Alle,
alle will ich
JOHANNES SACHSLEHNER
Alle,
alle will ich
ARTHUR SCHNITZLER
UND SEINE SÜSSEN WIENER MÄDEL
Cover
Titel
DAS LIEBSTE WÄRE MIR EIN HAREM
Der Sex-Statistiker
Und die Weiber!
Das Theater um die Jungfräulichkeit
AUS DEM REIGEN EROTISCHER ABENTEUER
Venus
Marie Joppich
Gusti
Irma H.
Else von Kolschitzky
Anna Thoman
Antonie Faust
Gisela Freistadt
Charlotte Heit
Helene Kanitz
Lina
Jeanette Heeger
Adele Spitzer
Marie Rosner
Marie Glümer
Mizi Zach
Josefine Lydia Weißwasser
Camilla Theren
Eugenie B.
Marie Reinhard
Risa Strisower
Magda
Ida Falk
Hebe
Minna Hamon
Rosa Freudenthal
Irma Hoffmeister
Marie Elsinger
Leopoldine Müller
Quellen- und Literaturverzeichnis
Bildnachweis
Impressum
„Mein Blut tanzt Cancan.“
Tagebuch, 13. Mai 1880
„Es ist wahr, ich hab ein lebhaftes Bedürfnis, jedes Mädel, in unserem gesellschaftl. moralischen Sinn tief zu verderben“
Tagebuch, 15. März 1896
Die jungen Frauen, die in die Ordination des Herrn Dr. Arthur Schnitzler kommen, sind fasziniert: Der junge, rötlichblonde HNO-Arzt mit dem etwas verträumten Blick ist charmant und liebenswürdig, er kann zuhören und beeindruckt durch tadellose Umgangsformen und elegante Kleidung – da passt jedes Detail, bis hin zu den gepflegten Händen. Ein Mann zum Verlieben, noch dazu ledig, wie man weiß, aus angesehener, wohlhabender jüdischer Familie, sein Vater Johann eine anerkannte medizinische Autorität und erfolgreicher Universitätsprofessor, er selbst, so hört man, schreibt und das mit viel Talent, sein Durchbruch zum anerkannten Autor kann wohl nur mehr eine Frage der Zeit sein.
Eine ausgezeichnete Partie also. Zwar wird in der Wiener Gesellschaft einiges über seine Frauengeschichten gemunkelt, man hört, dass er sich mit etwas leichtfertigen Mädchen aus der Vorstadt, ja, der Demimonde abgibt, doch was soll’s: Der Reiz, es doch zu wagen, ist groß und der Dr. Schnitzler beherrscht die Rituale der Verführung wie kein anderer: Es beginnt mit einem harmlosen Kuss, meist noch in der Ordination, und setzt sich fort mit gemeinsamen Spaziergängen und Ausflügen oder einem Theaterbesuch, es folgt eine Einladung zum exquisiten Souper mit Champagner im Chambre separée des Riedhofs und endet mit glühenden Zärtlichkeiten in einem Hotelzimmer. Er ist ein Mann, der ungeheuer einfühlsam sein kann, der zusammen mit seinen Partnerinnen lacht und weint und sie nicht selten mit der Intensität seiner Tränen verblüfft – Schnitzler ist ein heftiger „Weiner“ und zugleich ein hervorragender „Küsser“, ein Mann mit „süßem Mund“, nach dessen Küssen, glaubt man den zahlreich erhaltenen Briefen an ihn, die „Mädel“ regelrecht süchtig werden. Er ist zärtlich und rücksichtsvoll und vor allem absolut diskret, ein ungemein kultivierter Genießer, der seine Eroberungen nicht an die große Glocke hängt. Wer könnte da widerstehen?
Die jungen Frauen ahnen noch nicht, dass sich hinter der Fassade des nach außen hin so perfekten Liebhabers ein komplizierter Charakter verbirgt: ein Spieler und Hasardeur, der sein seelisches Gleichgewicht nur über immer wieder neue sexuelle Abenteuer findet. Der sich die Zeit mit Pferdewetten, Billard, Domino und langen Pokerabenden vertreibt und im „Spiel mit der Liebe“ (Alfred Doppler) das Spiel seines Lebens schlechthin gefunden hat. Schnitzler braucht den Sex, die „Sinnlichkeit“, wie er es nennt, um sich nicht in schweren Depressionen und Angstattacken zu verlieren, die er in seinen Tagebucheintragungen „Hypochondrien“ nennt. Um sich in diesem Leben zu spüren und die „tödtlichen Angstzustände immer und immer“ (TB, 19. März 1896) zu besiegen, ist er stets auf der Suche nach neuen Frauen. Er weiß nur allzu gut um diese Bedeutung der Sexualität für die innere Ökonomie seiner Person: „Meine impertinente Sinnlichkeit. Wenn ich eine Reihe von Tagen keusch war, 6 – 9 sind so das Maximum, so bin ich einfach ein Thier.“ (TB, 10. August 1890) Treue im klassischen Sinn – der Verzicht auf andere sexuelle Kontakte zugunsten der einen Auserwählten – ist daher für ihn kein Kriterium, auch wenn er manchmal selbst über die „Unsauberkeit“ seiner „inneren Verhältnisse“ und seinen „Leichtsinn ohne Kraft“ klagt – er will sich um jeden Preis die Freiheit bewahren, keine der Frauen „abweisen“ zu müssen, die bei ihm ihr Glück suchen wollen, ja, „das Bewußtsein sie haben zu können genügt oft“. Die Konsequenz: Auch „die andern alle, alle will ich …“ (TB, 19. März 1896), am liebsten wäre ihm gleich der Status Polygamie, wie er während seines Aufenthalts in Paris im Mai 1897 im Diarium vermerkt: „Sag ich mir die Wahrheit: das liebste wär mir ein Harem; und ich möchte weiter gar nicht gestört sein. Es ist zu bezweifeln, dass ich zur Ehe geboren“ (TB, 6. Mai 1897); einen Tag später wird er noch deutlicher: „(…) der Gedanke an Ehe erfüllt mich mit Grausen“. (TB, 7. Mai 1897) – Äußerungen, die charakteristisch für Schnitzler sind; um sie besser verstehen zu können, sei noch auf den Kontext dieser Einträge verwiesen: Auf der Flucht vor einem Skandal in Wien ist Schnitzler gezwungen, etwa zwei Monate mit seiner schwangeren Freundin Marie Reinhard in einer Wohnung in der Rue Maubeuge 5 zu leben. Die „Kleinheit der Zimmer“ und auch seine „sanfte“ Mizi gehen ihm manchmal auf die Nerven, wie er sich im Tagebuch des Öfteren eingesteht: „Heut war mir Mz. eher langweilig und ich empfand es nicht angenehm an sie gebunden zu sein. Merkwürdig wechselt das. –“ (TB, 19. Mai 1897)
Ja, Schnitzler scheut „fixe“ Bindungen, denn er hat Angst, dass sie seine große „Kraftquelle“, eine vielfältig ausgelebte Sexualität, beschneiden und ersticken könnten. Notorische Untreue ist dem Lebenskonzept Schnitzlers immanent, in immer wieder neuen erotischen Abenteuern offenbart sich ihm, wie er meint, die Wahrhaftigkeit des Lebens. Die Regeln in diesem Spiel gibt er vor: Es sind die Regeln des gesellschaftlich überlegenen Mannes, des Bonvivants und Ästheten, denen sich seine Geliebten unterwerfen müssen. Es ist ein Spiel, das er mit der zynischen Sicherheit eines wahren erotischen Virtuosen beherrscht, das ihn in unglaubliche Situationen manövriert, aus denen er sich doch immer wieder befreien kann. Wollte man diesen Befund kritischer und aus Sicht der Frauen formulieren, so müsste man einfach sagen: Schnitzler betrügt und belügt sie und verlässt sie am Ende doch.
Schnitzler ist praktischer Polygamist und durchaus stolz darauf, ein Berserker der Liebe, der seine „Leistungen“ peinlich genau dokumentiert: Er vertraut sich seinem einzigen treuen Lebensbegleiter, dem Tagebuch, an und agiert darin als penibler Statistiker seiner sexuellen Potenz. Der Liebesakt ist für ihn etwas Besonderes, etwas, das in Erinnerung bleiben soll, etwas, das nicht dem Vergessen anheimfallen darf. Offenbar um sich immer wieder seiner sexuellen Lebendigkeit zu vergewissern, verzeichnet der junge Schnitzler im Diarium seine erotischen Siege mit buchhalterischer Akkuratesse – so sind wohl die immer wieder im Zusammenspiel mit den Namen der „Mädel“ auftauchenden Ziffern zu interpretieren, eine Gewohnheit, die er bis zum „Verrat“ und „schauerlichen Verlust“ von Marie Glümer 1893 beibehält. Die Zahlen, die er Tag für Tag und Monat für Monat notiert, sind beeindruckend: Bereits knapp vor Mizis verhängnisvoller Abreise ins Engagement nach Wiesbaden kann Schnitzler „400“ Liebesakte mit ihr, verteilt auf den Zeitraum Juli 1889 bis August 1892, verbuchen; ebenso imponierend die Gesamtzahl der mit Anna „Jeanette“ Heeger verbrachten Liebesstunden: „564“, verteilt auf den Zeitraum September 1887 bis Januar 1890.
Wenn in Schnitzler-Biografien sein Hang, in der fragmentarischen Autobiografie Jugend in Wien keines der Mädchen, mit dem er eine „Liebelei“ hatte, unerwähnt zu lassen, kritisiert wird – Tenor: Das sei nun doch wirklich nicht nötig –, so verkennt man die Tatsache, dass Schnitzler hier in absoluter Übereinstimmung mit seiner persönlichen inneren Verfasstheit agiert: Er arbeitet sein Leben auch in der Retrospektive so ab, wie er es einst Tag für Tag aufgeschrieben hat: anhand von Erlebnissen mit Mädchen und Frauen und niemand von ihnen soll vergessen sein. Nicht zufällig lässt er wenige Jahre vor seinem Tod eine Liste aller Frauennamen – heute im Schnitzler-Nachlass an der Universität Freiburg – anfertigen, die in seinem Tagebuch erwähnt werden und die entsprechenden Daten der Tagebucheinträge zuordnen, eine Konkordanz sozusagen zur Erschließung seiner erotischen Biografie. Wer die Liste genau studiert, bemerkt, dass Schnitzler bei ihrer Erstellung persönlich mitgewirkt haben muss – einzelne Daten sind mit Unterstreichung markiert und verweisen meist darauf, dass er eine Frau an diesem Tag erstmals „besass“.
An dieser Stelle noch eine Anmerkung: Zahlreiche Arbeiten zu Schnitzler haben ein Grundproblem: Sie unterschätzen in dramatischer Weise die elementare Bedeutung, die den Beziehungen zu Frauen im Leben und Schaffen des Dichters tatsächlich zukommt. Schnitzler, sein Tagebuch zeigt es eindrucksvoll, ist ein Narziss. Er braucht die Bewunderung und die „Liebe“ der Frauen, er lebt mit dem „Bedürfnis, immer was weibliches verlangendes“ um sich zu haben (TB, 13. Dezember 1892), und er schreibt auch darüber. Wenn man daher etwa im 2014 erschienenen Schnitzler-Handbuch die Namen zahlreicher Frauen, die seinen Weg gekreuzt haben und mit denen er zum Teil jahrelang zusammengelebt hat, vergeblich sucht und auch Marie „Mizi“ Glümer, jene junge Frau, die ihn wie keine andere Geliebte bewegt und erschüttert hat, auf 400 Seiten nur sechsmal erwähnt wird, so zeugt das von Ignoranz. Von einer Ignoranz, die kaschiert wird mit gespreizter, „wissenschaftlich“ klingender Metasprache. Nun soll hier keineswegs einer ausschließlich biografischen Deutung seiner Texte das Wort geredet werden, aber die Behauptung soll gelten: Wer sich nicht die Mühe macht, das biografische Umfeld eingehend zu studieren, wird Schnitzlers Werke nicht wirklich verstehen und nicht authentisch zu deuten wissen. Um an einem Beispiel zu zeigen, was gemeint ist, sei die 1894 erstmals veröffentlichte kleine Erzählung Blumen herangezogen, in der Schnitzler kunstvoll seine Erlebnisse mit zwei Frauen zusammenfließen lässt: die Untreue Marie Glümers und den vermeintlichen Tod von Helene Kanitz, der ihm von einem Onkel des Mädchens bekannt gegeben wird. Ignoriert man diese biografischen Ausgangspunkte, kommt man zu folgender Aussage: „In insgesamt 14, stockenden und zeitweise bewusstseinsstromartig mäandernden Einträgen berichtet ein biographisch nahezu konturloses, männliches Ich von einer ‚unerhörten Begebenheit‘ und der daraus resultierenden Zerrüttung seines Seelenlebens.“ (Peer Trilcke, Schnitzler-Handbuch) Schon ein kurzes Abgleichen mit der Biografie würde es erlauben, dieses „konturlose, männliche Ich“ und seine seelische „Zerrüttung“ authentisch zu interpretieren.
Schnitzlers Blick auf die Frauen ist nicht unproblematisch – wobei wir hier nicht von seinen literarisch „überformten“ Frauengestalten sprechen wollen. Die „Weiber“, so verrät die Sprache des Tagebuchs, sind anders: Sie sind „Geschöpfe“ oder auch „Wesen“, immer wieder deutlich zu spüren ist ein leicht verächtlicher, despektierlicher Ton, der an die zynische Sprache der k. k. Kasernen und an den Halbwelt-Jargon des Praters erinnert, an Milieus, die dem jungen Schnitzler nicht unbekannt sind und die auch sein Frauenbild prägen: Hier wurzelt seine Überzeugung von der grundsätzlichen „Lügenhaftigkeit“ der „Weiber“ und ihrer allzeit möglichen Untreue, von ihren „sonderbaren Launen“ und ihrer Dummheit – ja, der Medizinstudent Schnitzler macht die Erfahrung, dass die Mädchen, die er so kennenlernt, ihm an Bildung und Intellekt nicht das Wasser reichen können, eine Erfahrung, die auch seine späteren Beziehungen belastet, denn er wird diesen penetranten Gestus der Überlegenheit nicht mehr los – davon zeugt etwa in den Briefen an seine Geliebten die häufig verwendete Anrede-Formel „mein Kind“. Einen wohltuenden Kontrast dazu bilden Schnitzlers literarische Texte, denn hier setzt er diese Formel geschickt ein, um das gesellschaftliche Ungleichverhältnis zwischen Mann und „gefallener“ Frau zu illustrieren: So verrät etwa der Musiker Emil Lindbach, unverkennbar ein Alter Ego Schnitzlers, in der Erzählung Frau Berta Garlan seinen Dünkel genau mit dieser Wendung.
Glaubt man Schnitzler selbst, so ist es die überaus schmerzvolle Enttäuschung über den „Verrat“ Marie Glümers, die ihn dazu bewegt, im Umgang mit seinen Freunden aus Rache deren zynische Sprache in Bezug auf Frauen zu übernehmen: „Im Reden über die Weiber ist bei uns ein sehr roher Ton eingerissen“, wobei er mit „uns“ sich und seine Kumpel Richard Beer-Hofmann, Leo Van-Jung und Felix Salten meint (TB, 8. März 1896); bereits in den „Mizi I“ brieflich übermittelten Hasstiraden des Jahres 1893 schwelgt er in wüsten Beschimpfungen: Sie sei zu einem „gefälligen Schwein“ geworden, eine „Komödiantenhure“ voll „unsäglicher Gemeinheit, Geilheit und Verlogenheit“, deren Leib „vom Schweiß und Samen jenes Schauspielers, Gauners und Gecken befleckt“ sei. (Brief an Marie Glümer vom 2. Juni 1893) So wütend und gnadenlos Schnitzler hier in Momenten ehrlicher Wut über seine Mizi und ihren Liebhaber herfällt, so geschickt weiß er – wenn notwendig – Frauen über seine wahren Gedanken und Absichten zu täuschen – er spricht zu ihnen von „Liebe“, obwohl er nur allzu gut weiß, dass dieses Wort nicht dazu taugt, die Natur seiner Beziehungen tatsächlich richtig und wahrhaftig zu beschreiben. „Liebe“, so erkennt er auch im Tagebuch, ist ein Begriff, der für vieles stehen kann: Sie ist „Sinnlichkeit“, also Sex, ist „Leichtlebigkeit“ und „Behaglichkeit“, manchmal freilich auch – wie im Fall von Olga Waissnix – grande passion (TB, 4. Mai 1895), auf die jedoch unausweichlich Gleichgültigkeit und Kälte folgen.
Schnitzlers Bettgefährtinnen halten sich, bezaubert durch seine verführerische Sprache der „Liebe“, für auserwählt und sind doch nur Episode, manchmal „was Hübsches zum Erinnern“ oder nur ein willkommenes instrument de plaisir, manchmal auch rasch lästig, „ekelhaft“ und „zuwider“, werden als „Dirnen“, „geile Luder“ und „Canaillen“ abgestempelt, vor allem aber sind sie „Weiber“. Wenn es nun so ist, dass Schnitzler einen „hohen ethischen Anspruch“ an die Sprache stellt und einen „unerbittlichen Maßstab“ an seine Wortwahl im Tagebuch legt, wie es Peter Michael Braunwarth formuliert hat, wenn es so ist, dass er „im Gebrauch des Worts immer verantwortungsvoll und seriös“ ist, dann muss es gestattet sein, seine Sprache auch tatsächlich mit diesem Maßstab zu messen. Ja, Worte machen gesellschaftliche Realität spürbar, das ist Schnitzlers Überzeugung und das gilt auch für seine Tagebucheinträge: Sie führen uns ein „Ich“ vor Augen, das auch sprachlich gefangen ist in der letztlich Frauen verachtenden Welt des Fin de Siècle.
Es ist eine Welt des Scheins und der Lüge: In seiner Rolle als einfühlsamer Kavalier und „Frauenversteher“ fördert Schnitzler die Illusion von Liebe bei seinen Sexualpartnerinnen, solange es ihm opportun scheint, er spricht noch von großen Gefühlen, auch wenn ihm ein „Mädel“ schon längst wieder „gleichgiltig“ ist. Er verwendet den romantisch verklärten Begriff „Liebe“, obwohl er dessen armselige Brüchigkeit nur allzu deutlich durchschaut und weiß, dass sich dahinter verlogene bürgerliche Doppelmoral verbirgt.
Erklärtes Ziel einer jeden Affäre ist es, die betreffende Frau zu „besitzen“ – ja, es ist dieser Begriff der Aneignung, den Schnitzler bevorzugt für den Sexualakt wählt: Er „besitzt“ Frauen zum ersten und zum letzten Mal, „anstandshalber“ und – der Herr Doktor ist nicht zimperlich – „gegen ihren Willen“, in kalten Hotelzimmern und gemütlichen Vorstadtwohnungen, im sommerlichen Wienerwald und im Comfortable, dem speziellen Fiaker für alle Paare, die Grund haben, allzu viel Öffentlichkeit zu meiden, und über kein Absteigequartier in der Nähe verfügen. Sein bevorzugter Typus ist das junge „süße Mädel“, am besten ohne viel Herumgerede gleich „frisch und naiv genossen“ – so sind sie ihm am liebsten.
Das Wort vom „Besitzen“ der Frauen bildet zweifellos ein Erfolgserlebnis ab, einen gewissen Stolz und die Zufriedenheit des erfahrenen Liebesstrategen über die Eroberung: Als „Gefallene“ gehen sie ein in sein erotisches Imperium.
Das erwähnte Notieren der Beischlafhäufigkeit mag nun eine kleine harmlose Schrulle sein, sie fügt sich jedoch nahtlos in das sexuelle „Krankheitsbild“ Schnitzlers: Jene Frauen, denen es gelingt, die Beziehung zu ihm länger aufrechtzuerhalten, müssen erkennen, dass dieser Mann von zwei „fixen Ideen“ gepeinigt wird, die ursächlich miteinander zusammenhängen: Da ist einerseits der Kult der Jungfräulichkeit, der Wunsch, bei einer nächsten Geliebten auf eine Jungfrau zu treffen. Schnitzler weiß, dass dies in dem Milieu, in dem er Frauen sucht und verführt, sehr unwahrscheinlich ist, dennoch hängt er an dieser Vorstellung, würde ihn doch die Begegnung mit einem „reinen“ Mädchen, so seine Überzeugung, vor den Qualen bewahren, die ihm seine zweite fixe Idee verursacht: die zwanghafte Eifersucht auf das sexuelle Vorleben und die sexuelle Zukunft seiner Geliebten. Schnitzler rechtfertigt diesen Zwang vor sich selbst mit der Begründung, dass er doch die „Wahrheit“ wissen müsse, tatsächlich aber ist er krank. In immer neuen Fantasien stellt er sich das image physique vor, das Liebesspiel zwischen seiner Geliebten und ihrem Ex-Freund, immer wieder schafft er neue Verbindungen von Orten und Dingen zu den früheren Liebesbeziehungen seiner Geliebten und quält sie damit. Der immer wiederkehrende Versuch, aus den Frauen die vermeintliche Wahrheit herauszupressen und „herauszuzwingen“, wird zu einer „Form sadistischer Aggression“ – man kann dies durchaus so deutlich sagen, wie Peter Gay dies tut. Schnitzler, der sich selbst als „Gewohnheitsquäler“ (TB, 11. März 1894) beschreibt, verheimlicht nicht, dass er aus den ewigen „Sekkaturen“ eine seltsame Lust zieht. Mit Bezug auf Mizi Glümer, die mit unendlicher Geduld über Jahre hinweg seine Zumutungen erträgt, notiert er im Tagebuch: „Es macht mir zuweilen ein ausgesprochenes Vergnügen, sie ganz ausgesucht zu quälen. Warum? Manches sag ich ihr ganz überflüssigerweise.“ (TB, 9. Mai 1891)
So ist die Geschichte seiner Liebesbeziehung zu Mizi Glümer, das sei hier exemplarisch vorweggenommen, die Geschichte einer fortwährenden Aggression und Demütigung. Mizi, die jahrelang verzweifelt um ihn kämpft, ist das ideale Medium für ihn, um seine kranken Fantasien auszuleben. „Ich quäle sie viel und oft“, notiert er schon neun Monate zuvor, im August 1890. Schnitzler, 29 Jahre alt, hat eben in Würnitz im Weinviertel, im Wald und in ihrem angemieteten „Bauernzimmerl“, glückliche und sexuell erfüllte Tage mit Mizi verbracht. In einem langen Tagebucheintrag versucht er Klarheit über sein „Problem“ zu gewinnen: „Es ist sonderbar, daß ich absolut nicht darüber weg kann. Im Gegenteil, es wurde immer ärger. Ich erinnere mich, daß es mich im Sommer vor. J. noch wenig plagte. Im Winter hatte ich schon arge Anfälle – im Frühjahr wieder eine Verschlimmerung. Im Sommer jedoch einfach so, daß ich toll zu werden glaubte! Wie ich damals im Wald neben ihr lag und jammerte, schrie, weinte, als alle Gedanken wieder über mich kamen! Ihr thut es in der Seele weh. Und Briefe hat sie mir geschrieben, so tief, so wahr, so aus dem Herzen heraus, daß man das vergangene thatsächlich als verwischt denken könnte – wenn es sich eben verwischen ließe. Zuweilen, Augenblicke, Viertelstunden lang bin ich beinahe ganz darüber hinweg – es ist, wie wenn man weiß, daß man einen wehen Zahn hat – aber momentan keine Schmerzen. (…) Aber rasch kommt es wieder, und es packt mich wie einer jener Schmerzen, die nicht enden können. –“ (TB, 10. August 1890)
Schnitzler hat über seine Krankheit und speziell über sein seltsames sadistisches Spiel mit Marie Glümer ein ganzes Stück geschrieben, Das Märchen, das ursprünglich den wesentlich aussagekräftigeren Titel Das Märchen von den Gefallenen trug. Fedor Denner, der selbstquälerische Held des Stücks und Schnitzlers literarisches Alter Ego, missfiel schon den Zeitgenossen – das war nicht die Art von Liebhaber, die man auf der Bühne sehen wollte. Ein Mann, der seine fixe Idee mit quälender Zwanghaftigkeit bis in jedes kleine Detail zelebriert, der eifersüchtig ist auf alles, was nur irgendwie sich in eine Beziehung zum Ex-Freund seiner Geliebten bringen lässt, und von der Unmöglichkeit des Vergessens spricht: Es „gibt keinen Kuß, keusch genug – und keine Umarmung glühend genug, und keine Liebe ewig genug, um die alten Küsse und die alte Liebe auszulöschen. Was war, ist! – Das ist der tiefe Sinn des Geschehenen.“ Indem er seine Maxime zitiert – „Was war, ist!“ –, versucht Schnitzler eine letzte Rechtfertigung für seine Wahnvorstellungen zu finden, sie einzuordnen in seine vielfältigen Bestrebungen, die Ereignisse seines Lebens immer gegenwärtig zu halten, in jene stete Arbeit der Selbsthistorisierung, der wir nicht zuletzt auch sein Tagebuch verdanken. Auch wenn sich seine idée fixe in dieses Persönlichkeitsbild fügen mag – am Charakter einer Krankheit ändert das nichts.
Das Märchen, 1891 fertiggestellt, ist heute als Bühnenstück nicht zu Unrecht weitgehend vergessen, seine Lektüre als Schlüssel zur Persönlichkeit Schnitzlers lohnt sich jedoch noch immer – stellt doch darin der knapp 30-Jährige seine Obsession mit großer Offenheit zur Schau, so etwa, wenn er Fedor Denner zu Fanny Theren, hinter der sich Mizi verbirgt, sagen lässt: „Überall das Vergangene – in deinen Augen, auf deinen Lippen, aus allen Ecken grinst es mich an – unser ganzes Leben ist durchströmt davon. Ich bin nicht stark genug, es zu ertragen.“ Ja, selbst die glühende, leidenschaftliche Liebe Fannys, die glaubt, dadurch gleichsam wieder „jungfräulich“ und „rein“ zu werden, ist zu schwach, um gegen diesen Wahn zu bestehen. Fedor kann die „unabänderliche Schmach, die an eurer Vergangenheit klebt“, nicht vergessen und nicht verzeihen, von Ekel geschüttelt geht er ab, Fanny bricht verzweifelt zusammen. Ein radikaler, ehrlicher Schluss, der Schnitzlers von ihm selbst diagnostizierte „psych. Krankheit“ (TB, 27. August 1897) unmittelbar widerspiegelt. Schnitzler wollte sich mit diesem Stück in einer Art Selbsttherapie „befreien“ (TB, 30. November 1890) – es gelang ihm nicht, der literarische Text scheiterte an der Wirklichkeit …
10. Oktober 1892. Schnitzler bummelt durch die Stadt, noch immer erfüllt von Schmerz über die Abreise Marie Glümers nach Wiesbaden. In Margarethen trifft er „M. Z.“, eine neue Mizi, „ein Weiberl mit Wiener Gesichtl“. Über die Umstände dieses Treffens schweigt das Diarium Schnitzlers, die Erinnerung an Marie Glümer ist stärker: „im Rückgehn über die Plätze, wo ich oft zur selben Zeit mit Mz. war, schmerzliche, herzzersprengende Sehnsucht, bitterlich weinen müssen. Empfindung des verlorenen Paradieses.“ (TB, 10. Oktober 1892) Über all den bitteren Tränen kann er jedoch auch „M. Z.“ nicht vergessen – sie heißt Mizi Zach, führt einen kleinen Zuckerbäckerladen in der Rotenturmstraße 16 und behauptet, dass sie eigentlich eine „Comtesse Wimpffen“ sei. Ihr Arbeitstag: von 8 Uhr früh bis 8 Uhr abends. Immerhin: Mizi wohnt zwar in der Vorstadt, sie hat aber auch – wohl für bestimmte Zwecke – ein möbliertes Zimmer in der Grünangergasse 8 im ersten Stock „bei zwei alten Damen“, bemerkenswert für eine junge Frau, die ihr Geld mit einer Conditorei verdient. Was die „Comtesse Wimpffen“ betrifft, so ist eine adelige Abstammung nicht ganz unwahrscheinlich: Feldzeugmeister Anton Freiherr von Zach (1747 – 1826), der bedeutendste Vertreter der aus der Steiermark stammenden Adelsfamilie Zach, kämpfte mit Feldmarschall Maximilian von Wimpffen in den Kriegen gegen Napoleon; Maximilian von Wimpffen blieb zwar kinderlos, sein jüngerer Bruder Dagobert „pflanzte“, wie Wurzbach schreibt, die jüngere Linie der Wimpffen fort. Dazu passt, dass Mizi offenbar gute Kontakte zu Militärs hat, wie wir aus Schnitzlers Tagebucheintragungen schließen können.
Er kann jedenfalls dem „Wiener Gesichtl“ der „kleinen Comtesse“ (TB, 16. April 1893), ihrem koketten, herausfordernden Wesen nicht widerstehen: Am 13. und 15. Oktober ist er wieder mit ihr zusammen; am 16. notiert er mit gewohnter Akkuratesse:
„Abs. Z. 3“ – der sexuelle Erfolg wird im Anschluss daran wieder von den Gedanken an Marie Glümer überlagert: „Ich mußte weinen, wie ich dalag und an Mz. dachte und meine Sehnsucht wurde unerträglich.“ (TB, 16. Oktober 1892)
„Hast du Gedichte gern?“, fragt ihn Mizi Zach beim nächsten Mal, Schnitzler schützt Unkenntnis vor, Mizi demonstriert stolz, was sie über das Geschäft mit Texten weiß, und er hält ihre Sätze im Diarium fest: „Ich: Nein, ich versteh nichts davon, – Sie: Ich habe auch schon welche gemacht, ich hätt sie auch herausgeben sollen; ein bekannter Oberl. hat 15 fl. für ein Gedicht bekommen, das in Deutschland gedruckt wurde. –“ (TB, 19. Oktober 1892) Dialoge wie diese sind geeignet, Schnitzlers Leidenschaft abzukühlen, und prompt klagt er beim darauf folgenden Stelldichein über das „kalte Hotelzimmer“ und auch der Sex mit der „kleinen Comtesse“ lässt schon zu wünschen übrig: „Ich versuchte mir Mz. zu suggerieren. – Nein, nein, es ist nicht ‚dasselbe‘.“ Immerhin: Noch einmal kann er „Heute mit Z. 3“ eintragen. (TB, 22. Oktober 1892) Am 27. schlägt das Tête-à-tête mit Mizi Zach mit „2“ zu Buche, ergänzt um die Bemerkung: „Pantomime hat begonnen“, wohl ein Synonym für die von Schnitzler ansonsten bevorzugte „Komödie“.
Für den 3. November 1892 ist wieder ein Rendezvous mit Mizi Zach vereinbart, wieder in einem Hotel, doch jetzt ist Schnitzler konsequent: Er geht nicht hin, der gewählte Ort, wohl das Victoria, erinnere ihn an Marie Glümer. „Dass es auch gerade dort sein musste! – Nie liebte ich sie heißer, als gerade wenn ich mit jener Vertreterin des genus zusammen war. – Ich ging nicht hin. – Die Unbequemlichkeit des Hotels etc. etc. – Nein. –“ (TB, 3. November 1892) Mizi will das nicht so einfach hinnehmen und schreibt ihrem „lieben Arthur“ einen Brief – warum er denn zum letzten Rendezvous nicht gekommen sei, ob er vielleicht krank sei? Dann gibt sie sich versöhnlich: „Solltest du daher den Wunsch haben mit mir zusammen zu kommen, wie ich, so würde ich mich sehr freuen, Dich bei mir zu sehen. – Also lieber Arthur komm recht bald, wenn nicht, so schreibe, damit ich weiß, was mit Dir ist.“ (Brief, DLA)
Der nette Brief Mizis zeigt Wirkung und Schnitzlers Vorsatz, auf sie zu verzichten, hält nicht lange – am 11. und am 18. November verbringt er den Abend mit ihr, am 23. besucht er Mizi sogar im Zuckerbäckerladen: „Ihr Schicksal interessirt mich, solang ich mit ihr bin. Dann taucht sie jäh unter wie eine Vergessene. –“ (TB, 23. November 1892) Gleich am nächsten Abend ist er wieder mit Mizi zusammen, doch dann muss sie übermächtiger Konkurrenz weichen – zwei Tage später, am 26. November, lernt Schnitzler Josefine „Fifi“ Weißwasser kennen, die nun seinen erotischen Alltag dominieren wird. Er hat zwar Mizi versprochen, wieder zu ihr zu kommen, „vergisst“ sie jedoch einfach.
Ganz will sich die „kleine Comtesse“ noch nicht geschlagen geben: Am 9. Dezember setzt sie sich hin und schreibt ihm wieder, dieses Mal in entschlossenem Ton:
„Lieber Arthur!
Noch einmal belästige ich Dich, mit meiner Anfrage, was Du schon wieder hast? Antworte mir doch eine Zeile (…). Wenn Du von mir nichts mehr hören und sehen willst, so sei so freundlich und theile mir es schriftlich mit, denn ich lasse mich, wie ich Dir schon einmal sagte, nicht so behandeln wie Mädchen von der Straße. Du kannst mir ja schreiben, Mitzl ich komme nicht mehr, ich will Dich nicht, ich kann dich nicht lieb haben. (…)
Dann weiß ich allerdings was ich zu thun habe. So aber warte ich jede Stunde das (sic!) ich Dich sehe, oder das ich von Dir ein Schreiben erhalten werde. (…)
Also komm auch Du Deinem Versprechen nach jedoch ohne Zwang.
Einstweilen grüßt Dich M. Zach
Verzeih das ich so schlecht und bös schreibe …“
Schnitzler, ganz im Banne Fifis, schweigt aber offenbar weiter, nach den Weihnachtsfeiertagen unternimmt Mizi Zach daher einen letzten Versuch, von ihm zu erfahren, was ihn denn von ihr fernhalte, zumindest aber, so argumentiert sie, habe sie ein Recht auf faire Behandlung. Und so schreibt sie ihm am 29. Dezember wieder einen Brief:
„Lieber Arthur!
Es ist mir fast unmöglich, von Dir zu glauben dass Du mich schon ganz vergessen haben solltest, da Du mich nach dem Anscheine einst doch so lieb hattest; es muß aber dennoch so sein, da Du es nicht einmal der Mühe wert befunden hast, meinen Brief wenigstens als guter Freund zu beantworten. Wenn Du mir das, was Du einst warst, nicht mehr sein willst, oder kannst, da Du jedenfalls für mich Ersatz gefunden. Glaube aber trotzdem nicht verdient zu haben, das man mich wie ein Ding behandelt, welches man, nachdem man es nicht mehr will, oder mag, wegwirft. Ich habe eine bessere Erziehung genossen und kann daher nicht so gleichgiltig über jene wegwerfende Behandlung hinwegsehen, worüber ich mich sehr kränke, und nicht Ruhe finden kann.
Ich bin Dir doch immer ehrlich und aufrichtig entgegengetreten, will auch von Dir das Du mir aufrichtig bist, das Du mir sagst, was Dich von mir fern hält, denn dem Grund den Du mir schon zum zweiten mal angibst, schenke ich kein rechtes Vertrauen (…). Ersuche Dich daher um aufrichtige Erklärung, was der Grund dieser plötzlichen Wendung, ich bin auf alles gefaßt.
Zum Schlusse wünsche ich Dir, dass Du das kommende Jahr mit Glück und Frohsinn antreffen mögest, und dass all Deine Wünsche in Erfüllung gehen möchten.
Es grüßt und küsst Dich D. Comtesse Mitzi“ (Brief DLA)
Nun reagiert Schnitzler doch: Gleich nach Neujahr, am Abend des 4. Jänner 1893, besucht er Mizi Zach in der Grünangergasse und lehnt ihren Wunsch, weiterhin seine Geliebte zu sein, ab, die Begründung dafür klingt durchaus verlogen: „Ich erklärte: Nein, da man die Verpflichtung hat ein Wesen wie sie reichlicher zu unterstützen, als ich es könnte, und 2. weil es doch einmal aus sein müsse, also besser in der Blüthe! – Sie weinte große Tränen und ich spielte Komödie. Das alte Wiener Haus mit der breiten Stiege, das hohe, altmodische Zimmer altertümlich und ärmlich ausstaffirt, an der Wand zwischen Fächern geordnet, viele Photographien, von denen wohl mehr als sie zugibt, frühere Geliebte sein mögen.
– Einer wohl der jetzige: ein sehr hübscher Oberlieutenant, mit dem sie zuweilen soupirt. – Heute war’s allerdings wieder ich. –“ (TB, 4. Jänner 1893)
Schnitzler sehnt sich nach Mizi Glümer, auch zu Fifi, mit der er zwei Tage später schläft, meint er: „Liebe mich nicht!“ (TB, 6. Jänner 1893) Noch ahnt er nicht, was ihm bevorsteht: In wenigen Wochen werden aus St. Gallen die verhängnisvollen anonymen Karten und Briefe eintreffen, wird der „Verrat“ Mizis ihn in „grenzenlose Erbitterung“ versetzen. Für die „kleine Comtesse“ bleibt in diesen „tollen“ Tagen keine Zeit mehr …
In der medizinischen Praxis von Herrn Doktor Schnitzler sind Küsse nichts ganz Ungewöhnliches. Der attraktive junge Arzt und seine Patientinnen finden über Krankheit und Schmerz hinaus manchmal auch zu zärtlichen Tönen. So geschehen irgendwann im Sommer 1892. Da taucht „J. W.“ bei ihm in der Poliklinik auf, die 28-jährige Josefine Lydia Weißwasser. Die junge hübsche Frau, geboren 1864 in Meschen (heute Mosna), einer kleinen Ortschaft in Siebenbürgen, will sich untersuchen lassen, ein Wunsch, dem Schnitzler gerne nachkommt – er erntet dafür eine überraschende Dankesbezeugung: Josefine „haucht“ ihm einen Kuss auf den Nacken.
Schnitzler kann diese kleine, seine Sinne anregende Episode nicht vergessen. Nach der so schwer durchlittenen Abreise von Marie Glümer vom „Gefühl einer gähnenden Leere“ umgeben (TB, 10. September 1892), wird das „Bedürfnis, immer was weibliches verlangendes“ um sich zu haben (TB, 13. Dezember 1892), so stark, dass er beschließt, seine einsamen und tränenreichen Abende aufzugeben. Er erinnert sich an „J. W.“ und ihren zarten Kuss, in einem Kaffeehaus in Währing kommt es am 26. November 1892 zu einem ersten Stelldichein, „J. W.“, so gesteht er sich im Tagebuch ein, „wirkt stark auf mich“ und auch die junge Frau fühlt sich offenbar von ihm angezogen: Zwei Tage später trifft man sich neuerlich, „J. spricht von Unruhe und Verlangen“ und sagt: „Für Sie interessiere ich mich. – Und jetzt geh ich.–“ (TB, 28. November 1892) Am nächsten Tag muss sich Schnitzler nach einem Rendezvous im Kaffeehaus erneut eingestehen: „Sie wirkt stark auf meine Sinne.“ (TB, 29. November 1892) Er kämpft wegen der Treffen mit Josefine mit Gewissensbissen, schreibt er doch gleichzeitig die „eifersüchtigsten und glühendsten Briefe“ (TB, 26. November 1892) an die ferne Mizi; Felix Salten, mit dem er über seine neue Bekanntschaft spricht, redet ihm „ins Gewissen“. (TB, 29. Oktober 1892)
Schnitzler, bereits entflammt, kann von Josefine allerdings nicht mehr lassen: Am 30. November folgt das nächste Stelldichein – nun nicht mehr im Kaffeehaus in der Vorstadt, sondern im Riedhof. Schnitzler hält sich an seine bewährte Strategie: Dem Souper im Chambre separée des Riedhofs folgt der erste Sex mit Josefine; das Tagebuch hält präzise fest: „1“.
Das Verhältnis mit Josefine, die ab der Tagebucheintragung vom 2. Dezember 1892 als „F.“ für „Fifi“ firmiert, ihre Briefe an ihn aber mit „Fina“ oder „Seppa“ zeichnet, gewinnt rasch an Vertrautheit, schon an diesem Tag lädt ihn Fifi zu sich nach Hause ein – „Echtes Vorstadthaus und Zimmer bei den Linienwällen“, urteilt Schnitzler, an den Wänden hängen Fotografien von Fifis früheren Geliebten, er lässt sich dadurch in seinem Vergnügen nicht irritieren, auch wenn sich die Gedanken an Mizi nicht immer verdrängen lassen. Als diese brieflich ankündigt, dass sie zu Weihnachten nicht nach Wien kommen könne, und er ihr unter „blutigen Tränen“ zurückschreibt, schließt er sich ganz Fifi an. Im Tagebucheintrag vom 6. Dezember 1892 schildert er die eigentümliche Beziehung: „Abds. bei F. – Sie fredonnante, draußen im Vorzimmer. Ich im matt beleuchteten Zimmer, weinend in der Erinnerung. – Nachtmahl. – Sie von den frühern Gel. sprechend, ich an Mz. denkend, traurig. – Daraus Zärtlichkeiten. Man küsst in jeder neuen alle früheren Geliebten wieder.“ Schnitzler will das kluge Gespräch forcieren: „Später. Ich: Wenn wir jetzt beide um 5 Jahre jünger wären, glaubten wir rasend glücklich zu sein. – Sie: Ich bin noch jung. – Ich: Bist du glücklich? – Sie: Ich bin zufrieden, ich bin ruhig – es fehlt mir nichts mehr.“ Josefine ihrerseits will dem Herrn Doktor imponieren und zieht alle Register – sie will ihrem neuen Freund zeigen, dass sie eine gute Ausbildung genossen hat und sich auch „mondän“ auszudrücken weiß: Vom gleichen Tag datiert ein in Französisch abgefasster Brief Josefines an ihn, in dem sie ihn neckisch mit „petit Diabl“ anredet.
Am Abend des 10. Dezember 1892 ist Schnitzler wieder bei Fifi, es wird ein „sehr heißer Abend“ – sein zufriedenes Resümee im Tagebuch: „So eine Liebschaft ohne Liebe ist doch was sehr hübsches.“ Und am 15. Dezember stellt er fest: „F. ist ein gescheidtes und liebenswürdiges Geschöpf. – Neulich sagte sie noch: ‚Ich war eigentlich noch nie so wenig verliebt wie in dich. –‘ Jetzt ändert sich das. Sie ist von großer Zärtlichkeit, viel Verständnis. – Heute sagte sie: Ich merke, daß du einen großen Kummer hast; – das Schicksal hat dich von deiner Gel. getrennt? – Im äußern erinnert sie an Jean. und Olga.“ Das „Geschöpf“ Josefine macht es ihm leicht, sie empfängt ihn weiterhin in ihrer Wohnung: „Nur für den Fall, daß Du heute nicht in die Burg gehst – sei Dir mitgeteilt – daß ich immer zu hause bin und stets erfreut Dich zu sehen!“ (Brief vom 13. Dezember 1892, DLA) – Schnitzler geht im Übrigen an diesem Abend nicht ins Burgtheater, er kommt aber auch nicht zu Fifi, sondern zieht es vor, den Abend bei Familie Singer zu verbringen. Alexander Singer ist „Chef-Administrator“ beim Neuen Wiener Tagblatt und dessen 18-jährige Tochter Jenny „mit ihrer sex. Polarität“ ihm nicht ganz gleichgültig. Er wiederholt den Besuch bei den Singers daher eine Woche später, „weil mir das Kopferl von Jenny aesthetisch wohltut“. (TB, 20. Dezember 1892)
Der 14. Dezember gehört jedoch wieder ganz Fifi. Am Vormittag geht er mit ihr auf den Linienwällen spazieren, dann kommt sie mit zu ihm in seine Wohnung in der Grillparzerstraße. Bei einem nächsten Spaziergang auf den Wällen muss Schnitzler erkennen, dass es Josefine offenbar sehr ernst meint, sie „schaudere“ davor, so vermerkt er im Tagebuch, „weiterzufallen“, er, Arthur, sei ihr „letzter“ Geliebter, sie fühle, „daß sie nicht allein leben kann“ und da wolle „sie sich erschießen, wenn’s aus ist“. Er verhehlt ihr auch nicht seine Sicht der Dinge: „Ich möchte endlich eine Liebschaft ohne Tragik erleben; ein heitres Auseinandergehn.–“ (TB, 20. Dezember 1892) Dass Fifi eine fixe Bindung mit Zukunft sucht, stört ihn, und wie immer in diesen Fällen reagiert Schnitzler sofort mit Zurückhaltung: Der Sex ist plötzlich nicht mehr ganz so leidenschaftlich, Fifis Zärtlichkeit ihm „fast zuwider“.
Dass er seine geliebte Mizi betrügt, scheint Schnitzler nun schon gleichgültig, Fifi ist ja nur „eine Liebschaft ohne Liebe“, das, so die seltsame Logik, ist kein echter Betrug. Ja, er findet: „Mir ist fast, als könnte ich sie, gerade durch mein Verh. mit F. besser, schöner, ungequälter lieben als wenn ich ‚treu‘ wäre.“ (TB, 27. Dezember 1892) Da stört es ihn auch nicht, dass im „netten Vorstadtzimmer“ Fifis wie erwähnt die früheren Geliebten in „hübschen Photographien“ „gemütlich“ an der Wand hängen, denn: „Die Liebe ist zuweilen sehr süß, wenn man nicht verliebt ist.“ (TB, 27. Dezember 1892) Seine Devise lautet daher: Nur nicht zu vielen Gefühlen in dieser Beziehung Raum geben und das verlangt er auch von Fifi: „Ich bitte dich, sagte ich ihr, liebe mich nicht!“ (TB, 6. Jänner 1893) – Das sind nun jedoch Töne, die Josefine Weißwasser gar nicht hören will. Inzwischen weiß sie auch schon, dass eine Nebenbuhlerin existiert, sie ist beleidigt und traurig, sieht sich von Schnitzler verkannt. Am 23. Jänner 1893 entschließt sie sich daher, ihrem Arthur einen entscheidenden Brief zu schreiben:
„Mein teurer Arthur!
Endlich habe ich diesen besonderen Brief abgesendet, wodurch ich mich wie erlöst fühle. Ich spreche dieses letzte Wort vor Dir nur sehr ungerne aus und bitte Dich mich recht zu verstehen. – Da ich nun mit allem abgeschlossen habe – Dir mein teurer wie Du es weißt mit Leib und Seele angehöre, glücklich bin Dich zu besitzen, beschwör ich Dich sei wahr; wenigstens in Deiner Gefühlsäußerung – verhelle (sic!) mir nicht wie sehr Du mich liebst, wenn dies überhaupt möglich? Arthur Geliebter, wenn es nicht mehr ist, was Du mir entgegen bringst als – das Verlangen nach meinem k- Besitz, dies ist ja schon geschehen, lasse mich! Ich kann alles ertragen als diesen verabscheuungswürdigen Gedanken. Ich liebe Dich! Bin stolz und glücklich Dich zu besitzen – wenn Du mir die gleichen Gefühle entgegen bringst, wenn Du mir das sein kannst – was ich Dir bin – was ich mit Recht verlangen darf! Ich frage ja nicht nach der Dame – verpflichte Dich zu nichts – im vollsten Vertrauen lege ich meine Zukunft in Deine Hände – werde Dich für alles segnen! Liebe mich! Teurer, wie ich Dich liebe, oder lasse mich! – Ich werde Dir darum nicht böse sein, nicht aufhören Dich zu bewundern, aber ich könnte keinem Menschen auf Erden mehr glauben – wenn Du mich betrügst. Im vollsten Vertrauen auf wahre Erwiderung küsst Dich innigst Deine Fina“ (Brief im DLA)
Es sind dies beeindruckend klare Worte einer jungen Frau, die als Partnerin respektiert werden und ihre Würde gewahrt sehen will. Bei ihrem Adressaten erreichen sie jedoch das Gegenteil von dem, was sie bewirken wollen. Schnitzler notiert im Tagebuch: „Glühender Brief Fifi’s, der mich durch seine saugende Glut gerade unangenehm berührt.–“ Sein nüchternes Resümee: „Ich muss mich bald von ihr befreien.–“ (TB, 24. Jänner 1893)
Am 25. Jänner ist er wieder bei Fifi, es kommt zu einer Aussprache über den Brief. Josefine, die Erfahrung mit Männern hat, weiß, dass sie es nicht sofort auf einen Bruch ankommen lassen darf, und zeigt sich taktisch nicht ungeschickt: Sie betont wie schon in ihrem Schreiben, dass sie ihre Zukunft in Schnitzlers Hände lege, und als Schnitzler mit der direkten Frage kontert: „Was thun, wenn wir scheiden?“, antwortet sie, dass sie nichts als seine Liebe wolle, solange sie eben währe. (TB, 25. Jänner 1893) Die ersehnte „wahre Erwiderung“ bleibt ihr jedoch verwehrt, jene aufrichtigen Worte, die sie einfordert, vertraut Schnitzler nur seinem Tagebuch an: „Ich bin recht gern bei ihr, aber ich gehe auch recht gern weg und freue mich auf den Kaffee und die Zeitung und daß ich ihre Küsse los bin.– In Wirklichkeit möchte ich schon eine andre haben, und am liebsten die ferne Mz. – wie fern, wie fern, wie fern!– Fifi sucht es mir so behaglich als möglich zu machen; – sie ist hausmütterlich beim Nachtmahl und feurig im Bett.– Zu hausmütterlich und zu feurig – denn ich liebe sie nicht. –“ (TB, 28. Jänner 1893)
Anfang Februar 1893 steht für Schnitzler endgültig fest: Er will Josefine Weißwasser verlassen – trotz ihrer beachtlichen Liebes- und Kochkünste. Als er sie am Abend des 4. Februar zufällig trifft, versucht er ihr den Abschied klarzumachen, das verlogene Argument, mit dem er einst schon Jeanette Heeger quälte, leistet nun wieder gute Dienste: „(…) ich könne es nicht auf mich nehmen ihr im Weg zu stehen, der Gedanke ans Ende mache mich nervös – jetzt könnte sie noch leicht scheiden.–“ Fifis Reaktion: „Sie weinte still.–“ (TB, 4. Februar 1893)
Noch will sie aber den Kampf nicht aufgeben und so begibt sie sich gleich am Morgen des nächsten Tages zu Schnitzler, der noch schläft, sie versucht es mit „sentimental“ und ist ihm damit „sehr zuwider“, ihr zusätzliches Pech: Eine nächste anonyme Karte aus St. Gallen in der Causa Mizi Glümer trifft ein, Schnitzler ist daraufhin „fürchterlich“ verstimmt, den Abend verbringen sie dennoch zusammen bei ihr, auf „Schweigen und Thränen“ folgt „um so größere Zärtlichkeit“ (TB, 5. Februar 1893), doch auch das stimmt Schnitzler nicht mehr um – am nächsten Tag spricht er das Urteil über die Beziehung: Er verfasst den Abschiedsbrief an Fifi und geht dann auf den Concordiaball, wo er sich bestens unterhält und besonders lange bleibt, und auch tags darauf will er ihr keine Chance mehr geben: Nach Medea im Rudolfsheimer Volkstheater vergnügt er sich mit seinen Freunden Friedrich Schik, Richard Beer-Hofmann und Theodor Baumgarten beim großen Maskenball in Schwenders Colosseum.
So einfach will sich Josefine Weißwasser aber nicht abservieren lassen – wenn Schnitzler nicht zu ihr kommt, kommt sie zu ihm: Am 8. Februar erscheint sie in der Poliklinik und hat einen starken Satz vorbereitet: Sie erklärt ihm, dass es ihr „Trost“ sei, ihn „nicht mehr als Arth. S. sondern als Anatol zu betrachten“, er, ihren Scharfblick würdigend, kann ihr da nicht widersprechen, wundert sich aber im Tagebuch, warum sie „die Sache“ dann noch immer nicht „als aus“ ansehe. (TB, 8. Februar 1893) Am Abend des 9. Februar ist er dann „sehr contre cœur“ doch wieder bei ihr, die Emotionen gehen hoch. Zunächst ist er „fürchterlich traurig“ und weint „bitterlich“, dann wird es „sehr glühend“ und als er Fifi verlässt, ist es sie, die weint. Sein Kommentar im Tagebuch: „Es scheint wirklich, daß das Leben nun einmal so ist. – Würde Mz. ahnen, dass ich bittre Tränen des Abschieds von einer andern vergieße, – so würde sie es für eine Fabel halten – würde Fifi erfahren, dass ich täglich glühende Briefe einer andern schreibe und eigentlich nur diese andre lieb,