H. W. Stein & Oliver Müller
DIE SKLAVENWELT
In dieser Reihe bisher erschienen:
5001 Christian Montillon Aufbruch
5002 Oliver Müller Sprung ins Ungewisse
5003 Vanessa Busse Dunkle Energie
5004 Vanessa Busse Angriff aus dem Nichts
5005 Oliver Müller Gefangene der Doppelsonne
5006 Achim Mehnert Das Vermächtnis der Moraner
5007 Rainer Schorm Jedermanns Feind
5008 H. W. Stein & Oliver Müller Die Sklavenwelt
H. W. Stein & Oliver Müller
Die Sklavenwelt
RAUMSCHIFF PROMET
Band 8
© 2016 by BLITZ-Verlag
Redaktion: Jörg Kaegelmann
Titelbild: Rudolf Sieber-Lonati und Manfred Schneider
Umschlaggestaltung: Mark Freier
Satz: Winfried Brand
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-95719-498-5
03.11.2088
Die elfjährige Moranerin Shalyn Shan stand verloren vor dem Schott. Ihre Gestalt wirkte klein und zerbrechlich. Trotz der Nähe zu dem meterdicken Metall lag eine kaum überwindbare Distanz zwischen ihr und dem Tor zur Außenwelt. Das Mädchen hielt sich bewusst vor der Grenze auf, deren Überschreiten in der Zentrale Alarm auslöste. Den Sicherheitsdienst wollte sie durch ihr Tun nicht vorschnell alarmieren.
Vor dreiundzwanzig Jahren gehörten ihre Eltern zu den wenigen Moranern, die sich nach dem Angriff der Schwarzen Raumer in diese Anlage retten konnten. Vorausgesetzt, die alten Geschichten stimmten. Selbstverständlich vertraute Shalyn ihren Eltern. Doch die Zweifel, die sich in ihr trotz kaum vorhandener Lebenserfahrung aufgebaut hatten, blieben und wurden im Laufe der Zeit sogar stärker. Es gab zu viele Unstimmigkeiten, zu viele offene Fragen.
Shalyn fixierte die Schleuse wie ein bedrohliches Tier. Die schwere Doppeltür trennte die in das Felsmassiv der Pailyberge verbaute Anlage von der Oberfläche. Sie trennte aus ihrer Sicht die Lüge von der Wahrheit.
Die Schleuse war ihr Gegner.
*
Arn Borul gähnte herzhaft, die Arme im rechten Winkel angehoben und über dem Kopf verschränkt. Wie ein Raubtier riss er den Mund auf. Nach dem Gähnen stöhnte der Moraner ausgiebig, doch in der Werkshalle auf dem HTO-Gelände gab es niemanden mehr, der ihn hätte hören können. Bereits vor Stunden waren die letzten Techniker in den wohlverdienten Feierabend gegangen und hatten ihn allein gelassen.
Mit dem Zeigefinger rieb Arn seine müden Augen. Das war es für heute. Selbst wenn er noch einmal an seine Arbeit, die Übertragung moranischer Kenntnisse in irdische Begriffe, ging, würde er nicht weit kommen. Sein Geist und sein Körper waren völlig ausgelaugt.
Nachdem er mit der Promet auf die Erde zurückgekehrt war, hatte er sich einen Tag Ruhe gegönnt. Danach hatte er sich sofort wieder in die Arbeit gestürzt. Der Moraner wusste, dass es mehr als ein paar Tage dauern würde, bis er die Baupläne für sein Triebwerk, das Borul-Triebwerk, wie es mittlerweile genannt wurde, erstellen konnte. Jetzt saß er allerdings schon fast drei Wochen an dieser Aufgabe. Es gab so viele Details zu beachten. So viele Dinge, die ihm, der mit der Technik der Transition schon sein Leben lang vertraut war, normal und alltäglich erschienen, für einen Menschen von der Erde aber völlig fremd waren.
Ein Fehler in der Anleitung, ein vergessener Schritt, und mochte er noch so klein sein – schon war die Arbeit gefährdet. Das durfte unter keinen Umständen geschehen. Darum würde er das, was er heute erstellt hatte, sicherheitshalber auch morgen erneut kontrollieren.
Arn warf einen letzten Blick auf das Holo, dann schaltete er es ab. Sofort entspannten sich seine Augen. Außer der leicht gedimmten Beleuchtung an dem von ihm belegten Arbeitsplatz gab es kein Licht mehr in der großen Halle. Tagsüber tüftelten hier die Angestellten der HTO an neuen Erfindungen. Modifizierten und entwickelten, hatten Ideen und verwarfen sie wieder. Bei seiner Aufgabe konnte ihm jedoch keiner der HTO-Experten helfen. Niemand auf der Erde wusste etwas über das Thirr-Odd-Element. Die von dem Chirr eingebaute Technik stellte auch ihn, trotz der Hypnoschulung, vor Rätsel. Er konnte sie bedienen, aber nicht vollständig erklären. Er dachte an Szer Ekka, Pino Takkalainen und Gus Yonker. Wo waren sie?
Dort oben vertrauen wir uns blind, doch auf der Erde weiß ich nur wenig von diesen Männern. Ich kenne weder ihre Familien noch ihre Freunde.
Tak, der Finne, hatte sicher keine Freundin. Der Skandinavier versuchte bei jeder Gelegenheit sein Glück bei Vivien Raid. Doch die ließ ihn mit ebenso schöner Regelmäßigkeit abblitzen.
Arn grinste. Vivy, dieser Wirbelwind. Bei ihr konnte er sich genau vorstellen, wo sie gerade war: Joy City. Entweder in ihrer Wohnung, die ziemlich im Zentrum der Metropole lag, oder auf Achse. Die Stadt bot zahlreiche Möglichkeiten, um sich zu amüsieren. Das wusste Arn aus Erzählungen. Irgendwann würde er sich dort auch einmal umsehen, wobei er schon jetzt bezweifelte, dass die Stadt seinen Geschmack treffen konnte. Vielleicht war Jörn Callaghan bei Vivien. Vielleicht war auch Peet mit dabei. Wobei es wahrscheinlicher war, dass Peet die freie Zeit mit seinem Vater verbrachte. Der alte Herr genoss die Tage, in denen sich sein Sohn in seiner Nähe aufhielt. Seit er, Arn, in dem Leben der Terraner aufgetaucht war, konnte man diese Tage an einer Hand abzählen.
Doch wen hatte er selbst auf diesem Planeten? Die Arbeit … Und er hatte hier Freunde gefunden. Arn musste an Thosro Ghinu denken, seinen Mentor und Lehrmeister. Der alte Moraner war es gewesen, der ihn hierher geschickt hatte. Fort von Junici. In Gedanken sah er ihr Bild vor seinen Augen und ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Ihm wurde klar, warum er wie ein Besessener arbeitete. Er musste Junici wiedersehen. Unbedingt!
Arn erhob sich und schaltete das Licht aus. Nur das Notlicht an der Ausgangstür wies ihm jetzt noch den Weg. Mit müden Schritten tappte er durch die Dunkelheit. Als er die Halle verließ, lag das Gelände der HTO in helles Mondlicht getaucht vor ihm. Alles schien zu schlafen, um für den nächsten Tag Kraft zu schöpfen.
*
Die Vermutung des Moraners traf nicht zu. In der Wohnung des Besitzers der HTO, Harry T. Orell, brannte noch Licht. Der grauhaarige Mann hatte trotz der späten Stunde noch Besuch.
„Ihr spätes Erscheinen verwundert mich etwas, Mister Crook.“ Der HTO-Boss war noch akkurat und geschäftsmäßig gekleidet.
James Crook nickte. „Die Unzeit bitte ich zu entschuldigen, Sir. Aber ich glaube, wir haben das Leck gefunden.“
Harry T. Orell zog eine Augenbraue hoch und stoppte die Bewegung, mit der er dem Chef vom Werkschutz gerade einen Whisky einschenken wollte. Als er nun weiter einschenkte, füllte er das Glas höher als beabsichtigt. Er goss sich selbst ein Glas ein und ging dann, Crook mit einem Nicken einen Platz anbietend, auf seinen Gast zu und reichte ihm das Getränk. Der Mann nahm ihm das Kristallglas ab und bedankte sich.
Orell ließ sich in seinen Sessel fallen. Natürlich hatte er sofort verstanden, von welchem Leck Crook sprach. Beim letzten Ausflug der Promet ins All war klar geworden, dass innerhalb der HTO ein Spion sein Unwesen trieb. Zuerst hatte Orell es kaum glauben können, doch er musste die Tatsache akzeptieren, dass seine Sicherheitsmaßnahmen offenbar nicht ausreichend waren. Für die Zukunft musste er vorsichtiger sein. „Berichten Sie“, forderte er Crook auf, dem er nun gegenübersaß.
„Es hat leider ziemlich lange gedauert“, leitete Crook seine Erläuterung ein. „Aber außer dem Namen Leslie konnten Sie uns ja auch nicht viel anbieten.“
Orell nippte an seinem Glas. Leslie. Peet hatte ihm diesen Namen genannt, als er von seinem Abenteuer im System Ross 154 berichtet hatte. Den Namen hatte Peet von einem gewissen James Redburn gehört. Zusammen mit zwei Komplizen war es diesem Redburn gelungen, die Promet zu kapern. Raumpiraterie!, dachte Orell schaudernd.
Dank einer List von Arn Borul, die Promet mit einer Null-Transition in ein Mikroversum zu bringen, war es der Besatzung gelungen, ihr eigenes Schiff wieder unter Kontrolle zu bekommen. Um die Raumpiraten hatte Orell sich dann selbst gekümmert. Auf seine Weise. Pike Ellinger und Tom Boomer, so die Namen von Redburns Komplizen, wurden der Erinnerung an ihre Tat beraubt. Dafür hatte Doktor Hellbrook auf Orells Anweisung hin gesorgt.
Redburn selbst war verstorben. Orell wischte sich kurz durchs Gesicht. Für Redburns Tod trug niemand eine Verantwortung. Exitus, Herzversagen. Doch kurz vor Redburns Tod hatte sich Peet noch mit dem Piraten unterhalten können. Dabei war der Name Leslie gefallen. Mit dieser Information hatte sich der Pirat seine Freiheit erkaufen wollen. Doch Peet verhandelte nicht mit Verbrechern.
„Und jetzt haben Sie diese Leslie ausfindig gemacht?“, fragte Orell.
Crook nickte. „So könnte man sagen, Sir.“
„Sprechen Sie nicht in Rätseln, Crook. Haben Sie sie oder nicht?“
„Wir haben sie.“ Crook lächelte. „Aber sie heißt nicht Leslie.“
Gespannt lauschte Orell den Ausführungen seines Sicherheitschefs.
„Da wir nur den Namen hatten, suchten wir natürlich zuerst damit. In unseren Reihen konnten wir allerdings keine Leslie entdecken. Wir überprüften sämtliche Unterlagen, auch die ehemaliger Angestellter, doch immer noch keine Spur. Was uns dann geholfen hat, war eine routinemäßig aufgezeichnete Meldung vom Gelände der HTO an die 234.“ Nun trank auch Crook einen Schluck Whisky. „Eine gewisse Grit Malon verlangte nach einer Verbindung zur 234. Man gestattete es ihr, obwohl es eigentlich nicht erlaubt ist. Immerhin war der Mitarbeiter geistesgegenwärtig genug, das Gespräch aufzuzeichnen. So landete der Inhalt schlussendlich bei mir.“ Crook schwenkte sein Glas. „In dem Gespräch fielen die Namen James Redburn und Nicole Sanders.“
„Sanders?“ Orell konnte diesen Namen trotz seines hervorragenden Gedächtnisses nicht sofort zuordnen.
Anstelle einer Antwort aktivierte Crook seine Dienst-Com und ließ eine Projektion erscheinen. Vor Orell schwebte das Gesicht einer jungen Frau mit rötlichen Haaren. Gefärbt, schoss es ihm sofort durch den Kopf.
„Sanders, Nicole“, fuhr Crook fort. „Zurzeit an Bord der HTO-234. Sie ist Expertin für Robotik und an der Erforschung der Fundstücke aus Basis I beschäftigt.“
Orell lief es eiskalt den Rücken hinunter. Wenn diese Sanders gezielt spionierte, dann konnte sie Unmengen Geheimnisse an die Konkurrenz verraten haben. Und wenn ja, an wen? Wirtschaftliche Konkurrenz? Was sonst!
Orells Gedanken rasten und seine Augen brannten sich förmlich an dem Holo fest. Je länger er das Gesicht betrachtete, umso mehr Details fielen ihm zu der Person ein. Norman Gant, sein alter Freund, hatte diese Sanders für die Mission zum Kugelraumer ausgewählt. Es war eine Initiativbewerbung gewesen, und da man für die Projekte hinter dem Pluto jeden Mann und jede Frau brauchte, die so exzellente Papiere vorlegen konnten und sofort verfügbar waren, hatte man Sanders eingestellt. Offenbar ein schwerer Fehler. Doch eigentlich konnte diese Sanders noch nichts verraten haben, da die HTO-234 zu völliger Funkstille verpflichtet war. Die Ausnahmen wurden von pflichtbewussten Männern kontrolliert, die er sogar selbst dafür ausgewählt hatte. Wenn ab jetzt keine Fehler gemacht wurden, dann konnte auch kein Schaden entstehen.
„Nicole Sanders war als Robotikexpertin jahrelang im Ausland und ist erst kürzlich ins Land zurückgekehrt. Natürlich haben wir ihre Papiere penibel überprüft.“ Crook vollführte eine entsprechende Geste. „Sir, selbst jetzt können wir noch nicht sagen, ob es Fälschungen sind. Wenn ja, dann sind sie perfekt. Wir konnten nichts Auffälliges entdecken.“
„Sie ist noch nicht überführt?“, fragte Orell hastig nach.
James Crook zuckte mit den Schultern. „Das müssen Sie entscheiden. Aber lassen Sie mich zuerst alle Fakten offenlegen.“
„Ich bitte darum.“
„Wir suchten nach einer Robotikexpertin, die möglicherweise bei der Konkurrenz tätig ist. Ein hartes Stück Arbeit …“
Orell ahnte, was Crook gerade so formvollendet umschrieb. Werksspionage. Die Wirtschaft war nach wie vor ein Haifischbecken, ebenso schlimm wie die Politik. Und daran würde sich wohl niemals etwas ändern. Unwillkürlich musste er an den Wirtschaftsmagnaten Michael Moses denken, der sein Firmengeflecht seit einigen Jahren mit atemberaubender Geschwindigkeit und noch jugendlichem Elan rücksichtslos überall auf dem Erdball verankerte.
„Stewart, Leslie!“ Crook nannte endlich Sanders‘ richtigen Namen. „In Lohn und Brot bei der Space Rocket Company.“
Orell stieß die Luft aus. Die Company! Jetzt, da er es gehört hatte, kam es ihm so vor, als hätte er nichts anderes erwartet. Dex Coleman Jr., der derzeitige Chef der Company, passte genau in dieses Verbrecherschema. Orells Miene verdüsterte sich, verzog sich dann zu einem grimmigen Grinsen. „Gute Arbeit, Crook!“
„Danke, Sir.“
Orell hob sein Glas und stieß mit Crook an. Als der Whisky durch seine Kehle rann und angenehme Wärme in seinem Rachen und dann im restlichen Körper verbreitete, hatte sein Gehirn bereits begonnen, einen Plan auszuarbeiten. Trotz der späten Stunde würde er jetzt noch Eric Worner, Kapitän der HTO-234, kontaktieren.
*
25.08.2055
Die innige Liebe zwischen Lian Kostar und Dromm Galeb brannte wie Feuer zwischen den beiden Moranern. Und das Ausleben ihrer Gefühle war durchaus interessanter als die endlosen Vorträge über landwirtschaftliche Betriebsabläufe und Strukturen der Lebensmittelverteilung.
Die beiden Verliebten hatten eine günstige Gelegenheit genutzt, um sich von der Gruppe der Studierenden zu entfernen. Der nahe Park bot ihnen durchaus interessantere Möglichkeiten, zu zweit den Tag in einer etwas angenehmeren Form zu verbringen.
Berufsfindung! Diese Frage erschien den jungen Moranern längst überflüssig. Lian Kostar und Dromm Galeb hatten ihre Wahl bereits getroffen. Eine gewagte Entscheidung, dennoch war sie endgültig. Beide hatten beschlossen, Astrophysiker zu werden, da sich Moran seit einigen Jahren wieder dem Weltraum öffnete. Die Neugier der nachwachsenden Generationen hatte bewirkt, dass sich das Volk ein weiteres Mal der Raumfahrt zuwandte.
Während Lians und Dromms Altersgenossen in einer Betriebsbesichtigung trockenes Wissen über sich ergehen lassen mussten, setzten die zwei ihre eigene, sehr persönliche Forschung an sich selbst fort. Der Park bot dafür ausreichend blickdichte Plätze.
Von einem Moment zum anderen war die Alltagswelt um sie herum vergessen. Sie fühlten ihr eigenes Glück und waren unendlich froh, einander gefunden zu haben. Die Zeit verging für die Verliebten wie im Flug. Das Rauschen hörten sie erst, als es den gewohnten Geräuschpegel in ihrer Umgebung lautstark übertönte. Anfangs schafften sie es, dieses immer intensiver werdende Dröhnen zu ignorieren, doch dann nahm das dumpfe Geräusch überhand. Dromm sah über Lians Schulter zum Himmel und bemerkte die unzähligen schwarzen Punkte über der Stadt, die sich schnell zu dunklen Flecken vergrößerten und schließlich gigantische Hantelformen erkennen ließen. Diese glänzenden Dinger am Himmel bewegten sich stur in einer einheitlichen Linie voran.
„Was ist das da oben?“ Lian löste sich widerwillig von Dromm und folgte dessen Blick. „Sind das Fluggeräte?“
Die unbekannten Flugobjekte wurden größer und kamen näher. Plötzlich zuckten mehrere Blitze aus der bedrohlich wirkenden Formation der fliegenden Hanteln. Dann erfolgte ein schrilles Zischen. Unzählige Lichtstrahlen rauschten in kurzen Intervallen aus den mysteriösen Fluggeräten in die Tiefe. Sekunden später leuchteten Explosionen auf.
Wie versteinert verfolgten die beiden Moraner das Schauspiel und begriffen allmählich, was das alles zu bedeuten hatte.
Gefahr! Zerstörung und Tod!
Ein erster Einschlag, nicht weit von ihnen entfernt, riss Lian und Dromm aus ihrer Starre. Keine Sekunde zu früh. Das Hochlager der landwirtschaftlichen Kommune explodierte vor ihren Augen. Von einem Augenblick zum anderen wurde dieses mächtige Bauwerk in einem grellen Feuerball vernichtetet. Die folgende Druckwelle fegte durch den Park, durch Bäume und Büsche. Gegenstände, Pflanzen und Lebewesen wurden wie Spielzeug durcheinandergewirbelt. Ein harter Schlag erfasste Dromm und Lian. Die beiden Moranern glaubten, durch einen dröhnenden Tunnel gezogen zu werden.
Dromm verlor für einen kurzen Moment das Bewusstsein. Als er seine brennenden Augen wieder öffnete, galt sein erster Gedanke Lian. Seine Freundin lag neben ihm. Aus vor Angst geweiteten Augen starrte sie ihn an. Sie blutete.
Dromm begriff, dass Lian nur leichte Hautabschürfungen erlitten hatte. Vorsichtig berührte er seine Gefährtin, doch sie reagierte nicht. Der Schock hielt sie gefangen. „Lian!“ Er schüttelte sie. „Wir müssen hier weg!“
Sie sah ihn verständnislos an. Schließlich verengten sich ihre Pupillen, fokussierten ihn. „Was war das?“, flüsterte sie mit zittriger Stimme.
Dromm stand auf und versuchte, sie hochzuheben. Ihr Körper fühlte sich erschreckend schlaff an, dennoch fühlte er ihren schnell schlagenden Puls.
Das Atmen fiel beiden schwer, mit jedem Luftholen wurde ätzender Staub in ihre Lungen transportiert. Dromm ignorierte das ekelhafte Gefühl in seinem Hals. „Komm!“
„Wohin?“ Tränen rannen an Lians Wangen hinunter, doch die kurze Frage bewies, dass sie rationell dachte. Mühsam drehte sie ihren Kopf. „Die Explosionen gehen in der Stadt nieder.“
Dromm nickte. Die Möglichkeiten, die ihnen blieben, hatte er rasch erfasst. Die weit einsehbaren Felder und das felsige Paily-Massiv. „Wir können uns in den Bergen verstecken. Schnell!“
Die nahe gelegene Stadt wurde in regelmäßigen Abständen von fauchenden Detonationen erschüttert. Sie hatten Glück, hier im Park waren sie weit genug von allen Gebäuden entfernt. Welcher Feind auch immer Moran angriff, er hatte offenbar nicht vor, einzelne Überlebende ausfindig zu machen, um gezielt zu töten.
Nach einem kurzen Blickkontakt liefen sie gemeinsam los. Nach wenigen Metern bemerkten sie zahlreiche kleine Feuerstellen. Beißender Rauch durchzog das Gelände und vermischte sich mit dem klebrigen Staub. Am Schlimmsten jedoch war der grauenhafte Gestank.
„Wir müssen da durch!“, rief Dromm mit fester Stimme.
„Es gibt Verletzte!“ Lian keuchte. „Wir müssen helfen.“
Sie hörten Schreie, das Brechen von Material, sahen einstürzende Gebäude. Jemand taumelte durch den Rauch direkt auf sie zu, prallte mit ihnen zusammen und sackte wimmernd zu Boden. Entsetzt starrten sie auf die verkohlten Armstümpfe, aus denen Blut in regelmäßigen Stößen dunkel hervorquoll. Helfend beugte sich Lian zu dem Schwerverletzten herunter und wurde dabei fast von einem schreienden Kind niedergerannt. Das Kind brannte. Mechanisch streckte Dromm seine Hände nach ihm aus, aber es war bereits wieder im dunklen Qualm verschwunden.
Der verletzte Moraner am Boden rührte sich nicht mehr. Entweder hatte er die Besinnung verloren oder er war bereits tot. Lian konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. Die Hitze wurde intensiver, offenbar breitete sich das Feuer rasend schnell und flächendeckend aus. Neuer Donner rollte heran. Die beiden Moraner wechselten einen verzweifelten Blick. Wann hört das auf?
Sie bemerkten weitere Moraner, die in direkter Nähe durch das Inferno torkelten. Dromm sprach die Fremden an, doch er erhielt keinerlei Reaktion. Alle Moraner schienen unter einem kollektiven Schock zu stehen.
Dromm und Lian bemerkten die grausigen Verletzungen ihrer Artgenossen. Nicht viel anders musste wohl auch ihr eigenes Aussehen auf andere wirken. Offene Wunden, blutiger Ruß auf der Haut, ein von Panik durchgeschüttelter Körper.
Immer mehr Moraner tauchten aus dem Vernichtungsnebel auf und irrten ziellos umher.
„Wir gehen in die Berge!“, rief Dromm Galeb. „Dort können wir uns verstecken.“
Verständnislose Augen sahen ihn an.
Er bemerkte die Tränen darin. „Die Berge. Sie bieten uns Schutz!“
Vergebens. Die Verstörten liefen weiter.
Lian war an Dromm herangetreten. „Lass sie, Dromm. Es hat keinen Sinn. Wir müssen weiter.“
Er nickte und fühlte sich schlecht. Lian hatte Recht, sie mussten sich beeilen.
*
Thosro Ghinu hörte Junici geduldig zu. Nachdem sie geendet hatte, atmete er tief durch. Junici saß ihm gegenüber, den Blick starr auf ihn gerichtet. Keinerlei Regung war auf dem zerfurchten Gesicht des alten Moraners zu erkennen. „Was schlägst du vor, Junici?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, gab sie zu.
Ein mildes Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Sie erwartete von ihm eine Lösung des Problems. Das erwarteten alle von ihm. Wie immer. Doch diesmal hatte er keine Lösung parat. „Sind die Berechnungen fehlerfrei?“
„Einhundert Tage noch. Höchstens vier, fünf Tage länger“, erklärte Junici die Ergebnisse der Wissenschaftler.
Thosro Ghinu schloss die Augen. Seine Gedanken schufen ein Bild, eine Erinnerung. Er dachte an Moran, die Welt seiner Vorfahren, seine Heimat. So, wie sie einst gewesen war, bevor die schwarzen Raumer den Planeten zum Tode verurteilt hatten. Eine Welt voller Leben. Bis zu jenem schicksalhaften Tag, der ihre große Kultur für immer ausgelöscht hatte. Der Tag, an dem dieser mysteriöse galaktische Krieg Moran erreicht hatte. Denjenigen, die den Angriff überlebt hatten, war eine Gnadenfrist gewährt worden. Doch auch die lief nun unwiderruflich ab. Einhundert Tage betrug der Countdown des Todes. Einhundert Mal würde sich die Sonne über eine verurteilte Welt erheben und mit ihren Strahlen das Sterben begleiten.
Er hatte gewusst, dass es irgendwann so kommen würde. Die Techniker hatten Fehler in der Luftaufbereitungsanlage entdeckt. Daraufhin war die Maschine von den besten Wissenschaftlern in Low überprüft worden. Ihr Ergebnis war eindeutig. Ein irreparabler Schaden – Materialermüdung. Ersatzteile gab es nicht. In einhundert Tagen, etwas mehr oder weniger, würde die Maschine ihre Arbeit einstellen. Nach vierunddreißig Jahren.
Er selbst lebte schon länger in Low. Manch einer war hier unten geboren worden. Würde diesen Moranern das Sterben leichter fallen? Weil sie nicht wussten, was ihrem Volk verlorenging? Alle verbliebenen Moraner, die ihr Dasein in Ghinus Forschungsanlage unter dem Paily-Massiv fristeten, würden sterben. Qualvoll ersticken. Ohne Ausnahme. Fluchtmöglichkeiten gab es nicht. Die Atmosphäre außerhalb der Anlage war trotz der vergangenen Zeit immer noch lebensfeindlich. Ohne Schutz konnte niemand länger als eine Viertelstunde überleben. Dennoch dachte auch Ghinu darüber nach, Low zu verlassen, um noch einmal über die Welt zu wandeln, die er hatte retten wollen.
Zwei Namen blitzten in seinen Gedanken auf. Tran Krot und Lirta Sin. Arn Boruls Eltern. Sie hatten diesen Weg gewählt. Er schüttelte den Kopf und die Bilder seiner Erinnerung verblassten. Ein Ruck ging durch seinen alten Körper. Als er die Augen öffnete, sah er Junici. Sie musste die Entschlossenheit erkannt haben, die in seinen Blick zurückgekehrt war. „Tira, Junici. Hoffnung gibt es immer“, sagte der alte Mann.
Sie verstand ihn sofort, er hatte das moranische Wort für Hoffnung, Tira, speziell betont. „Arn?“, fragte sie.
Er nickte. „Ja, Arn Borul. Er ist unsere letzte Hoffnung.“ Das ist er schon immer gewesen, dachte er. „Ruf die Wissenschaftler zusammen.“
„Sollen sie die Ergebnisse noch einmal überprüfen, Ghinu?“ Auch sie klammerte sich an die Hoffnung eines Rechenfehlers, dabei hatte sie selbst an den Berechnungen mitgewirkt.
Seine Augen verengten sich. „Das nicht. Dennoch brauche ich sie.“ Er sah sie ernst an. „Verschwende jetzt keine Zeit mit Fragen.“
Sie zögerte, aufzustehen. Er legte seine rechte Hand in die ihre. Eine seltene Geste für den alten Moraner. Ghinu war stets auf gewisse Art und Weise für andere unnahbar. Nähe ließ er nicht zu. „Nur so viel, Junici. Es gibt vielleicht noch eine Möglichkeit. Sie kann mich mein Leben kosten. Aber für eure Rettung bin ich bereit, dieses Opfer zu bringen.“
Sie wollte etwas sagen, doch ihr fehlten die Worte. Hastig verließ sie ihn.
„Ihr Götter Morans, helft mir“, flüsterte Ghinu, als er alleine war.
*
„Hey! Schön, euch wiederzusehen!“