Traumsammlerin, Originalmanuskript, 1991. Patti Smith Archives
Für meinen Vater
1991 lebte ich mit meinem Mann und zwei Kindern am Stadtrand von Detroit in einem alten Steinhaus, gelegen an einem Kanal, der in den Lake Saint Clair mündete. Efeu und Purpurwinde kletterten an den bröckelnden Mauern empor. Den Balkon umrankte eine Fülle von Weinreben und Wildrosen, in deren Geschlinge Tauben nisteten. Der Garten war leicht verwildert, sehr zum Entsetzen unserer Nachbarn, und sie versuchten oft, ihn zu zähmen, während wir weg waren. Auf unserem überwucherten Gelände wuchsen jede Menge Wildblumen, Fliederbüsche, zwei alte Trauerweiden und ein Birnbaum. Ich liebte meine Familie und unser Zuhause aufrichtig, doch in diesem Sommer litt ich an einer schlimmen und unbeschreiblichen Schwermut. Ich saß stundenlang da, wenn ich die Hausarbeit erledigt hatte und die Kinder in der Schule waren, unter den Trauerweiden, tief in Gedanken versunken. Dies war meine Gemütsverfassung, als ich mit dem Schreiben von Traumsammlerin begann.
Ich hatte einen Brief von Raymond Foye erhalten, der zusammen mit Francesco Clemente Hanuman Books gegründet hatte. Er wollte ein Manuskript von mir. Ein Hanuman-Buch war nur 7,5 × 10,0 Zentimeter groß, wie ein winziges indisches Gebetbuch, das man in seine Tasche stecken kann. Fasziniert von der Aussicht, machte ich mich im frühen Herbst an die Arbeit, als gerade die Birnen reiften. Zuerst schrieb ich langsam, und Raymond rief immer wieder an, um mich zu ermuntern. Eines Nachmittags meldete er sich und übermittelte mir eine Bitte von William Burroughs. Alle Hanuman-Bücher waren auf dem Rücken nummeriert, und meines sollte die 46 sein, mein Geburtsjahr. Doch die wollte William gerne, da seine Lieblingszahl die 23 war, die sich zu meiner Zahl verdoppelte. Und William zuliebe tauschte ich mit ihm.
Ich schrieb mit der Hand auf kariertes Papier, und am 30. Dezember 1991, meinem fünfundvierzigsten Geburtstag, war ich fertig mit dem Manuskript. Ich schickte es an Raymond, der es für mich abtippen ließ und zur Veröffentlichung nach Madras schickte. Wie sich herausstellte, war 45 die perfekte Zahl für mich.
Grant Smith als Neunzehnjähriger, New Haven, Conneticut, 1935. Patti Smith Archives
Ich schenkte meinem Vater das erste Exemplar von Traumsammlerin, doch er sagte lange Zeit nichts dazu. Mein Vater war ein wunderbarer Mann, schwer zu beeindrucken, und ich hoffte nur halbherzig, er würde es lesen. Und dann ein paar Jahre später, kurz vor seinem Tod, sagte er zu mir: »Patricia, ich habe dein Buch gelesen.« Ich machte mich auf einige Kritik gefasst, obwohl ich überrascht war, dass er eine so kleine Gabe überhaupt als Buch bezeichnete. »Du bist eine gute Schriftstellerin«, sagte er und machte mir eine Tasse Kaffee. Es war das einzige Kompliment dieser Art, das ich je von ihm hörte.
Jemand hat mich gefragt, ob ich Traumsammlerin als Märchen sehe. Ich mochte solche Geschichten immer sehr, aber ich fürchte, es fällt nicht darunter. Alles in diesem kleinen Buch ist wahr und so erzählt, wie es war. Es zu schreiben, löste mich aus meiner seltsamen Erstarrung, und ich hoffe, dass es den Leser bis zu einem gewissen Grad mit einer unbeschwerten, eigentümlichen Freude erfüllt.
PALMSONNTAG 2011, BARCELONA
Patti Smith als Viertklässlerin, New Jersey. Patti Smith Archives
Ich wusste schon immer, ich würde ein Buch schreiben, wenn auch nur ein kleines, das einen fortträgt in eine Welt, die weder zu vermessen ist noch in Gedanken zu fassen.
Ich stellte mir vieles vor. Dass ich leuchten würde. Dass ich gut wäre. Dass ich barhäuptig auf einem Gipfel sitzen und ein Rad drehen würde, das wiederum die Welt drehte, und ich unentdeckt zwischen den Wolken einigen Einfluss hätte, von Nutzen wäre.
Seltsame Wünsche hingen in der Luft und beflügelten das melancholische, staksige Kind, dem es nie gelang, seine Söckchen daran zu hindern, in den schweren Schuhen zu verschwinden.
Alle meine Socken waren ausgeleiert. Vermutlich weil ich sie oft mit Murmeln füllte. Ich belud sie mit Marmorkugeln und Schussern und zog los. Es war das Einzige, worin ich gut war und alle anderen schlagen konnte.
Abends kippte ich meine Beute aufs Bett und polierte sie mit einem Tuch. Ich ordnete sie nach Farben, nach meiner Wertschätzung, und sie ordneten sich dann wieder neu – kleine leuchtende Planeten, jeder mit einer eigenen Geschichte, einem eigenen goldenen Willen.
Ich hatte nie das Gefühl, dass die Kraft zu gewinnen aus mir kam, sondern dem Gegenstand selbst innewohnte. Eine gewisse Magie, die durch meine Berührung geweckt wurde. Auf diese Weise fand ich in allem Magie, als trüge alles, die ganze Natur, das Zeichen eines Dschinn.
Man musste vorsichtig sein, man musste klug sein. Denn der scharfsichtige Betrachter könnte weit entfernt etwas einfangen und es zu sich heranziehen.
Und der Wind fing sich in den Rändern des Vorhangs an meinem Fenster. Dort hielt ich Wache, aufmerksam für das Kleine, das bei wachem Auge monströs und schön werden konnte.
Ich sah hin, wog ab und war mit einem Mal weg – ein fliegendes Objekt, das von Erdball zu Erdball huschte, ohne Bewusstsein für meine ungeschickten Arme und launischen Socken.
Ich war fort und niemand bemerkte es. Denn allen kam es so vor, als wäre ich noch bei ihnen, auf meinem kleinen Bett, versunken in ein Kinderspiel.
Hoedown Hall, Linda Smith Bianucci, 2002. Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin
Da war eine Wiese. Und eine Hecke, die aus großen Büschen bestand und mein Blickfeld einrahmte. Die Hecke war mir heilig – eine Festung des Geistes. Auch die Wiese verehrte ich, mit ihrem hohen, wogenden Gras und der starken Biegung.
Dahinter, zur Rechten, war ein Obstgarten und zur Linken eine weiß gestrichene Scheune mit der Aufschrift HOEDOWN HALL über dem Tor. Hier trafen wir uns alle am Sonntagabend und tanzten zur Musik des Geigers und nach seinen Vorgaben.
Später, nach dem Baden, kämmte mir meine Mutter das Haar, und ich sprach mein Gebet, bevor sie mich ins Bett brachte. Ich wartete, bis alles still war. Dann stand ich auf, stieg auf einen Stuhl, schob den Vorhang am Fenster beiseite und betete weiter, wanderte in Gedanken, um meinen Gott zu grüßen.