Eine kaum bekannte Tatsache: Die weltweit einzigen US-amerikanischen Bürger, deren Sozialversicherungsnummern mit der Ziffer 9 beginnen, sind oder waren fest angestellte Mitarbeiter des Internal Revenue Service. Wegen ihres speziellen Verhältnisses zur Sozialversicherungsverwaltung weist der IRS einem zum Stichtag des Stellenantritts eine neue SVNr. zu. Identitätsmäßig gleicht der Eintritt in den Service einer Wiedergeburt. Otto Normalverbraucher weiß das so gut wie nie. Muss er auch nicht. Aber schauen Sie sich mal Ihre eigene Sozialversicherungsnummer an oder die der Menschen, die Sie gut genug kennen, um auch ihre SVNr. zu kennen. Es gibt nur eine Zahl, mit der eine SVNr. nie anfängt. Und das ist die 9. Die 9 ist dem Service vorbehalten. Und wenn Ihnen eine zugewiesen wird, behalten Sie die Ihr ganzes Leben lang, auch wenn Sie den IRS längst wieder verlassen haben sollten. Die Nr. markiert Sie quasi. Jeden April – bzw. natürlich jedes Quartal, falls Sie freiberuflich arbeiten und Ihre geschätzten Steuern quartalsweise bezahlen – werden die Erklärungen von Steuern und geschätzten Steuern, deren Akten-SVNr. mit einer 9 beginnt, automatisch separiert und durchlaufen im Computer-Center von Martinsburg ein spezielles Verarbeitungs- und Prüfprogramm. Ihr Status im System ist für immer und ewig markiert. Der Service kennt die Seinen.
Das ist ein Fachausdruck; in Wirklichkeit meine ich, dass alles, was um dieses Vorwort herum steht, im Grunde genommen wahr ist. Dass das Vorwort jetzt erst nach achtundsiebzig Seiten im Text auftaucht, war eine weitere kurzfristige Vorsichtsmaßnahme seitens des Verlegers; dazu gleich mehr.
Auf Anraten seines Syndikus hat der Verlag es abgelehnt, in diesem Vorwort des Autors namentlich genannt zu werden, obwohl natürlich jeder, der einen Blick auf den Buchrücken oder die Titelseite wirft, sofort weiß, um welchen Verlag es sich handelt. Es ist also eine irrationale Beschränkung; aber dem sei, wie ihm wolle. Wie mein eigener Anwalt bemerkte, werden Firmenanwälte nicht für äußerste Rationalität bezahlt, sondern für äußerste Umsicht. Und es ist ja nachvollziehbar, dass sich ein ins Handelsregister eingetragenes US-amerikanisches Unternehmen wie der Verlag, in dem die Originalausgabe dieses Buchs erscheint, hinsichtlich des geringsten Anscheins bedeckt hält, dem Internal Revenue Service eine lange Nase drehen oder (so die Formulierung in einem hysterischen frühen Memo des Syndikus) einem Autor Vorschub leisten zu wollen, der einen Verstoß gegen die Geheimhaltungsverpflichtung planen könnte, die alle Mitarbeiter des Finanzministeriums unterzeichnen müssen. Allerdings wurde die Version der Geheimhaltungsverpflichtung – was mein Anwalt und ich ihnen rund 105-mal klarmachen mussten, bevor der Syndikus es anscheinend endlich schnallte –, die für alle Angestellten des Finanzministeriums und nicht nur für Beamte der Behörde für Alkohol, Tabak und Schusswaffen sowie den Secret Service bindend ist, erst 1987 verabschiedet, was zufälligerweise genau das Jahr ist, in dem für die Prüfung praktisch aller privaten Steuererklärungen in den USA erstmals Computer und eine statistische Hochleistungsformel namens ANADA (was für »Algorithmus zur Nichtauditierungs-/Auditierungs-Diskriminanzanalyse« steht) verwendet wurden. Ich weiß, es ist ein ganz schön komplexer und verwirrender Datenklumpatsch, mit dem ich Sie da in einem bloßen Vorwort belästige, aber die Krux ist, dass es von der ANADAa und den Komponenten ihrer Formel abhängt, bei welchen Steuererklärungen eine zusätzliche Revision höhere Steuereinnahmen generieren würde, die der Service zu gewährleisten hat, und aus diesem Grund wurde die Geheimhaltungsverpflichtung 1987 plötzlich auf alle IRS-Mitarbeiter ausgedehnt. 1987 war ich aber längst wieder aus dem Service ausgeschieden. Die schlimmsten persönlichen Unannehmlichkeiten hatten sich verflüchtigt, ich hatte mich an einer anderen Uni immatrikulieren können, und im Herbst 1986 war ich wieder an der Ostküste und tummelte mich in der Privatwirtschaft, wenn auch natürlich noch mit meiner neuen SVNr. Meine IRS-Karriere währte vom Mai 1985 bis zum Juni 1986. Daher meine Entbindung von der Geheimhaltungspflicht. Ganz zu schweigen davon, dass ich mich kaum in einer Position befand, in der ich etwas Kompromittierendes oder überhaupt nur Einzelheiten über die ANADA gewusst hätte. Meine Stelle im Service war absolut untergeordnet und regional beschränkt. Den Löwenanteil meiner Zeit verbrachte ich als Standardprüfer alias »Schlängler« in der Service-Nomenklatur. Mein vertraglich festgehaltener Rang im öffentlichen Dienst war der eines GS-9, was damals die niedrigste Besoldungsgruppe für Vollzeitstellen war. Es gab Sekretärinnen und Raumpfleger, die mehr verdienten als ich. Und ich wurde nach Peoria, Illinois, versetzt, was in der so ziemlich größten Entfernung von Tripel-Sechs und dem Zentrum in Martinsburg lag, die man sich nur vorstellen kann. Peoria war damals zugegebenermaßen – und das machte dem Verlagssyndikus besondere Sorgen – ein RPZ, einer der sieben Knotenpunkte der Prüfabteilung des IRS, und genau diese Abteilung wurde mit dem Einzug der ANADA und eines digitalen Fornix-Netzwerks aufgelöst, genauer (aber auch klärungsbedürftiger) gesagt, aus der Abt. Compliance ausgegliedert und der neuen Abt. Technik zugeordnet. Das ist eine noch esoterischere und kontextlosere Information über den Service, als ich Sie meinen eigenen Schätzungen nach so früh hätte schlucken lassen dürfen, und ich darf Ihnen versichern, dass das in der Autobiografie selbst, sobald die endlich in Gang kommt, alles in anmutigeren und dramatisch treffenderen Begriffen erläutert und/oder ausgebreitet wird. Damit Sie nicht völlig perplex und gelangweilt sind, möge vorläufig der Hinweis genügen, dass die Prüfabt. die IRS-Abteilung ist, die die verschiedensten Steuererklärungen zu sichten und teilweise als »20er« auszulesen hat – eine Service-Abkürzung für Steuererklärungen, die zur Revision an das entsprechende Bezirksbüro weiterzuleiten sind. Die Revisionen selbst werden von IRS-Beamten durchgeführt, die üblicherweise der Revisionsabteilung zugeordnete GS-9er oder GS-11er sind. Es ist schwer, dies alles glatt oder anmutig zu formulieren – lassen Sie sich also bitte gesagt sein, dass diese ganzen abstrakten Informationen für Sinn und Zweck dieses Vorworts keineswegs unabdingbar sind. Tun Sie sich daher bitte keinen Zwang an und überfliegen oder -blättern Sie das Folgende ruhig. Und glauben Sie nicht, das ganze Buch wäre so, denn das ist es nicht. Sollte es Sie aber brennend interessieren, so sollte jede, aus welchen (je nach Schlängler intelligenten und scharfsichtigen oder, ehrlich gesagt, durchgeknallten und esoterischen) Gründen auch immer, von einem Steuerprüfer herausgepflückte und zur Revision weitergeleitete Steuererklärung von einem internen IRS-Serie-20-Memo begleitet werden, und daher rührt der Begriff »20er«. Wie in den meisten isolierten und (nennen wir die Dinge doch beim Namen) geschmähten Bundesbehörden ist die Arbeit im Service gespickt mit Fachbegriffen und Codes, die einen anfangs zu erdrücken drohen, aber so schnell verinnerlicht und so oft angewendet werden, dass es fast zur Gewohnheit wird. Ich träume heute noch manchmal in Dienstwelsch. Aber um wieder an den Ausgangspunkt anzuknüpfen: Prüfungen und Revisionen sind die beiden Hauptabteilungen der Service-Abt. Compliance, und der Verlagssyndikus machte sich Sorgen, wenn der IRS-Syndikus nur ausreichend gekränkt würde und wegen der Geheimhaltungspflicht stänkern wollte, könnte er argumentieren, ich ebenso wie diverse Kollegen und Verwaltungsbeamte im RPZ-Posten 47, die in dieser Geschichte auftauchen, müssten gemäß den Klauseln der Geheimhaltungsverpflichtung vor den Kadi gezerrt werden, weil wir nicht von der Abt. Compliance beschäftigt, sondern in das RPZ versetzt worden seien, das im Vorfeld der später mal als der »Neue IRS« und mal als »die Spackman-Initiative« oder schlicht »die Initiative« etikettierten Maßnahmen so prominent figurieren sollte, die auf den ersten Blick mit der Steuerreform des Jahres 1986 eingeführt wurden, in Wahrheit aber das Ergebnis eines langen und extrem komplizierten bürokratischen Hickhacks zwischen der Abt. Compliance und der Abt. Technik über Steuerprüfungen und Prüffunktionen im IRS-Betrieb waren. Ende des Datenklumpatschs. Falls Sie bis hierher gelesen haben, hoffe ich, dass Sie so weit mitgekommen sind, um nachvollziehen zu können, dass ich auf das strittige Problem der expliziten Nennung des Verlagsnamens weder viel Zeit noch den guten Willen des Lektorats verschwenden wollte. In Sachbüchern muss man sich auf das Wesentliche beschränken.
(a) Der Name der Formel ist übrigens keine Verlade. Ob den Statistikern der Abt. Technik eigentlich klar war, dass sie sich für ihren Algorithmus ein so vorbelastetes, fast schon thanatoid klingendes Akronym ausgedacht hatten? Das ist wohl zu bezweifeln. Wie heute nur zu viele Amerikaner nur zu gut wissen, sind Computerprogramme absolut und zum Verrücktwerden wörtlich und nicht konnotativ zu nehmen, und das Gleiche galt für die Leute in der Abt. Technik.
(bis auf den »Alle Rechte vorbehalten«-Teil natürlich)
Letzteres ist ein gutes Beispiel für die Angelegenheiten, die bei den Verlagsjuristen regelmäßig für Veitstänze aus Pedanterie und Vorsicht sorgen. Viele Leute verstehen nicht, dass große US-amerikanische Firmen schon die Androhung von Prozessen bitterernst nehmen. Wie mir am Ende aufging, geht es weniger um die Frage, ob der Verlag einen Prozess gewinnen oder verlieren würde; ihn beschäftigen vielmehr die Kosten der Verteidigung und die Auswirkungen dieser Kosten auf die Haftpflichtversicherungsprämie, die auch so schon einen Großteil der Betriebskosten ausmacht. Rechtsstreitigkeiten sind, anders gesagt, eine Gewinnfrage; und der Lektor oder Syndikus, der einen Verlag mit potenziellen Rechtsstreitigkeiten konfrontiert, sollte seinem Finanzchef plausibel machen können, dass auf das Manuskript jede erdenkliche Vorsicht verwendet und sämtlichen Sorgfaltspflichten Genüge getan wurde, damit er nicht, wie wir das in der Abt. Prüfungen nannten, am Ende als Buhmann dasteht. Andererseits ist es nicht ganz fair, dem Verleger jede neue taktische Veränderung und Abweichung in die Schuhe zu schieben. Ich (und das meint jetzt wieder den real existierenden David Wallace) habe genauso Angst vor einem Prozess. Wie viele andere Amerikaner bin ich verklagt worden – zwei Mal sogar, obwohl beide Verfahren nichtig waren und die eine Klage sogar als ungerechtfertigt abgewiesen wurde, bevor ich überhaupt hatte aussagen müssen –, und ich weiß, was so viele von uns wissen: Rechtsstreitigkeiten sind kein Vergnügen, und die Zeit und Mühe, sie möglichst schon im Vorfeld abzuwenden, lohnen sich. Außerdem würde über dem ganzen Prüf-und-Sorgfaltspflicht-Prozess bei Der bleiche König der Schatten des Service dräuen, den niemand, der noch bei klarem Verstand ist, auch nur im Traum unnötig auf die Palme bringen oder dem gegenüber er auch nur institutionelle Aufmerksamkeit erregen wollen würde, denn der Service kann einem, genau wie ein Zivilverfahren, auch dann noch das Leben schwer machen, wenn er dafür nicht einen Cent mehr von einem bekommt.
Einer ist heute beispielsweise Regionaler Vizeprüfkommissar für steuerliche Amtshilfe im Büro des Regionalen Prüfbeauftragten von Oxnard, Kalifornien.
Ein unterschriebener und notariell beglaubigter Antrag gemäß dem Gesetz zur Informationsfreiheit von 2002 auf Einsichtnahme in diese Videoaufzeichnungen findet sich im IRS-Büro für Information der Öffentlichkeit, 666 Independence Avenue, Washington, D. C. ... Und ja: Die Hausnummer der Bundeszentrale des Internal Revenue Service lautet wirklich »666«. Meines Wissens war das einfach ein unglücklicher Zufall bei der Zuweisung von Büroräumlichkeiten durch das Finanzministerium, nachdem 1913 der Sechzehnte Verfassungszusatz in Kraft getreten war. Auf den regionalen Ebenen nennen Angehörige des Service die Bundeszentrale in der Regel »Tripel-Sechs« – die Bedeutung des Begriffs liegt auf der Hand, obwohl mir niemand, den ich befragt habe, sagen konnte, wann er in Gebrauch kam.
Das ist eigentlich kein Fachbegriff, konnotiert aber die dramatisierte Rekonstruktion realhistorischer Begebenheiten. Diese weithin gebräuchliche und absolut respektable Technik findet sich sowohl im Film (vgl. Der Fall Randall Adams, Forrest Gump, JFK) als auch in der Literatur (vgl. Truman Capotes Kaltblütig, Wouks Die Caine war ihr Schicksal, Oates’ Zombie, Cranes Die rote Tapferkeitsmedaille, Wolfes Der Stoff, aus dem die Helden sind usw. usf.).
Dass sich diese Verträge unterscheiden, kann man vor allem unseren Reaktionen auf Vertragsverstöße ablesen. Das Gefühl von Verrat oder Untreue, das der Leser empfindet, wenn sich abzeichnet, dass ein vorgebliches Sachbuch erfundene Elemente enthält (was etwa bei literarischen Skandalen der jüngeren Vergangenheit wie Kosin´skis Der bemalte Vogel oder dem berüchtigten Buch von Carcaterra der Fall war), geht darauf zurück, dass ein Verstoß gegen die Klauseln des Sachbuchvertrags vorliegt. Natürlich kann der Leser auch in fiktionalen Texten in Anführungszeichen beschummelt werden, das hat aber meist technische, d. h. aus den Genrekonventionen der jeweiligen Textsorte resultierende Gründe (wenn der Ich-Erzähler eines Kriminalromans beispielsweise erst auf der letzten Seite enthüllt, dass er der Mörder ist, obwohl er das natürlich die ganze Zeit gewusst und nur verschwiegen hat, um uns an der Nase herumzuführen), und der Leser ist eher ästhetisch enttäuscht, als dass er sich vergackeiert vorkäme.
Bitte entschuldigen Sie diesen Satz; er ist das Resultat einer Menge schachernder Kompromisse mit der Rechtsabteilung des Verlags.
(was damals notabene an kaum einer Uni als eigenes Studienfach angeboten wurde)
(womit ich, wie sich herausstellte, richtiglag)
Im Grundstudium genossen viele meiner privilegierteren Kommilitonen, darunter auch etliche Klienten meiner freiberuflichen Schreiberei, übrigens ihr traditionelles »Auslandssemester« an Orten wie Cambridge oder der Sorbonne. Ich möchte das einfach nur gesagt haben. Ich erwarte nicht, dass Sie über die Heuchelei und Ungerechtigkeit, die Sie an diesem Stand der Dinge etwa ablesen, jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Dieses Vorwort heischt keineswegs Mitleid. Und außerdem ist das alles ja sowieso längst Schnee von gestern.
(was wegen der Angst der Universität vor Image- und Prestigeverlust allerdings sehr unwahrscheinlich war)
Tut mir leid, der Satz. Ich muss zugeben, dass ich emotional manchmal immer noch an die Decke gehe, wenn ich mir die ganze Verbindungsschrank-mit-nachfolgendem-Skandal-und-Sündenbock-Suche vergegenwärtige. Zwei Tatsachen plausibilisieren vielleicht die Langlebigkeit dieser Emotionen: (a) Von den fünf anderen Studenten, die nach Erkenntnis des J-Ausschusses Seminararbeiten gekauft oder gekaufte Seminararbeiten plagiiert hatten, machten zwei am Ende einen Abschluss magna cum laude, und (b) gehört ein Dritter heute dem Kuratorium der Universität an. Ich lasse diese nackten Fakten einfach mal so stehen und überlasse es Ihnen, aus der ganzen schmutzigen Angelegenheit Ihre Schlüsse zu ziehen. Mendacem memorem esse oportet.
Und bitte entschuldigen Sie auch diese Umständlichkeit. Angesichts der unten dargelegten familial-juristischen Einschränkungen ist eine solche Nichterklärung für mich der einzige statthafte Weg, damit meine gesamte Zeit in der IRS-Dienststelle 047 keine riesige unerklärte und unmotivierte Leerstelle ist, die in manchen literarischen Genres (technisch) okay sein mag, in einer Autobiografie aber einen substanziellen und massiven Vertragsbruch konstituieren würde.
(keines Elternteils)
Vgl. dazu Anm. 2.
Das Wort Bürokratie gilt ungeachtet der Tatsache, dass sich im Zuge der ganzen »Neuer IRS«-Bewegung sowohl in Tripel-Sechs als auch den Regionen eine zunehmend anti- oder postbürokratische Mentalität ausbildete. Ein kurzes Beispiel dafür findet sich im Ausschnitt eines Interviews mit Mr Donald Jones, der in der Fetten-Gruppe im RPZ Mittlerer Westen von 1984 bis 1990 GS-13-Teamleiter war:
Vielleicht hilft es, wenn man Bürokratie definiert. Den Begriff. Worum es hier geht. Die sagen einem immer, man müsse nur ein Wörterbuch aufschlagen. Verwaltungsapparat, der in der Anwendung und Auslegung von Bestimmungen einem starren Formalismus verhaftet ist, Zitat Ende. Einem starren Formalismus. Ein Beamtenapparat, in dem das Bedürfnis oder der Wunsch, sich an komplexen Verfahren zu orientieren, jedes effiziente Handeln behindert, Zitat Ende. Bei den Sitzungen wurden Folien mit diesen Definitionen an die Wand projiziert. Sie sagten, das hätte er sie alle fast schon wie einen Katechismus aufsagen lassen.
Im Klartext heißt das, dass es in den wenigen Jahren, um die es hier geht, in einer der größten Bürokratien der Welt zu Erschütterungen kam, sodass jene sich an einer inhaltlichen Neukonzeption ihrer selbst als Nicht- oder gar Antibürokratie versuchte, was sich zunächst nur nach einem amüsanten Stück bürokratischer Narretei anhört. In Wahrheit war es beängstigend; es war, als würde man Zeuge, wie eine riesige Maschine Bewusstsein entwickelt und wie ein echter Mensch zu denken und zu fühlen versucht. Der Schrecken gleichzeitig anlaufender Filme wie Terminator oder Blade Runner beruhte auf einer ganz ähnlichen Prämisse ... nur hatten die Erschütterungen und negativen Konsequenzen im Fall des Service weit gravierendere Auswirkungen auf das amerikanische Leben, wenn sie auch diffuser und undramatischer daherkamen.
Nur fürs Protokoll: Mr Jones’ »sie« bezieht sich auf bestimmte hochrangige Repräsentanten der sogenannten »Initiative«, die an dieser Stelle abstrakt zu erklären absolut unmöglich ist (vgl. allerdings Aussage 951458221 in § 14, ein Interviewdokument, das aus einer langen und wahrscheinlich nicht ideal fokussierten Version genau einer solchen Erklärung durch Mr Kenneth [»So-die-Schiene-Ken«] Hindle besteht, einen der ältesten Schlängler in der Standardprüfgruppe, in der ich [nach einer erklecklichen Anzahl anfänglicher Verwirrungen und Fehlzuordnungen] am Ende landete), weswegen ich nur erwähne, dass der einzige Repräsentant, der sich auf unserer niederen Ebene je blicken ließ, M. E. Lehrl von der Abt. Technik war, samt seinem seltsamen Team aus Instinkttätern und undurchschaubaren Epheben, die (wie sich zeigen sollte) die Aufgabe hatten, bei der Implementierung der Initiative zu helfen, soweit sie die Abt. Prüfungen betraf. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn das an diesem Punkt unverständlich klingt. Ich habe lange geschwankt, was ich hier erklären soll und was sich später auf natürlichere und dramatischere Weise in der Autobiografie selbst entfaltet. Schlussendlich habe ich mich entschieden, hier nur kurze und potenziell verwirrende Erklärungen zu liefern, wobei ich darauf gesetzt habe, dass Sie sie einfach nicht zur Kenntnis nehmen, wenn sie zu unverständlich oder ausufernd werden, und ich möchte Ihnen noch einmal versichern, dass das von meiner Seite aus absolut okay ist.
Falls Sie das interessiert: Der Begriff ist ein Kürzel für die nicht rückzahlbare Vorauszahlung, die mit den faktisch später anfallenden (und von 7 ½-15 Prozent des Nettoladenpreises progressiv gestaffelten) Tantiemen des Autors aus dem Buchverkauf verrechnet wird. Da die tatsächlichen Verkaufszahlen schwer zu prognostizieren sind, hat jeder Schriftsteller das finanzielle Interesse an einem möglichst hohen Vorschuss, auch wenn die Zahlung dieses Pauschalbetrags im Jahr der Kontierung der Summe dann steuerliche Probleme verursachen kann (was hauptsächlich der Steuerreform des Jahres 1986 zu verdanken ist, die die Möglichkeit der Berechnung eines Durchschnittseinkommens gestrichen hat). Und da die Prognose tatsächlicher Verkaufszahlen, wie gesagt, keine exakte Wissenschaft ist, ist die Höhe des Vorschusses, den der Verlag einem Autor für die Rechte an seinem Buch zu zahlen gewillt ist, der beste und greifbarste Hinweis auf die Bereitschaft des Verlags, das Buch zu »unterstützen«, ein Begriff, der wiederum alles von der gedruckten Auflage bis zur Höhe des Marketingbudgets abdeckt. Und diese Unterstützung ist faktisch die einzige Möglichkeit für ein Buch, die Aufmerksamkeit eines Massenpublikums zu bekommen und substanzielle Verkaufszahlen zu erreichen – ob einem das nun gefällt oder nicht, es ist heutzutage kommerzielle Realität.
Ob man nun Künstler ist oder nicht, im Alter von vierzig Jahren würde wohl nur ein leichtsinniger Trottel nicht anfangen, für seinen Ruhestand zu sparen und zu investieren, gerade in dieser Ära der IRA- und SEP-IRA-Altersvorsorgepläne mit aufgeschobener Besteuerung bzw. großzügig angesetzten Obergrenzen bei den jährlichen Steuerfreibeträgen – und doppelt, wenn man sich unter Umständen die Rechtsform einer S-Corporation geben und das Unternehmen zusätzliche, über das IRA-Konto hinausgehende jährliche Altersvorsorgezahlungen in Form vertraglich zugesicherter »betrieblicher Sozialleistungen« leisten lassen kann, was zudem das steuerbare Einkommen um diese zusätzlichen Zahlungen vermindert. Gegenwärtig geht das Steuerrecht doch förmlich in die Knie und fleht besser verdienende Amerikaner an, sich diese Klausel zunutze zu machen. Voraussetzung ist natürlich, dass man genug verdient, um als besser verdienender Amerikaner durchzugehen – Deos fortioribus adesse.
(Trotz seines plötzlichen Ruhms und des Geldregens warte ich auch heute noch, nach fast vier Jahren, auf die Rückzahlung der Darlehenssumme dieses ungenannten Schriftstellers, womit ich weder quengeln noch als nachtragend dastehen, sondern nur die finanzielle Grundierung meiner Motivation um eine zusätzliche Facette anreichern möchte.)
(was in diesem Fall verwirrenderweise klassische Liberale meint)
(Einstellungen, die angesichts der Feindseligkeit dieser Öffentlichkeit gegenüber dem Service und der Angewohnheit vieler Politiker, auf den IRS einzuprügeln, um populistische Punkte zu machen, nicht ganz ungerechtfertigt sind)
Ich bin verhältnismäßig sicher, dass ich der einzige lebende Amerikaner bin, der sich wirklich und wahrhaftig quer durch diese Archive gelesen hat. Dabei kann ich nicht genau sagen, wie ich das geschafft habe. Chris Acquistipace, einer der GS-11-Truppführer in unserem Team von Standardprüfern und ein Mann von beträchtlichem Einfühlungsvermögen und hoher Sensibilität, verglich die öffentlichen Unterlagen zur Initiative mal mit den riesigen Buddhastatuen aus massivem Gold, die manche Tempel der antiken Khmer flankierten. Diese unschätzbar kostbaren Statuen wurden nicht bewacht oder beschützt, waren aber nicht wegen oder trotz ihres Werts diebstahlsicher – sie waren einfach nur zu groß und zu schwer für den Transport. Irgendwie gab mir dieser Vergleich Kraft.
(was schließlich ein Charakteristikum aller Autobiografien ist)
(ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht)
(noch einmal: bewusst oder unbewusst)
Psychodynamisch gesprochen, gelangte er als Subjekt zu der späten und daher traumatischen Auffassung, dass er selbst auch ein Objekt war, ein Körper unter anderen Körpern, der sehen, aber auch gesehen werden konnte. Es war das binäre Selbstkonzept, das viele Kinder schon mit fünf Jahren entwickeln, oft dank Zufallsbegegnungen mit Spiegeln, Pfützen, Fenstern oder genau richtig gesehenen Fotografien. Obwohl dem Jungen im Lauf seiner Kindheit die durchschnittliche Zahl an Reflektoren zur Verfügung gestanden hatte, verlief diese Entwicklungsphase bei ihm verzögert. Sich selbst auch als Objekt für andere zu sehen, gelang ihm erst an der Schwelle zum Erwachsenenalter – und als ihm die Wahrheit endlich aufging, war sie, wie das bei verdrängten Wahrheiten oft der Fall ist, überwältigend und schrecklich, ein Etwas mit Flügeln, das Feuer spie.
Psychologisch ausgedrückt, versuchte er mit aller Kraft, eine Wahrheit wieder zu verdrängen, die schon von vornherein zu lange verdrängt worden war, eine Beschränkung, aus der sie, als sie dann (gewissermaßen) aus dem Spiegel sprang, viel zu viel psychische Energie bezogen hatte, als dass sie per Willenskraft wieder aus dem Bewusstsein hätte verbannt werden können. So läuft das mit dem Bewusstsein einfach nicht.
Am wenigsten passierte es, wenn er allein oben vor dem Badezimmerspiegel stand und einen Anfall auslösen wollte, um selbst objektiv beurteilen zu können, wie schlimm und offenkundig der aus verschiedenen Blickwinkeln aussah und aus welcher Entfernung er noch zu sehen war. Er hoffte und glaubte auch auf irgendeiner Ebene, dass das Schwitzen vielleicht gar nicht so offenkundig oder grotesk war, wie er während eines Anfalls immer befürchtete, aber diese Annahme konnte er nie bestätigen, weil er nie willentlich einen Anfall herbeiführen konnte, sondern nur, wenn er ihn um jeden Preis vermeiden wollte.
Der Nachname des Jungen war Cusk, und damit saß er in Klassen mit zugewiesenen Sitzplätzen immer ziemlich weit vorn.
Für jede wissenschaftlich ernst zu nehmende Interpretation dient ein Spot oder Suchscheinwerfer als manifestes Traumsymbol menschlicher Aufmerksamkeit. Auf der Ebene des latenten Inhalts erlaubt der wiederkehrende Albtraum dagegen verschiedene Interpretationen und kann sowohl für den verdrängten narzisstischen Wunsch stehen, von anderen wahrgenommen zu werden, als auch für die unbewusste Einsicht, dass die fixe Idee des Jungen die unmittelbare Leidensursache ist. Im Mittelpunkt klinischer Forschung stünden an diesem Punkt Fragen nach der Quelle des geträumten Suchscheinwerfers, dem Status der Lehrerfigur als Imago oder aber Archetyp (vielleicht auch als Projektion eines Selbstbilds, da die Bedrängnis in dieser Figur affektiv externalisiert wird) sowie nach den Assoziationen des Probanden hinsichtlich Begriffen wie krass, Anfall und zerrüttend.
Aber es gibt eben Geheimnisse in Geheimnissen – immer.
Ich werde das nicht jedes Mal sagen, wenn ich, der lebende Autor, aktiv erzähle. Ich möchte es hier nur einfach als unverfängliches Stichwort anbringen, damit Sie die verschiedenen Abschnitte und Akteure des Buchs auseinanderhalten können, denn (wie schon im Vorwort des Autors erläutert) die rechtliche Situation bringt hier ein gewisses Ausmaß an Polyfonie und Unbestimmtheit mit sich.
Lake James war damals ein Mittelding zwischen einem Vorort und einer eigenständigen Gemeinde im Ballungsgebiet von Peoria. Das Gleiche gilt für andere kleine Randbezirke wie Peoria Heights, Bartonville, Sicklied Ore, Eunice usw., wobei die letzten beiden an Lake James angrenzten entlang gewisser nicht eingemeindeter Zonen im Osten und Westen. Die ganze Kiste von wegen »separate und doch dazugehörige Bezirke« hatte mit der unaufhaltsamen Expansion der Stadt und ihren Übergriffen auf das reiche landwirtschaftlich genutzte Umland zu tun, die im Lauf der Zeit kleine und ehemals isolierte Bauerndörfer in Peorias Umlaufbahn brachten. Ich weiß, dass diese Trabantenstädtchen ihre eigenen Grundsteuerstrukturen und Planfeststellungsbehörden hatten, aber in vielerlei anderer Hinsicht (wie beispielsweise dem Polizeischutz) fungierten sie als Außenbezirke des eigentlichen Peoria. Die ganze Sache konnte äußerst vertrackt und verwirrend werden. Die tatsächliche Adresse des Regionalprüfzentrums war beispielsweise 10047 Self-Storage Parkway, Lake James, Illinois, aber die offizielle Postadresse des RPZ war »Internal-Revenue-Service-Prüfzentrum, Peoria, Illinois, 67452«. Das lag vielleicht daran, dass Peorias USPS-Zentrale in der G Street in der City eine eigene Poststelle mit drei Rollkisten für das RPZ hatte, und darüber hinaus kamen dreimal täglich spezielle Lastwagen mit Tandemanhängern die eingeschränkt befahrbare Landstraße entlang zu den Ladedocks des RPZ hinter dem Anbau. Vielleicht lautete die Postadresse also einfach deshalb nur auf Peoria, weil die täglichen Postberge des RPZ dorthin angeliefert wurden. Soll heißen, vielleicht war das mehr eine Funktion der Beziehung zwischen dem US Postal Service und dem IRS als sonst etwas. Wie so viele andere Charakteristika beim RPZ und dem Service ist die Antwort auf den Aspekt der Unstimmigkeit von realweltlicher Situierung und Postanschrift garantiert unglaublich kompliziert und idiosynkratisch, und man bräuchte weit mehr Zeit und Energie, um sie auseinanderzuklamüsern und wirklich zu verstehen, als jeder zurechnungsfähige Mensch aufwenden würde. Ein anderes Beispiel: Das wirklich Relevante und Bezeichnende an Lake James als Ortschaft ist, dass es dort keinen See gibt. Es gibt zwar tatsächlich ein Gewässer namens Lake James, aber de facto ist das bloß ein großer, stinkender, mit Algen aus Landwirtschaftsabflüssen verstopfter Teich knapp zwanzig Kilometer nordwestlich vom eigentlichen Lake James, eher schon bei Anthony, Illinois, was dann wirklich eine von Peoria getrennte Stadt ist, die eine eigene Postleitzahl hat usw. usf. Mit anderen Worten, solche Unstimmigkeiten sind komplex und verwirrend, letztlich aber nicht so wichtig, sofern Sie sich nicht leidenschaftlich für die geografischen Details von Peoria interessieren (eine Möglichkeit, die nach meinem Dafürhalten so gut wie ausgeschlossen werden darf).
Notabene: Ich möchte nicht zu den Autobiografieschreibern gehören, die sich angeblich an alles und jeden bis ins letzte fotorealistische Detail erinnern können. So arbeitet das menschliche Gehirn nicht, und das ist auch jedem klar; die Behauptung ist ein beleidigender Kunstgriff in einem Genre, das vorgibt, zu 100 Prozent »realistisch« zu sein. Ehrlich gesagt haben Sie Besseres verdient, finde ich, und Sie sind intelligent genug, um es zu verstehen und vielleicht sogar Beifall zu spenden, wenn ein Autobiografieschreiber die Integrität hat, zuzugeben, dass er kein eidetischer Freak ist. Gleichzeitig werde ich auch keine Zeit damit vergeuden, jede Lücke und Ungenauigkeit in meinen Erinnerungen auseinanderzufieseln, wovon Sie als erstklassiges abschreckendes Beispiel ja gerade »Abschweifungskönig« Chris Fogles Berufungsmonolog (vgl. § 22 – übrigens massiv bearbeitet und gekürzt) gelesen haben, der zu der fehlgeschlagenen Pseudodokumentation von Motivation und Rekrutierung der Personalabteilung von 1984 gehörte, die teilweise gerade so ein Fiasko war, weil Fogle und ein paar andere effekthascherische Plapperschlangen so viel Zeit und Filmmaterial in Anspruch nahmen und Mr Tate es versäumt hatte, seinen Stellvertreter Mr Stecyk zu instruieren, vor Ort jemanden vernunftorientierte Obergrenzen für die Antworten auf die »Dokumentationsfrage« festlegen zu lassen, was dann zur Folge hatte, dass der angebliche »Dokumentarist« und sein Team durchaus motiviert waren, Fogle u. a. vor sich hin labern zu lassen, während sie ins Leere starrten und die gestaffelten Überstundenbezüge berechneten, die sich dabei gerade ansammelten. Die ganze Angelegenheit hatte natürlich archivarischen Wert, entpuppte sich aber als ein heilloses Durcheinander, wie Tate sie so oft hervorbrachte, wenn er sich seinem administrativen Brainstorming hingab, statt im Personalbüro einfach wie gewöhnlich Stecyk freie Hand zu lassen.
Das Original des zweiseitigen 141-PO-Formulars habe ich nicht mehr, weil es im Zuge der Veitstänze und der Verwechslungskomödie, die sich um meine anfängliche Fehlzuordnung zum Block Immersivprüfungen rankten, im Schlund des Ablagesystems für Problemlösungen in der Abteilung Personal- und Innere Kontrollsysteme des RPZ verschwand. Die ganze Geschichte enthält im Folgenden all ihre jämmerlichen und erzbürokratischen Einzelheiten.
Notabene: Mit der Ausnahme allenfalls von East St. Louis sind Peoria und Joliet bekanntlich die beiden abstoßendsten, desolatesten und notleidendsten alten Fabrikstädte in ganz Illinois*, was keineswegs Zufall ist, denn das erlaubt dem Service statistisch nachweisbare Einsparungen in Bezug auf Einrichtungen und Personal. Die Ansiedlung der meisten regionalen Hauptquartiere, RPZs und Kundenzentren in desolaten und/oder verödeten Städten, die sich bis zur großen Umgestaltung und Dezentralisierung des IRS im Anschluss an den Bericht des King-Ausschusses vor dem Kongress 1952 zurückführen lassen, ist nur ein weiterer Beleg der massiv wirtschaftsfreundlichen und profitorientierten Philosophien, die im Service schon unter Nixon an Macht gewannen.
* Im Rahmen des übergreifend relevanten Kontexts sei hier angeführt, dass die nach Bevölkerungszahlen fünf größten Städte und Ballungsräume von Illinois (mit Ausnahme von Chicago, das irgendwie ja eine eigene Galaxie darstellt) um 1985 in absteigender Folge Rockford, Peoria, Springfield, Joliet und Decatur waren.
Dieser Brief findet sich übrigens noch in meinem Besitz, mir wurde aber gesagt, aus rechtlichen Gründen könne ich »zur atmosphärischen Ausgestaltung« nur einen einzigen vom Zitatrecht gedeckten Satz zitieren, und dieser aus dem zweiten, in mustergültiger und gestochen scharfer Handschrift abgefassten Abschnitt ausgewählte Satz lautet folgendermaßen: »Er sollte zunächst nur eine unbedeutende Tätigkeit ausüben, und es sollte seine Aufgabe sein, sich durch Gewissenhaftigkeit und Achtsamkeit hochzuarbeiten«, und hier hatte der ungenannte Empfänger an den Rand geistesabwesend ein »HA!« gekritzelt, vielleicht auch »HAH!«, je nachdem wie man die dornige und nahezu unentzifferbare Handschrift eines Menschen analysiert, der unter einem »Cocktail vor dem Essen« einen Halbliterhumpen ohne Eis verstand.
Dies war, nicht zu vergessen, noch das Ende der Ära von Großrechnern, band- und kartengestützten Datenspeicherungen usw., die heute so weit weg ist wie die Zeit der Familie Feuerstein.
Heute mag es kindisch wirken, aber ich weiß, dass ich mir manchmal irrationale Sorgen wegen der Möglichkeit machte, die jüngsten Unannehmlichkeiten an der Uni könnten ihren Weg in ein obskures, aber umfassendes Datenabfragesystem gefunden haben, auf das der IRS irgendwie Zugriff hätte, und wenn ich am Schalter meinen Dienstausweis beantragte, könnte plötzlich eine Glocke oder Sirene losgehen usw. ... eine irrationale Angst, um deren Irrationalität ich wusste und die ich gar nicht ganz in mein Bewusstsein vordringen ließ, obwohl ich weiß, dass ich gleichzeitig zumindest einen Teil der endlos sich hinziehenden Zeit im Bus nach Peoria darauf verwendete, mir unnütze Notfallpläne und -szenarien für den Fall zurechtzulegen, dass die Glocke oder Sirene ertönte, damit ich nicht an demselben Tag nach Philo zurückkehren musste, an dem ich dort aufgebrochen war, und demjenigen, der mir auf mein Klopfen hin aufmachte, ins Gesicht sehen musste, wenn ich mit meinen Koffern und der Attaché-Tasche auf der dreckigen Veranda stand – in manchen Augenblicken wusste ich, dass die unbewusste Furcht sich darauf beschränkte, mir die Miene des nahen Verwandten vorzustellen, der mir aufmachte, mich ansah und etwas sagen wollte, und an diesem Punkt machte ich mir im Bus klar, dass ich mich Angstfantasien hingab, verscheuchte sie und konzentrierte mich wieder auf das unglaublich geistlose Buch, das meine Familie mir als »Geschenk« mitgegeben hatte, ihre Vorstellung von nützlicher Weisheit und Unterstützung, und erhalten hatte ich es beim letzten Abendessen vor meinem Aufbruch (übrigens ein wirklich spezielles Abschiedsessen, denn [a] bestand es aus Resten und [b] aus gedünsteten Maiskolben, die ich mit meiner frisch fester gestellten Zahnspange unter keinen Umständen hätte essen können) mit der Auflage, es sehr sorgfältig auszupacken, damit das Geschenkpapier wiederverwendet werden könne.
(sowie, wie ich zugebe, auch entspannt erleichtert, weil ich es mit dem Gegenteil von Glocken, Sirenen, der potenziellen Ausmusterung wegen ethischer Untauglichkeit oder sonst was zu tun bekam, das mein Unbewusstes heraufbeschworen haben mochte; ich glaube, ich hatte mehr Angst gehabt, als ich mir selber eingestanden hatte)
Nachdem ich zugestiegen war und mich eingerichtet hatte, hatte dieser Junge mehrere Minuten lang mit weit aufgerissenen Augen den Zustand meiner ihm zugewandten Gesichtshälfte angestarrt und keinerlei Anstalten gemacht, das klinische Interesse zu kaschieren oder zu verstecken, mit dem kleine Kinder starren, was ich aus dem Augenwinkel natürlich alles mitbekam (und in gewisser Weise fast begrüßte).
D. h. all diese Hutträger, deren Hüte, wie ich schnell mutmaßte und später bestätigt fand, ein Markenzeichen der Steuerprüfabteilung waren (genau wie flache, viereckige Schulterholster für den Taschenrechner das charakteristische Accessoire der Revisionsabteilung darstellten, Ohrstöpsel und stilisierte Krawattennadeln zu Systems gehörten usw.), weswegen alle Gruppenräume im RPZ, ob nun für Standardprüfer oder Immersionisten, an mindestens einer Wand eine Hartfaserplatte mit Haken für die Hüte der Prüfer aufwiesen, denn individuelle Hutablagen oder seitlich an die Tingle-Tische geschraubte Haken hätten die Karren der Karrenjungen behindert ...
(wo z. B. eine Figur eine andere über Dinge informiert, die beiden längst bekannt sind, bloß um auch den Leser darüber in Kenntnis zu setzen – ein Verfahren, das ich schon immer äußerst lästig fand, ganz zu schweigen davon, dass es in einem autobiografischen »Sachbuch« sehr verdächtig wäre; wahr [wenn auch rätselhaft] ist allerdings, dass Bestsellerleser anscheinend nichts dagegen haben, so herumgeschubst zu werden)
Notabene: Einige dieser Informationen stammen mehr oder weniger verbatim aus den IRS-Orientierungsmaterialien, die neu eingestellte oder frisch versetzte Mitarbeiter bei der Aufnahme und Registrierung erhielten; daher der irgendwie tote und bürokratische Beigeschmack, den ich bewusst nicht aufgepeppt oder aufgehübscht habe.
Ich habe allerdings relevante Einzelheiten eingearbeitet, die aus augenfälligen Gründen nicht in den offiziellen Materialien standen. Der Service hatte natürlich keinerlei Interesse daran, das Fiasko von Rome auch nur intern publik zu machen; auf höchster Ebene stand es aber an prominenter Stelle im Kampf um die »Initiative« und deren Umsetzung. Es dürfte wohl klar sein, dass ich von all dem an jenem ersten Tag keine Ahnung hatte und mich auch nicht dafür interessiert hätte.
Einer der Texte, die ich freiberuflich verfasst hatte, bevor der Verbindungsaktenschwachsinn allen Beteiligten um die Ohren flog, hatte in den ersten beiden Kapiteln der Abschlussarbeit eines eigentlich ganz sympathischen, aber desorganisierten Soziologiestudenten zu Einkaufszentren als modernen funktionalen Analoga zu mittelalterlichen Kathedralen bestanden (mit teilweise übrigens wirklich verblüffenden Parallelen), und Einkaufszentren gingen mir einfach gegen den Strich, auch wenn das inzwischen oft die einzigen Orte sind, wo es noch Kinos gibt, denn die großen alten Lichtspielhäuser in der City sind entweder geschlossen oder wurden in Pornokinos umgewandelt.
Gut, es hatte in Hülle und Fülle schweigende Fahrten mit meiner Familie gegeben, aber da hatte der MW-Radiosender immer in voller Lautstärke Plätscherpop gespielt, was die fehlende Konversation erklärte Schrägstrich kaschierte.
GS-9 Chris Fogle sollte später erklären (wobei ich wahrscheinlich ebenso wie alle anderen Umstehenden diese spezifische Komm-mal-auf-den-Punkt-Geste mit rotierenden Händen machte, die unweigerlich alle machten, wenn »Abschweifungskönig« Chris auf Touren kam), dass die Verbreiterung des Self-Storage Parkway ein Jahr lang ins Stocken geraten war, erstens, weil eine zusätzliche Anleiheemission von einer konservativen Liga kritischer Steuerzahler von Illinois vor einem Bezirksgericht angefochten worden war, und zweitens, weil nach den grimmig kalten Wintern der Region und dem oft abrupt einsetzenden Tauwetter im Frühling, auf das dann aber schon am nächsten Tag gern wieder Frost folgte (was alles stimmt), Teile der neuen, frisch gebauten dritten SSP-Spur, die nicht mit einer speziellen Industrieversiegelung imprägniert worden waren, Blasen und Risse bekamen, und das Gericht hatte die Bauarbeiten des Vorjahrs genau an dem Punkt gestoppt, an dem die Dichtungsmasse unter Einsatz von seltenen und sündhaft teuren Schwermaschinen, die lange im Voraus von einem einzigen Spezialvertrieb in Wisconsin oder Minnesota gemietet werden mussten, hätte aufgebracht werden müssen (ich habe heute noch eine richtige taktile Erinnerung daran, wie meine Hand fast unwillkürlich in der Luft zu rotieren begann, wenn sich Fogle in ephemersten Einzelheiten verlor – er war wahnsinnig unbeliebt, obwohl er ein grundanständiger und geradezu übertrieben wohlmeinender Mensch war; er gehörte zu den untergeordneten »wahren Gläubigen«, ohne die der Service verloren gewesen wäre, da sie die unrühmliche Kärrnerarbeit und die Plackerei im Alltagsbetrieb leisteten, und was ihm schlussendlich widerfuhr, war eine große Ungerechtigkeit, fand ich von jeher, denn er brauchte die Drogen einfach und nahm sie ausschließlich aus beruflichen Gründen; für ihn war das alles andere als ein Vergnügen), und prompt führten die einstweilige Verfügung und das Versäumnis, die Versiegelung aufzutragen, im anschließenden Winter und Frühling zu massiven Schäden und verdoppelten Pi mal Daumen die Kosten der Straßenbauarbeiten im Vergleich zur Ausgangsofferte des Tiefbauunternehmens. Das Ganze war also ein fürchterliches Chaos aus Prozessen und Straßenbaupannen, die, wie das in solchen Fällen immer ist, den ganz normalen Pendlern der City eine chronische, nervende und öde Last auferlegten. Nur am Rande: Wie sich herausstellte, lag die chronische Verstopfung des Umgehungs-SSP auch schon vor dem Straßenbaualbtraum u. a. daran, dass Peoria, wenn man es nicht als Ballungsraum menschlicher Wesen betrachtete, sondern in ökonomischen Dimensionen dachte, in den 1980ern dieselbe Doughnut-Form angenommen hatte wie so viele ehemalige Industriestädte: Das ehemalige Stadtzentrum war leer und verödet, so gut wie tot, während eine florierende Ansammlung von Shopping-Malls, Einkaufszentren, Filialen von Einzelhandelsketten, Unternehmen und Gewerbegebieten, vorstädtischen Wohnanlagen und Apartmentkomplexen fast alles Leben aus der City in die Vorstädte hinausgezogen hatte. Mitte der 1990er kam es zu einer partiellen Renaissance und Gentrifizierung der Ufergegend in der City – Fabriken und Lagerhallen wurden teilweise in Eigentumswohnungen und Konzeptrestaurants umgewandelt; andere wurden von Künstlern und jungen Akademikern in Lofts aufgeteilt usw. –, ein Gutteil dieser optimistischen Entwicklung wurde allerdings von Riverboat-Casinos in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Industrieladedocks angekurbelt – Casinos, die nicht von Einheimischen geführt wurden und von deren Bruttoumsatz Peoria deswegen nie einen Cent Gewerbesteuer zu sehen bekam; die ganze Verjüngung der City wurde von den Kleckerbeträgen vereinzelter Touristen angekurbelt ... d. h. von den Menschen, die wegen der Casinos kamen, und da das Geschäft von Casinos darin besteht, den Menschen das Geld abzuknöpfen, das diese sonst beim Shoppen und Essengehen ausgeben würden, bedeutete das, dass das Verhältnis zwischen den Casinoumsätzen und den Touristenausgaben umgekehrt proportional war, denn da Casinos den wohlverdienten Ruf extremer Profitabilität genießen, hätte jeder vernünftige Zeitgenosse prognostizieren können, dass eine steil einbrechende Umsatzkurve den größten Teil der Renaissance der »New City« binnen weniger Jahre abwürgen würde, zumal die Casinos (nachdem sie umsichtigerweise eine Weile abgewartet hatten) ihre eigenen Restaurants und Geschäfte eröffneten. Usw. ... letztlich war es in allen Städten im Mittleren Westen dasselbe Szenario.
(noch in der Erinnerung als solche zu identifizieren, weil sie keine Gremlins, Mercury Montegos oder Ford Econolines waren. Wie sich herausstellte, stammte der Löwenanteil der Regierungsfahrzeuge im RPZ-Fuhrpark der Support Services aus einem Autohandel in Effingham unten im Bundesstaat, der wegen drohenden Vermögensverlusts gepfändet worden war – die Gründe dafür zu erläutern, würde hier zu weit führen und Ihre Geduld unnötig strapazieren.)
Kurze, unvermeidliche Nebenbemerkung: In den ersten sechs Quartalen einer vertraglich definierten Anstellung konnten Prüfer ohne Familienangehörige das spezielle Wohnungsangebot des Service in einer Reihe von Wohnkomplexen und umgebauten Motels am Ostrand des SSP-Umgehungsstraßenrings in Anspruch nehmen, die während der Rezession in den frühen 1980ern infolge von Beschlagnahmungen oder Zwangsversteigerungen in Regierungsbesitz übergegangen waren. Auch hier schließt sich natürlich eine ganz andere lange, öde und weitschweifige Geschichte an, die auch die Tatsache umfasst, dass die Wohnraumsituation von der hohen Zahl an Versetzungen und Personalumbildungen massiv verkompliziert worden war, zu denen es in allen RPZs (a) nach dem Kollaps und der Auflösung des RPZ in Atlanta 1981 sowie (b) in der Frühphase der sogenannten »Initiative« gekommen war, die, wie sich herausstellte, unmittelbare Konsequenzen für das RPZ Mittlerer Westen hatte. Entscheidend ist aber, dass diese Wohnungen angeboten wurden, um Versetzungen zu erleichtern und finanzielle Anreize zu bieten, denn die Monatsmiete beispielsweise im Komplex Angler’s Cove lag jeden Monat mindestens hundertfünfzig Dollar unter den ortsüblichen Mieten vergleichbarer Wohnungen auf dem privaten Wohnungsmarkt. Meine eigenen Motive, dieses Wohnungsangebot anzunehmen, dürften also auf der Hand liegen ... Wahr ist allerdings auch, dass der IRS 1986 damit begann, die Differenz zwischen den subventionierten Mieten und denen auf dem freien Wohnungsmarkt als »implizites Einkommen« anzusehen und zu besteuern, was bei den Service-Mitarbeitern, wie man sich unschwer denken kann, für böses Blut ohne Ende sorgte, denn auch sie sind US-amerikanische Bürger und Steuerzahler, deren jährliche Einkommenssteuererklärungen wegen der unverwechselbaren »9« am Anfang der Sozialversicherungsnummern usw. usf. jedes Jahr besonders sorgfältig geprüft werden. Im Rückblick lohnte sich das Wohnungsangebot des Service wahrscheinlich gar nicht, wenn man die ganzen bürokratischen Scherereien und Idiotien bedenkt (vgl. auch das Folgende), aber die monatlichen Minderausgaben für die Miete waren eben beträchtlich.