Sehnsucht bleibt
Purple Schulz
Sehnsucht bleibt
editionfredebold
schaafenstraße 25, 50676 köln
Copyright © 2015, editionfredebold
Deutsche Originalausgabe
Covergestaltung: Roland Pecher, Köln
Autorenfoto: © Bettina Koch, Atelier Herff, Bonn
Programmleitung: Werner Fredebold, Köln
Programm, Korrektorat: Maike Wintzen, Köln
Lektorat: Petra Steuber, Köln
eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net
eBook-ISBN: 978-3-944607-16-0
www.editionfredebold.de
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Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
Leben wie ein Baum,
einzeln und frei
Doch brüderlich wie ein Wald
Das ist unsere Sehnsucht
(Nazim Hikmet, Aus dem Gedicht „Davet“)
Widmung
Für alle,
die nicht dabei waren
Prolog
„Hast du Sehnsucht?“
Neben den „super-investigativen“ Fragen: „Woher kommt denn der Name Purple Schulz?“ und „Bist du verliebt?“, war 1985 die Frage nach der Sehnsucht diejenige, die mir am häufigsten gestellt wurde. Und es war gleichzeitig diejenige, die mich ein wenig ratlos machte. Was mich damals aber nicht zu weiterem Nachdenken veranlasste, denn im Herbst 1985 hielt ich für den Ausdruck meiner Ratlosigkeit die ‚Goldene Europa‘ des saarländischen Rundfunks in den Händen. Und die war mit ihren 2300 Gramm wesentlich greifbarer als der diffuse Nebel in meinem Kopf. Dieser Preis war der Vorgänger des heutigen Echos und zeichnete die meistgespielte deutschsprachige Single des Jahres 1985 aus. Dem Jahr, in dem man offensichtlich mit der gebrüllten Totalverweigerung „Ich will raus!“ noch Quote machen konnte.
Ich hatte meine Kindheit in der piefigen Enge der 60er verbracht, meine Jugend in den wilden 70ern nicht enden lassen wollen und musste in den 80ern damit klarkommen, so langsam aber sicher, mal erwachsen zu werden.
Das Problem war: Ich wollte nicht.
Ich war einfach noch nicht angekommen.
Denn ich hatte diese Sehnsucht.
Und ich habe sie immer noch. Sie ist allgegenwärtig. Ich wache mit ihr auf, ich geh mit ihr zu Bett. Ich werde sie nicht los. Neunundfünfzig Jahre lang geht das nun schon so. Mittlerweile verstehe ich zwar, was die Sehnsucht von mir will, und ich kann erkennen, wohin sie mich zieht, aber gestillt, nein, das ist sie nicht. Immer diese Sehnsucht, die mich vor über 30 Jahren dazu antrieb, ein Lied über sie zu schreiben. Das Lied schrieb Geschichte.
Als ich es schrieb, hatte ich keine konkrete Vorstellung von Sehnsucht im Kopf, ich bin intuitiv herangegangen, habe die Worte und Sätze assoziativ gebildet, was sich im Nachhinein als Volltreffer herausstellte. Das Lied gibt keine konkrete Bedeutung von Sehnsucht vor, es sagt nicht: So Leute, das ist Sehnsucht! Sondern es lässt Platz für die Gedanken und Gefühle desjenigen, der es hört. Vermutlich war es deswegen so erfolgreich. Der Teenager der 80er fand seinen Schmerz wieder, den die kalte Kindheit hinterlassen hatte. In der es zwar an nichts Materiellem mangelte, die aber überschattet war von den unbearbeiteten Traumata ihrer Eltern, den Kriegskindern, geboren in den Wirren des zweiten Weltkriegs, die ihren Schrecken niemals auszudrücken gelernt hatten. Für die Menschen in der DDR drückte das Lied ihre unbändige Sehnsucht nach Freiheit aus, sie waren es gewohnt metaphorische Texte zu entziffern, zu deuten. Und würde ich jetzt in diesem Moment rausgehen und irgendjemand auf der Straße fragen, was das Lied bedeutet, bekäme ich sicher eine dritte Antwort.
Mit ziemlicher Sicherheit werde ich es bis zu meinem letzten Konzert auf der Bühne singen. Und das Schönste daran ist, dass es mir dabei nicht wie die Altlast eines Riesenhits auf den Schultern liegt, sondern mich jeden Abend mit der gleichen Intensität diesem Gefühl nahebringt, das mich damals, als ich „Sehnsucht“ im Studio sang, wie ein Tsunami überrollte, lang vergessene Bilder in mir hochspülte und mich zum Weinen brachte.
„Ich hab Heimweh, Fernweh, Sehnsucht…Ich weiß, nicht was es ist.“ Um ehrlich zu sein, habe ich in all den Jahren nur wenig über den Begriff Sehnsucht nachgedacht. Und um noch ehrlicher zu sein, wusste ich damals im Studio auch noch gar nicht, was genau ich mit Sehnsucht meine, warum mir gerade dieses Wort in den Sinn kam. Dieses Wort war für mich damals eigentlich ein Unding, abgenutzt bis zur Unkenntlichkeit in zahlreichen Texten des deutschen Nachkriegsschlagers. Dort gab es Sehnsucht immer nur im Doppelpack mit fernen Häfen, dem Meer oder der Taiga, als wäre es eine Erfindung der Touristikbranche.
Eigentlich mochte ich das Wort nicht.
Aber es gab kein anderes.
Auch, dass ich so viele Jahre später dieses Buch über die Sehnsucht schreibe, verdankt sich eher dem Zufall. Als ich im Sommer 2014 wieder einmal gefragt wurde, das Lied neu aufzunehmen, wollte ich wie üblich abwinken. Doch als ich erfuhr, dass es im Rahmen einer Romanveröffentlichung1 geschehen sollte, der über das Leben im Sperrgebiet der DDR, einem nur ein paar Kilometer breiten Niemandsland an der deutsch-deutschen Grenze ging, kam in mir der Wunsch auf, mich eingehender mit der Sehnsucht zu beschäftigen.
Da ich kein Wissenschaftler und kein Philosoph bin, kann ich nicht – oder wenn, dann nur sehr hemdsärmelig – über die Sehnsucht an sich und allgemein sprechen, sondern ganz schlicht über meine. Über meine ganz persönliche Sehnsucht nach etwas, was mein Leben bestimmt, was mich ständig suchen und hoffen lässt, was mich dazu treibt, Lieder zu schreiben, zu komponieren, auf der Bühne mein Bestes zu geben und mich ab und an in Ruhe auf mein Lieblingssofa zurückzuziehen. Was mich aber auch dazu gezwungen hat, schmerzvoll zu erkennen, was fehlt. Sehnsucht ist nämlich das eine Gefühl, was „zieht“ im Bauch, Herz und Kopf. Es zieht einen aus der Gegenwart in die Zukunft. Selbst wenn man sich nach Dingen, Menschen oder Zuständen aus der Vergangenheit sehnt, soll die Einlösung der Sehnsucht, das Erfüllen dieses brennenden Wunsches doch immer in der Zukunft stattfinden. Solange wir nicht durch die Zeit reisen können, bleibt uns auch nichts anderes übrig.
Noch ist es nicht so weit, noch steckt man in einer Situation, die unbemerkt schon einige Zeit andauert, bis einem dämmert, dass man nicht in dieser Situation sein will. So geht es nicht weiter, sagen wir. So kann ich nicht weiter leben, vielleicht sagen wir sogar das. Der Sehnsucht voraus geht immer die Erkenntnis, dass die gegenwärtige Situation einen unglücklich macht, dass etwas fehlt, etwas zu viel ist oder sich das Leben leer und langweilig anfühlt. Die Sehnsucht ist also vor allem der Ausdruck eines Mangels und damit verbundenen Unbehagens in der Gegenwart.
Mein Unbehagen mündete 1983 in dem Schrei: „Ich will raus!“
Und damit stand ich offenbar nicht allein. Das Lied eroberte in den 1980ern in kürzester Zeit die West-Hitparaden und dann, kurz vor dem Mauerfall, avancierte es zu einer Hymne der Ausreisewilligen in der DDR. Sicherlich traf das Lied „den Nerv der Zeit“, aber ich hatte keine Ahnung, worin der bestand. Und auch heute will mir „der Nerv der Zeit“ als Erklärung für den großen Erfolg nicht ausreichen.
Ich wohnte 1983 auf eine paar Quadratmetern in Köln-Ehrenfeld, hatte eine Toilette und ein Waschbecken zehn Stufen weiter unten im Treppenhaus, trank Fernet Branca aus Limogläsern und verbrachte einen Großteil meiner Zeit mit einem Haufen von Verrückten im „Connection“, unserer Stammkneipe. Und ich wusste, dass das nicht ewig so weitergehen konnte. Aber ich brauchte diesen Haufen, sie waren meine Familie und wir teilten die gleiche Sehnsucht. Alle hatten den Wunsch, es mit der eigenen Kreativität irgendwohin zu schaffen, seinen Traum wahr werden zu lassen, in einer anderen Liga mitzuspielen. Es gehört sicherlich auch immer ein Quäntchen Glück dazu, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein, aber ohne Sehnsucht, das bitter-süße Gefühl, das es möglich erscheinen lässt, das Unerreichte zu erreichen, kommt man nirgendwo hin.
Über die Sehnsucht zu schreiben heißt, sie überhaupt erst einmal zu entdecken. Denn die Sehnsucht zeigt sich oft nicht klar und eindeutig, sondern sie verbirgt sich hinter anderen Gefühlen, die klarer sind und die wir daher zunächst deutlicher wahrnehmen. Das können angenehme Gefühle sein wie Liebe, Verlangen oder Freude. Dann wissen wir meist recht fix, was wir da eigentlich ersehnen, verlangen oder auf was wir uns freuen. Anders sieht es bei den Gefühlen aus, die uns unangenehm oder peinlich sind, die wir vielleicht sogar an uns gar nicht haben wollen, die uns Angst manchen: Wut, Zorn, Eifersucht, Enttäuschung, Frustration, Neid und Gier. Ich bin ein friedliebender Mensch, der stets versucht, mit allen gut auszukommen und die verschiedenen Standpunkte zu verstehen, es war und ist mir wichtig, Ruhe zu bewahren, auch wenn Streit droht. Ich lebe gern nach meinem Rhythmus und gestehe auch anderen zu nach ihrer Fasson glücklich zu werden. Trotzdem überfallen mich diese ungeliebten Gefühle von Zeit zu Zeit und verlangen, dass ich hinter ihre Maske schaue, um zu erkennen, welche Sehnsucht ihnen zugrunde liegt.
Als ich ein Kindergartenkind war, vergaß meine Mutter mich von dort abzuholen, ich erlebte meine erste schmerzhafte Enttäuschung. 1992 erfuhr ich von den verbrecherischen und fremdenfeindlichen Ereignissen in Rostock, es kochte ein unglaublicher Zorn in mir hoch. Während eines unserer Konzerte ließ mich mein Freund und Weggefährte Josef plötzlich auflaufen, er reagierte nicht auf meine musikalischen Bälle, die ich ihm zuspielte und die das Spontane eines Konzerts erst ausmachen, ich fühlte mich, als wäre ich aus Watte, ohnmächtig und traurig.
So unangenehm, diese Gefühle auch waren, ich verstehe sie als eine Art Anzeiger, der mir einen Hinweis auf die tiefer darunter liegende Sehnsucht gibt. Was steckt dahinter? Um was geht es eigentlich?
Verdrängt man das Gefühl oder bleibt in dem Gefühl der Ohnmacht, der Enttäuschung oder des Zorns stecken, dann ist einem der Zugang zur Sehnsucht verbaut und man wird nie herausbekommen, welche Kraft darin verborgen liegt.
Mit vier Jahren wusste ich das noch nicht, da hab ich mich weinend auf mein Zimmer zurückgezogen, und auch heute brauche ich Zeit und oft auch die Hilfe lieber Freunde, um zu verstehen, dass hinter meiner Wut auf Unmenschlichkeiten und Ungerechtigkeiten in der Welt die Sehnsucht nach Frieden und einem wertschätzenden, harmonischen Miteinander steckt.
Nicht nur Gefühle bringen Sehnsüchte hervor, auch Situationen, Schicksalsschläge und unvorhergesehene Ereignisse können in einem Menschen das unstillbare Gefühl entfachen, dass „da hinten“, in der fernen oder nahen Zukunft etwas Glückbringendes liegt. Im Januar 1986 saß eine blonde Frau vor dem Fernseher und sah mir bei „Rockpop in Concert“ zu und verliebte sich in mich. Ihre Sehnsucht war geweckt, und ein paar Wochen später weckte ihr Blick durch den überfüllten Kneipenraum der „Batschkapp“ in Frankfurt die meine.
Am deutlichsten aber zeigen mir meine Texte, meine Musik, was ich für Sehnsüchte mit mir herumtrage und welche Ziele in der Zukunft sie mir zeigen. Manche meiner Sehnsüchte konnten gestillt werden, andere werden wohl immer in mir brennen und mich dazu veranlassen, sie in meiner Musik, in meinen Texten in Bilder und Töne zu verwandeln. Sehnsucht ist nicht statisch. Sie wandelt sich. Sehnsucht treibt an, etwas zu verändern, sie kann aber auch auf Irrwege führen und uns in Teufels Küche gefangen halten.
Die australische Palliativpflegerin Bonnie Ware befragte Sterbende, was sie in ihrem Leben am meisten bereut haben. Die häufigste Antwort lautete: „Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein eigenes Leben zu leben.“
Erstaunlicherweise ist die tiefe Sehnsucht nach einem Leben, was einem entspricht, was für einen ganz persönlich Sinn ergibt, die am schwersten zu befolgende. Vermutlich weil allerlei Ablenkungen und Verlockungen, gute Angebote, scheinbare Freundschaften, aber auch bittere Enttäuschungen und Schmerzen einem immer wieder die klare Sicht auf diese wichtige Sehnsucht vernebeln. Wie war es bei mir? Diese Frage taucht natürlich auf.
Meine Frau, – das ist übrigens die, die mich damals in der „Batschkapp“ verzauberte, – sagte, nachdem sie diesen Abschnitt gelesen hatte: „Da denkst’e jetzt mal drüber nach!“
OK.
Wird gemacht.
1 Mader, Kriemhild, Frieda Marie, Vom Leben am Rand der roten Scheibe, editionfredebold, 2015
Erster Teil
Am Anfang war die Sehnsucht
„Und ich laufe durch Ruinen, ohne Plan, ohne Ziel Ohne Anfang, ohne Ende, laufe, weil ich leben will.“
Der kleine Mann
Als die Linie 4 der KVB nach drei Minuten immer noch an der Haltestelle Piusstraße stand und ich neugierig durch den Gang nach vorne schaute, um einen Grund dafür zu finden, bemerkte ich die beiden Polizisten. Der Ältere von ihnen war um einiges kräftiger als sein hinter ihm gehender Kollege. Er hatte eine Pistole in der Hand, fixierte eingehend die vor uns sitzenden Fahrgäste und kam schweren, aber zügigen Schrittes in unsere Richtung. Mein Schulfreund Manni und ich saßen im hinteren Teil des Wagens.
„Suchen die uns?“, fragte Manni belustigt.
„Logo!“ flachste ich zurück.
Es dauerte keine zwei Sekunden und ich wusste: es ist ein Irrtum zu glauben, man spüre die Kälte des Stahls, wenn man den Lauf einer Walter PK an die Schläfe gedrückt bekommt. Man spürt vielmehr die Wärme des eigenen Urins, wenn er sich in der Unterhose breit macht.
„Mitkommen!“
Auch auf die Gefahr hin, dass man den dunklen Fleck auf meiner Hose bemerkte, stand ich sofort auf. Ich hatte Angst, dass sich noch in der Bahn ein Schuss lösen könne, denn das wäre nicht der erste gewesen in diesem deutschen Herbst 1977. Die Fahndung nach Hans Martin Schleyer und seinen Entführern aus der RAF lief unter Hochdruck. Irgendwo in Afrika stand eine Maschine der Lufthansa auf einem Flugplatz mit über 200 Passagieren an Bord, die um ihr Leben bangten. Generalbundesanwalt Siegfried Buback und Bankier Jürgen Ponto waren nur ein paar Monate zuvor ermordet worden. Es herrschte ein Klima der Beklemmung und des Misstrauens, von dem sich heute keiner, der es nicht erlebt hat, eine Vorstellung machen kann.
„Manni, komm mit!“, rief ich meinem wie paralysiert in der Bank sitzenden Freund zu. An ihm schien die Polizei kein Interesse zu haben.
Wir wurden zu einem auf der anderen Straßenseite stehenden Polizeiauto geführt und ich musste mich mit gespreizten Beinen und den Händen auf dem Autodach nach Waffen durchsuchen lassen.
„Worum geht’s denn hier überhaupt?“, wollte ich wissen.
„Maul halten!“
Ich wurde aufgefordert, auf der Rückbank Platz zu nehmen. Dann hörte ich im Polizeifunk meine Täterbeschreibung: 180 cm, braune Hose, helle Jacke. Ich sah an mir herunter: ich trug eine blaue Jeans und meine geliebte braune Wildlederjacke. Und die 10 cm größer wäre ich auch gerne gewesen.
„Hören Sie mal, was soll das? Da stimmt doch gar nichts!“, sagte ich nun etwas forscher zu den Beamten.
„Wir machen jetzt eine Gegenüberstellung“, raunzte der Ältere.
„Was soll ich denn getan haben?“, wollte ich wissen.
„Versuchte Notzucht.“
Manni sah mich an und musste grinsen. Während mir eher nach Heulen oder Schreien zu Mute war. Der Jüngere startete den Wagen und wir fuhren zurück in Richtung Köln-Ehrenfeld. Hinter dem Ehrenfeldgürtel bogen wir nach links ab auf das Gelände des Helioshauses. Es war mittlerweile sechs Uhr an diesem Oktobernachmittag und stockfinster. Nur eine nackte Glühbirne beleuchtete den versteckt liegenden Hintereingang des ehemaligen Kinos. Mir wurde mulmig und mir schoss der Gedanke durch den Kopf, dass wir vielleicht jetzt gleich mal einfach so was auf die Fresse kriegen, weil Typen wie wir wunderbar in ihr Feindbild passen. Aber das beruhte ja schließlich auf Gegenseitigkeit.
Wir stiegen aus und wurden in den ersten Stock zur Gegenüberstellung geführt. Dort traf ich auf mein angebliches Opfer: eine riesengroße, üppige Frau, Mitte Fünfzig und mit Oberlippenbart, der ich nachts nicht alleine im Hof begegnen möchte, stand dort keuchend, aber rauchend ans Treppengeländer gelehnt und sagte in breitestem Kölsch: „Nä, dä wor dat nit!“
Das konnte ich auch gar nicht gewesen sein. Ich kam nämlich aus behüteten Verhältnissen. Der Himmel meiner Kindheit hing zwar nicht voller Geigen, dafür aber voller Lampen, verchromte, vernickelte, mit Troddeln und Fransen, und jede war hässlicher als die andere. So ist das, wenn die Eltern ein Elektrogeschäft haben. Und da das Geschäft immer vorgeht, durfte meine Ankunft auf der Erde 1956 auch erst nach Geschäftsschluss erfolgen. Mein Vater bediente noch einen Kunden zu Ende, während meine Mutter mit gepackter Tasche parat stand für die Fahrt ins Krankenhaus, und hätte eine Angestellte nicht gesagt, dass es nun aber wirklich dränge, hätte mein Vater wahrscheinlich noch die Tagesabrechnung gemacht, bevor er meine Mama ins Krankenhaus nach Lindenthal brachte.
Ich war der jüngste von drei Söhnen, zart von der Statur und ausgestattet sowohl mit einem musikalischen Hinterkopf als auch einem kleinen S-Fehler, der sich erst in einigen Jahren bemerkbar machen sollte. Und ich war alles andere als geplant. Verhütung war in dieser Zeit nur möglich mit der Knaus-Ogino-Methode, die in meinem Fall allerdings total versagt hatte. Für meine Mutter war ich zunächst mehr ein Schicksalsschlag als ein freudiges Ereignis, da sie sowieso schon in größter Sorge um meinen fünf Jahre älteren Bruder Fred war. Fred litt an einer bei Kindern sehr seltenen Nierenerkrankung, und es war mehr als fraglich, ob er diese überlebe. Als meine Mutter während der Schwangerschaft wieder einmal mit den Nerven am Ende war, sagte ihre Tante, sie solle doch froh sein, nochmal ein Kind zu tragen, wer wisse denn schon, was mit Fred werde. Man war eben sehr pragmatisch in den 50ern. Nach diesem Krieg, der gerade mal zehn Jahre vorbei war, durfte ein Schicksalsschlag einen nicht aus den Schuhen werfen. Augen zu und durch lautete die Devise, für Gefühle wie Trauer und Angst war da kein Platz.
Meine Eltern hatten Haus und Laden in der von-Werth-Straße in der nördlichen Kölner Altstadt, dem sogenannten Friesenviertel. Unser Haus stand gegenüber vom Gerling-Konzern, der größtenteils in einem klassizistischen Marmorbau untergebracht war und stark an die Architektur in Nazideutschland erinnerte. Kein Wunder. Der von Hitler persönlich hofierte und reich beschenkte Bildhauer Arno Breker vollendete den Bau mit Konzernchef Hans Gerling, nachdem die ursprünglichen Architekten Heuser und Hentrich mit Gerling aneinandergeraten waren. In der 2008 produzierten Verfilmung von „Der Vorleser“ (nach dem Roman von Bernhard Schlink und mit Kate Winslet und David Kross in den Hauptrollen) dienen diese Gebäude übrigens als Kulisse für einen Gerichtsprozess. Dort gibt es einen Kameraschwenk, an dessen Ende man für einen Sekundenbruchteil unser Haus sieht.
Von meinem Fenster aus sah man direkt auf das 1953 erbaute Gerling-Hochhaus, das mir den Blick auf den Dom versperrte und früh meine Aversion gegen das Großkapital schürte. Wenn um fünf Uhr am Nachmittag der Konzern seine Angestellten in den Feierabend auf den großzügigen Platz mit den drei Brunnen erbrach, hatte man das Gefühl, auf einen Ameisenhaufen zu blicken. Nach nur zehn Minuten war der Spuk vorbei und das Viertel verfiel in tiefen Schlaf bis zum nächsten Morgen, wenn die Arbeit wieder aufgenommen wurde. Obwohl wir mitten in der Stadt lebten, war es dort ruhig, wenn man mal von nächtlicher Prostitution, Schlägereien und Glücksspiel in den Lokalen des Friesenviertels absieht. An Sonntagen war es sogar so ruhig, dass mein großer Bruder Achim mit mir auf dem Plätzchen gegenüber von unserem Haus Fußball spielen konnte. Wir mussten ums Eck spielen, da die Türen des Gebäudes, die uns als Tore dienten, allesamt zur Straße und somit in die gleiche Richtung zeigten. Die Abseitsregel hatte ich damals jedoch noch nicht verstanden. Mir kam es nur seltsam vor, dass sie immer nur zum Zuge kam, wenn ich ein Tor geschossen hatte. Aber Achim war sieben Jahre älter als ich, ging zu dieser Zeit schon auf das Gymnasium und wenn er „Gilt nicht! Abseits!“, sagte, würde es wohl schon stimmen. Dachte ich.
Ich kam mit vier Jahren in den Kindergarten, ob ich wollte oder nicht. Und ich wollte nicht! An meinem ersten Tag im Kindergarten wehrte ich mich mit Händen und Füßen dagegen, diesen zu betreten und verbrachte den ganzen Vormittag trotzig allein auf meinem Stühlchen, weil meine Mama mich abgegeben hatte.
Nach und nach fügte ich mich in mein Schicksal und verliebte mich in Claudia, die wegen ebenfalls berufstätiger Eltern mit mir das Los teilte, dort bis fünf Uhr ausharren zu müssen. Wir waren immer die letzten, die abgeholt wurden und hatten viel Zeit füreinander. Eines Tages jedoch wartete ich vergeblich. Es wurde zehn nach fünf, viertel nach fünf, doch meine Mutter tauchte nicht auf. So blieb mir nichts anderes übrig, als mich alleine auf den Heimweg zu machen. Das war schon ein kleines Abenteuer, denn der Weg führte durch den Stadtgarten und anschließend über den viel befahrenen Kaiser-Wilhelm-Ring. Ich wartete immer brav neben einem Erwachsenen an der Ampel um nicht aufzufallen, und ging dieser über die Straße, heftete ich mich unauffällig an seine Fersen. Ich war schon ein wenig stolz auf mich, diese Herausforderung gemeistert zu haben, doch als ich Zuhause ankam, erlebte ich die bis dahin größte Enttäuschung meines Lebens: meine Mutter und mein Bruder standen in der Diele, mit vollgepackter Badetasche und geradewegs abmarschbereit für den Weg ins Schwimmbad. Meine Mutter hatte mich einfach vergessen.
Es mag nur ein kurzer, sprachloser Moment gewesen sein, den wir uns da gegenüberstanden, bevor ich zu weinen begann und in mein Zimmer rannte. Aber danach war alles irgendwie anders als vorher. Ich fragte mich, ob das wirklich wahr ist, wenn eine Mutter sagt, sie liebe alle ihre Kinder gleichermaßen. Denn auch meine Mutter pflegte dies zu sagen. Es war doch klar, dass ihre Sorge mehr meinem Bruder Fred galt, der oft Wochen im Krankenhaus verbrachte, ohne dass man mit Sicherheit sagen konnte, wann und ob er überhaupt dort wieder herauskäme? Sorge und Liebe waren in meinem Köpfchen noch Synonyme und ich hatte das Gefühl, nicht an erster Stelle zu stehen. Körperliche Nähe, Schmusen und Kuscheln waren in unserer Familie zwar bekannt, aber nicht besonders ausgeprägt und boten sich somit als Liebes-Indikatoren nicht an. Das mag daran gelegen haben, dass meine Eltern – und nicht nur meine – nach dem Krieg ganz andere Sorgen hatten und mit einem stoischen Pragmatismus daran gingen, aus den verbliebenen Trümmern irgendetwas zu zaubern. Aber soweit konnte ich natürlich nicht denken. Ich kam stattdessen zu dem Schluss, dass ich mir anscheinend etwas einfallen lassen musste, um mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.
Vielleicht war das meine erste Begegnung mit der Sehnsucht. Denn auch Kinder haben Sehnsüchte. Und damit meine ich jetzt nicht diese tobsüchtigen Zwerge, die sich brüllend auf den Boden des Supermarktes werfen, weil ihre Sehnsucht nach den süßen Verlockungen im Regal an der Kasse nicht befriedigt wird. In meinem Fall ging es vielmehr um die Fortsetzung jener kindlichen Sehnsucht des Säuglings nach seiner Mutter, die soeben nachhaltig gestört wurde. Ich glaube nicht, dass meiner Mutter in diesem Moment in der Diele klar war, dass sie soeben, ohne es zu wollen, eine sehr wichtige Information in mein kleines Herz gepflanzt hatte. Es war jedoch nicht die Information, dass Mama mich auch mal vergessen kann, sondern es war die Information, dass Mamas völlige Abwesenheit nun auf einmal vorstellbar war. Das hatte mir irgendwie das Herz gebrochen, doch um mit diesem Bewusstsein weiterzuleben, musste ich unbewusst neue Strategien entwickeln. Wahrscheinlich kommt daher meine Angewohnheit, unangenehme Dinge einfach ausblenden zu können. Das hat sicher manchmal auch Vorteile, aber oft ist diese Angewohnheit ein Fluch, der mich geradezu blauäugig ins Pech laufen lässt.
Das Bild dieser Situation in der Diele habe ich jedoch nie so recht ausblenden können. Obwohl es jetzt 55 Jahre zurückliegt, ist es ein erstaunlich klares und detailliertes Bild. An sich denke ich ja, dass die Zusammenhänge im Leben nicht so einfach sind, aber diese Situation könnte schon einen Einfluss darauf gehabt haben, dass ich 36 Jahre später es kaum übers Herz brachte, meiner Mutter den Song „Ich habe deine Liebe überlebt“, vorzuspielen. Auf der einen Seite hatte ich die Sehnsucht ihr nah zu sein und gleichzeitig erstickte ich fast an der emotionalen Kühlschrankatmosphäre unseres Nachkriegshaushaltes. Heute, auch nach ihrem Tod, sind immer noch beide Strömungen spürbar. Ich habe großes Verständnis für ihre Lebenssituation damals, ich weiß nun, was das Trauma des Krieges in den Seelen der Menschen anrichtet, aber trotz allem Verständnis war da auch immer diese ungestillte Sehnsucht.
1963 begann für mich der „Ernst des Lebens“ in der Volksschule Friesenstraße, und dort war ich als Linkshänder sowas wie ein Exot. Aber mein Lehrer Gereon Röseling ließ mich mit links schreiben, was damals nicht unbedingt selbstverständlich war. Ich ging gerne in die Schule, und Lesen und Schreiben lernen machten mir Spaß. Meine Büchersammlung wuchs und wuchs, vor allem Bilderlexika von lebenden und ausgestorbenen Tieren hatten es mir angetan. Bald schon konnte ich sämtliche bis dahin bekannten Dinosaurier benennen, ich kannte mich mit den Lemurenarten Madagaskars aus, konnte den Schlanklori vom Plumplori unterscheiden und pflegte von Zecken befallene Mauersegler. Ein Album mit Haferflocken-Sammelbildchen weckte mein Interesse für Australien und Tasmanien. Ich las Bücher von John Hagenbeck, wühlte mich durch Brehms Tierleben und verpasste keine Sendung von Bernhard Grzimeks „Ein Platz für Tiere“. Mein Berufswunsch stand bald fest: entweder Zoologe oder Paläonthologe.
Mein Bruder Fred verbrachte wegen seiner Nierenerkrankung viel Zeit in der Klinik und bei Kuraufenthalten. Während mein ältester Bruder Achim sich auf dem Dachboden in unserer Mansarde häuslich einrichtete, lebte ich zwei Etagen darunter mit meinen Eltern in der Wohnung und führte zeitweise das Dasein eines Einzelkindes. Ich war das Nesthäkchen, dem meine Eltern Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen wollten. Da ich mir, wann immer es möglich war, an einem Schaufenster in der Apostelnstraße die Nase platt drückte, das prall gefüllt war mit ausgestopften Tieren, fuhr mein Vater mindestens einmal im Jahr mit mir nach Bonn ins Museum König. Dort waren die Vitrinen und die Tiere größer.
Der Museumsbesuch erfüllte ein paar Jahre später allerdings einen ganz anderen Zweck. Um meinem, inzwischen genesenen und die Freuden der Pubertät genießenden Bruder Fred ein paar ungestörte Stunden mit seiner Freundin zu ermöglichen, bat ich meinen Vater, mit mir nach Bonn zu fahren. Dort angekommen, mussten wir allerdings feststellen, dass Samstagnachmittags nicht nur die Geschäfte in Bonn, sondern auch das Museum geschlossen hatte, woraufhin mein Vater meinte, es sei wohl das Beste, heimzukehren. So standen wir also nach etwas mehr als einer Stunde schon wieder vor unserer Haustür. Listig, wie ich mit meinen neun Jahren schon war, täuschte ich vor, dringend pinkeln zu müssen und klingelte Sturm, um meinem Bruder den drohenden Ärger zu ersparen. Als wir oben in der Wohnung ankamen, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben das Leuchten in den Augen eines gevögelten Mädchens. Das hatte was. Ich wusste nur noch nicht, was.
Sexualität war ja auch noch gar kein Thema in meinem Leben zwischen tasmanischen Beutelteufeln und roten Riesenkänguruhs. Aber wo könnte ein Einstieg in dieses Thema besser erfolgen als in der Knabengemeinschaft einer katholischen Messdienergruppe, wo man von deren Obermessdiener zum kollektiven Onanieren ermuntert wird? Die Onanie war meine Sache noch nicht, geschweige denn, im Kreise einer Gruppe mit religiösem Hintergrund, hatte ich doch gerade erst im Kommunionsunterricht erfahren, dass es sowas wie das „Sechste Gebot“ gibt. Dort heißt es zwar eigentlich, dass man nicht Ehebrechen solle, aber für uns Grundschüler, die wir ja alle noch ledig waren, wurde dies heruntergebrochen auf das Verbot der Masturbation, die, wie man sagte, das Rückenmark schädige, sowie das Verbot, länger als flüchtig auf die am Kiosk ausliegenden Titelbilder der Zeitschriften wie „Praline“ und „Schlüsselloch“ zu schauen. Ich nahm diese Mahnung zu jener Zeit sehr ernst und beichtete tatsächlich, dass ich einen Blick auf diese Druckerzeugnisse erhascht hatte. Ein Vaterunser und ein Ave Maria sollten mich auf Geheiß meines Beichtvaters vor dem Fegefeuer bewahren.
Den Messdienerunterricht besuchte ich aufgrund der mich verwirrenden Doppelmoral beim Thema Onanieren nur noch sporadisch, was dazu führte, dass ich meine erste Morgenandacht gründlich verbaselte. Beim Ritual der heiligen Wandlung, bei der ich dem Priester aus dem einen Kännchen Wein zu trinken geben und ihm anschließend aus dem anderen Kännchen Wasser über die Hände gießen sollte, verwechselte ich zu seinem Verdruss die beiden Kännchen. Mir war das selber mehr als peinlich, zumal ich auch noch ständig über mein viel zu großes Messdienergewand stolperte und mich auf den Stufen zum Altar deswegen fast hingelegt hätte. Dieser denkbar schlechte Einstand führte dazu, dass ich wegen meiner Tüddeligkeit zu früher Stunde zumindest bei Morgenandachten nicht mehr eingesetzt wurde. Die morgendliche Tüddeligkeit habe ich mir bis heute erhalten und pflege auch vor 12 Uhr keine Interviews zu geben, da meine Synapsen bis zum Mittag grundsätzlich die Arbeit verweigern. Was mich übrigens nicht daran hindert, bis dahin die ganze Zeitung gelesen zu haben.
Aufklärung fand in den 60er Jahren nicht im Elternhaus statt, sondern in erster Linie auf der Straße. Renate zeigte uns zum Beispiel für 50 Pfennig den kleinen Unterschied in einem Bretterverschlag, den wir Jungs uns auf einem Brachgelände an der Komödienstraße gezimmert hatten. Was das Leben sonst noch so für einen bereithielt, erfuhr ich dann im vierten Schuljahr. Wir bekamen einen neuen Mitschüler, den ich von Anfang an mochte. Peter war gerade erst in die Ehrenstraße gezogen und hatte mich zu sich eingeladen. Ich lief die Straße auf und ab, aber so sehr ich auch suchte, das Haus mit der Nummer 47 war einfach nicht zu finden. Stattdessen sah ich dort zwei gegeneinander versetzte Mauern am Eingang einer kleinen Seitenstraße. Vielleicht, dachte ich, befindet sich die gesuchte Hausnummer ja hinter diesen Mauern. Also schlüpfte ich hindurch, doch als ich auf der anderen Seite rauskam, befand ich mich in der Kleinen Brinkgasse, die sich als ein Paralleluniversum herausstellte. Zu beiden Seiten der winzigen Straße kauerten sich eingeschossige Häuschen, in deren Fenstern geschminkte Frauen mit hochgesteckten Frisuren und beeindruckenden Brüsten lagen, wie ich sie so noch nie zuvor gesehen hatte. Rauchende Männer waren in Gespräche mit den Damen vertieft. Ich hatte keine Ahnung, dass es sich um Tarifverhandlungen handelte. Wie angewurzelt stand ich da mit offenem Mund und staunte. Natürlich landeten direkt alle Blicke auf mir, und eine schon etwas ältere Dame fragte mich grinsend und in unverfälschtem Kölsch, ob ich vielleicht meinen Vater hier suche. Mit hochrotem Kopf suchte ich das Weite. Jahrzehnte später erfuhr ich, dass es für einige Jungs im Viertel zu einer Mutprobe gehörte, nach der sonntäglichen Messe in St. Aposteln mit dem Gebetbuch in der Hand durch die Kleine Brinkgasse zu laufen. Dieses spannende Vergnügen hatte ich bereits unabsichtlich und ohne Gebetbuch in der Hand gehabt, ohne großes Aufsehen darum zu machen. Meine Kirche zu meiner Messdienerzeit war St. Gereon. Dort gab es keinen Puff, sondern nur den Straßenstrich am Hildeboldplatz, benannt nach dem von Karl dem Großen eingesetzten ersten Erzbischof von Köln, Hildebold (795 bis 818). Diese Affinität von Kirche und Puff fasziniert mich noch heute.
Wir Kinder waren damals, wie wir es aus den jugendfreien Sonntagnachmittag-Western im Fernsehen kannten, in einer Bande organisiert. Und wir waren uns einig darin, dass man in erster Linie zur Kommunion ging, weil man dann einen Haufen Geschenke erwarten konnte. Es gab die obligatorische erste Uhr, ein Fahrrad oder man wurde wie Dagobert Duck mit dem Geld der Verwandtschaft überschüttet. Als der große Tag immer näher rückte, sagte meine Oma Gertrud, dass es für mich ein „ganz besonderes Geschenk“ geben werde. Oma Gertrud war sehr streng katholisch und so ahnte ich das Schlimmste. Das Zimmer, in dem die Feier stattfinden sollte, durfte ich fortan nicht mehr betreten. Ich war davon überzeugt, dass das, was ich nur schemenhaft hinter der milchigen Glasscheibe unserer abgeschlossenen Wohnzimmertür erkennen konnte, dieses braune Etwas, eine hölzerne Gebetsbank sei, was in meinen Augen bei diesem Anlass auch völlig naheliegend war. Nun stellte ich mir weiter vor, dass ich dafür würde dankbar sein müssen und sah mich in der Fortsetzung der Vorstellung auf derselben, andächtig ins Gebet vertieft. Ich würde wohl meine Pläne in Richtung Zoodirektor revidieren und stattdessen eine Karriere als Kardinal anstreben müssen. Mir war angst und bange.
Entsprechend groß war meine Freude, als sich am Weißen Sonntag die Tür öffnete und plötzlich ein Klavier in unserer Wohnung stand. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich vor diesem Moment irgendein besonderes Verhältnis zur Musik hatte, ich war bisher weder durch Singen noch ständiges Trommeln auf der Tischkante aufgefallen. Ein wenig habe ich die Vermutung, dass meine Mama, die in ihrer Jugend selber Klavier gespielt hatte, sich damit auch eine kleine Freude bereiten wollte. Vielleicht sollte ich auch an ihrer statt zum großen Konzertpianisten mutieren. Wie auch immer. Auf jeden Fall war das zwischen mir und dem Klavier sowas wie Liebe auf den ersten Blick.
Meine Klavierstunden bekam ich bei Frau Bauer, einer ältlichen Jungfer, die gleich gegenüber der Gereonskirche wohnte und mir mittels eines Lineals, das mitunter wie aus dem Nichts auf meine Finger patschte, die richtige Handhaltung eintrichterte. Ich gelangte über Czerny bis zu den Präludien und den zweistimmigen Inventionen von Bach, aber mit dem Üben hatte ich es nicht so. Zwar gefiel mir Bach außerordentlich gut, aber noch mehr interessierte mich die Musik, die meine älteren Brüder hörten. Die Beatles waren gerade in meinem musikalischen Kosmos angekommen, und die Popmusik der 60er hatte wirklich einiges zu bieten. Nicht nur, weil sich jede Band von der anderen unterschied, sondern weil auch jedes neue Album eine musikalische Offenbarung war. Es wurde experimentiert, was das Zeug hielt und eine Überraschung jagte die nächste. Und ich wollte wissen, wo auf meinem Klavier die Töne dieser Songs lagen, die mich so faszinierten.
Das erste Stück, das ich heraushörte, war „Hideaway“ von Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich. Zugegeben, das war kein Meisterstück, aber ich bekam eine Vorstellung von Intervallen, Tonhöhen, Harmonien und Melodie. Es war damals unmöglich an die Noten von englischen Pop-Songs heranzukommen. Es gab sie einfach nicht. Überhaupt war es schon schwierig, englischen Pop zu hören. Im deutschen Radio wurde er kaum gespielt, weshalb wir den englischen Soldatensender BFBS oder Radio Luxemburg hörten. Aber dann, am 25.September 1966 und damit lustigerweise an meinem 10. Geburtstag, gab es den ersten Beat-Club, der fortan die Gestaltung meiner Samstagnachmittage strukturierte. Uschi Nerke moderierte ihn, Mike Leckebusch führte Regie, was dazu führte, dass man mitunter mehr eine Leistungsschau elektronischer Bildverfremdungen zu sehen bekam, als die Bands an sich. Aber diese psychedelischen Effekte gehörten in den Sechzigern einfach dazu, denn auch die Musik wurde immer psychedelischer. Oder, wie wir es ausdrückten: progressiver. Was diese Sendung in meinen Augen so einmalig machte, war die Tatsache, dass dort live gespielt wurde. Während in den ersten Ausgaben noch überwiegend Beat und mehr oder weniger englischsprachiger Schlager den Ton angaben, hielt dann Anfang der 70er mit Gruppen wie Soft Machine und King Crimson auch noch der Jazzrock Einzug im Beat-Club, und als ich das erste Mal die englische Band „The Nice“ sah, die viele klassische Elemente in ihre Musik einbrachten, war es um mich geschehen. Von meinem gesparten Taschengeld kaufte ich mir das gleichnamige Album, meine erste Langspielplatte überhaupt, die ich Jahre später nochmal bei ebay ersteigern musste, weil sie mir in den Wirren meiner noch vor mir liegenden Jugend abhanden kommen sollte. Ich war völlig überwältigt, wie Keyboarder Keith Emerson alle Grenzen aufhob und Klassik, Jazz und Rock miteinander verband. Und nicht nur das: er stach auch noch mit einem Messer auf seine Orgel ein. Ich habe das natürlich auch versucht, als meine Eltern unten im Geschäft waren und keine Gefahr drohte, dabei erwischt zu werden. Ich fand mich bei meiner Messer-Attacke auf mein Klavier zwar eher unbeholfen als beeindruckend, aber das war auch nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war, dass ich eine Musik entdeckt hatte, die mich begeisterte. Messer hin, Messer her, das war meine Musik. Das war Musik zum Hinhören und nicht, um sich bedudeln und einlullen zu lassen. Sie war wie Malerei, die für den Betrachter auch nur Sinn macht, wenn er hinschaut und sich auf das Bild einlässt. Vor allem aber war sie ein Schatz, weil sie weder im Radio rotierte, noch immer verfügbar war, wie es mit der Musik heute ist. Jedes neue Album wurde wie eine Jagdbeute nach Hause getragen, Freunde wurden eingeladen, Tee wurde aufgesetzt, und dann saß man andächtig beisammen und lauschte Klängen, die wirklich neu waren. Es war einfach eine großartige Zeit für die Musik.
Mein Bruder Fred war mittlerweile in einem Internat und ich sah ihn nur noch während der Ferien oder an einem der wenigen Wochenenden, die er nach Hause durfte. Wegen seiner Erkrankung und den damit verbundenen Klinikaufenthalten hatte er einige Schuljahre wiederholen müssen. Nun aber galt er als der zweite in Deutschland geheilte Patient. Doch das Überleben allein reichte unseren Eltern nicht. Kein Schulz-Sohn sollte ohne Abitur die Schule verlassen. So verbrachte Fred viele Jahre in der Obhut der Jesuitenpatres auf dem Bad Godesberger Aloisiuskolleg, wo er neben dem kargen Dasein zwischen Frühmessen und Silentium auch in der Schulband sang. Das imponierte mir weitaus mehr als die Berichte über den sakralen Alltag im Internat, denn die Jungs trugen die Haare bereits über den Ohren und spielten alles nach, was sie am Samstag beim „Heimaturlaub“ im Beat-Club gesehen hatten. Und ich war natürlich stolz wie Oskar, als ich meinen Bruder in den Proberaum begleiten und an der dort stehenden Orgel Platz nehmen durfte. Wie man daran sitzt, hatte ich mir bei Ian McLagan von den Small Faces abgeguckt: möglichst weit weg und mit ausgestreckten Armen. Das gelang mir zwar nicht so gut, weil ich, klein, wie ich war, sowieso schon schwer an die Tasten kam. Doch von diesem Tage an hatte das Klavier ausgedient und ich wollte eine Orgel haben.
In Köln fand sich Ende der 60er aber nur ein Laden, in dem es „richtige“ Orgeln gab, und das war die Filiale vom Musikhaus Weber in der damaligen „Schweizer-“, heute „Kölner Ladenstadt“, dem ersten in Deutschland gebauten Einkaufszentrum. Da standen sie, die Hammonds B3, C3, A100 und wie sie alle hießen. Für mich waren sie unerschwinglich, und außerdem brauchte es vier kräftige Männer, um so eine Orgel zu transportieren. Aber zumindest hatte ich die Möglichkeit, dort auf diesen Instrumenten zu spielen. Den Mitarbeitern des Orgelgeschäfts war natürlich klar, dass aus meinem Interesse niemals ein Kauf resultieren würde, sie nahmen meine täglichen Besuche jedoch mit Humor und revanchierten sich für meine Interpretationen von Deep Purple’s „Child in time“, indem sie mir den Namen „Purple“ verpassten.
Schließlich bekam ich doch noch meine Orgel, allerdings konnte die nicht mit meinen Trauminstrumenten mithalten. Es war eine Viscount C3 mit Stummel, also einer Oktave Basspedalen. Aber sie hatte einen Vorteil gegenüber unserem Klavier: einen Kopfhöreranschluss. So konnte ich mit meiner Musik ganz allein sein.
Auf dem Gymnasium machte mir die Musik leider nicht halb so viel Spaß. Das lag vor allem an unserem Musiklehrer Dr. Düring, der auf die verschiedenen Vertonungen des Erlkönigs spezialisiert war und uns anscheinend ebenfalls zu Experten darin machen wollte. Der Unterrichtsstoff zog sich über ein komplettes Schuljahr hinweg. Da konnte einem wirklich die Lust vergehen. Doch das betraf nicht nur den Musikunterricht. Biologie, Physik, Erdkunde, Geschichte: das Interesse an all diesen Fächern wurde mir in der Schule gründlich ausgetrieben. Als Chemie noch dazukam, schaltete ich nur noch auf Durchzug. Bis heute kann ich bis auf H2O keine einzige chemische Formel lesen. Allerdings kann ich mich noch lebhaft an die Klassengespräche erinnern, zu denen uns unser Biologielehrer in der letzten Stunde vor den Sommerferien versammelte. Da saßen wir dann im Stuhlkreis und wussten schon, was uns der greise Dr. Dahm in seinem weißen Kittel gleich erzählen würde, denn er wiederholte diesen Vortrag jedes Jahr, und zwar wortwörtlich. Dass wir ja nun in dem Alter seien, wo wir bemerkten, dass uns eine bestimmte Lust überkäme. Dies könne jederzeit passieren, bei Spiel, bei Sport, selbst im Schlaf, und das sei auch nichts Schlimmes, solange sie, und nun hob er Stimme und Zeigefinger, nicht „frech und frevelhaft“ hervorgerufen würde, wobei sein langer Zeigefinger aussah wie eine hin und her schwingende Bockwurst. Das Schwierigste war, bei diesen Worten nicht laut prustend vor Lachen vom Stuhl zu rutschen, weil man ja die ganze Zeit wusste, dass gleich die Stelle mit „frech und frevelhaft“ kommen würde und auch der Bockwurstfinger tat sein Übriges.
Unsere Lehrer kamen mir damals vor wie lebende Fossilien, aus einer lange zurückliegenden Zeit, die nichts mit unserer Gegenwart zu tun hatte. Sie zu parodieren war mein Unterhaltungsprogramm für die Fünf-Minuten-Pause, und das brachte mir in der Klasse mehr Anerkennung ein als gute Noten in Chemie oder mein paläontologisches Wissen im Biologieunterricht. Man kann sagen, ich leckte Blut.