konzentrierte, die sie bewogen hatten, an eine Veränderung zu denken. Sie begann nie mit der Ausführung ihrer Pläne, bevor ich mein Einverständnis bekundete, und zwar so entschieden, dass sie keinen Zweifel an meiner Überzeugung hatte, denn sie fürchtete immer, dass ich ihr nur aus Höflichkeit zustimmte. Schliesslich sei sie in meine Welt eingedrungen, sagte sie, und sie wolle mir durchaus nichts aufzwingen, was mir nicht gefalle.