Foto: Marianna Sárközy
Péter Gárdos, 1948 in Budapest geboren, ist ein vielfach ausgezeichneter Film- und Theaterregisseur. »Fieber am Morgen« ist sein erster Roman, der weltweit in sechsundzwanzig Ländern erscheint und den er selbst fürs Kino verfilmt hat.
In Ungarn wurde zunächst die jüdische Bevölkerung, die nicht in Budapest lebte, deportiert.
Miklós ist die ungarische Entsprechung für Nikolaus.
Im Juli 1945 wird Miklós, ein junger Ungar, nach Schweden gebracht. Er hat das KZ Bergen-Belsen überlebt, besteht nur noch aus Haut und Knochen, Zähne hat er auch keine mehr. Sein Arzt gibt ihm sechs Monate. Doch er hat andere Pläne. 117 junge Frauen aus Miklós Heimatstadt Debrecen haben wie er die Vernichtungslager überlebt und sind vom Roten Kreuz nach Schweden gebracht worden. Jeder einzelnen von ihnen schreibt er einen Brief. Eine dieser Frauen wird er heiraten, das hat er sich fest vorgenommen. Hunderte Kilometer entfernt liest Lili seinen Brief und beschließt, ihm zu antworten. Brief um Brief verlieben sich die beiden ineinander. Im Dezember 1945 treffen sich Miklós und Lili zum ersten Mal. Sie haben nur drei Tage. Und lieben sich vom ersten Augenblick. Nun müssen sie nur noch einen Weg finden, wie sie heiraten können. Und Miklós darf nicht sterben.
Was für eine Geschichte! Mit »Fieber am Morgen« hat der ungarische Autor Péter Gárdos einen Roman geschrieben, der die halbe Welt verzaubert hat: In 29 Länder wurde die Liebesgeschichte zwischen Miklós und Lili bereits verkauft. Eine Geschichte, die auf wahren Begebenheiten beruht: Péter Gárdos erzählt in »Fieber am Morgen« die reale Geschichte seiner Eltern.
Seine Eltern, Miklós und Ágnes, wie seine Mutter im wahren Leben heißt, schrieben einander sechs Monate lang Briefe, von September 1945 bis Februar 1946, als sie schließlich in Stockholm heirateten. Bis zum Tod seines Vaters 1998 wusste Péter Gárdos nichts davon. Erst dann übergab ihm seine Mutter zwei Stapel mit Briefen, ordentlich mit einem kornblumenblauen und einem scharlachroten Band verschnürt.
In diesem E-Book finden Sie diese Briefe, zusammen mit vielen privaten Dokumenten und Fotos der Familie Gárdos.
Daniel Kampa
Hoffmann und Campe Verlag
Der erste Brief von Péter Gárdos’ Mutter Ágnes (im Roman Lili) an ihren späteren Ehemann Miklós.
Miklós’ Antwortbrief an seine spätere Ehefrau Ágnes.
Liebe Ági,
Sie sind wahrscheinlich bereits daran gewöhnt, von Unbekannten angesprochen zu werden, wenn Sie Ungarisch sprechen – unter dem Vorwand, dass die betreffende Person auch aus Ungarn stamme. Langsam verlieren wir jeglichen Anstand. Ich zum Beispiel habe mir die obige vertrauliche Anrede einzig aus dem Grund erlaubt, weil wir aus derselben Stadt stammen.
Ich weiß nicht, ob Sie mich aus Debrecen kennen – ich habe bis zu dem Zeitpunkt, als mich mein Heimatland zum Arbeitsdienst »einberufen« hat, für die Zeitung Független Újság gearbeitet, und meinem Vater (József Gárdos) gehörte die Buchhandlung im Bischofspalast.
Mir kommt Ihr Name bekannt vor, und auch vom Alter her könnte es stimmen – Sie haben doch im Gambrinus-Hof gewohnt, nicht wahr?
Ich wende mich an Sie, da ich Sie bitten möchte, mir zu schreiben, falls Sie etwas von meiner Familie gehört haben. Zur Zeit der Ghettos war ich bereits in russischer Kriegsgefangenschaft und kam erst viel später, auf ziemlich abenteuerlichem Weg, zurück nach Ungarn.
Über meine Familienmitglieder weiß ich leider gar nichts. Meine Schwester könnte vielleicht zu Hause sein, aber auch das kann ich nicht mit Gewissheit sagen.
Sie wissen ja, wie wir Menschen sind – wir nutzen jede mögliche und unmögliche Gelegenheit, um etwas über unsere Angehörigen zu erfahren. Und es kommt mir so vor, als hätte sich Debrecen einfach in Luft aufgelöst! Ich habe unzählige Listen gesehen, mit vielen Menschen gesprochen, und Sie, Ági, sind erst die dritte Person aus Debrecen, die ich gefunden habe!
Verzeihen Sie, dass ich mit Bleistift schreibe, aber auf ärztliche Anordnung muss ich einige Tage im Bett verbringen …
In freudiger Erwartung Ihrer Antwort grüße ich Sie herzlich,
Miklós Gárdos
Lieber Miklós,
erst jetzt ist es mir möglich, Ihren Brief zu beantworten, denn ich wurde, kurz nachdem ich ihn erhalten hatte, ins Krankenhaus gebracht. Inzwischen bin ich gesund und seit einigen Tagen wieder hier, und nun werden wir alle in ein Winterlager gebracht, das zwei Kilometer von Adelfors entfernt liegt.
Wahrscheinlich bin ich nicht die, an die Sie denken, denn ich wurde zwar in Debrecen geboren, habe aber seit meinem ersten Lebensjahr in Budapest gelebt. Daher weiß ich leider nichts über Ihre Angehörigen, dabei hätte ich Ihnen gern mit einer Nachricht von ihnen eine Freude bereitet.
Obwohl ich nicht eher geantwortet habe, habe ich oft an Sie gedacht. Mich interessiert Ihr Schicksal, Ihr Leben, und ich fand den Ton Ihrer Zeilen so sympathisch, dass ich die Korrespondenz mit Ihnen gerne fortsetzen würde. Es würde mir guttun, mich mit Ihnen auszutauschen, da wir schließlich mehr oder weniger aus einer Stadt stammen, wodurch es vielleicht Parallelen in unserem Schicksal, unseren Wünschen, unseren Gedanken gibt.
Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine: Im Gegensatz zu den meisten Mädchen in meinem Alter imponieren mir tadellos gebügelte Hosen oder eine adrette Frisur nicht; mich ziehen nur die inneren Werte an.
Wir wohnen in einem wunderschönen Wald, aus unserem Zimmer blicken wir auf einen Bach, von wo aus man das Plätschern eines Wasserfalls hört.
Lieber Miklós, ich und wir alle würden uns sehr freuen, wenn Sie und vielleicht einige andere Ungarn uns hier besuchen kämen – Sie würden sicherlich die Erlaubnis dazu erhalten.
Bitte lassen Sie mit Ihrem Brief nicht genauso lange auf sich warten, wie ich Sie habe warten lassen.
Bis dahin grüße ich Sie ganz herzlich,
Ágnes
Liebe Ágnes,
ich habe mich sehr über Ihren Brief gefreut!
Ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr genau, was ich das letzte Mal über mich geschrieben habe, also stelle ich mich am besten kurz vor.
Meinen Namen kennen Sie ja. Ich bin fünfundzwanzig Jahre alt und war, bis mich das erste Judengesetz von meiner Arbeit befreite, Journalist. Danach verkaufte ich Sodawasser von einem Pferdewagen, später war ich Arbeiter in einer Textilfabrik, Schnüffler für eine Wirtschaftsauskunftei, Angestellter, Werbeagent und noch in verschiedenen anderen, ähnlich prächtigen Berufen tätig, bis ich 1941 zum Arbeitsdienst eingezogen wurde. (Fast hätte ich es vergessen: Ich habe Abitur und zusätzlich das Handelsabitur, und bis ich von der Uni flog, hatte ich Chemiker werden wollen.)
Zwischen 1941 und Ende 1943 habe ich in verschiedenen Arbeitskompanien gedient –, ohne Unterbrechung, eigentlich hätte mir das schon gereicht – und dann wurde ich wegen einer alten Geschichte mit der Strafabteilung in die Ukraine gebracht.
Ich nutzte die erstbeste Gelegenheit, um zu den Russen zu fliehen.
In der Bukowina wurde ich Mitglied einer internationalen Partisanengruppe, und im August 1944 sprang ich als Fallschirmspringer nicht weit von Nagyvárad ab – aber ich verbrachte nur zwei Tage im Maisfeld, bevor ich, ohne etwas verbrochen zu haben, festgenommen wurde. Einige Tage sollte ich die Gestapo unterhalten, dann kam ich bei der Spionageabwehr in Behandlung. Sie begrüßten mich wie einen alten Bekannten: Ich hatte früher der Märzfront und der sozialistischen Jungarbeiterbewegung von Debrecen angehört …
Dann: Zuchthaus am Margarethenring, Csillag-Gefängnis in Komárom, Bachman, Ohrdruf, Belsen – nun, das alles ist ja nicht mehr so spektakulär.
In Schweden hat eine Röntgenaufnahme gezeigt, dass ich eine Rippenfellentzündung habe – im Augenblick »erfreue« ich mich an deren Nachbehandlung.
Meine politische Einstellung können Sie den obigen Zeilen entnehmen. Die sozialistische Weltsicht bestimmt alle meine Handlungen und Gedanken.
Meine andere Leidenschaft ist die Literatur. Ich schreibe auch selbst hin und wieder; in Ungarn sind zwei Bände von mir erschienen. Tanzen hasse ich abgrundtief, aber Fröhlichkeit mag ich, und gefüllte Paprika auch. (Natürlich mit schön dicker Tomatensoße!)
Ich habe mich Ihnen bereits vorgestellt, jetzt sind Sie dran, Ágnes. Schicken Sie mir doch bitte ein Bild von sich. Und schreiben Sie mir alle Einzelheiten über sich. Auch über Ihre Familie usw. (Ich erzähle Ihnen auch von meiner, denn ich merke gerade, dass ich das bisher versäumt habe. Mein Vater war Buchhändler, ich weiß weder über ihn noch über meine Mutter etwas – leider habe ich die schlimmsten Vermutungen. Ich habe eine jüngere Schwester, Klári, sie hoffe ich zu Hause anzutreffen. Im Dezember 1944 war sie noch in Budapest,1 und da sie ein sehr geschicktes Mädchen ist – im November gelang ihr die Flucht aus der Spionageabwehr, wo sie wegen irgendeiner politischen Angelegenheit gelandet war –, denke ich, dass sie es geschafft hat, in Budapest zu bleiben. Leider ist das im Moment meine ganze Familie …)
Aus bestimmten Gründen interessiert es mich sehr, wie viele Menschen nach Ungarn zurückkehren wollen – schreiben Sie mir doch, wie die allgemeine Stimmung bei Ihnen ist.
Aber diesmal können Sie mir ruhig postwendend antworten!
Einen freundschaftlichen Händedruck schickt Ihnen
Miklós
Lieber Miklós,
es war mir eine Freude, Ihren Brief zu lesen, denn mein Gefühl hat mich nicht getrogen: Genau so habe ich Sie mir vorgestellt. Bei den abenteuerlichen Episoden aus Ihrem Leben wusste ich oft nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, da Sie sie mit einem so liebenswerten Humor schildern.
Und damit Sie auch etwas über mich erfahren, versuche ich das Wesentliche zusammenzufassen. Ich legte 1944 im Abonyi-Gymnasium in Budapest das Abitur ab. Im Herbst wurde ich zum Arbeitsdienst für die Landesverteidigung eingezogen. Ich habe in Isaszeg Schützengräben ausgehoben. Dann mussten wir den Weg bis Hegyeshalom zu Fuß zurücklegen, täglich dreißig bis vierzig Kilometer, hungrig. Nachts schliefen wir unter freiem Himmel, im Regen, bis wir an die Grenze kamen, wo man uns den Deutschen übergab. Nach zehn Tagen im Viehwaggon kamen wir am 6. Januar in Bergen-Belsen an.
Die Befreiung durch die Engländer kam im letzten Augenblick, und allein die Tatsache, dass ich hier in Schweden bin, zeigt mir, dass es noch Wunder gibt.
Meine Eltern sind in Budapest geblieben. Mein Vater, Sándor Bíró, ist einundfünfzig Jahre alt, er ist Direktor einer Kofferfabrik in Budapest. Ich habe einen Bruder, er ist dreiundzwanzig. Nach dem Abitur ist er in dieselbe Branche eingestiegen. Er heißt Tibor Bíró.
Seitdem ich Ungarn verlassen habe, bin ich leider ohne jede Nachricht von ihnen.
Auch ich liebe die Literatur, ich mag Gedichte und würde mich freuen, wenn Sie mir einige aus Ihrer Sammlung schickten. Außerdem habe ich eine Leidenschaft für Musik und spiele selbst Klavier. In Budapest habe ich viele Konzerte besucht.
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie Sie uns besuchen könnten. Ich habe gehört, dass die Gemeinde, wenn Sie Ihr Anliegen dort vorbringen und nichts gegen eine Reise spricht, die Reisekosten übernimmt. Einer von Ihnen könnte in die Rolle eines Halbbruders, Cousins oder Verlobten schlüpfen. Aus Nissafors haben uns schon Ungarn als »Verlobte« besucht.