Soldat, Kanzler, Ikone
Biographie
C.H.Beck
Helmut Schmidt war nicht nur ein deutscher Bundeskanzler – er war eine nationale Institution und mit Abstand der beliebteste Deutsche. Wer war dieser Mann? Was zeichnete ihn als Politiker und als Mensch aus? Wofür stand er? Gunter Hofmann beschreibt die Stationen eines Lebens, das außergewöhnlich war und doch von Erfahrungen und Idealen bestimmt wurde, die Millionen von Deutschen teilten. Seine ausgewogene und kenntnisreiche Biographie bringt uns ganz nahe an Helmut Schmidt heran. Ein eindrucksvoller Rückblick auf einen großen Deutschen und zugleich ein glänzend geschriebenes Stück Zeitgeschichte.
Helmut Schmidts Leben war geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der NS-Herrschaft. Sie bildeten den Hintergrund seines lebenslangen Engagements für eine Bundesrepublik, in der Demokratie und soziale Gerechtigkeit die obersten Maßstäbe bildeten. Vom jungen Senator in Hamburg, der durch sein tatkräftiges Krisenmanagement während der Flutkatastrophe auf sich aufmerksam macht, führte Schmidts politischer Werdegang über Ämter als Fraktionsvorsitzender und Minister in verschiedenen Ressorts schließlich bis ins Kanzleramt, wo er acht Jahre lang der „leitende Angestellte“ der Bundesrepublik Deutschland war. Auch nach seinem Sturz gelingt Schmidt erneut eine eindrucksvolle Karriere, diesmal als Herausgeber der „Zeit“, als Bestsellerautor und als öffentliche Instanz, die von allen Deutschen respektiert wird.
Eindringlich schildert Gunter Hofmann, der Schmidts Wirken jahrzehntelang als Journalist begleitet hat, die Lebensgeschichte dieses Mannes, sein Handeln und seine Persönlichkeit, seine Beziehungen zu Weggefährten und Widersachern, seine Ehe mit Loki Schmidt. Mit diesem Buch liegt eine hervorragend lesbare und zugleich fundierte Biographie Helmut Schmidts vor, die sein ganzes Leben umfasst.
Gunter Hofmann war bis 2008 Chefkorrespondent der ZEIT. 2003 erhielt er für sein Buch Abschiede, Anfänge – Die Bundesrepublik. Eine Anatomie den Preis der Friedrich-Ebert-Stiftung für das beste politische Buch des Jahres. Zuletzt sind von ihm bei C.H.Beck erschienen: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben (22010) und Willy Brandt und Helmut Schmidt. Geschichte einer schwierigen Freundschaft (32013).
«Gegenwärtig bin ich der leitende Angestellte der Bundesrepublik Deutschland, und alle vier Jahre haben wir eine Generalversammlung, wo einige 30 Millionen wahlberechtigte Bürger darüber abstimmen, ob ihr Unternehmen einigermaßen anständig geführt ist oder ob es unzureichend geführt worden ist.»
Helmut Schmidt, 1980
«… aber was ihn tief in seinem Inneren bewegt, habe ich nie erfahren.»
Marion Dönhoff über Helmut Schmidt
I. Politik und Leben
II. Jugend unter Hitler
Ben Witter
Die Verwirrungen des Zöglings Schmidt
«Gespaltene Bewusstseinslage»
Die Türme des Kreml
Keine Hitler-Freunde, nirgends
Frei reden
Freisler
Moritzelchen
Davongekommen
Keine «Stunde Null»
III. Wofür?
Karl Schiller
1953
Erler
Strauß
Mr. Geradeheraus
Max Weber
Wurzeln
1961
Stadt unter
1963
Kennedy
Brandt
Wieder im Treibhaus
Traumrolle
1967
Herzenssache Notstandsgesetze
IV. Machtwechsel
1970
Schiller
1972
1974
Der kleine Unterschied
Giscard
Der Euro aus Langenhorn
1980
Eppler
Breschnew
1976
Nahaufnahme
Auf den Kanzler kommt es an?
15. Dezember 1976
«Krieg»
Grauzone
1978
1980
Raddatz, Grass, Lenz
«Sind wir alle Nazis?»
1981
Deutsch-deutsche Entente
«… dass dies notwendig war …»
1981
1982
Die Welt, wie Schmidt sie sah
Tricky Dick
Jerry
Carter
Reagan
V. Kommentator
Unter «Wegelagerern»
Politiker zu hundert Prozent
Unter dem Strich
Mauerfall
Nachbar Polen
Julius Leber
VI. Was bleibt
Normal
Glück? Ein relatives Gefühl
Ein richtiges Leben im falschen
Anmerkungen
Bildnachweis
Personenregister
Gedanken und Erinnerungen hieß bei ihm Menschen und Mächte. Anders als der Reichskanzler Otto von Bismarck, der nach seiner Entlassung 1890 zur Feder griff, wollte Helmut Schmidt damit aber ausdrücklich keinen persönlichen Rückblick auf sein Leben zu Papier bringen. So häufig und gerne er auch Bücher verfasste – im hohen Alter ein Buch pro Jahr galt als das untere Minimum, alle Bestseller –, seine Politik wollte er weder ableiten aus seinem eigenen Leben, noch wollte er sich einbetten in einen systematischen historischen Rückblick auf die Bundesrepublik und ihre Rolle in Europa und der Welt.
Politische Selbstbespiegelungen, Blicke nach innen seien ihm «immer suspekt» gewesen, notierte er gleich zu Beginn des ersten dickleibigen Wälzers, den er fünf Jahre nach dem Abschied aus dem Kanzleramt verfasste. Eine «Verführung für den Autor» stellten Autobiographien ihrer Natur nach dar, «sich selbst fehlerlos zu sehen oder sich doch jedenfalls in besserem Lichte erscheinen zu lassen, als es dem späteren Urteil der Geschichte entsprechen kann».[1] So redete er sich den Gedanken daran selber aus.
Anders wollte er es halten mit dem Erinnern, weniger persönlich, viel grundsätzlicher und in größeren Bögen. In dem Erfahrungsbericht aus seinem Leben mit dem Titel «Menschen und Mächte» nahm er zunächst einmal die drei Weltmächte, Russland, die USA und China in den Blick, damit man als Leser gleich weiß, was ihn umtreibt und an welcher Elle er das eigene Land misst; vor allem bevölkerte er ihn bunt mit Menschen, Dialogen, neugierigen und oft auch liebevollen Portraits, lebhaften Schilderungen jener politischen Weggefährten oder Begegnungen, die ihn beeindruckten, die Weichen stellen konnten oder deren Stimme einfach Autorität hatte, ohne dass sich ein besonderes Amt damit verband. Inständig liebte er es natürlich, über seine Gespräche mit den Großen der Welt zu berichten, von Mao Zedong und Deng Xiaoping bis Anwar as-Sadat, Richard Nixon oder Henry Kissinger – als einer, der zur Familie gezählt wurde. Leonid Breschnew tauchte auf, Andrej Gromyko, Michail Gorbatschow, Robert McNamara, Arthur Burns, George Shultz, Ronald Reagan, Hua Guofeng – und das ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dieser Namensparade, die er antreten ließ. Sein Ego verbarg er nicht, er nahm sie ernst, aber sie ihn nicht minder, lautete die Botschaft zwischen den Zeilen. Also durfte man ihm auch über die Schulter blicken, wenn er neben den ganz Großen traulich auf der Couch saß.
Geschichte, wollte Helmut Schmidt damit wie beiläufig festhalten, ist menschengemacht: Jemand entscheidet, zaudert, versagt gar, immer trägt einer Verantwortung in öffentlichen Angelegenheiten. Politiker stehen an Scheidewegen, sie können sich irren und korrigieren, es lohnt sich, nach Alternativen zu suchen, sie brauchen Optionen, sie müssen entscheiden und vorangehen. Diese Grundhaltung bewahrte er immer. War es Geschichtsoptimismus, der ihn trug? Das Wort geht zu weit, aber gegen jedes fatalistische Sich-treiben-lassen wehrte er sich, Politiker, die sich aus diesem Grund selbst zurückhielten, hatten schlicht ihren Beruf verfehlt, glaubte er.
Aber das eigene Denken, das Verhalten als Politiker, die getroffenen Entscheidungen aus dem eigenen Leben heraus erklären? Das keinesfalls! Wohl nicht allein die mögliche «Verführung» störte ihn, sich selbst fehlerlos zu sehen oder zu illuminieren; nein, ein rationaler, vernunftgeleiteter Politiker lässt sich möglichst nichts von «innen» diktieren, er handelt nach Sachkompetenz, Vernunft und nachprüfbaren Maßstäben. Ein Votum des Kanzlers, ein Kabinettsbeschluss, das sollte nicht abgeleitet werden können aus dessen Herkunft, als folgten Politiker nur heimlichen Lebenslinien, und als gäbe es nicht fast immer verschiedene Möglichkeiten, unter denen sie nach bestem Wissen und Gewissen auswählen müssen.
Letztlich blieb für Schmidt Politik doch das Produkt nüchterner, pragmatischer Abwägung von Sachargumenten in öffentlichen Angelegenheiten, so wollte er sich immer verstanden wissen, eigentlich schon in seinen frühen Bonner Jahren, 1953, als er im Grunde noch ein Lehrling im Bundestag war – und die Republik sich durch die erste Phase ihrer langen, beschwerlichen Selbstverständigung mühte. Nicht der eigenen Gesinnung und privaten Moral folgt Politik, sondern vernünftigen Maßstäben und Common Sense. Kein Autobiograph, sondern ein Verantwortungsethiker stellte sich vor schon im ersten Buch, und so sollte das fortan in allen Texten des Autors Helmut Schmidt sowie seinen öffentlichen Auftritten bleiben.
Zwar, kursorische Hinweise, Beiträge zur Familiengeschichte, Notizen vor allem über seine «unpolitische» Jugend lieferte er sehr wohl: In erster Linie aber doch, um Kontrolle über das eigene Bild zu behalten und Missdeutungen vorzubeugen. Bis hierher gewähre er Einsicht – so die stille Post zwischen den Zeilen – aber keinen Millimeter weiter, als er möchte. Er allein! Immer wollte Helmut Schmidt sein eigener Herr bleiben, niemand sollte verfügen können über ihn.
Keine der zahlreichen Biographien, die bereits über ihn zu Papier gebracht wurden, erfasse ihn ganz, kommentierte Helmut Schmidt denn auch die Lektüre über ein langes Politikerleben, sein Leben. Wenig allerdings trug er selber dazu bei, aufzuklären, was er vermisste oder worin er sich getroffen fühlte und worin nicht. Ganz gerecht, nebenbei, wurde er seinen Biographen damit nicht. Vor allem der Heidelberger Historiker Hartmut Soell, einige Jahre Schmidts Weggefährte im Bundestag und geschätzter Gesprächspartner in Sachen Sicherheitspolitik, hat sich ihm in zwei voluminösen Bänden skrupulös angenähert, zwar nicht im Sinne einer autorisierten Biographie, aber doch überaus materialreich vom ersten Lebenstag an bis zum Abschied aus dem Kanzleramt; ein Nahblick, der dennoch Distanz wahrte und Apologetisches möglichst mied. Jonathan Carr (der nicht nur vom Ökonomen Schmidt, sondern vor allem vom Pianisten und Kunstkenner schwärmte), Hans Martin Lehmann, Martin Rupps, Hans-Joachim Noack, Michael Schwelien, Theo Sommer, das ist nur ein kleiner Ausschnitt der Liste von Autoren, die sich biographisch annäherten – in Ausnahmefällen Huldigungsliteratur, oft jedoch lehrreich und mit kritischem Blick.
Mit Kritik lernte Schmidt umzugehen, trotz aller unübersehbaren Eitelkeit, darin zeigte er sich zunehmend professioneller. Nur fair musste sie bleiben, ansonsten stand er – mit wachsender Erfahrung – darüber, schon gar als alter Herr. Ihn brachte nichts mehr in Rage. Das hieß aber auch, dass Widerworte, beispielsweise wegen seines vielfach bekundeten Verständnisses für das Niederschlagen der Opposition am Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni 1989, an ihm einfach abprallten. Er hörte zwar zu. Aber wenn er sich seines Urteils sicher war, konnte ihn niemand darin beirren, selbst Freunde wie Manfred Lahnstein nicht, der ein ganzes Buch über Asien schrieb, nur um seinen einstigen Chef Helmut Schmidt von seinem einseitigen, gar zu rosigen Bild der offiziösen chinesischen Politik und ihren Modernisierungserfolgen abzubringen.[2] Auch von seiner Überzeugung, der dramatische Klimawandel sei nicht von den Menschen selbst zu verantworten, sondern ein natürlicher Prozess, vermochten ihn keinerlei Einwände abzubringen. Auffällig kontrastierte das mit seiner Neugier und Lernbereitschaft, die er sich grundsätzlich und auf vielen Feldern bis ins hohe Alter bewahrte.
Seine Arroganz, sein Klassenprimus-Gebaren, seine Eifersucht gegenüber potentiellen Konkurrenten in jüngeren Jahren, anfangs noch auf der Karriereleiter, dann aber auch als Regierungschef, alles hat Hans-Joachim Noack korrekt aufgespießt, ein liebenswürdiger, fehlerfreier Superman sieht anders aus – aber Schmidt hat es nicht gehindert, mit dem Autor gelegentlich weiter eine Schachpartie zu spielen, wie sie das seit vielen Jahren schon pflegten.
Seine Bemerkung, er fühle sich von keinem der Biographen ganz erfasst, hatte wohl andere Gründe als bloße Empfindsamkeit hinter der rauen Schale: Schmidt wollte sagen, es bleibe ein unauflösbarer Rest, den er allein kenne. Und er – siehe oben – wollte die Autobiographie ja nicht schreiben.[3]
Ganz so extrem war seine Scheu sicher nicht wie bei Willy Brandt, Journalisten, Biographen oder Freunden einen wirklichen Blick auf sein Innerstes, sein Ich zu gewähren. Nicht einmal dessen engster Getreuer, Egon Bahr, durfte Brandt zu nahe kommen. Jeder Versuch, «des Anderen ‹Ich› zu verstehen», hätte das Vertrauen zwischen ihnen gestört, beschrieb der Mitarbeiter seit den Berliner Jahren ihr kompliziertes Verhältnis in seinem späten Freundschaftsbuch «Das musst Du erzählen!» Zwar verfasste Willy Brandt «Erinnerungen», sogar in mehreren Anläufen, aber am liebsten sprach er auch darin von sich in dritter Person, ganz selten tauchte ein «Ich» auf, immer nur in wenigen Sätzen. Psychoanalytiker, das betonte er, wollte er schon gar nicht nahe an sich herankommen lassen. Nein, er brauchte den Schutzpanzer um sich herum.
Bei Helmut Schmidt hingegen kam das «Ich» immerhin etwas häufiger vor. Zudem war er ein Freundschafts-Freund, er bekannte sich zu Freundschaften, privaten wie politischen, und war auch davon überzeugt, dass sie politische Wirkungen haben konnten. Seine Freundschaften verliefen quer durch alle Parteigrenzen und ließen sich auch nicht sortieren nach links oder rechts, Giscard d’Estaing, Henry Kissinger, Hans Matthöfer, George Shultz, Rainer Barzel, Fritz Stern, Theo Sommer, Peter Schulz … Schmidt fiel es nicht schwer zu gestehen, wenn er um jemanden trauerte und weinte, etwa beim Tode Ernst Reuters, des großen Berliner Bürgermeisters, oder bei der Nachricht von den Schüssen in Dallas auf John F. Kennedy. Wo Willy Brandts Gesichtszüge sich versteinerten, zeigte er seine Gefühle. Oder er teilte aus, unerbittlich, wenn er wollte, auch aggressiv, manchmal sicher, um sich dahinter zu verbergen – obwohl ihm stets bewusst blieb, wie er reagierte, als schaue er sich selber dabei zu. Als alter Herr von 95 Jahren war er sogar bereit, mit der Bild-Zeitung sein privates Fotoalbum durchzublättern und Episoden aus seinem Leben zu erzählen. Wie er bedauerte, keine Enkel zu haben! Den Grabstein für seinen Sohn, der als Baby im Kriegsjahr 1945 starb und in Schönow bei Berlin beerdigt wurde, habe er ausgraben und im eigenen Garten aufstellen lassen. Sonst, so Schmidt, wäre er heute vielleicht Opa, dass es nicht so kam, nehme er «als Tatsache des Lebens hin». Der Tod seiner Frau, ließ er sich entlocken, sei nach 68jähriger Ehe ein wirklicher Schlag für ihn gewesen, ein Jahr lang sei es ihm schlecht gegangen, aber Ruth Loah sei für ihn in dieser Zeit den ganzen Tag da gewesen und habe ihm «das Leben gerettet». Sie habe ihm auch, ohne sein Wissen, den Rollstuhl besorgt «und dann hat sie mich reingesetzt und ich habe es gerne akzeptiert». Auf soviel Privates also ließ er sich ein, noch dazu, wenn er es selbst kontrollieren konnte. Nicht derart freimütig wie seine Frau, die in einigen Gesprächsbüchern aus ihrem und seinem Lebensalltag plauderte, aber doch auch ungezwungen berichtete er gelegentlich von fröhlichen Feiern zu Hause, Loki und er kochten dann für die engsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Sekretärin, Büroleiterin, Chauffeur.
Bis ins hohe Alter blieb es seine Maxime, sein Urteil möglichst unverblümt zu fällen. Was halten Sie von Kommissionspräsident José Manuel Barroso? Schmidt, 94: «Ist nichts wert.» Schätzen sie Angela Merkel? Schmidt: «Nicht sonderlich.» Allenfalls fügte er noch hinzu, sie sei «geschickt im Taktieren, aber ohne strategisches Ziel.»
Nur auf diese eine Grenze achtete Schmidt, sie durfte nicht überschritten werden: Die Freiheit des Politikers, zwischen verschiedenen Pfaden zu wählen, müsse es immer geben, nie folgten sie lediglich «Sachzwängen» oder einer inneren Logik, die im eigenen Leben gründet. Niemand durfte auf diesen Gedanken kommen, zu sehr widersprach das seinem Bild von Politik als rein rationalem Geschäft. Solche Deutungen überließ er anderen, wenn sie denn wollen, er gab auch bereitwillig Auskunft und öffnete sein Archiv – aber genoss es, am Ende urteilen zu können, die Autoren hätten ihn nicht wirklich verstanden. So wollte er Herr des Verfahrens, Herrscher über die Bilder bleiben, die sich von ihm einnisten in unseren Köpfen, und das gelang ihm wohl auch weithin.
Hineingeboren ist Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, in ein behütetes Haus in hochdramatischen Zeiten, das Kaiserreich ging unter, die Weimarer Republik und der Aufstieg Adolf Hitlers, die «Machtergreifung», blutige Fehden zwischen den neuen Machthabern, offene Judenverfolgung, brennende Synagogen folgten bald – dennoch hat er, wie er festhielt, eine unpolitische Jugend erlebt. Acht Jahre diente er als Soldat. Für die Sozialdemokratie entschied er sich im Gefangenenlager. Städteplaner wollte er werden oder Architekt, möglichst weit weg, aber Politik wurde sein Beruf. Er betrat die öffentliche Arena nicht «fertig», er musste lernen. Lernen wie Deutschland selbst, das – mit einem Wort von Cees Noteboom – lange «in der Mache» war. 1974 löste er Willy Brandt im Kanzleramt ab, zögernd. Die hohe Kunst des Regierens, hieß es rasch, beherrsche er perfekt, als eine Art Referenzkanzler der Deutschen galt Helmut Schmidt schon zu Amtszeiten. Nach der jahrzehntelangen Dienstreise, die im Herbst 1982 im Parlament mit der Wahl Helmut Kohls zum Nachfolger endete, wuchs seine Reputation noch weiter. Jetzt erst recht wurde Schmidt für viele zur Kultfigur, zur Projektionsfläche für vielerlei und zur nationalen Ikone.
Vielleicht hingen sein Regierungsstil, seine Leidenschaften, seine Maßstäbe, auch seine praktische Politik doch eng mit seinem Leben zusammen? Enger, als er sehen oder einräumen wollte? Auch wenn man Gründe für das außergewöhnliche Prestige des alten Herrn suchte, führten die Spuren auf seine Vita zurück. Moden wollte er sich nie beugen, aber er wurde zu einer deutschen Institution wie kein zweiter, nicht einmal Richard von Weizsäcker; und zugleich verriet die Resonanz auf den Mann mit der stets glimmenden Zigarette und den lakonischen Antworten viel vom Zeitgeist, auch von den Sehnsüchten nach Gewissheit, Orientierung, moralisch-politischen Leitplanken.
Man kann nicht sprechen über Helmut Schmidt, und über das Gros der Deutschen schweigen, die ihn so sehr bewundern. Er warnte zwar davor, ihm zu viel abzuverlangen, auch er sei nicht allwissend, aber am Echo änderte es nichts, er galt weithin als der alte Weise, der das chaotische Weltgeschehen zu deuten und zu ordnen vermöge. Ein Ausnahmepolitiker, an dem alle Politik sich messen lassen muss. Dieses Buch will versuchen, das zu erklären, auch dieses Verehrungs-Verhältnis. Um einen Blick ins «Innere», den er selber nicht macht, geht es freilich nicht zuletzt.
Seiner Rolle war er sich stets bewusst, das Echo zumal in den späten Jahren genoss er. Es war keine falsche Bescheidenheit – die lag ihm fern –, wenn er Interviewern empfahl, sie sollten ihn nicht förmlich mit «Herr Bundeskanzler» anreden, «nennen Sie mich einfach Schmidt».
Gerade sein bescheidenes Einfamilienhaus am Neubergerweg in Langenhorn vor den Toren Hamburgs behält man lebhaft als Bild vor Augen, in all seiner stupenden Unauffälligkeit und Normalität. Hinter dieser Allerweltsfassade bewirtete Helmut Schmidt seinen adligen französischen Freund, Präsident Valéry Giscard d’Estaing, in der kleinen Bar im Souterrain. Mit Leonid Breschnew tauschten sie sich im Keller aus über ihre Soldatenjahre, aßen im bescheidenen Wohnzimmer Spargel mit Schinken, hinterher gab es Rumtopf und polnischen Wodka und überhaupt floss viel Alkohol bei dieser Gelegenheit. Jahrzehnte mit seiner Frau Loki verbrachte er hier und auch die Jahre danach. Sie liebten es beide bescheiden.
Zum «leitenden Angestellten der Bundesrepublik Deutschland» beförderte er sich selbst mit einem Hauch von Selbstironie (aber wirklich nur ein Hauch), während er Kanzler war – nur um den Eindruck zu vermeiden, ein Regierungschef sei ein höheres Wesen, eine jüngere Version von Kaiser Wilhelm, irgendwie nicht von dieser Welt. Nein, der «Angestellte», das ist einer wie du und ich, nur halt im Chefsessel. Normal ging es zu bei Schmidts, sollte das heißen.
Manchmal klagte er zwar, in der freien Wirtschaft hätte er viel mehr Geld verdienen können, aber dabei handelte es sich wohl mehr um Koketterie, die besagen sollte, auch dazu wäre er in der Lage gewesen … Erlesenes Essen, feine Brioni-Anzüge, rauschende Feste – von alledem hielt er nichts. Ungefähr wusste das neugierige Publikum, wie es aussah bei Schmidts zu Hause, ein paar Fotos kursierten, sie machten kein Geheimnis daraus. Jeder sollte wissen – die dort hinter der Reihenhausfassade, die sind ununterscheidbar von unsereins. Sein Ferienhaus am Brahmsee hatte er noch nüchterner ausgestattet als das Privathaus in Langenhorn. Seht her, das ist das Maximum an Luxus, mehr leiste ich mir nicht! Eine Art Datscha, im Westen. Nichts, was sich mit den Villen und Landsitzen seiner Hamburger Kaufmannsfreunde auch nur annähernd hätte messen lassen. Kein Chateau, keine Kreml-Mauern. Stattdessen Normalität pur, ein deutscher Normalfall. Dass andere mit weniger Macht demonstrativ auf großem Fuß lebten, das war Helmut Schmidt herzlich egal.
Genossen hat er gewiss dennoch, dass er als gefragter Vortragsreisender und vor allem als Bestseller-Autor später mehr Geld verdienen sollte als mancher Chefmanager, sparsam war es in den jungen Jahren lange genug zugegangen – aber er spendete auch viel in die Weimarer Nationalstiftung, die er 1993 einrichtete. Selten gewährte er einen Blick hinter die Kulissen, gelegentlich machte er Konzessionen an Sandra Maischberger und Reinhold Beckmann, die ihn umgarnten, um aus dem Privatleben eines der populärsten Deutschen etwas erhaschen zu können, oder eben an Bild. Natürlich dachte er nicht daran, fortzuziehen von Langenhorn in eine Luxusvilla, als er es sich hätte gönnen können. Verübelt hätte es ihm niemand. Aber in Lebenshaltungsfragen hielt er genauso Kurs wie in politischen Angelegenheiten.
Ich entsinne mich an einen Besuch bei ihm, die Rede war wie so oft von der Nachrüstung, wir saßen in seinem verrauchten Arbeitszimmer auf halber Treppe, gelegentlich schaute seine Frau «Loki» herein. Ob er noch einen Tee wünsche, wollte sie wissen. Mühsam hatte sie sich dazu extra mit dem Treppenaufzug nach oben bewegt. Gerade war er dabei zu erklären, weshalb die Rechnung mit der «doppelten Null-Lösung», der beiderseitigen Abrüstung zwischen den Großmächten, 1983 zwar nicht aufging und in der Bundesrepublik wie angekündigt eine neue Generation atomarer Mittelstreckenraketen stationiert wurde, um den sowjetischen SS-20 etwas entgegenzusetzen. Mit all den Kürzeln und Formeln, die er traumwandlerisch beherrschte.
Aber, so Schmidt im Zigarettenrauchnebel, 1987 änderte sich schlagartig alles, Michail Gorbatschow und George Bush (sen.) unterzeichneten den INF-Vertrag zur Abrüstung ihres Nukleararsenals, «später als gedacht, aber doch». Das sei das «Ende des Kalten Krieges» gewesen, bilanzierte Schmidt. Nein, er führte das nicht zurück auf seine Standhaftigkeit in Sachen Nachrüstung, wie er es noch wenige Jahre zuvor gepflegt hatte, auch wenn er sich sicher war, dass es richtig vom Westen gewesen sei, nicht nachzugeben; Michail Gorbatschow selbst habe ihm gegenüber bestätigt, dass er nichts dagegen zu setzen hatte. Aber Tee, ach so, ja, den hätte er gerne. Ich schloss mich an. «Loki» goss nach.
Zu 1989, setzte Schmidt den Gedanken fort, sei es schließlich allein wegen Gorbatschow gekommen, er konnte den Prozess nicht mehr steuern, den er ausgelöst hatte.
Sicher, sämtliche Kanzler seit Konrad Adenauer wollten etwas von Normalität verkörpern. Abgehoben, bürgerfern, unnahbar – wie sie solche Etiketten fürchteten! Auf ihre Weise suchten alle – Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder, Angela Merkel – möglichst am Boden zu bleiben. Um Himmels willen nicht den Eindruck erwecken, man gehöre zur «politischen Klasse», einer erdabgewandten, abgehobenen Elite.
Selbst aus diesem Rahmen aber fiel Helmut Schmidt, er legte besonderen Wert darauf, und er musste sich nicht einmal verstellen. Understatement lag dem Hanseaten ohnehin nahe, nicht etwa, um sich anzubiedern. Ein Programm verbarg sich dahinter: Sein eigenes Leben hatte ihn doch gelehrt, die Mitte zu suchen und zu wahren, nie wollte er sich davon abbringen lassen. Wie geht das, den Leuten nicht nach dem Mund reden, ohne exzentrisch zu wirken? Wenn er schon zu seinem Leidwesen nicht die Herzen erwärmen konnte wie Brandt, der Zehntausende von aufgewühlten Berlinern in Krisenmomenten der geteilten Stadt hinter sich scharte oder die Kumpels in der Dortmunder Westfalenhalle mit seiner rauen, brüchigen Stimme mitriss, dann wünschte er jedenfalls sichtbar zu machen, dass er den Alltag der «normalen» Bürger nie aus den Augen verliere. Abheben sollte sich das möglichst auch von den «Intellektuellen», gerade in seiner eigenen Partei, die in Luftschlössern lebten, wie er grollte, und hinwegredeten über die Köpfe der Leute. Ihn scherte nicht, dass er damit an ein zählebiges Vorurteil aus der Adenauer-Republik rührte, wonach die Geistesarbeiter sich gefälligst aus der Politik heraushalten sollten, weil sie von der Sache nichts verstünden, sehr wohl aber das Klima vergifteten mit ihrer Nörgelei.
Allerdings meinte Normalität für ihn keineswegs, sich der Mehrheit anzupassen. Zum Balanceakt seines Lebens entwickelte sich das: Den eigenen Instinkten folgen, und gleichwohl nicht aus der Reihe tanzen. Bei wem funktioniert das schon? Von «durchschnittlicher Durchschnittlichkeit» sollten nach seiner Kanzlerzeit zwei Schweizer Professoren sprechen, Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt, Ökonom der eine und Psychologe der andere. Nicht Schmidts Profil wollten sie damit charakterisieren, intelligent und ironisch brachten sie damit vielmehr seinen Nachfolger Helmut Kohl auf den Begriff.
«Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber» betitelten die beiden Autoren ihre originelle Analyse. Ein kleines, unscheinbares Büchlein, das es in sich hatte. Zumal der Name Kohl darin nicht ein einziges Mal fiel. Als «Fels in der Brandung» beschrieben sie den großen Ungenannten, mit Respekt vor dem Machtinstinkt, aber spürbar doch auch mit freundlicher Verwunderung darüber, dass Maßstäbe, Ziele, Konzeptionelles bei dem mächtigen Mann im Bonner Kanzleramt leider gar nicht erkennbar seien. Durchschnittliche Durchschnittlichkeit? Schmidts Urteil über Kohl – den er als Oppositionsführer nicht respektierte und als Nachfolger lange Jahre schmähte – dürften die Schweizer Autoren mit ihrem Befund recht nahe gekommen sein.
Alleine wollte Helmut Schmidt definieren, was er für richtig und wichtig hält. Dazu war er doch gewählt! Politiker folgen nicht dem Zeitgeist, sie definieren ihn. Nicht nur Befindlichkeiten durfte er ausdrücken, sondern selbst der Vernunft eine Stimme geben. Normal bleiben, aber nicht durchschnittlich – darauf konzentrierte sich Helmut Schmidt, so sollten wir alle ihn sehen.
Wen hat er nicht alles als seine persönlichen Haus- und Gebrauchsphilosophen gepriesen und auf der Zunge getragen, Marc Aurel, Immanuel Kant, Max Weber, Sir Karl Popper, um klar zu machen, dass dieses «Vernünftige» nicht einfach die Mehrheitsmeinung ausdrückt, den kleinsten gemeinsamen Nenner oder auch nur seine Privatmeinung. Verständlich machen wollte er sich, das schon, und nicht überheblich ignorieren, was die Mehrheit dachte. Im Zweifel jedoch konnte er darauf nicht Rücksicht nehmen. Denn, nicht wahr, ein Regierungschef, der sich an der Demoskopie entlang hangelt, würde es sich gar zu billig machen. Deutsche Normalität zu verkörpern, auf das normale Deutschland zu hören, das meinte weit mehr für ihn.
Auch an seinem Urteil über die Kanzler der Republik spiegelte sich das wider. Respekt für Angela Merkels Stehvermögen und ihren Machteroberungssinn, Machtsicherungsinstinkt fehlte ihm nicht. Aber Bewunderung rang ihm ihr Verständnis von Politik keinesfalls ab. Als gelehrige Schülerin Helmut Kohls erwies sie sich in seinen Augen, den er auch nicht für einen konzeptionellen, strategisch denkenden Regierungschef hielt.
Ihn störte die «Entinhaltlichung», wie der britische Journalist und Historiker Neill Ascherson in einem Essay unter der Überschrift «Hanging on to Mutti»[1] bereits vor ihrer Wiederwahl im September 2013 diesen Stil charakterisierte. Herzlich fremd blieb Schmidt, wie gleichgültig der normative Aspekt von Politik Angela Merkel offenbar gerade als Regierungschefin (seit 2005) blieb, Inhalte und Maßstäbe vermisste er schon bei Helmut Kohl, bei der Amtsinhaberin fast noch mehr. Aber bewusst war ihm durchaus, dass gerade auch die beiden Christdemokraten, Helmut Kohl und Angela Merkel, viel vom Mehrheitsdeutschland, von deutscher Normalität also verkörperten – wie er selber.
Uneingeschränkt gelten ließ er vor seinem inneren Auge selbstredend Konrad Adenauer, der nicht nur deutsche Befindlichkeiten in den Wiederaufbaujahren ausdrückte, sondern – in Schmidts Sinne – auch strategisch und eigensinnig dachte. In gewisser Weise respektierte er auch die Parteifreunde, Willy Brandt (wegen des Lebens und jedenfalls wegen der Ostpolitik) und Gerhard Schröder (wegen der «Agenda», die er für richtig hielt, und wegen des «Nein» zum Irak-Krieg). Gnade fand Kurt Georg Kiesinger – seine Jahre als Mitläufer im Dritten Reich warf er ihm nicht vor, und als Kanzler störte er die Fraktionschefs Helmut Schmidt und Rainer Barzel nicht weiter, die Regie führten unter ihm. Jeder von ihnen suchte letztlich seinen Platz in der Mitte, alle wünschten sie, etwas von der deutschen «Normalität» auszudrücken – aber für keinen von ihnen spielte das eine solche zentrale, politische Rolle wie für Schmidt als eine Art inneren Auftrags, dem er gerecht werden musste.
Das Familienschicksal, die «kleine» Herkunft, die Aufstiegssorgen und -zwänge, das teilte er mit den meisten deutschen Kanzlern – sieht man einmal ab davon, dass Konrad Adenauer bereits vor dem Krieg dem Preußischen Herrenhaus angehörte und als Zentrumsmitglied Oberbürgermeister von Köln gewesen war. Ohnehin entstammte Adenauer noch einer anderen Ära, als eine Ausnahmegestalt ragte er in die junge, zutiefst unsichere, suchende Republik hinein. In der Regel jedoch hatten sich die Eliten selbst disqualifiziert, wer in der Politik der Nachkriegsrepublik eine Rolle spielen wollte, musste am besten klein anfangen und möglichst frei sein von jedem Vergangenheitsballast.
Willy Brandt als uneheliches Kind aus dem Lübecker Kleine-Leute-Milieu, mit einer äußerst klassenbewussten Mutter, «hineingeboren» in die Arbeiterbewegung; Helmut Kohl als Sohn eines kleinen Ludwigshafener Finanzbeamten; Gerhard Schröder mit einem Hilfsarbeiter als Vater, der 1944 in Siebenbürgen beim Rückzug der Deutschen Wehrmacht fiel; Angela Merkel, die Tochter eines evangelischen Theologen und einer Lateinlehrerin aus Hamburg – so entsprach das dem Grundmuster nach 1948. Kein Eton- oder Oxford-Hintergrund wie bei den Briten, keine École normale superieure und auch ohne eigenes Schloss wie Freund Giscard in Paris, kein Hauch von Elite: Diese Voraussetzung erfüllte Schmidt, perfekt verkörperte er die neue Normalität.
So oft er als junger Politiker und auch noch als Minister im Kabinett Brandt laut davon geschwärmt hatte, bald einmal mehr Geld zu verdienen in einem Beruf außerhalb der politischen Arena, als Manager vielleicht in der freien Wirtschaft – etwas fesselte ihn dennoch an die Politik. Hing es vielleicht damit zusammen, dass er beweisen wollte, jemand mit seiner Vita – Soldat in den besten Jugendjahren, blind für die Verhältnisse um sich herum – tauge dennoch zum Politiker?
Er suchte den Absprung nie wirklich. Verschlingen lassen wolle er sich nicht von der Politik, hat er stets beteuert. Aber nur abseits zu stehen wie andere Heimkehrer in jenen frühen Jahren – ohne mich! – und sich nicht mit dem Geschehenen zu befassen, das wäre ihm noch fremder erschienen.
Sagen wir so: Als Jugendlicher, als junger Mann hatte er etwas nicht richtig verstanden, und das musste er irgendwie korrigieren. So kam er früh, 1946 bereits, zur SPD und als Spätstudent – er hatte sich freiwillig zum Wehrdienst gemeldet, um den Dienst rasch hinter sich zu bringen, aber acht Jahre wurden daraus für ihn – auch zum SDS.[2]
Als Beruf, dem er sich lebenslang verschrieb, hatte Helmut Schmidt sich das Metier Politik ganz sicher nicht erträumt. Später verklärte sich das in seiner Selbstwahrnehmung, wenn er sich zu jener Generation zählte, die selbstverständlich am Wiederaufbau des Landes nach den Hitler-Jahren habe teilnehmen wollen. Wie pflegte Herbert Wehner zu seufzen? Er werde «den Karren ziehen, so lange der Karren will», erwiderte er Journalisten, wann immer sie ihn nach seinen Plänen befragten. Klarmachen wollte der starke Mann der SPD in den 60er und 70er Jahren (bis zum Rücktritt Willy Brandts), welche Last er schleppe, aber dass er dennoch unermüdlich bereit sei, sich zu opfern im Dienst von Partei und Vaterland. Oft klang es so, als wolle er etwas wiedergutmachen – den Fehler seines Lebens, Kommunist geworden zu sein. Ganz so pathetisch formulierte Schmidt es nicht, aber etwas vom Gestus Wehners beherrschte auch er. Wie dieser ließ er oft genug durchblicken, dass er sich als eine Art Dienstverpflichteten betrachte, der sich aus Solidaritätsgründen der Nation nicht verweigere.
Zum letzten Mal hatte er als Verteidigungsminister im Kabinett Brandt – vor dem Wechsel ins Finanzministerium, als Nachfolger Karl Schillers – von der Verlockung gesprochen, sich außerhalb der Politik zu beweisen und freizukommen von dieser Bürde, dann war das Kokettieren mit einem «richtigen» Beruf vorbei. Als Kanzler versöhnte er sich endgültig mit seinem Schicksal. Ein gebranntes Kind war er, Angehöriger jener Generation, die schlechte Erfahrungen gemacht hatte mit Politik. Aber deshalb musste man das Metier nicht generell meiden, auch einer wie er nicht, mit seiner unpolitischen Herkunft, dem Dienst bei der Flak und dem Glauben, das sei er dem Vaterland schuldig gewesen, auch wenn ihn nachts vielleicht Zweifel befielen, ob das denn alles richtig sei, auf was er sich wohl oder übel eingelassen hatte.
Sehr weit entrückt war ihm wohl schon zu Anfang der 70er Jahre der Gedanke, nicht mehr öffentlich mitzureden, mitzuwirken, mitzustreiten über das, was aus dem Land werden solle. Unübersehbar war das ja seine wahre Leidenschaft. Als er im Jahr 1982 aus dem Kanzleramt schied, war er erschöpft, aber gefasst und beseelt vom Gefühl, als Regierungschef hohen Respekt zu genießen, weil er seine Sache doch ordentlich erledigt habe; vier Jahre darauf, 1986, verabschiedete er sich vom Parlament, über das er oft gespottet hatte und das er doch liebte. Umstritten war oft sein Kurs, auch seine Führungsmethode, obwohl sie ihn bei der breiten Mehrheit populär gemacht hatte; unumstritten hingegen war längst, dass er sich als homo politicus erwiesen hatte – einer mit Politik in den Fingerspitzen und mit strategischem Blick. Aber jetzt konnte er schon gar nicht mehr einfach den Schalter umlegen und der Politik Valet sagen. Es zeigte sich, dass sie längst sein Leben geworden war. Das blieb, auch ohne Ämter.
Seinen Altersfreund Richard von Weizsäcker, der damals auf die neunzig zuging, fragte er daher einmal, ob er nicht – wie er selbst – dringend wieder ein Buch schreiben wolle. Sie müssten der Frage nachgehen, was aus Deutschland bloß werden solle. Als Weizsäcker gut gelaunt erwiderte, er zögere, ein Buch zu schreiben koste schrecklich viel Mühe und raube einem den Schlaf, gab Schmidt ihm zu bedenken: Sicher, gleichwohl hätten sie doch ein Erbe zu bestellen und einen pädagogischen Auftrag gegenüber der jüngeren Generation einzulösen. Richard von Weizsäcker übrigens folgte dem Rat und setzte sich an das Manuskript.
Schmidt hielt es ohnehin so, er konnte gar nicht mehr anders – sein eigenes politisches Vermächtnis packte er über lange Jahre in diese Bücher. Nicht über sein Leben wollte er darin plaudern, sondern nachsinnen darüber, welchen Kurs das Land einschlagen soll, oder was aus Europa wird. Vor allem aber seine Herausgeberschaft bei der ZEIT erwies sich für ihn als ideale Möglichkeit, der Politik treu zu bleiben auch in den Jahren danach. Ein publizistisches Forum stand ihm damit zur Verfügung, in dem er wahrgenommen wurde. Als Autor fühlte er sich freier denn je zuvor in seinen politischen Ämtern. Hier musste er nichts detailliert abstimmen wie in den demokratischen Gremien in seinem früheren Leben, musste keinerlei Rücksicht nehmen auf Parteigremien, nicht taktieren, lediglich auf seine Erfahrung und Kompetenz und auf das Gewicht seiner Stimme kam es noch an.
Beim Wiederlesen von Max Webers epochalem Aufsatz «Politik als Beruf» aus dem Jahr 1919 über Leidenschaft, Vernunft und Augenmaß hatte man daher unwillkürlich vor allem Helmut Schmidt und vielleicht noch die Riege einiger alten Herren vor Augen, Richard von Weizsäcker, Egon Bahr, Hans-Jochen Vogel, Erhard Eppler, Hans-Dietrich Genscher. Seltsam untaktisch argumentierte Helmut Schmidt, der Bundesrepublik predigte er strikte Zurückhaltung, wann immer es um militärische Interventionen irgendwo in der Welt ging, und das Ziel einer politischen Union Europas nahm er noch entschiedener ins Visier. Geduldig hörte er sich sinnvolle und gedankenlose Fragen seiner Interviewer an, antwortete klar und furchtlos, wo er wollte, zunehmend knapper, und schwieg, wenn er es für besser hielt. Auch vor Banalitäten schreckte er nicht zurück. So oder so, das Publikum hing an seinen Lippen, weit mehr noch als in seinen aktiven Zeiten.
Welche Paradoxie: Während aus der flirrenden, nervösen Medienwelt die großen Solitäre wie Marion Dönhoff, Rudolf Augstein, Peter Bender oder Carola Stern zunehmend verschwanden oder schwerer herauszuhören waren, gewann Helmut Schmidt in dieser neuen Rolle, als Kassandra, Welterklärer, Lebensweiser, eher mehr Gewicht. Selbstverständlich räumte Reinhold Beckmann sein Talkshow-Studio frei für diesen special guest, wenn er ein neues Buch vorstellen wollte wie im Frühjahr 2013, als er über eine «letzte Reise» nach China geschrieben hatte. Und natürlich verband der Fernsehmann das mit der Ankündigung, ausnahmsweise werde vor der Kamera diesmal auch geraucht. Wie eine Erinnerung an jene längst vergangene Epoche wirkte Schmidt dann, in der Einzelstimmen noch besonderes Gewicht hatten im Meinungsbildungsprozess – und in der sie nicht nur zuliefern sollten als Entertainer in einer Welt, in der jede Stimme gleich viel gilt und dennoch nicht zählt.
Journalist wurde Helmut Schmidt deswegen natürlich nicht, so sichtlich er es auch genoss, im Kreis der ZEIT zuzuhören und mitzudiskutieren. Im Gegenteil, genüsslich spottete er weiter über dieses halbseidene Gewerbe, in dem man ungeniert mitreden könne, ohne von den Sachen etwas zu verstehen. Tatsächlich blieb er Politiker mit Leib und Seele. Er schrieb aus der Perspektive desjenigen, der nicht das Handeln anderer analysiert, sondern der sich hineinversetzt in ihre Lage – und sich Gedanken macht, was er wohl machen würde, wenn er die Hebel noch in der Hand hielte. Zum Beispiel, wie sich die Hedgefonds zügeln ließen, wie der ungehemmte Kapitalismus der Finanzmärkte unter Kontrolle zu bekommen sei, weshalb Sanktionen in der Ukraine-Krise gegenüber Moskau völlig verkehrt seien, oder wie das konkret aussehen könnte, ein «europäisches Deutschland» und nicht ein «deutsches Europa».
Zugegeben, mit einer gewissen Nostalgie sah man diesem Helmut Schmidt bei seinen öffentlichen Auftritten zu, wie er Pausen machte beim Nachdenken, Argumente suchte, sich selbst Klarheit verschaffen wollte, bevor er endlich möglichst präzise antwortete auf Fragen. Man spürte trotz aller Selbstinszenierung, er nahm Politik sehr ernst, sie hatte einen hohen Stellenwert für ihn behalten. Allerweltsweisheiten, Allgemeinplätze und Fragwürdigkeiten kamen auch ihm über die Lippen, aber oft hatte er auch mehr zu verkünden als Trivialitäten. Ohne zu zögern bekannte er es, wenn er eine Antwort nicht wusste. Der Mann, der einst Architekt hatte werden wollen, der aus der Politik-Arena immer mal wieder auszuscheren versuchte, der über die Diskussionswut seiner Parteifreunde und das ewige «Palaver» in den Gremien gern geklagt hatte, ausgerechnet er erinnerte unwillkürlich in solchen Momenten also noch einmal daran, wie diskursiv seriöse Politik wirklich sein kann – und was dieser «Beruf Politik» einst war.
April 1968. Es lohnt sich, sich für einen Moment zurückzuversetzen in die Atmosphäre jener Zeit. Bei einem seiner «Spaziergänge» mit Prominenten für die ZEIT schlenderte der Journalist Ben Witter mit Helmut Schmidt durch die Eigenheim-Reihen in Langenhorn, wo er selber ein kleines Haus besaß. Unruhig bebte die Republik schon monatelang, seit den tödlichen Schüssen auf den Studenten Benno Ohnesorg in Berlin. Nur wenige Tage darauf kam es zur Explosion, den Osterunruhen, bei denen Rudi Dutschke angeschossen wurde und mit dem Tode rang, vor den Verlags- und Druckhäusern des Springer-Konzerns versammelten sich Tausende wütender Demonstranten, die vor allem die Hetze der Bild-Zeitung verantwortlich machten für das Blutvergießen.
Moderat reagierte Helmut Schmidt auf diese Empörungswelle nach Ohnesorgs Tod, auch auf die verbale Radikalisierung des SDS – der Sozialistische Studentenbund, der sich inzwischen als Avantgarde einer systemkritischen Protestbewegung verstand, keineswegs mehr staatstragend wie zu seinen Studienzeiten. Schmidt: «Viele dieser jungen Leute meinen es sehr ernst, wenn sie glauben, für die Sache der Freiheit demonstrieren zu sollen; sie glauben natürlich auch, dass ihre Väter nicht genug dafür getan haben.»[3] Einige Monate verteidigte er im aufgewühlten Sommer von 1967 die «Revolution» auf den Straßen und sprach von der «Selbstzufriedenheit des deutschen Kleinbürgertums», erstaunliche Worte für Schmidt. Lange sollte sein Verständnis aber nicht währen, der Geduldsfaden riss. Denn für seinen Geschmack verlagerte die Außerparlamentarische Opposition ihre Aktivitäten zu sehr auf die Straße. Ihn überfiel die Furcht, sie meinten es ernst mit ihrem Revolutionsgerede. Gerade Schmidt stemmte sich mit aller Vehemenz dagegen, als es darum ging, den Unvereinbarkeitsbeschluss von SDS und SPD aufzuheben, der seit Anfang der 60er Jahre galt. Überhaupt machte er eine Kehrtwende um 180 Grad gegenüber allen Integrationsbemühungen, mit der «neuen Linken» dürfe die SPD sich keinesfalls einlassen, lautete sein Petitum streng. Was ihn dabei plagte, ließ sich unschwer ausmachen: Immer mehr junge Leute trieb es auf die Straße – ein neuer Höhepunkt wurde erreicht, als im Januar 1968 die Tet-Offensive der Nordvietnamesen begann –, und Schmidt fürchtete offenkundig, die Kontrolle gehe verloren. Weit sei die Bundesrepublik plötzlich nicht mehr entfernt von Weimarer Verhältnissen. Zwar hatte er das nicht selber bewusst erlebt, aber es saß als Trauma im Kopf. Damals regierte die «Straße», und die Antwort darauf waren die Nazis. Nie durfte sich das wiederholen. Solche einfachen Lehrsätze waren es, sicher auch zu einfache – aber keineswegs unplausible –, denen er folgte. Das hatte den Vorteil, dass man leicht nachvollziehen konnte, was er dachte. Schmidt wollte nicht «Volkes Stimme» sein, er verbog sich nicht, aber er lernte es systematisch, sich verständlich zu machen. Von dieser Stärke zehrte er bis zum Schluss.
Westeuropas Jugend lehnte sich auf. In Prag 1968, wo es niemand erwartet hatte, brach eine Rebellion gegen die Moskauer Unterdrücker aus, die Reformer suchten den «Sozialismus mit menschlichem Antlitz», im August wurde der Protest von Panzern des Warschauer Pakts niedergewalzt. An der Spitze der Großen Koalition in Bonn stand wortreich, aber recht hilflos Kurt Georg Kiesinger, zuvor Ministerpräsident in Stuttgart. Als kleiner Funktionär des Auswärtigen Amtes unter Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop hatte der CDU-Politiker seine Karriere begonnen – dieser Werdegang war bekannt, die Mehrheit störte sich nicht daran. Sein Vizekanzler, Außenminister Willy Brandt, hatte 1966 allerdings gezögert, ob er sich diesem Bündnis zur Verfügung stellen und die Kröte Kiesinger schlucken solle. Er schluckte, aber litt.
Helmut Schmidt wiederum leitete in Bonn inzwischen auch offiziell die Bundestagsfraktion, nicht mehr nur geschäftsführend. Kiesingers Laufbahn im Dritten Reich erregte ihn nicht, die Große Koalition kam seinem Politikverständnis entgegen, und sie bot ihm die Chance, im Hintergrund kräftig mitzuregieren. Kanzler war er nicht, aber – irgendwie – fast, Rainer Barzel, Chef der CDU/CSU-Fraktion, und er spielten sich die Bälle im Parlament geschickt zu. In der Republik herrschte Nachholbedarf, sie musste dringend modernisiert werden, darin stimmten sie weithin überein.
Wundersam altertümliche Fotos hielten die Szene fest: Die beiden, Helmut Schmidt und Ben Witter, wanderten versonnen im Speckgürtel Hamburgs. Sie unterhielten sich über das Alter. Der Politiker, den man mit grauem Flanellanzug, grauem Rollkragenpullover sowie einem weißen Kavalierstaschentuch sieht, ging auf den 50. Geburtstag zu.
Besinnlich fragten die beiden Spaziergänger sich, so schilderte es Ben Witter, wie sie mit vierzehn Jahren gewesen seien. «Zuerst hatte ich gar nichts gegen die Nazis», gab der Journalist seinen Gesprächspartner wieder, «das kam später». In zehn Jahren werde er sechzig, habe er hinzugefügt. Nachsichtig habe er den Kopf geschüttelt auf die Frage, ob das für einen Bundeskanzler nicht gerade das richtige Alter sei: «Abgesehen davon, dass ich mich überhaupt nicht als Bundeskanzler sehe …»
Den weiteren Verlauf dieser ziemlich einmaligen Unterredung – die zwei saßen sich inzwischen gegenüber – gab Witter folgendermaßen wider: «‹Sie werden geholt›, warf ich ein. ‹Nelson Rockefeller, der mir gefällt, wartete auch darauf; ich glaube aber, dass er seine Karte überreizt hat, nur seine Frau glaubt fest daran, dass sie ihn holen werden, ich saß neben ihr …› Helmut Schmidt schlug ein Bein über das andere: ‹Und wenn wir davon ausgehen, dass über die Hälfte der Bevölkerung der Bundesrepublik nach 1933 geboren wurde, dürfte ein Bundeskanzler, der sechzig ist, bereits zu alt sein.›» «‹Denken wir an meinen Freund Professor Ehmke›. Er sprach langsamer: ‹Er ist vierzig. Zehn Jahre, nein, schon fünf genügen, und ich behaupte, das ist eine andere Generation.›»
Dieser ungewöhnliche Spaziergang war es, bei dem er Ben Witter gestand, die Freiheit, die er als Fraktionsvorsitzender genieße, wolle er sich um jeden Preis erhalten. Niemals werde er sein «Privatleben dem Altar des Vaterlandes opfern». Und dann: «In zehn Jahren oder in fünf ist die NATO zerbröckelt, Amerika hat sich in Vietnam abgenutzt und die Bundesrepublik sitzt womöglich als Psychiater am Krankenbett des amerikanischen Präsidenten. Das Gleichgewicht der Kräfte ist hinüber, und wir sitzen machtlos in der Mitte. Ich muß an Bismarck denken, der saß in den achtziger Jahren auch so in der Mitte …» «‹Sehen Sie, ich will kein Amt, nicht einer der Ministerposten interessiert mich, ich muß Leistungen vollbringen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Als Schüler habe ich zwanzig Choräle komponiert und in vier Stimmen gesetzt …»
Auf Carl Friedrich von Weizsäcker kamen schließlich die Langenhorner Flaneure, Schmidt plauderte aus, er habe ihm kürzlich vorgeschlagen, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren. «Gewählt hätte ich ihn allerdings nicht», gestand er freilich in verblüffender Freimütigkeit, als sprächen sie nur vollkommen privat miteinander. Einen Professor an der Spitze? Nein! Aber dann wieder erinnerte er daran, in Hamburg existiere ein kleines gesellschaftliches Establishment, mit Carl Friedrich von Weizsäcker an der Spitze, auch er gehöre dazu; er wünsche sich, auch in der Bundesrepublik möge es etwas Vergleichbares geben. «Wenn sich alle Persönlichkeiten, die ohne Einfluss oder Vermögen ihrer Väter, Besonderes geleistet und hervorgebracht haben, zusammenschließen würden, um wiederum gemeinsam etwas Besonderes zu leisten und hervorzubringen, was wäre dagegen einzuwenden?»
Der kleine Traum von einer Vernunftelite schimmerte dabei durch, der ihn nie ganz losließ, obgleich er sich darauf eingelassen hatte, den mühsamen Karriereweg in der Parteiendemokratie einzuschlagen. Wer Politik als Beruf ausüben wollte, musste sich darauf einlassen, das war ihm klar, auch wenn er darüber stöhnte.