Alan Bradley
Roman
Aus dem Englischen übersetzt
von Gerald Jung
und Katharina Orgaß
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Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Speaking from Among the Bones bei Delacorte Press,
an imprint of The Random House Publishing Group,
a division of Random House, Inc. New York
1. Auflage
© 2013 by Alan Bradley
© der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by Penhaligon Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Das Gedicht von Thomas Parnell stammt aus:
Britannia. Eine Auswahl englischer Dichtungen alter und neuer Zeit.
Ins Deutsche übersetzt von Louise von Ploennies
(Frankfurt a.M., Verlag der S. Schmerber'schen Buchhandlung 1843)
Satz: dtp im Verlag, Sabine Müller
ISBN 978-3-641-10962-2
V003
www.penhaligon.de
Für Shirley
Wo die Zypresse sich erhebt
Und grün das Beinhaus dort umwebt,
Däucht mich, rief eine Stimme mir;
Ihr Raben, lasst das Krächzen hier,
Ihr Glocken, hallet nicht die Stund’
Den See entlang und nächt’gen Grund!
In dumpfem hohlem Ton erklang
Dies Wort, das aus den Knochen drang.
THOMAS PARNELL
Ein Nachtstück auf den Tod (1717; in der Übersetzung
von Louise von Ploennies, 1843)
1
Blut tropfte vom Stumpf des abgeschlagenen Kopfes, regnete in dicken Tropfen herab und sammelte sich in einer rubinroten Pfütze auf den schwarz-weißen Fliesen. Das Gesicht war eine Grimasse des Erstaunens, als hätte der Tod den Mann mitten im Schrei ereilt. Die Zähne, durch einen schwarzen Strich säuberlich voneinander getrennt, waren zu einem grässlichen, stummen Schrei entblößt.
Ich konnte den Blick nicht abwenden.
Die Frau, die den entsetzt dreinblickenden Kopf an den blauschwarzen Locken stolz in die Höhe reckte, trug ein scharlachrotes Kleid, das fast die gleiche Farbe wie das Blut hatte.
Neben ihr stand eine Dienerin und hielt mit gesenktem Blick das Tablett, auf dem sie den Kopf hereingetragen hatte. Auf einem geschnitzten Thronsessel saß eine würdevolle ältere Dame in einem safrangelben Kleid. Sie hatte die Hände auf den Armlehnen zu Fäusten geballt, beugte sich nach vorne und betrachtete die grausige Trophäe mit sichtlicher Befriedigung. Sie hieß Herodias und war die Frau des Königs.
Die jüngere Frau, die den Kopf gepackt hielt, hieß – jedenfalls dem Geschichtsschreiber Flavius Josephus zufolge – Salome. Sie war die Stieftochter des Königs, dessen Name Herodes war, und Herodias war ihre Mutter.
Der abgeschlagene Kopf gehörte natürlich Johannes dem Täufer.
Vor einem Monat hatte ich die ganze blutrünstige Geschichte zum ersten Mal gehört, als Vater hinter dem großen geschnitzten Adler gestanden hatte, der in St. Tankred als Lesepult diente, und mit lauter Stimme den entsprechenden Bibeltext vortrug.
An jenem Wintermorgen hatte ich ebenso gebannt wie jetzt zu dem bunten Kirchenfenster aufgeschaut, auf dem die faszinierende Szene dargestellt war.
Im Verlauf der Predigt hatte der Vikar dann erläutert, dass die Menschen zur Zeit des Alten Testaments geglaubt hatten, unser Blut würde unser eigentliches Leben enthalten.
Blut – na klar!
Warum war ich nicht schon längst darauf gekommen?
Ich zupfte meine Schwester am Ärmel. »Du, Feely, ich muss sofort nach Hause!«
Sie beachtete mich überhaupt nicht. Ihr Blick war starr auf die Noten gerichtet, ihre Finger flogen im abendlichen Dämmerlicht wie weiße Vögel über die Orgeltasten.
Mendelssohns Wie groß ist des Allmächt’gen Güte.
Bis Ostern war es nicht mal mehr eine Woche, und Feely wollte mit diesem Stück ihr offizielles Debüt als Organistin von St. Tankred geben. Der flatterhafte Mr. Collicutt, der den Posten erst seit letztem Sommer innegehabt hatte, war plötzlich und ohne Erklärung aus unserem Dorf verschwunden. Deshalb hatte man Feely gebeten, seine Stelle einzunehmen.
St. Tankred verbrauchte Organisten wie eine Pythonschlange weiße Mäuse. Vor einigen Jahren noch hatte Mr. Taggart den Posten innegehabt, dann Mr. Denning. Und jetzt hatte auch Mr. Collicutt das Handtuch geworfen.
»Feely!«, drängelte ich. »Es ist wichtig. Ich habe etwas zu erledigen.«
Feely drückte mit dem Daumen ein elfenbeinernes Register, und die Orgel röhrte gewaltig auf. Diese Stelle mochte ich besonders gern. Hier verwandelte sich das friedliche Plätschern von Meereswellen bei Sonnenuntergang in das Fauchen einer Raubkatze im Dschungel.
Für meinen Geschmack gilt bei Orgelmusik: Je lauter, desto besser.
Ich legte das Kinn auf die angezogenen Knie und kauerte mich wieder in die Ecke des Chorgestühls. Anscheinend wollte Feely das Stück auf Biegen und Brechen bis zum Schluss durchprügeln. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten.
Ich schaute mich um, aber es gab nicht viel zu sehen. Im fahlen Schein der einzigen Glühbirne über dem Notenpult hätten meine Schwester und ich ebenso gut Schiffbrüchige auf einem winzigen Lichtfloß in einem Ozean aus Dunkelheit sein können.
Wenn ich wie ein Gehenkter den Hals verdrehte und den Kopf in den Nacken legte, konnte ich gerade noch das Antlitz des heiligen Tankred ausmachen, das in das Ende eines eichenen Dachbalkens geschnitzt war. Im Halbdunkeln sah er aus wie jemand, der draußen in der Kälte steht, sich die Nase an einer Fensterscheibe platt drückt und sehnsüchtig in ein gemütliches Zimmer mit knisterndem Kamin hereinschaut.
Ich nickte ihm respektvoll zu. Dabei konnte er mich gar nicht sehen, weil seine Gebeine nämlich in der Krypta unter uns vermoderten. Aber man weiß ja nie.
Johannes der Täufer und seine Mörder hinter der Kanzel waren inzwischen kaum noch zu erkennen. In diesen wolkenverhangenen Märztagen wurde es früh dunkel, und vom Innenraum der Kirche aus betrachtet, verwandelten sich die Fenster von St. Tankred schneller von einem prächtigen Farbenteppich in eine schmutzig dunkle Fläche, als man einen längeren Psalm herunterrattern konnte.
Offen gestanden wäre ich viel lieber zu Hause in meinem Chemielabor geblieben, als in einer zugigen alten Kirche herumzuhocken, aber Vater hatte darauf bestanden.
Obwohl Feely fast sechs Jahre älter ist als ich, weigert sich Vater, sie allein zu ihren so gut wie allabendlichen Übungsstunden und Chorproben gehen zu lassen.
»Demnächst werden sich noch mehr Fremde als sonst in unserer Gegend herumtreiben«, lautete sein Argument. Damit spielte er auf einen Trupp Archäologen an, der zur Ausgrabung der Gebeine unseres Schutzheiligen in Bishop’s Lacey erwartet wurde.
Allerdings hatte Vater nicht erläutert, wie ausgerechnet ich meine Schwester gegen irgendwelche wild gewordenen Wissenschaftler hätte verteidigen sollen. Ich wusste aber, dass hinter seiner Sorge noch etwas anderes steckte.
In jüngster Zeit hatten sich in Bishop’s Lacey mehrere Morde ereignet – hochspannende Verbrechen, bei deren Aufklärung ich Inspektor Hewitt von der Polizeiwache in Hinley tatkräftig unterstützt hatte.
Ich zählte die Opfer in Gedanken an den Fingern ab: Horace Bonepenny, Rupert Porson, Brookie Harewood, Phyllis Wyvern …
Noch eine Leiche, und die Finger einer Hand waren verbraucht.
Jedes der vier Opfer war in unserem Dorf gewaltsam ums Leben gekommen. Das war der eigentliche Grund für Vaters Sorge.
»Es ist nicht gut, wenn ein Mädchen, das … wenn ein Mädchen deines Alters am späten Abend allein auf eine Kirchenorgel einhämmert, Ophelia«, hatte er zu Feely gesagt.
»Aber da ist doch niemand, außer den Toten«, hatte meine Schwester gelacht, vielleicht eine Spur zu fröhlich. »Und die stören mich nicht. Jedenfalls lange nicht so sehr wie die Lebenden.«
Hinter Vaters Rücken hatte meine andere Schwester Daffy sich über das Handgelenk geleckt und ihr Haar zu beiden Seiten eines imaginären Mittelscheitels befeuchtet, wie eine Katze, die sich putzt. Damit äffte sie Ned Cropper nach, den Schankkellner aus dem Gasthaus Dreizehn Erpel, der unsterblich in Feely verliebt war und sie verfolgte wie ein übler Geruch.
Feely wiederum hatte sich am Ohr gekratzt, um Daffy zu zeigen, dass sie die kleine Pantomime verstanden hatte. Solche wortlosen Zeichen fliegen zwischen Schwestern hin und her wie Flaggensignale zwischen Schiffen. Für Außenstehende, die den Code nicht kennen, sind sie nicht zu entschlüsseln. Selbst wenn Vater etwas davon mitbekommen hätte, er hätte es nicht deuten können. Sein Codebuch war in einer ganz anderen Sprache abgefasst als unseres.
»Wenn du nach Einbruch der Dunkelheit kommst oder gehst, nimmst du Flavia mit. Es schadet ihr gar nichts, wenn sie mal ein paar Kirchenlieder lernt.«
Ein paar Kirchenlieder … als ob ich keine gekannt hätte! Erst kürzlich, als ich über Weihnachten das Bett hüten musste, hatte mir Mrs. Mullet unter viel Gekicher und dem Siegel der Verschwiegenheit ein brandneues Lied beigebracht. Daraufhin hatte ich jedes Mal, wenn ich Feely in die Kirche begleiten musste, aus vollem Hals geschmettert:
Hört der Engel Lied erklingen,
Beecham’s Pillen. Abführpillen sie besingen,
Sie wirken sofort, bei Alt und Jung,
Bringen die Därme richtig in Schwung!
… bis mir meine Schwester irgendwann ein Gesangbuch an den Kopf geworfen hatte. Was Organisten angeht, steht für mich fest: Sie haben keinen Funken Humor.
»Feely!«, jammerte ich. »Ich erfriere.«
Ich knöpfte bibbernd meine Strickjacke zu. Abends wurde es in der Kirche bitterkalt. Der Chor war schon vor einer Stunde gegangen. Ohne die warmen Leiber um mich herum, dicht gedrängt wie singende Sardinen, kam es einem noch viel kälter vor.
Aber Feely war bis über beide Ohren in Mendelssohn vertieft. Ich hätte ebenso gut mit dem Mond reden können.
Da gab die Orgel plötzlich ein zittriges Röcheln von sich, als hätte sie sich verschluckt. Die Musik brach gurgelnd ab.
»Zifix noch mal!«, entfuhr es Feely. Einen schlimmeren Fluch auszustoßen traute sie sich nicht – zumindest nicht in der Kirche. Meine Schwester war nämlich eine Frömmlerin.
Sie stellte sich auf die Pedale und zwängte sich hinter der Bank hervor. Die Bässe blökten gequält.
»Und jetzt?« Sie schaute nach oben, als erwartete sie von dort eine Antwort. »Das blöde Ding stellt sich schon seit Wochen so bockig an. Muss am feuchten Wetter liegen.«
»Ich glaube eher, die Orgel ist soeben krepiert«, erwiderte ich. »Du hast sie kaputt gemacht.«
Das musste Feely erst mal sacken lassen. »Gib mir die Taschenlampe«, sagte sie schließlich. »Wir müssen nachschauen.«
Wir?
Immer wenn Feely in Panik geriet, wurde aus »ich« im Handumdrehen »wir«. Die Orgel von St. Tankred war in das Verzeichnis historischer Orgeln der Königlichen Musikhochschule aufgenommen worden. Sie zu beschädigen galt vermutlich als Staatsverbrechen.
Feely graute jetzt schon davor, dem Vikar die schlechte Nachricht zu überbringen.
»Und vergib uns unsere Schuld«, sagte ich. »Wie kommt man denn an die Innereien?«
»So!« Feely schob ein Stück der geschnitzten Holzverkleidung neben dem Spieltisch der Orgel auf. Es ging so schnell, dass ich den Trick leider nicht mitbekam.
Sie knipste die Taschenlampe an, duckte sich und verschwand in der engen Öffnung. Ich holte tief Luft und folgte ihr.
Wir befanden uns in einer muffigen, mit Stalagmiten gespickten Aladinhöhle. Im wandernden Schein der Taschenlampe ragten überall Orgelpfeifen auf: hölzerne Pfeifen, metallene Pfeifen, Pfeifen aller Sorten und Größen. Manche waren klein und schmal wie Bleistifte, manche groß und dick wie Abflussrohre, und manche hatten den Umfang von Telefonmasten. Es war weniger eine Höhle, fand ich, als ein Wald aus Riesenflöten.
»Was sind das für welche?« Ich deutete auf eine Reihe hoher, kegelförmiger Pfeifen, die mich an die Blasrohre von Pygmäen erinnerten.
»Das ist das Gemshornregister. Angeblich klingen die Pfeifen wie alte aus Ziegenhorn geschnitzte Hirtenflöten.«
»Und die hier?«
»Das sind die Rohrflöten.«
»Weil sie wie Abflussrohre klingen?«
Feely verdrehte nur die Augen.
Plötzlich ertönte ein zischendes Röcheln, und ich schlang erschrocken den Arm um Feelys Taille.
»Was war das?«, flüsterte ich.
»Die Windlade.« Meine Schwester richtete die Taschenlampe auf die gegenüberliegende Ecke.
Der Lichtstrahl holte eine riesige Truhe mit Ledertaschen aus der Dunkelheit, die mit asthmatischem Keuchen und Pfeifen Luft ausstieß.
»Super!«, sagte ich. »Wie das Akkordeon von einem Riesen.«
»Du sollst nicht immer ›super‹ sagen«, ermahnte mich Feely. »Du weißt doch, dass Vater das nicht leiden kann.«
Ohne darauf einzugehen, schob ich mich zwischen den kleineren Pfeifen hindurch und schwang mich auf die Windlade. Die Truhe gab ein erstaunlich lebensechtes, unanständiges Geräusch von sich und fiel noch mehr in sich zusammen.
Eine Staubwolke wirbelte auf und ich nieste: ein-, zwei-, dreimal.
»Komm sofort da runter, Flavia! Das alte Leder kann leicht reißen!«
Ich richtete mich zu meiner vollen Größe von einssiebenundvierzigeinhalb auf. Für mein Alter – ich werde bald zwölf – bin ich ziemlich groß.
»Haruh!«, rief ich und ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. »Alles hört auf mein Kommando!«
»Wenn du nicht sofort da runterkommst, sag ich’s Vater!«
»Guck mal, Feely – hier oben liegt ein alter Grabstein.«
»Weiß ich. Der Stein soll die Windlade zusätzlich beschweren. Komm jetzt runter. Aber vorsichtig.«
Ich wischte den Staub mit der Hand weg. »Hezekiah Whytefleet. 1679 bis 1778. Nicht schlecht! Neunundneunzig ist er geworden. Wer das wohl gewesen ist?«
»Ich mache gleich die Taschenlampe aus! Dann stehst du im Dunkeln.«
»Ist ja gut. Ich komme. Sei doch nicht so langweilig!«
Als ich das Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagerte, sank die Windlade schwankend noch tiefer ein, sodass ich mir wie auf dem Deck eines vollgelaufenen Schiffes vorkam.
Etwas flatterte an Feelys Gesicht vorbei. Sie wurde starr vor Schreck.
»Wahrscheinlich bloß eine Fledermaus«, sagte ich.
Feely kreischte auf, ließ die Taschenlampe fallen und war verschwunden.
Auf der Liste der Dinge, die das Hirn meiner Schwester in Wackelpudding verwandelten, standen Fledermäuse ganz oben.
Wie zur Bestätigung hörte ich es abermals flattern.
Ich kletterte vorsichtig von meinem Podest, hob die Taschenlampe auf und fuhr mit dem Strahl über die aufgereihten Pfeifen wie über einen Lattenzaun.
Wildes Geflatter hallte in der Kammer wider.
»Ist schon gut, Feely«, rief ich. »Die Fledermaus steckt in einer Orgelpfeife fest.«
Ich schlüpfte wieder nach draußen. Feely stand in einem Strahl schräg einfallenden Mondlichts vor der Orgel, weiß wie eine Alabasterstatue und die Arme fest um sich geschlungen.
»Vielleicht können wir die Fledermaus ausräuchern«, sagte ich. »Hast du ’ne Zigarette?«
Das sollte ein Witz sein. Feely war eine fanatische Nichtraucherin.
»Oder wir locken sie heraus«, schlug ich hilfsbereit vor. »Was fressen Fledermäuse eigentlich?«
»Insekten«, sagte Feely tonlos, als müsste sie sich aus einem lähmenden Albtraum befreien. »Das hilft uns nicht weiter.«
»Hast du zufällig gesehen, in welcher Pfeife die Fledermaus festsitzt?«
»Im Prinzipal«, antwortete Feely mit zittriger Stimme. »Dem D. Die Pfeife ist fünf Meter lang.«
»Ich hab eine Idee! Spiel doch einfach Bachs Toccata und Fuge in d-Moll. So richtig mit Vollgas. Dann kannst du das Viech rauspusten.«
»Du bist abartig. Ich sage morgen Mr. Haskins Bescheid.«
Mr. Haskins war der Küster von St. Tankred. Vom Gräberausheben bis zum Messingpolieren kümmerte er sich um alles.
»Was glaubst du, wie sie reingekommen ist? Ich meine die Fledermaus.«
Wir wanderten zwischen hohen Hecken heimwärts. Wolkenfetzen trieben am Mond vorbei, und ein eisiger Wind zog und zupfte an unseren Mänteln.
»Keine Ahnung … und ich möchte jetzt auch nicht mehr über Fledermäuse reden«, erwiderte Feely.
Dabei wollte ich nur ein bisschen plaudern. Mir war natürlich klar, dass die Fledermaus nicht durch die offene Kirchentür hereingeflattert war. Bei uns auf Buckshaw gab es scharenweise Fledermäuse. Sie flogen durch zerbrochene Fenster ins Haus oder wurden verletzt von Katzen angeschleppt. Weil es aber in der Kirche keine Katze gab, lag die Antwort auf meine Frage auf der Hand.
Ich wechselte das Thema. »Warum soll das Grab überhaupt geöffnet werden?«
»Das Grab des heiligen Tankred? Weil er dieses Jahr fünfhundertsten Todestag hat.«
Ich pfiff durch die Zähne. »Fünfhundert Jahre ist er schon tot? Das ist fünfmal länger, als der alte Hezekiah Whytefleet gelebt hat.«
Feely äußerte sich nicht dazu.
Ich rechnete im Geiste nach. »Dann ist Tankred im Jahr 1451 gestorben. Was glaubst du, wie er aussieht, wenn sie ihn ausbuddeln?«
»Wer weiß? Manche Heilige verändern sich nach ihrem Tod überhaupt nicht. Ihre Haut bleibt glatt und weich wie ein Kinderpopo, und sie duften lieblich nach Blumen. Den ›Geruch der Heiligkeit‹ nennt man das.«
Wenn ihr danach war, konnte meine Schwester ausgesprochen gesprächig sein.
»Superkolossal!«, entschlüpfte es mir. »Hoffentlich kann ich einen Blick auf ihn werfen, wenn er aus seiner Kiste gezogen wird.«
»Vergiss es. Die Archäologen lassen dich nicht mal in seine Nähe.«
»Das wärmt orn’tlich von innen!«, verkündete Mrs. Mullet.
Ich beäugte skeptisch den Teller mit Kürbis-Pastinaken-Suppe, den sie vor mich hinstellte. Schwarzer Pfeffer schwamm wie Schrotkörner darin herum.
»Sieht ja beinahe essbar aus«, sagte ich höflich.
Daffy steckte den Finger als Lesezeichen in Die Geheimnisse von Udolpho und warf mir einen vernichtenden Blick zu. »Undankbares Gör.«
»Daphne …«, mahnte Vater.
»Stimmt doch!«, verteidigte sich Daffy. »Über Mrs. Mullets Suppe macht man keine Witze.«
Feely hielt sich rasch die Serviette vor den Mund, um ihr Grinsen zu verbergen. Abermals ging eine wortlose Botschaft zwischen meinen Schwestern hin und her.
»Ophelia …«, setzte Vater hinzu. Diesmal war ihm der stumme Austausch nicht entgangen.
»Lassen Sie’s gut sein, Colonel de Luce«, beschwichtigte ihn Mrs. Mullet. »Fräulein Flavia hat nur ein Späßchen gemacht. Das Mädel und ich, wir zwei beide versteh’n uns! Sie meint es ja nicht bös.«
Das war mir zwar neu, aber ich rang mir trotzdem ein zustimmendes Lächeln ab.
»Ganz recht, Mrs. M.«, sagte ich. »Denn sie wissen nicht, was sie tun.«
Vater schlug nachdrücklich die neueste Ausgabe des British Philatelist zu, in der er gelesen hatte, und verließ mit der Zeitschrift das Zimmer. Man hörte, wie sich die Tür zu seinem Arbeitszimmer leise schloss.
»Bravo«, sagte Feely. »Du hast es mal wieder geschafft.«
Vaters Geldsorgen waren mit jedem Monat drückender geworden. Anfangs war er einfach nur niedergeschlagen gewesen, aber seit einiger Zeit fiel mir etwas viel, viel Schlimmeres auf: Er hatte resigniert.
Es war undenkbar, dass ein Mann, der ein Kriegsgefangenenlager überlebt hatte, einfach kapitulierte. Es gab mir einen schmerzlichen Stich, als ich begriff, dass den Pfennigfuchsern vom Königlichen Finanzamt gelungen war, was das Japanische Kaiserreich nicht geschafft hatte. Sie hatten meinen Vater so weit gebracht, dass er alle Hoffnung aufgab.
Als ich ein Jahr alt gewesen war, war unsere Mutter Harriet, die Buckshaw von ihrem Großonkel Tarquin de Luce geerbt hatte, bei einem Bergsteigerunfall im Himalaja ums Leben gekommen. Weil sie kein Testament hinterlassen hatte, stürzten sich die Aasgeier Seiner Majestät auf Vater und pickten seither unermüdlich an seiner Leber.
Es war ein langer, zäher Kampf gewesen. Zwischendurch hatte es immer mal wieder so ausgesehen, als würde sich alles doch noch zum Guten wenden, aber in letzter Zeit wirkte Vater immer kraftloser. Schon mehrmals hatte er angekündigt, dass er Buckshaw aufgeben müsse, aber irgendwie hatten wir uns jedes Mal durchgewurstelt. Jetzt aber hatte es den Anschein, als sei ihm alles egal.
Dabei liebte ich mein Elternhaus so sehr! Beim bloßen Gedanken an seine welligen Tapeten und zerschlissenen Teppiche bekam ich eine Gänsehaut.
Onkel Tars erstklassiges Chemielabor im ersten Stock des unbeheizten Ostflügels war der einzige Teil des Hauses, der tipptopp in Schuss gewesen war. Doch auch hier hatten Staub und Vernachlässigung die Herrschaft übernommen, bis ich den vergessenen Raum irgendwann entdeckt und sogleich beschlagnahmt hatte.
Onkel Tar war schon über zwanzig Jahre tot gewesen. Das Labor, das sein großzügiger Vater für ihn eingerichtet hatte, war seiner Zeit jedoch so weit voraus gewesen, dass es sogar jetzt noch, im Jahre 1951, als wahres Wunder der Wissenschaft bezeichnet werden konnte. Und diese ganze Herrlichkeit gehörte mir allein – angefangen von dem blitzblanken Messingmikroskop der Firma Leitz über die Regalreihen voller Chemikalien, dem Heer von Glaskolben und Reagenzgläsern bis zu dem Gaschromatografen, den Onkel Tar nach dem Entwurf von Michail Semjonowitsch Zwet – was für ein beneidenswerter Name! – hatte bauen lassen.
Es gab Gerüchte, dass Onkel Tar kurz vor seinem Tod an dem Zerfall Erster Ordnung von Stickstoffpentoxid geforscht hatte. Falls diese Gerüchte der Wahrheit entsprachen, hatte Onkel Tar zu den Pionieren dessen gehört, was heutzutage kurz »die Bombe« hieß.
Mithilfe von Onkel Tars Fachbibliothek und seinen ausführlichen Niederschriften war es mir gelungen, eine gute, wenn nicht gar herausragende Chemikerin zu werden, auch wenn mein Interesse weniger dem Spalten von Atomen als dem Brauen von Giften galt.
Wenn ihr mich fragt – eine ordentliche Dosis Zyankali ist irgendwelchen stumpfsinnig umherkreiselnden Elektronen haushoch überlegen.
Mein Labor wartete. Ich konnte seinem Lockruf nicht länger widerstehen.
»Bleibt ruhig sitzen. Ihr braucht meinetwegen nicht aufzustehen«, sagte ich zu meinen Schwestern, die mich angafften, als wäre mir ein zweiter Kopf gewachsen.
Ich verließ das Zimmer, in dem eisiges Schweigen herrschte.
2
B ei geringer Vergrößerung durch ein Mikroskop betrachtet, erinnert das menschliche Blut an ein Luftbild des Petersplatzes in Rom, wo die Kardinäle in ihren scharlachroten Biretts und Umhängen müßig umherwandeln und darauf warten, dass der Papst auf den Balkon heraustritt. Was sie in Wirklichkeit natürlich nicht tun müssen.
Bei zunehmender Vergrößerung wird die Färbung immer schwächer, bis man schließlich erkennt, dass die einzelnen roten Blutkörperchen in Wirklichkeit allenfalls einen leicht rosigen Hauch aufweisen.
Die rote Färbung wird durch das im Hämoglobin enthaltene Eisen bewirkt. Das Eisen verbindet sich leicht mit Sauerstoff, den es bis in die entlegensten Winkel unseres Körpers transportiert. Im Gegensatz dazu haben Hummer, Schnecken, Krebse, Muscheln, Tintenfische und die Mitglieder europäischer Königshäuser blaues Blut, was dem Umstand zu verdanken ist, dass nicht Eisen im Spiel ist, sondern Kupfer.
Wahrscheinlich hatte mich der Fund des toten Frosches überhaupt erst auf die zündende Idee gebracht. Der Ärmste hatte offenbar versucht, vom Fluss hinter der Kirche zu der sumpfigen Wiese auf der anderen Straßenseite zu gelangen, als ihm ein dummes Missgeschick mit einem Automobil passierte.
Auf jeden Fall war er platt, als ich ihn in die Tasche steckte und zu Forschungszwecken mit nach Hause nahm.
Um die Blutkörperchen unter dem Mikroskop transparenter zu machen, hatte ich das Froschblut mit einer verdünnten Essigsäurelösung gemischt. Nachdem ich die Feineinstellung justiert hatte, sah ich deutlich, dass die Frosch-Blutkörperchen flache Scheiben waren, eher wie rosafarbene Pennys, wogegen meine eigenen, die ich mit einem beherzten Nadelstich extrahiert hatte, doppelt so groß waren und Mulden hatten, so wie lauter rote Donuts.
Auf die Idee jedoch, mein eigenes Blut mit dem meines Vaters und meiner Schwestern zu vergleichen, war ich erst später, auf eine indirekte Anregung von Daffy hin, gekommen.
»Du bist ebenso wenig eine de Luce wie der Mann im Mond«, hatte sie mich angeschnauzt, als sie mich dabei ertappte, wie ich in ihrem Tagebuch herumschnüffelte. »Deine Mutter stammt aus Transsilvanien. In deinen Adern fließt Fledermausblut.«
Als sie mir das ledergebundene Buch entriss, schnitt sie sich an einem Blatt Papier tief in den Finger.
»Das ist deine Schuld!«, zeterte sie und hielt mir den zitternden Finger, von dem es eindrucksvoll auf den Salonteppich tropfte, anklagend unter die Nase. Um die dramatische Wirkung noch zu steigern, hatte sie extra noch mal auf die Wunde draufgedrückt. Dann war sie schluchzend aus dem Zimmer gestürmt.
Ich konnte einen Gutteil des Blutes mit meinem Taschentuch aufsaugen. Vater machte ein großes Gewese darum, wie wichtig es sei, stets ein sauberes Schnäuztuch dabeizuhaben. Mehr als einmal hatte ich ihn schon in Gedanken für diesen ausgezeichneten Rat gepriesen. Das hier war wieder so ein Anlass.
Ich war unverzüglich in mein Labor geflitzt, hatte einen Objektträger mit der Blutprobe präpariert, etliche detaillierte Skizzen von meinen Beobachtungen angefertigt und sie säuberlich mit den Buntstiften aus dem Künstler-Malkasten koloriert, den Tante Millicent meiner Schwester Feely vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
Das Glück war mir hold. Wenige Tage später riss sich Feely, die übertrieben eitel war, was ihre Hände betraf, am Frühstückstisch einen Niednagel ein. Ich war natürlich sofort zur Stelle.
»Pass doch auf! Du versaust ja die Tischwäsche«, schimpfte ich, riss ihr die Serviette aus der Hand und gab ihr stattdessen ein Stück Mull, das ich vorsorglich eingesteckt hatte. »Ich wasche die Serviette rasch mit kaltem Wasser aus, bevor das Blut nicht mehr rausgeht.«
Oben in meinem Labor hatte ich dann eine zweite Skizzenserie angefertigt.
Die abgeflachten Scheiben der roten Blutkörperchen, hatte ich dazu vermerkt, neigen dazu, aneinanderzukleben. Ihre typische rote Farbe zeigt sich nur dort, wo sie einander überlagern. Ansonsten sind sie blassgelb wie der Abendhimmel nach einem Regenschauer.
Eine Probe von Vaters Blut zu bekommen war schon kniffliger gewesen. Die Gelegenheit kam erst am darauffolgenden Montag, als er zum Frühstück mit einem Fetzchen Toilettenpapier am Kinn erschien, weil er sich beim Rasieren geschnitten hatte.
In der Nacht hatte Dogger wieder einen seiner »Vorfälle« gehabt. Er stieß dann alle paar Minuten heisere Schreie aus, denen leises Wimmern folgte, das noch schauriger klang als das Geschrei.
Dogger war Vaters Faktotum. Seine Aufgaben richteten sich nach seiner jeweiligen Einsatzfähigkeit. Mal war er Kammerdiener, mal Gärtner, je nachdem, in welcher geistigen Verfassung er sich gerade befand. Dogger und Vater hatten zusammen bei der Armee gedient und beide im Gefangenenlager Changi gesessen. Sie sprachen nie über diese Zeit. Das Wenige, das ich über jene schrecklichen Jahre wusste, hatte ich Mrs. Mullet und ihrem Mann Alf mühsam aus der Nase ziehen müssen.
An jenem Morgen war es offensichtlich, dass Vater kein Auge zugetan, sondern die ganze Nacht an Doggers Bett verbracht hatte, bis die Wahnvorstellungen endlich nachgelassen hatten. Normalerweise hätte Vater es sich nicht im Traum einfallen lassen, mit Klopapier im Gesicht in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Dass er es tat, verriet mehr über seine eigene beklagenswerte Verfassung, als es Worte hätten ausdrücken können.
Es war ein Leichtes gewesen, den blutgetränkten Fetzen aus dem Abfalleimer in seinem Ankleidezimmer zu fischen. Ich muss aber zugeben, dass ich dabei schlimmere Gewissensbisse hatte als je zuvor in meinem Leben.
Unsere roten und weißen Blutkörperchen, also die von Vater, Feely, Daffy und mir, hatte ich schriftlich festgehalten, auch wenn ich es selbst kaum glauben mochte, sind hinsichtlich Größe, Form, Dichte und Färbung absolut identisch.
Aus einem abgegriffenen, mit spannenden Flecken verzierten Fachbuch über das Mikroskopieren aus Onkel Tars Bibliothek wusste ich, dass die Blutkörperchen von Fledermäusen nur drei viertel so groß waren wie die von Menschen.
Meine Blutkörperchen dagegen waren sogar noch in tausendfacher Vergrößerung nicht von denen meines Vaters und meiner Schwestern zu unterscheiden.
Jedenfalls nicht äußerlich.
In einer der Zeitschriften, die überall in unserem Salon herumlagen, hatte ich gelesen, dass Menschenblut in seiner Zusammensetzung dem Meerwasser gleicht, aus dem unsere Vorfahren angeblich an Land gekrochen sind. Tatsächlich wurde in medizinischen Notfällen, wenn kein Blut zur Verfügung stand, schon Salzwasser für Transfusionen verwendet.
Ein französischer Forscher und Artillerieoffizier namens René Quinton hatte bei einem Hund das ganze Blut gegen verdünntes Meerwasser ausgetauscht und festgestellt, dass der Hund nicht nur am Leben blieb – angeblich erreichte er ein hohes Alter –, sondern dass der Hundekörper das Meerwasser nach ein, zwei Tagen wieder in Blut umgewandelt hatte!
Sowohl Blut als auch Salzwasser bestehen hauptsächlich aus Natrium und Chlor, wenn auch nicht im gleichen Verhältnis. Trotzdem ist es doch amüsant, sich vorzustellen, dass der Stoff, der durch unsere Adern fließt, im Grunde nichts anderes als eine Lösung aus Wasser und Tafelsalz ist, auch wenn beide Lösungen genau genommen noch kleine Mengen Kalzium, Magnesium, Kalium, Zink, Eisen und Kupfer enthalten.
Diese Vorstellung hatte mich zunächst in höchste Aufregung versetzt, weil sie die Möglichkeit einer ganzen Reihe kühner Experimente verhieß, manche davon sogar am Menschen.
Doch dann hatte mein wissenschaftlicher Verstand wieder die Oberhand gewonnen.
Es folgte eine umfangreiche und sorgfältige Untersuchungsreihe, für die ich mein eigenes Blut opferte (ich war ein paar Wochen lang ziemlich blass um die Nase) und welche die Unterschiede klar herausstellte.
Ich konnte überzeugend nachweisen, dass in den Adern der de Luces kein Meerwasser floss, sondern eine andere Kombination chemischer Elemente.
Und was Daffys Behauptung anging, ich hätte eine transsilvanische Mutter – das war ganz einfach absurd!
Meine Schwestern hatten mir schon des Öfteren einreden wollen, Harriet sei nicht meine leibliche Mutter. Mal behaupteten sie, ich sei von Kobolden als Wechselbalg auf der Türschwelle abgelegt worden, oder aber meine unbekannte Mutter habe mich nach der Geburt verstoßen, weil sie Tag für Tag beim Anblick meines hässlichen Gesichts in Weinkrämpfe ausgebrochen sei. Harriet habe mich dann aus Mitleid adoptiert.
Es wäre mir fast lieber gewesen, wenn meine Experimente bewiesen hätten, dass meine Schwestern und ich nicht miteinander verwandt waren.
Fledermausblut – von wegen! Daffy, diese elende Hexe!
Um meine Forschungsreihe wissenschaftlich korrekt abzuschließen, durfte ich mich jedoch nicht auf irgendein Fachbuch berufen, sondern musste höchstpersönlich eine Fledermaus zur Ader lassen.
Ich wusste auch schon, wo ich eine herbekam.
Am nächsten Morgen würde ich früh aufstehen.