Die Autorin
Nathacha Appanah, geboren 1973 in Mahébourg (Mauritius). Die Autorin und Journalistin mit indischen Wurzeln lebt seit 1998 in Frankreich und gehört zu den meistbeachteten Talenten einer neuen Schriftstellergeneration im Raum Indischer Ozean. Nathacha Appanah hat bisher vier Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Prix du roman Fnac.
Die Übersetzerin
Yla Margrit von Dach, geboren 1946, lebt seit 1977 als freischaffende Übersetzerin und Schriftstellerin in Paris und Biel. Sie hat unter anderem Sandrine Fabbri, Nicolas Bouvier, Marie-Claire Dewarrat, Henri Roorda, Catherine Colomb, Sylviane Chatelain (Prosa), Isabelle Daccord und Michel Beretti (dramatische Texte) übersetzt und wurde 2000 mit dem Prix Lémanique de la Traduction ausgezeichnet.
Für meine Cousine Nathalie,
meine Freundinnen Sandra und Roselyne,
meine Tante Balamani
»Unser Fleisch ist aus unseren Hoffnungen und Ängsten gemacht, besser als unser Mund sagt es, was wir sind.«
Ceux qu’on jette à la mer,
Carl de Souza
Am Anfang ist das Land. Ein Stück Erde mit unregelmässiger Oberfläche, unbestimmten Konturen. Hier die Rundung einer schwangeren Frau, da der sanft geschwungene Rücken eines jungen Mädchens, weiter weg die Dürre einer Greisin. Es ist ein Land, das aus dem feurigen Auswurf eines Vulkans entstand und dessen Profil gezeichnet ist von den Stürmen und der alles überragenden Sonne. Die ersten Menschen sind auf ihrem Weg nach Indien hier gelandet, zufällig, vor vierhundert Jahren. Sie fanden nur einen dichten Dschungel vor, in dem die Vögel nicht fliegen konnten und die Ratten Könige waren. Seitdem haben sich die Dinge ziemlich verändert. Diese ersten Menschen haben alle flügellosen Vögel verjagt, andere Seeleute kamen, durch Schlachten wurde das Land zur Trophäe erhoben, stolze Schiffe versanken in der Tiefe seiner Gewässer und ruhen gespenstisch darin, den Bug noch hoch erhoben, wie klargemacht zu einem letzten Sturm auf dieses widerspenstige Stück Land. Heute nehmen die Ratten, die sich nicht mehr an ihr einstiges Reich erinnern, vor den Menschen Reissaus, und die Vögel fliegen hoch am Himmel.
Mit dem unscharfen Horizont, der es umgibt, gleicht dieses Land zuweilen einem Land vom Ende der Welt. Die Leute hier erzählen, dass es nicht vorgesehen war. Es sei einfach so aufgetaucht, ohne dass jemand irgend etwas von ihm verlangte, und darum bleibe es so geheimnisvoll.
Es ist ein Land in extremis.
Man seufzt hier viel, habe ich gemerkt. Manchmal, nach einer Wegbiegung, taucht aus dem Nichts eine nie zuvor gesehene Blume auf, ein Granitfels, der in der Sonne glänzt, eine dem Festland entronnene Sandbank, mysteriöse Fussstapfen, ein Erdklumpen, zu einer Frauengestalt geformt, deren Brüste und Scham züchtig unter Farnen und Moos verborgen sind. Manchmal schnellen gar feurig schimmernde Vogelfedern hoch. Und angesichts dieser Spuren, die eine Schöpfungsgeschichte erzählen, seufzt man. Denn das Schöne und das Geheimnis, hat man mir gesagt, das lässt einen seufzen.
Man seufzt hier auch wegen dieses Horizonts, der einen überall verfolgt. Man sieht ihn Tag für Tag, man ist von ihm umstellt, er kommt näher, überwältigt einen. Und auf einmal, ja, ist man beengt, gefangen, hier, in der Falle, in die Enge getrieben, eine Geisel. Dann fällt das Atmen schwer, das Herz geht durch, der Blick wird trüb, und man seufzt, weil man diesem Gefängnisland so sehr entrinnen möchte.
Das ist eine Geschichte dieses Landes. Die einen werden Ihnen sagen, es sei eine Liebesgeschichte, andere, es sei die Geschichte einer enttäuschten Liebe, wieder andere werden von einer armseligen Wutgeschichte sprechen. Es kommt nicht so darauf an, sie ist ein wenig von all dem: Liebe, enttäuschte Liebe, Armseligkeit, Wut. Es kommt nicht so darauf an, was die Leute sagen, es ist meine Geschichte.
Dieses so kleine, stellenweise so enge, im weiten Wasser verlorene Stück Land ist aber doch so unterschiedlich von einem Ende zum anderen. Schauen Sie, hier ist die Erde wie verbrannt, so dunkel, und das kleinste Reisig kann Feuer fangen, wenn die Sonne herunterbrennt. Die Konturen flimmern in der Hitze, und die Menschen werden zu zitternden Hampelmännern. Doch kaum dreissig Kilometer entfernt herrscht die Feuchtigkeit der Tropengärten. Ein von Wasser gesättigter Boden, der von Tausenden Insekten wimmelt und auf dem Bäume und Farne nur die dünnsten Strahlen durchlassen. Da gibt es satte Schatten und unergründliche Bereiche, worin, wie es heisst, Menschen sich mit Absicht verlieren.
Doch verlieren Sie sich nicht, nicht Sie. Nehmen Sie den Weg nach Süden. Südsüdosten, um ganz genau zu sein. Dort, im Dorf Blue Bay, beginnt unsere Geschichte. Meine Geschichte. Wenn später die Leute sich diese aneignen wollen, wenn andere als ich sich um Fetzen meiner Erinnerungen balgen, werden Sie einschreiten, denn Sie werden wissen, dass es hier um mich geht und nur um mich.
Blue Bay ist der allerletzte Ort der Landzunge, der Ort, nach dem es nur noch Meere und Ozeane gibt. Eine kümmerliche Strasse, asphaltiert, doch von Schlaglöchern durchsetzt, führt durch Blue Bay hindurch und spaltet es auch. Links verbergen ebenmässige grüne Bambushecken schöne, in warmen Farben gehaltene Villen. Rechts, da wo die Strasse leicht abschüssig ist, als würde sie sich senken, geben in punktierten Linien gepflanzte Reihen von Roquettes, das sind diese Kakteen mit dem tödlich wirkenden Saft, den Blick frei auf rostige Blechhütten oder brüchige Backsteinbuden. Links die Reichen, mit Sicht auf den Ozean. Rechts die Armen, mit Sicht auf gar nichts ausser ihresgleichen. Einst waren das die Ammen, Putzfrauen, Gärtner, Chauffeure und etwa auch Maurer, die eine einfache Strasse von ihren Herren trennte. Doch seit fast zwanzig Jahren arbeiten die einstigen Bedienten im Fünfsternehotel Paradies dort hinten auf der Landspitze, und die Reichen mit Blick aufs Meer müssen sich ihre Diener anderswo suchen. Sie beklagen sich immer noch darüber, heisst es.
Das Meer macht sich rar in Blue Bay. Im Norden dagegen laufen alle Strassen eilfertig zu ihm hinunter, und es ist da, am Ende, wie ein Kompass, der nie verrückt spielt: immer am Ende, immer geradeaus, Sie können es nicht verfehlen.
Hier ist das anders. Die Strasse dreht und wendet sich, versinkt, verliert sich, und das Meer spielt Schabernack mit denen, die es sehen wollen. Als sorgte es gern für Überraschungen. Dabei sehen Sie es gleich am Dorfeingang, blaue Zunge, die ins Land hineinleckt und in einem Tümpel versickert, in dem Kinder fischen. Was erhoffen sie sich von ihren Angelhaken, an die sie einen Köder gehängt haben? Sie selbst wissen es nicht, denn nichts überlebt in diesem Meeresarm, Friedhof der kranken Algen. Aber wissen Sie, die Kinder glauben noch, dass niemand gegen eine gute Überraschung gefeit ist. So fischen sie unermüdlich.
Kaum haben Sie die Ortstafel Blue Bay passiert, kommen Sie wieder ins Landesinnere, lassen die im Sand wachsenden Bäume mit den Silberblättern hinter sich, die Wipfel der Filaos verschwinden hinter Ihnen. Auf ein paar alten, verlassenen Salzwannen, an denen Sie vorbeifahren, schlafen Hunde auf dem Rücken, mit weit von sich gestreckten Pfoten, Bauch und Geschlecht der Sonne dargeboten. Kaum beginnen Sie sich nach dem Meer zu sehnen, ist es wieder da! Diesmal dringt es nicht ins Land ein, um hier zu versickern. Imposante schwarze Felsen hindern es daran, und unermüdlich schlägt es dagegen an. Es ist blau, ein wenig unheimlich an dieser Stelle, aber im Auto kann man nicht anhalten. Es ist eine enge Kurve, ein toter Winkel, und die Busse fahren hier mit Vollgas. So müssen Sie wohl oder übel weiterfahren, mehrere Hundert Meter an dichten Bambusstauden und wackligen Kakteen entlang, und das Meer verschwindet noch einmal hinter Ihnen. Ich habe es Ihnen gesagt: Es spielt liebend gern Verstecken.
Manchmal haben sich auf der rechten Seite ein paar Arme das Haus ihrer Träume leisten können. Übereinanderliegende Backsteinboxen, oft drei Stockwerke hoch, so haben ihre Besitzer freie Sicht aufs Meer. Über die Kakteen, über die dichten Bambusstauden und über die Häuser ihrer einstigen Arbeitgeber hinweg. Das ist hässlich, es sieht unmöglich aus, und die sommerlichen Regenfälle haben auf diesen Schundkonstruktionen lange, dunkle Spuren hinterlassen, als weinten die Hauswände Schwarz. Das ist hässlich, es sieht unmöglich aus, aber man kann es armen Leuten nicht verübeln, wenn sie alles Mögliche und Unmögliche tun für die Sicht aufs Meer.
In der Kakteenreihe klaffen manchmal Lücken, um Gässchen durchzulassen, die hinunter- und ins Dorf hineinführen, doch wenn man eines davon einschlagen will, muss man das Auto am Strassenrand stehenlassen, denn sie sind zu schmal. Warum sie verbreitern? wird man Ihnen sagen: Auf dieser Seite hat niemand ein Auto. Wenn man sich ein Auto leisten kann, zieht man aus Blue Bay weg.
Sie folgen unermüdlich der kleinen Strasse, die sich weiter schlängelt und windet, und dann, plötzlich, nach einer schroffen Abfahrt und einer merkwürdigerweise schlaglochfreien Steigung, liegt das Meer da unten. Es ist elektrisch blau an den Wintertagen, blass an den Sommertagen, an denen die Sonne strahlt. Und nun werden Sie begreifen, warum das Dorf Blue Bay heisst. Die blaue Bucht. Sie fahren noch ein wenig weiter, halten an, wo Sie können, es gibt keinen Parkplatz, Sie steigen über das rote Steinmäuerchen hinweg, das die Strasse vom Sand trennt, und ich hoffe, Sie laufen. Ich selbst laufe immer dem Meer entgegen. Ich flitze zwischen den dünnen Stämmen der Filaos durch, rasch die Schuhe ausgezogen, ich beeile mich, als müsste ich das Meer erwischen, bevor es sich zurückzieht.
Wenn die Gischt auf meinen Füssen knistert, ist es, als hörte ich das Lachen des Meeres. Manchmal seufze ich, in diesem Augenblick. Werden Sie es auch hören, dieses Lachen, so schäumend und kristallin zugleich? Später, wenn Sie aufgehört haben, das Auf und Ab zu necken, und sich zum Meer hin in den Sand fallen lassen, werden Sie ganz vorne, rechts, an der in den Ozean hineinragenden Spitze von Blue Bay, die Strohdächer sehen, die zum Fünfsternehotel Paradies gehören. Der schwarze Hafendamm schützt die blassen Leiber auf den Liegestühlen und die Frauen, die sich mit nackten Brüsten am Privatstrand des Hotels sonnen, vor den Blicken von Einheimischen und neugierigen Gaffern.
Hier bin ich zur Welt gekommen, vor neunzehn Jahren. Genau hier. Zwischen der Traumwoche für sechstausend Euro, der unbezahlbaren Einsamkeit eines Strandes Mitte der Woche und dem Kilo schwarzer Linsen für drei Eurocent, das die ganze Woche reichen muss.
Wie dieses Land bin ich ein Kind in extremis. Darum haben meine Eltern mich Maya genannt. Die Illusion. Diejenige, die man zu sein glaubt, die aber nicht ist. Ich kam, als sie nicht mehr daran glaubten, nachdem zehn Jahre Warten auf mich sie bis hierher getrieben hatten, nach Blue Bay. Als mutmasslich unfruchtbares Paar waren sie aus Fond du Sac, ihrem Dorf im Norden, geflohen, denn sie waren die finsteren Blicke und das tägliche Getratsche leid.
Fond du Sac ist für denjenigen, der zum erstenmal dorthin will, ein fast unauffindbares Dorf. Auf den Strassenkarten ist es bei jeder Ausgabe an einer anderen Stelle, so wenig weiss man, wo es anfängt und wo es aufhört. Es fährt kein Bus dorthin, die Strassen versanden, bevor sie in seine Nähe kommen, und man muss über unsichere Pfade weiter, querfeldein. Die ersten indischen Einwanderer hatten hier ihr Lager aufgeschlagen, weit weg von den Weissen und fern von den befreiten Sklaven.
Heute, wenn die Städter sich über einen unkultivierten Menschen lustig machen wollen, sagen sie Wo kommt denn der her? Aus Fond du Sac? Zuunterst im Sack, ja, aber als wäre Fond du Sac ein Kaff, in dem man sich absichtlich vergräbt. Am Arsch der Welt, wie man sagt.
Meine Mutter Savitri hat meinen Vater Kavi vor fast dreissig Jahren geheiratet. Mein Vater hat mir erzählt, dass er das erste Mal, als er meine Mutter sah, mit den Augen blinzelte. Als könnte er nicht glauben, dass sie wirklich sei. Zu schön, um wahr zu sein. Heute ist meine Mutter eine hagere Frau mit einer feinen Haut, die sich an der Sonne schält. Sie ist ständig in Bewegung, hält nie inne, sie betrachtet nicht, träumt nicht, denkt nicht nach. Selbst wenn sie sitzt, bewegt sie rasend das Bein, zwirbelt sich das Haar, brummelt weiss ich nicht was. Als hätte sie es nötig, sich mit Geräuschen und Bewegungen anzufüllen, um zu vergessen, dass sie nur einmal Mutter geworden ist. Wenn sie am Fernsehen eine Familie am Tisch sitzen sieht, steht sie auf und macht sich in der Küche zu schaffen. Wenn sie unterwegs eine Frau mit zwei oder drei Kindern antrifft, wechselt sie die Strassenseite. Wenn im Radio in einem Lied von Schwestern und Brüdern die Rede ist, wechselt sie den Sender. Dabei hat sie doch mich. Aber diese zehn Jahre, die sie damit zugebracht hat, auf ein Kind zu hoffen, haben sie wie ganz und gar verschlungen, haben Mängel, Absenzen und Brüche hervorgerufen, die meine Geburt nicht aufzuwiegen vermochte. Darum hat sie mich Maya genannt. Die Illusion.
Wenn ich ihre zusammengekniffenen Lippen anschaue, ihren ewig zerknitterten, zu kurz drapierten Sari, ihre spitzen Knöchel, ihre geölten, zu einem platten Strohzopf geflochtenen Haare, kann ich kaum glauben, dass mein Vater mit den Augen blinzelte, als er sie sah.
Mein Vater erzählt allen, die es hören wollen, dass er sich hier in Blue Bay niedergelassen hat, weil er im Paradies arbeiten wollte und weil Fond du Sac doch wirklich sehr abgelegen ist! Aber ich weiss genau, dass sie wie Diebe aus diesem Dorf abgehauen sind, weil meine Grossmutter es müde war, auf Enkelkinder zu warten, und wollte, dass mein Vater eine andere Frau nahm Eine Frau, die dir Erben schenken kann.