JOSÉ SÁNCHEZ
ÜBER DIE SEHNSUCHT
URGRUND UND ABGRÜNDE
José Sánchez
Über
die
Sehnsucht
Urgrund und Abgründe
Aufgang Verlag
© 2015 Aufgang Verlag Augsburg
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagentwurf: Gil Ziner express-graphic.com Caleta de Vélez (MA) Foto auf der Rückseite: Martina Bieräugel
ISBN |
978 3-945732-07-6 (Hardcover) |
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978-3-945732-06-9 (Paperback) |
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978 3-945732-08-3 (eBook) |
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte Daten sind im Internet unter http:// dnb.d-nb.de abrufbar.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort – Einstimmung:
Erstes Kapitel: Das Wort, der Begriff, die Gefühle:
1. Ein deutsches Wort für eine menschliche Urerfahrung – Vom Begriff zum Phänomen – Ist Sehnsucht eine deutsche Stimmung? – Die französische Erklärung – Die deutsche Selbstinterpretation
2. Männliches und weibliches Empfinden – Dynamik der geschlechtlichen Sehnsucht
Zweites Kapitel: Wonach sich die Menschen sehnen
Wo bist du? – Die Heimat – Auch unterwegs bin ich zu Hause: Mischa und Tamita (Eine Erzählung) – Das Kind im Menschen – Die Berge – Die Wüste – Die Meere – Das Weltall
Drittes Kapitel: Menschentypen und Schicksale – Labyrinthe der Seele:
Vorbemerkung: Zur Leidenschaft überhaupt. Wort und Begriff
1. Wenn der Leib zu eng wird: Explosive Erotik – Das Phänomen Mechthild von Magdeburg (1207–1282) – Anhang: Katharina von Siena (1347–1380), Jeanne d’Arc (1412–1431), Teresa von Ávila (1515–1582)
2. Die Anziehungskraft der Einsamkeit – Der Fall Niklaus von Flüe (1417–1487)
3. Plus Ultra: Immer weiter – aber wohin? – Eigenart des Aktionsmenschen – Odysseus (ca. 1200 v.Chr.) – Erik der Rote Thorvaldsson (950–1003) – Amerigo Vespucci (1454– 1512) – Christoph Kolumbus (1451–1506)
4. Phantasien der Sehnsucht – Normalität, Verwirrung, Genialität – Novalis (1772– 1801): Die Sehnsucht bringt den Gegenstand ihres Dranges hervor – Sophie von Kühn (1782–1797) – Julie von Charpentier (1778–1811)
5. Über die Trauer Begrifflichkeit: Trennung, Melancholie, Trauer – Der Fall Hölderlin (1770–1843)
6. Warum Denker im Leben scheitern: Drei dramatische Beispiele: Søren Kierkegaard (1813–1855) – Karl Marx (1818–1883) – Friedrich Nietzsche (1844–1900)
7. Aufstand der Elite – Freiheit um jeden Preis: Jean-Paul Sartre (1905–1980) und Simone de Beauvoir (1908–1986) – Existenzialismus als elitäres Märchen
8. Oben glänzen die Sterne – hienieden Ruhm und Geld – Der Mensch im kosmischen Zusammenhang – Albert Einstein (1879–1955)
9. Die Kinderfrage: Wo war ich, bevor ich war?
Viertes Kapitel: Wie sich die Sehnsucht die Ursprünge vorstellt:
1. Urgedächtnis der Menschheit: Mythen und Märchen – 2. Leben, Lust, Kampf: die alten Griechen – 3. Die Lust als Problem: Das biblische Konzept – 4. Verrückt! Ich bin du: Laila und Majnun (Eine islamische Liebesgeschichte) – 5. Wie die Leidenschaft so auch die Ruhe: Begegnung mit Brahman. (Eine Erzählung)
Nachwort:
Vorwort
Wer hat nicht oft von Größe und Liebe geträumt – das Bedürfnis nach Anerkennung, den Drang nach Gerechtigkeit gespürt? Auch Ängste, Hoffnungen und der Wunsch nach Geborgenheit bewegen uns. Die Menschen sprechen dabei von Sehnsüchten (Mehrzahl). Um diese geht es in der vorliegenden Abhandlung, vor allem jedoch um deren Wurzel – um das, worauf das deutsche Wort Sehnsucht (Einzahl) verweist.
Was bedeutet sie eigentlich? Woher rührt sie? Was bewirkt sie?
Langjährige Untersuchungen zu historischen Gestalten, geschichtlichen Ereignissen und Naturphänomenen führten den Autor zu einer Dimension, die ihm tiefer als Denken und Fühlen zu liegen scheint – zu der Ortschaft gleichsam, in der sich die Schicksale schmieden.
Denkansätze hängen von epochalen und individuellen Umständen ab; Gefühle schwanken. Doch das Phänomen Sehnsucht ist von all dem unabhängig; es bezeichnet die Wesensdynamik des Seins selbst. In der Mythologie wird gelegentlich mit aller Selbstverständlichkeit von der Sehnsucht der Natur, ja des Kosmos gesprochen. Ist das nur eine Metapher? Wonach soll sich das Ganze sehnen? Davon wird später ausführlich die Rede sein. Hier sei es nur erwähnt, um den Blickwinkel von Anfang an zu erweitern.
Das Phänomen Sehnsucht betrifft die tiefste Innerlichkeit des Menschen. In unserer Sprache nennen wir es ein oder vielmehr das Tiefenphänomen.1 Es ist allgemein menschlich, überschreitet die Grenzen der Individualität – erscheint jedoch zugleich bei jedem Einzelnen einmalig.
So zeigt die Untersuchung zum einen, dass Menschen, die – wie etwa Atomphysiker, Dichter, Ökonomen oder Seefahrer – durch psychische Eigenart und historische Entwicklung weit voneinander entfernt oder gar entgegengesetzt zu sein scheinen, tatsächlich vom selben Drang beherrscht werden. Ob man von der Kraft der Sehnsucht getrieben in der Dichtung, in der Ökonomie, im Sport, im religiösen Glauben, in der Wissenschaft oder in der Wollust aufgeht, ändert nichts an der Substanz der Problematik. Höhenflüge des Geistes sehen gewiss anders aus als die Niederungen des Fleisches. Doch beide stellen unterschiedliche Verwirklichungsversuche ein und desselben Strebens dar.
Zum anderen verbindet die Urdynamik seiner Wesensart den Menschen mit ausgesprochenen Naturerscheinungen. Exemplarisch wird auf das Meer, auf Berge und Vulkane, auf die Wüste eingegangen. Doch auch das jähe Durchbrechen des Blitzes, die Schnelligkeit des Lichts, die Wirkung des elektrischen Stroms (es funkt!) sind lehrreich, um die Labyrinthe der Seele zu erhellen. Sie spiegeln dem Menschen Inhalte seines Innenlebens wider – mit seiner Schönheit, mit seinen Abgründen, mit seinen Gefahren.
Eine ausgezeichnete Bedeutung kommt Phänomenen wie Heimat und das Kind im Menschen zu. Auch sie werden in einem weiten Horizont situiert. Man findet zwar die Phänomene als solche überall in der Natur; doch uns geht es darum, die Eigenart der menschlichen Erscheinung herauszuarbeiten.
Die Selbstinterpretation des Menschen, die dem gegenwärtigen Zeitalter zugrunde liegt, war von Anfang der Hochkulturen an eng (hauptsächlich vom Kopf her) angelegt; zunehmend wird sie punktuell erfolgreicher, im Ganzen jedoch immer problematischer. Die medizinischen und technischen Errungenschaften erleichtern gewiss das Dasein, der Lebenssinn lässt sich dennoch wissenschaftlich nicht herstellen.
Das epochale Unbehagen zeigt, dass materieller Fortschritt das Wesen des Menschen nicht zu erfüllen vermag. Die herrschende Gier, der Skandal der Weltarmut und ständiger Kriegsführung werden sich wohl in naher Zukunft kaum ändern lassen. Doch immer mehr Menschen sind durch die ge-schichtliche Entwicklung zutiefst beunruhigt.
Wie es anders werden könnte, wissen wir nicht. Dennoch finden sich in vielen Epochen der Menschheitsgeschichte – so auch heute – seelenverwandte Minderheiten, die sich die Lebensbejahung als Ziel setzen und die Bereitschaft bekunden, an sich selbst arbeiten zu wollen. Hier beginnt die wahre Revolution. Das Fehlen dieser Einsicht bei führenden Persönlichkeiten der Weltgeschichte gehört zu den dramatischen Entdeckungen des vorliegenden Buches.
Das menschliche Leben ist ein spannendes Geschehen – von Überraschungen, erfüllenden Glücksmomenten und beängstigenden Abgründen begleitet. Beides – Höhenflug und Niedergang, Erfolg und Katastrophe, Begeisterung und Willenlosigkeit – ereignen sich oft kurz nacheinander, gelegentlich sogar fast gleichzeitig. Den Grund für diesen abrupten Stimmungswechsel, für die mitten in der Üppigkeit nagende Leere, versucht diese Studie aufzudecken. Sie stellt gleichsam eine Röntgenaufnahme des menschlichen Geistes dar. Geheime Wünsche, verborgene Ecken werden offengelegt. In der Regel spricht man kaum davon, aber sie steuern das private wie das öffentliche Leben.
Das geistige Abenteuer, von dem in diesem Buch berichtet wird, begann vor knapp vier Jahrzehnten ganz privat – also ohne akademischen bzw. literarischen Zweck – mit der philologischen Erkundung des Wortes Sehnsucht, das den Autor schon früh fasziniert hatte. Von der muttersprachlichen Gewöhnung nicht betroffen, wirkte in der Frische der jungen Jahre der ursprünglich gehörte Ausdruck geradezu geheimnisvoll. Beim magischen Ton öffnete sich das Tor. Die Welt des Menschen zeigte sich rein – so wie sie erscheint, bevor sie wissenschaftlich seziert wird, um in Kategorien eingepresst zu werden. Der Anblick war schön und zugleich erschütternd.
Unsägliches wollte sich aussprechen. Was Menschen zu allen Zeiten erfahren, was aber als solches – soweit mir bekannt – in anderen Sprachen kaum zum Ausdruck kommt, begegnete mir um 1970, noch in der Vorhalle meines Forscherlebens, als klangvoller Begriff, der Exaktheit und Unbestimmtheit als Seiten desselben aufweist.
Es folgten die Versuche, den Menschen von diesem Urgrund her zu verstehen und das philosophische Geschäft bei dem zu beginnen, worauf das so unerwartet entdeckte Tiefenphänomen Sehnsucht hindeutete. Der jahrelang in Lehrveranstaltungen vorgetragene Ansatz wurde dann ab 1980 zunächst universitätsintern mitgeteilt und seitdem öffentlich in verschiedenen Dimensionen entfaltet. Dabei hat er sich verändert und weiterentwickelt, Doch die ursprüngliche Einsicht bleibt nach wie vor: Denken, diese erhabene Fähigkeit des Menschen, verliert seine Lebendigkeit, wenn es zu einer institutionalisierten, gar bezahlten Beschäftigung wird. Es kann wieder aufblühen, wenn es sich aus dem tätigen Leben des Menschen ereignet – getragen von Stunden der Stille und Besonnenheit.
Nun geht es hier wieder um den Anfang: um die Geburt jener menschlichen Selbsterfahrung, die, gerade weil so nah, immer wieder übersehen –, und weil so innig, meistens sorgfältig verhüllt wird.
Dieses Buch ist in deutscher Sprache gedacht, aber für alle Menschen geschrieben.
Beendet im August 2015,
Axarquía und München
Einstimmung
Gedächtnis des Lebens,
will Freud und Leid aufheben.
Das Herz ist wie ein Meer,
der Leib das Weltall,
als Tempel gilt das Schifflein,
es gibt jedem den Halt.
Unendliches Verlangen
in endlicher Gestalt.
Die Träume sind vergangen.
Nun bleibt allein die Nacht.
Die Sonne untergangen.
Die Tage werden kalt.
Wohlauf! ruft es erneut,
Der Geist hat noch viel Kraft.
Leise aus der Landschaft
steigt empor der Nebel,
und streichelt die Seele,
wie einst so oft getan.
Gestalten, die schweben,
gegangen sind und leben,
erschüttern die Untiefen
und legen fest den Grund.
Wo seid ihr nun?
Die Worte sind ach! stumm,
Gespräch bringt die Musik,
durchdringend wie der Wind.
Einst bebend, die Erde
Ergriffen singt ihr Lied.
Von Düften sei erfüllt
erneut meine Gegend,
das Frühere verhüllt.
Gedächtnis des Lebens,
will Freud und Leid aufheben.
1 Vgl. José SÁNCHEZ DE MURILLO, Der Geist der deutschen Romantik. Der Übergang vom logischen zum dichterischen Denken und der Hervorgang der Tiefenphänomenologie. München 1986; insbesondere Seiten 13–47. Hier wurden vor über einem Vierteljahrhundert die geschichtsphilosophische Grundlegung und die methodischen Voraussetzungen der vorliegenden Abhandlung dargestellt.
Erstes Kapitel Das Wort, der Begriff, die Gefühle
1 Ein deutsches Wort für eine menschliche Urerfahrung
„Ich habe Sehnsucht“, „mich plagen solche Sehnsüchte“…
Diese einfachen Sätze wären, folgt man der Auffassung einschlägiger Sprachwissenschaftler, in die meisten der uns vertrauten Sprachen eigentlich nicht übersetzbar. Vielleicht aus gutem Grund. Denn zwar – so interpretieren wir – hätten alle Menschen diese Erfahrung. Doch komme anderswo der Wesenszug kaum zum Ausdruck, den das deutsche Wort Sehnsucht kennzeichnet.
Nostalgie wird in europäischen Sprachen das Phänomen meistens genannt. Es stammt aus dem Griechischen nostos (Rückgang) und algos (Leiden). Gemeint ist der Schmerz, den die Unmöglichkeit der Rückkehr (etwa in die Heimat, in die Kindheit) verursacht.
Hinzu kommen andere Ausdrücke. Eine beachtliche Verschiedenheit ist festzustellen:
Im Französischen finden sich désir ardent, langueur, ennui, vague à l’âme, aspiration. Je m’ennuie de toi (etwa „ich vermisse dich“ = tu me manques). Ein Kenner der Thematik, wie Émile Boutroux, gesteht jedoch, dass der begriffliche Inhalt des deutschen Wortes ins Französische nicht übertragen werden kann.
Außer nostalgia finden sich im Spanischen anhelo und vor allem añoranza (Verbum añorar), das vermutlich auf das katalanische enyorar zurückgeht. Etymologische Wurzel ist das lateinische ignorare: von etwas nicht wissen. „Du bist weit weg, und ich weiß nichts von dir.“ „Was ist zurzeit in meiner fernen Heimat los?“ Dieses Nicht-Wissen macht traurig, tut weh. „So gerne käme ich zu meinen Lieben zurück, doch ich kann nicht.“ Nahe steht der añoranza das vornehmlich in Nordwestspanien (Galizien, Asturien) gebräuchliche morriña, das sich eigentlich auf die kleine Heimat, auf den Geburtsort, auf die Familie bezieht. Im Deutschen heißt es Heimweh, im Holländischen heimwee, englisch homesickness.
Das Thema der Nostalgie nach der Heimat, fern von der man leben muss, hat Milan Kundera in seinem Roman Die Unwissenheit (2001) entfaltet. Durch Rückgriff auf den Ulisses-Mythos (Odysseus) – den verzweifelten Versuch der Heimkehr nach Ithaka – und durch den Vergleich mit Ausdrücken aus verschiedenen Sprachräumen hat er die Bedeutung herausgearbeitet.
Das Isländische, eine der ältesten indogermanischen Sprachen, unterscheidet zwischen allgemeiner Nostalgie (söknudur) und konkretem Heimweh (heimfra). Ebenso hat das Tschechische für Nostalgie ein eigenes Wort (stesk), mit dessen Verbum der Satz gebildet wird styska se mi po tobe (ich vermisse dich, ich kann den Schmerz deiner Abwesenheit nicht mehr ertragen).
Alle diese Ausdrücke beinhalten als Hauptbedeutung die Traurigkeit, welche die Abwesenheit eines geliebten Menschen, der Heimat oder auch einer teuren Sache verursacht. Entscheidend ist dabei der Rückblick auf die Vergangenheit, der Bezug auf etwas, das nicht da ist.
Umfassender ist die portugiesische saudade. Das Wort kommt aus dem Lateinischen „solitas“ und bezeichnet eine tiefe Melancholie, die durch die Erinnerung an eine frühere Freude hervorgerufen wird. Mehrere Gefühle klingen zusammen: Liebe, Verlust, Ferne, Leere, Not. Was einmal erfreute, ist nun weg, dessen Erinnerung jedoch bedrückt und beflügelt zugleich die Gegenwart. Wegen dieser Bedeutungsmannigfaltigkeit ist saudade ein grundlegender Begriff der portugiesischen und brasilianischen Kultur. Er wächst aus der Lebenserfahrung hervor, worauf der fado, die samba, die bossa nova und auch cabanga hinweisen.
Der portugiesische Schriftsteller Manuel de Melo definierte im Jahre 1660 saudade als „bem que se padeçe y mal de que se gosta“ (Gutes, das man erleidet, und Leiden, das man genießt). Sie vereinigt Lebensfreude, süße Traurigkeit und tiefen Schmerz, Kreativität und melancholische Traditionsgebundenheit, Metaphysik und Sinnlichkeit, Mystik und Sexualität. Aus diesem Reichtum von Erlebnissen entstand in Portugal zu Beginn des 20. Jahrhunderts die literarische und spirituelle Bewegung „saudismo“, zu der die Schriftsteller Teixeira de Pascoaes (1877–1952) und Fernando Pessoa (1888– 1935) gehörten.
Gemeinsam ist diesen Worten, dass sie sich konkret auf Vergangenes beziehen bzw. auf etwas, das dem Menschen fehlt. Dieses Fehlen stimmt melancholisch.
Zum deutschen Wort Sehnsucht gehört dagegen wesenhaft die Unbestimmtheit. Man weiß nicht genau, was man will, worunter man leidet. Auf die Frage: „Was hast du denn?“, lautet die Antwort: „Nichts, ich weiß nicht …“ Die Ursache des Unbehagens liegt nicht außerhalb des Menschen, sondern in seinem Innersten.
Diese Grundbedeutung kann mit Zeugnissen aus der deutschen Tradition von Dichtung, Musik und Philosophie belegt werden. Wir kommen später darauf zurück. Hier halten wir fest:
Sehnsucht weist eine transzendentale Dynamik auf, die in den Ausdrücken anderer Sprachen nicht mitklingt. Im Deutschen jedoch besteht eine Nähe zwischen dem Phänomen Sehnsucht und dem Wort einst. Dieses bezieht sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Zukunft: Damals und künftig werden in einer Grundstimmung der Gegenwart verbunden. Das Leben wird im Zeichen dieser Spannung erfahren – im Zeichen eines Seins, das ist und nicht ist in einem. Denn es ist nur, indem es verschwindet. Diese Art zu empfinden hat die deutsche Kultur geprägt.
Da es sich um eine menschliche Urerfahrung handelt, findet sich natürlich überall das Phänomen – aber nicht zugleich der begriffliche Ausdruck dafür.
Im Dialog Kratylos erörtert Plato (428–347 v.Chr.) die Volksetymologie des Wortes πόθος (pothos, Sehnsucht). Es weist auf etwas „anderswo Seiendes und Abwesendes“. πόθος erscheint ebenso im Symposion als Sohn des Eros, die Gestalt des Begehrens, das über sich hinaus auf das gespannt ist, was es nicht besitzt. Und beim Phaidros wird πóθoς zur Bedingung der Erkenntnis gemacht, mithin in die Ursprünge des philosophischen Dranges gestellt.
Die Erfahrung eines Dranges nach Glück, der im Bereich der Endlichkeit nicht befriedigt werden kann, ist ferner Tatbestand der mystischen Traditionen. Doch nicht nur in der Mystik, auch im Erleben der alltäglichen Religiosität (in der Liturgie wie in Volksliedern) wird das Phänomen Sehnsucht thematisiert.
In die philosophische Spekulation des Abendlandes wurde es durch das jüdisch-christliche Verständnis vom Leben entsprechend eigenartig eingeführt. Demnach wäre die Zerrissenheit des Menschen nicht Merkmal seines Wesens, sondern Folge eines geschichtlichen Urfalls. Der Mensch, so die biblische Überlieferung, sei am Anfang der Geschichte von seinem Ziel abgefallen und seit dem also von sich selbst getrennt, innerlich gespalten. Nun kennzeichne zwar diese Spannung auf tragische Weise seinen historischen Zustand, bestimme jedoch nicht sein Wesen, das sich an den ursprüng-lichen Ort seines Glückes zurücksehnt. So sei die Entfremdung des menschlichen Daseins als eine vorläufige Stufe aufzufassen. Daher die Vorstellung des irdischen Lebens als eines Aufenthalts in der Fremde („im Jammertal“) unterwegs zur Heimat. Die wahre Heimat des Menschen wäre die himmlische, da erst in dieser die Ausgeglichenheit des Ursprungs endgültig auf ewig wiederhergestellt werden soll.
So weit die jüdisch-christliche Vorstellung.
Die indogermanische Sehnsucht dagegen weist in eine ganz andere Richtung:
Hier geht es um eine Selbsterfahrung, die weniger verstanden als mitgefühlt werden kann. Die entsprechende Lebensauffassung kommt zum Vorschein in einem Sprachzusammenhang, der sich in Worten wie Nostalgie, einst, Heimweh, Fernweh bekundet. Sie wurde vor allem dichterisch, aber auch philosophisch und sogar naturwissenschaftlich im 18./19. Jahrhundert offengelegt und stiftete eine goldene Epoche der europäischen Geistesgeschichte: die deutsche Romantik. Dann geriet sie in Vergessenheit, und zwar nicht nur philosophisch und wissenschaftlich, sondern auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Nicht immer, wenn man das Wort Sehnsucht verwendet, wird auch der Begriff getroffen. Und nicht jeder, der über den Begriff handelt, stellt auch das Phänomen dar.
Sehnsucht ist ein Schlüsselwort, welches den Zugang zur Dimension auftut, aus der die Dränge und die Kraft, aber auch die Widersprüche des Menschen hervorgehen: Ekstase und Verzweiflung, Kreativität und Niedergeschlagenheit, unerhörte Leistungen.
Woher kommt der Ausdruck?
Zur Entstehungsgeschichte des Wortes
Sprachgeschichtlich kommt das Phänomen Sehnsucht erstmals unter dem Namen Nostalgie vor. Der Medizinstudent Johannes Hofer (1662–1752) verfasste seine Doktorarbeit mit dem Titel „Dissertatio medica de Nostalgia oder Heimwehe“ (Basel 1688). Es ging dabei um das krankmachende Heimweh, das besonders Schweizer Söldner in der Fremde befiel („Schweizer-Heimweh“). Über Heimweh wurde die Nostalgie als Erkrankung behandelt. Nun näherten sich zwar beide dem Phänomen Sehnsucht. Doch dieses blieb als solches unausgesprochen. Dennoch wurde der Begriff durch diese Untersuchung in der Medizin als eine neue Pathologie bekannt.
Seitdem lassen sich zwei Auffassungen unterscheiden: Die eine, eher oberflächliche, sieht die Sehnsucht als punktuelles Gefühl in Bezug auf Menschen, Ortschaften, Epochen usw. Man habe Sehnsucht nach einem Freund, nach dem Geburtsort, nach dem Mittelalter, nach der guten alten Zeit usw. Dabei ist Sehnsucht gleichbedeutend mit Nostalgie. Eine andere Betrachtung jedoch sieht die Sehnsucht geradezu als eine spezifische Grundstimmung, welche die Wesensart des Menschen betrifft.
Diese zweite Auffassung versuchen wir hier zu entfalten. Wir gehen von der etymologischen Bedeutung des Wortes aus und schreiten fort bis zum Begriff. Dann versuchen wir das Phänomen zu erhellen.
Was bedeutet Sehnsucht? Vom Begriff zum Phänomen
Die Herkunft des Wortes ist unklar. Allgemein wird jedoch als sicher angenommen: Am Ursprung steht nicht Suchen, sondern Siechtum, es hat also mit krank machen zu tun. Aber es hängt auch mit sehnen (Bogen spannen) zusammen. So empfehlen Sprachwissenschaftler, angesichts der philologischen Ungewissheit, zur Klärung des Begriffs die Philosophie einzuschalten.
Nun hat ausgerechnet ein Mann des Volkes, der Görlitzer Schuster Jakob Böhme (1575–1624), den Hegel den ersten deutschen Philosophen nannte, eine tiefsinnige Interpretation geliefert, die philosophiegeschichtlich einflussreich gewesen ist. Von einem unmittelbaren Verständnis des Wortes ausgehend zielt er geradewegs auf den Grund. In seiner Schrift Von der Gnadenwahl schreibt er:
Der Ungrund ist ein ewig nichts, und machet aber einen ewigen Anfang, als eine Sucht. Denn das Nichts ist eine Sucht nach etwas. Und da doch auch Nichts ist, das Etwas gebe, sondern die Sucht ist selber das Geben dessen, das doch auch ein Nichts ist, als blos eine begehrende Sucht (…) So dann nun also eine Sucht im Nichts ist, so machet sie ihr selber den Willen zu etwas; und derselbe Wille ist ein Geist, als ein Gedancke, der gehet aus der Sucht, und ist der Sucht Sucher, denn er findet seine Mutter durch die Sucht.
Der sprachlich feinfühlige Naturphilosoph hält alle Aspekte zusammen. Sehnsucht sieht er als brennendes Verlangen, einen Urtrieb, der nicht erst im Lebendigen wohnt. Es ist der Drang des Seins, der die Materie über sich hinaus zur Pflanze und die Pflanze zum Tier wachsen lässt. So findet der Görlitzer Mystiker die Sehnsucht in Gott selbst. Genauer: Gott ist eine Bezeichnung für die ursprüngliche Energie, aus der alles entsteht. Die Urenergie ist kein Seiendes, hat keine Gestalt. Vielmehr geht aus ihr, die sie nichts ist, alles hervor. Am Anfang war ein purer Drang – Seinsdrang. Ohne ihn gäbe es kein Leben.
Von seinen Zeitgenossen befragt, wie er trotz geringer Bildung zu solchen Spekulationen komme, pflegte Jakob Böhme zu antworten, der Mensch brauche nur in sich selbst zu schauen und seine Umgebung zu beobachten. Das Studium in der Hochschule sei wichtig. Doch der Mensch müsse zuvor unmittelbar sehen und hören lernen.
Denkgeschichtlich stehen wir vor einem Paradoxon. Obwohl es sich um ein deutsches Wort handelt, das eine menschliche Urerfahrung eigenartig zum Ausdruck bringt, haben ausgerechnet deutsche Philosophen Schwierigkeiten, ja regelrechte Scheu, sich mit dem Thema angemessen zu befassen.
Kant hat sich abfällig über Sehnsucht geäußert. Sie sei nur der „leere Wunsch (…) die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können“. Der Grund für diese Geringschätzung: Das Phänomen Sehnsucht lässt sich weder analytisch erforschen noch von der Vernunft überblicken. Denn es reicht tiefer, entzieht sich dem wissenschaftlichen Zugriff.
Ähnliches zeigt sich bei Hegel. Persönlich soll er gefühlsbetont gewesen sein, wehrte sich jedoch vehement dagegen, Thema der Philosophie werden zu lassen, was nicht begrifflich erfasst werden kann. In der Phänomenologie des Geistes heißt es:
Dieses unglückliche, in sich entzweite Bewußtsein muß also, weil dieser Widerspruch seines Wesens ein Bewußtsein ist, in dem einen Bewußtsein immer auch das andere zu haben, und so aus jedem unmittelbar, indem es zum Siege und zur Ruhe der Einheit gekommen zu sein meint, wieder daraus ausgetrieben werden.
Das Verlangen nach dem „unwandelbaren Wesen“ gilt ihm als Grundantrieb des Philosophierens, das nach dem letztlich Wahren und Sicheren trachtet – in der Gewissheit, es geschichtlich auch erlangen zu können. Das ist der Widerspruch Hegel’schen Denkens: Es wird innerweltlich angestrebt, was innerweltlich nicht vollzogen werden kann. So bleibt er, im Versuch ihr zu entgehen, vom Traum der Sehnsucht gefangen.
Diese Inkonsequenz hat der dänische Denker Søren Kierkegaard offengelegt. Hegel sei der absolute deutsche Professor, der Paläste baue, während er selber in einer Hütte wohne.
Die These, dass Sehnsucht als eigentümlich seelisches Empfinden die deutsche Kultur wesentlich prägt, ist nicht neu. Doch das besagt keineswegs, dass sie immer in gleichem Sinne vertreten worden wäre. Um den Unterschied zu verdeutlichen, sei exemplarisch auf eine französische und eine deutsche Interpretation zurückgegriffen.
Um die Bedeutung der Sehnsucht für die deutsche Kultur zu erklären, wies der französische Philosoph Émile Boutroux auf Naturbedingtheiten hin. Durch das meist schlechte Wetter bedingt, habe das deutsche Volk die Tendenz, in den Süden zu fliehen, den es idealisiere. Das erkläre eine doppelte Tatsache: Der deutsche Mensch sei immer enttäuscht, wenn er im Süden ankommt, denn er finde dort natürlich nicht das, was er in seiner Phantasie imaginiert habe. So wolle er, kaum angekommen, schon wieder weg. Das Immer-wieder-Wegwollen werde ihm allmählich zum psychischen Zustand – und die Nichtigkeit alles Bestehenden zur typisch deutschen Grundsicht.
Boutroux’ Auffassung entspricht einem Gemeinplatz, der gewiss seinen Grund hat: Das launische Wetter sei eine Grundlage für die deutsche Eigenart im Guten wie im Schlechten. Damit will er den (scheinbaren) Widerspruch oder gar das Rätsel klären, dass eine Unzufriedenheit mit sich selbst, ein Mangel also an Selbstliebe, mit den Leistungen einer der größten Weltkulturen einhergeht.
Boutroux’ Auffassung ist nicht banal. Klimatische Bedingungen prägen zweifelsohne die Wesensart des Menschen. Doch die konkrete Schlussfolgerung Boutroux’ überzeugt aus zwei Gründen nicht: Erstens ist die Unzufriedenheit mit sich selbst keine spezifisch deutsche, sondern eine allgemein menschliche Stimmung. Zweitens hat nicht jedes Volk, das in einer kalten Weltgegend verwurzelt ist, eine derart große Kultur und so viele Zeugnisse von Lebenslust hervorgebracht. Es gibt kaum eine Weltgegend, in der nicht deutsche Menschen mit Firmengründungen, Stiftungen, Vereinen usw. wirken würden. Geht diese Energie auf die Pein der eigenen Leere zurück? Jedenfalls dient sie als Startbahn für erstaunliche Leistungen. Die Unruhe des deutschen Geistes schlägt in Kreativität und Produktivität um.
Doch Boutroux’ Deutung beschränkt sich auf die Außenseite des Phänomens. Die Innendimension betrachten dagegen deutsche Denker, die auf den Wesenszug der eigenen Empfindsamkeit selbstinterpretierend eingehen.
Es finden sich einerseits Aussagen, die das Phänomen reflektieren, und andere, die Wort und Begriff programmatisch hervorheben.
Als genuiner Exponent der deutschen Denkart kann der bereits zitierte Natur- und Sprachphilosoph aus Görlitz, Jakob Böhme, angeführt werden.
Der Drang, ursprüngliches Wissen zu erlangen und grenzenlose Liebe zu erfahren, machte aus dem ungebildeten Schuster einen intuitiven Wissenschaftler. Émile Boutroux könnte natürlich interpretieren, in jener deutsch-polnischen Gegend sei das Wetter meistens so unfreundlich, dass die Menschen die Neigung stark entwickelt hätten, in mystisch-philosophische Dimensionen zu fliehen.
Man kann das Phänomen aber anders erklären. Schelling zum Beispiel schrieb:
Man kann nicht umhin, von Jacob Böhme zu sagen, er sei eine Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit, und besonders in der Geschichte des deutschen Geistes. Könnte man je vergessen, welcher Schatz von natürlicher Geistes- und Herzenstiefe in der deutschen Natur liegen, so dürfte man sich nur an ihn erinnern, der über die gemeinpsychologische Erklärung, die man von ihm versucht, in seiner Art ebenso erhaben ist, wie es z.B. unmöglich wäre, die Mythologie aus geheimer Psychologie zu erklären. Wie die Mythologie, so ist Jakob Böhme mit der Geburt Gottes, wie er sie uns beschreibt, allen wissenschaftlichen Systemen der neueren Philosophie vorausgegangen.
Mit dem Ausdruck „gemeinpsychologische Erklärung“ ist die Deutung Feuerbachs angezielt. Es gibt nämlich Tiefenphänomene, die von der wissenschaftlichen Schulpsychologie nicht erreicht werden können.
In diesem Sinne besteht die Notwendigkeit, sich an Jakob Böhme zu erinnern, heute genauso wie im 19. Jahrhundert. Seitdem haben sich zwar technische Möglichkeiten entwickelt, zugleich sind aber unstreitig menschliche Empfindsamkeiten abhanden gekommen.
Die Spannung zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Drang und Besitz, Kampf und Vergeblichkeit durchzieht Tristan und Isolde. Die Tragik des menschlichen Schicksals, das Höchste anzustreben und das Unmögliche zu wollen, wird durch Richard Wagner Klang von hinreißender Schönheit. Abgründe tun sich auf. Besessenes Verlangen nach Erfüllung, Blindheit des Begehrens. Die Seele wird zur Wiege der Verzweiflung, der Geist zum Feuer der Leidenschaft – das Dasein zu einmaligem Abenteuer. Bilder sprechen deutlicher als Worte. Töne geworden, verwandeln sich metaphysische Grundinhalte in die Choreographie des Seins.
E.T.A. Hoffmann entdeckt die unendliche Sehnsucht auch in der Musik Beethovens, des „romantischen Komponisten“, der auf die Tiefe des Lebens mit Furcht und Schauder zu schauen vermag. Die majestätische Grundhaltung der sanften Transzendenz durchstimmt Bachs Präludien und Fugen. Bach, Beethoven, Wagner: Drei Exponenten der einen Grunderfahrung.
In all dem, so Friedrich Schlegel, wirke das reine Streben als Mitte des menschlichen Bewusstseins. Es ist der Drang nach dem Unerreichbaren, das Verlangen nach dem Unmöglichen. Durch diesen Impetus hebe sich der Mensch aus den Niederungen des Alltags zu höheren Welten empor. Dynamik der Verwandlung irdischer Inhalte in Erscheinungsformen von Größe und Schönheit.
Schlegel bringt zur Sprache, was sich in seiner Zeit tat: Die Philosophie selbst könne, hoch gedacht, als Wissenschaft der Sehnsucht aufgefasst werden. Sein Bruder August Wilhelm Schlegel schlussfolgert in den Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur: Die Entdeckung der Sehnsucht als Wurzel der menschlichen Dynamik kennzeichne die neue Zeit und unterscheide sie von früheren Epochen:
Die Poesie der Alten war die des Besitzes, die unsrige ist die der Sehnsucht; jene steht fest auf dem Boden der Gegenwart, diese wiegt sich zwischen Erinnerung und Ahndung.
Der epochale Umbruch im Deutschland des 19.Jahrhunderts ereignet sich in einer Vielfalt von Selbsterfahrungen, die oft von tragischen Schicksalen geprägt sind:
Der schmerzvolle Verlust seiner jungen Verlobten und die Sehnsucht nach Wiedervereinigung bringen Novalis dazu, die Geburt einer neuen Zeit zu entwerfen, in welcher die abendländisch-christliche Zivilisation sich zu erneuern vermöchte.
Einfühlsam öffnet sich das dramatische Schauspiel des irdischen Lebens im Gesang von Joseph von Eichendorff. Von Abschied zu Abschied voranschreitend erweise sich der Mensch als Homo viator, ein Wesen des Unterwegs, geplagt vom Weh nach seinem ewigen Zuhause.
Sehnsucht hat man oft, ohne zu wissen wonach. Heimweh kann man auch zu Hause empfinden. Man sucht die Fülle. Man findet sie lange nicht. Doch dann bricht sie unerwartet aus der verborgenen Mitte hervor.
Die Mitte ist das Herz. Solange es schlägt, gibt es Leben.
Es sprudelt aus dem Menschen hervor, wenn aus dem Ich durch die Begegnung mit dem Du das Wir entsteht. Doch auch in dieser Ekstase bleibt das Unbehagen gleichsam als Siegel der menschlichen Eigenart. Denn auch im Wir bleiben Ich und Du verschieden, einsam.
Goethe hat es so zu Wort gebracht:
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide!
Allein und abgetrennt
Von aller Freude,
Seh ich ans Firmament
Nach jener Seite.
Ach, der mich liebt und kennt,
Ist in der Weite.
Es schwindelt mir, es brennt
Mein Eingeweide.
Nur wer die Sehnsucht kennt,
Weiß, was ich leide.
(Mignon)
Die Sehnsucht nach ewiger Jugend liegt dem Faust zugrunde. Das Leiden des Vergehens – die Schwere des Altwerdens – ruft bei ihm den Aufstand hervor. Doch dem deutschen Dichter verwandelt sich die uralte Mephistopheles-Thematik von Grund auf. Die Gestalt lebte schon lange in der Literaturgeschichte. Durch Goethe wird sie zu einem Grundsatz endlichen Lebens. Er revoltiert gegen das konventionelle Denken, das vor den tatsächlichen Problemen in formalistische Scheinlösungen flüchtet. Das Dasein wird schonungslos offengelegt. Und da findet sich der Widerspruch, der dem Leben innewohnt:
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht, denn alles, was entsteht,
ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz, das Böse nennt,
mein eigentliches Element.
Ist alles also nur ein böses Spiel? Gewiss hat es wunderbare Momente. Doch auf dem Höhepunkt der Spannung lauert der Spuk der Vorläufigkeit. Das Glück steht auf schwachen Beinen. Margarethe ist verliebt. Die große Stunde ist da – der Friede weg:
Meine Ruh ist hin,
Mein Herz ist schwer;
Ich finde sie nimmer
und nimmermehr.
Wo ich ihn nicht hab,
Ist mir das Grab,
Die ganze Welt
Ist mir vergällt.
(…)
Nach ihm nur schau ich
Zum Fenster hinaus,
Nach ihm nur geh ich
Aus dem Haus.
(…)
Mein Busen drängt
Sich nach ihm hin,
Ach dürft ich fassen
Und halten ihn,
Und küssen ihn,
So wie ich wollt,
An seinen Küssen
Vergehen sollt!
Was beunruhigt das Mädchen, das sich hingeben möchte? Der Schatten der Vergänglichkeit – die Ahnung, dass alles, was entsteht, auch einmal zu Ende geht?
Die Ekstase endet in der Katastrophe. Doktor Faust erreicht sein Ziel, Margarethe auch; sie wollte ja erobert werden. Doch der Sieg war kurzlebig, Einsamkeit und Verzweiflung warten.
Goethe verwandelt die Sage des Gelehrten, der ewige Jugend mit Zaubermitteln anstrebt, indem er dem Phänomen das Siegel der Tragik einprägt.
Doch in den Traditionen der germanischen Dichtung finden wir das Phänomen des Ringens gegen das Vergehen auch in anderen Prägungen.
Bei Hölderlin erscheint das Tragische verkleidet im Gewand der Zärtlichkeit. Des Dichters Gesang weht, göttlich vertont, sanft über die Gefilde des Leidens.
Froh kehrt der Schiffer heim an den stillen Strom,
Von Inseln fernher, wenn er geerntet hat;
So käm auch ich zur Heimat, hätt ich
Güter so viele, wie Leid, geerntet.
Ihr teuern Ufer, die mich erzogen einst,
Stillt ihr der Liebe Leiden, versprecht ihr mir,
Ihr Wälder meiner Jugend, wenn ich
Komme, die Ruhe noch einmal wieder?
(Die Heimat)
Wie eingangs angemerkt, wird in der Dichtung vieler Sprachräume über das Phänomen Sehnsucht gehandelt. Märchen, Mythen und Sagen der Völker erzählen ausgiebig davon. Doch der begriffliche Inhalt des deutschen Wortes ist als solcher nirgends anzutreffen – entsprechend scheint sich selten eine Kultur der Sehnsucht so fruchtbar entwickelt zu haben wie in Deutschland.
In der Deutschen Romantik wurde vornehmlich die Natur bedacht. Im Deutschen Idealismus nahm der Traum des Menschen nach Wissen und Freiheit (nach Selbsthervorbringung) die Mitte ein.
In der Neuzeit erstrebt die Kultur der Sehnsucht – nach Nietzsche und Wagner – durch Martin Heidegger eine entscheidende Grundlegung. Dabei zeigt sich die gefährliche Seite des Dranges. Er bleibt nicht bei Schönheit und Dichtung, Liebe, Fortpflanzung und Vollendung stehen. Er entwickelt sich zum Wahn einer absoluten Macht. Die Selbststilisierung des Germanischen ist unverkennbar. Heidegger stellt das Sein selbst in die Obhut der Sehnsucht nach Macht und Größe. Hirt des Seins sei der Mensch, Haus des Seins wird seine Sprache genannt. Sein-zum-Tode seine Wesensbestimmung. „Sein und Zeit“ bedeutet: das Sein ist Zeit. Dass Sein in seinem Wesen Zeit sei, bringt die Vergänglichkeit zu Wort, welche die Sehnsucht als abgründige Grundstimmung des Menschen hervorruft. Wird damit der Mensch überhaupt getroffen – oder nur der deutsch empfindende, der germanische Mensch?
Alle Kulturen sind von der Tatsache der menschlichen Sterblichkeit gezeichnet. Ägypten ganz besonders. Griechenland ebenso. Doch kaum anderswo wird das Leben so radikal vom Tode her verstanden wie in der deutschen Geistesgeschichte.2
Zu dem Wort Sehnsucht gesellt sich eine Reihe von ebenso in anderen Sprachen kaum wiederzugebenden Ausdrücken – wie die erwähnten einst, Heimweh, Trauer –, welche die Aura des Germanischen bilden.
Dagegen kann man einwenden: Und die Wissenschaft, die Technik, zu deren Entwicklung die Deutschen beigetragen haben – entstehen sie nicht aus der Liebe zum Leben? Stellen sie vielleicht einen kulturellen Selbstverrat des Germanentums dar? Im Gegenteil. Gerade der Erfolg lässt bei entsprechender Sensibilität die Nichtigkeit menschlichen Tuns erscheinen. Nichts vermag den Menschen zufriedenzustellen. Denn er spürt in jedem Beginn das drohende Ende – deshalb, so Goethe, wäre es besser, dass nichts entstünde. Sein-zum-Tode definiert apodiktisch der germanische Denker. Der nekrophile Wesenszug ist offensichtlich. Die Frage wäre vielmehr: Gibt es in germanischen Welten irgendeine Ecke, wo die Todesangst nicht bestimmend wäre? In den Augen von Albert Einstein bekundet sich unendliche Traurigkeit. Der große Physiker, der privat so unglücklich war, suchte die absolute Wahrheit – und vermutlich auch das absolute Glück – in der Weltformel. Vergeblich. Am Ende war er dort, wo Meister Eckart anfing: Wo war ich, bevor ich war? Was bedeutet der Mensch in der kosmischen Unendlichkeit?
Aus Deutschland kommen gleichzeitig Forderung, Förderung und scharfe Kritik der Technik. Die Vereinigung dieser Gegensätze offenbart die Eigenart dieses Geistes: Das Streben nach dem Unerreichbaren, welches gerade wegen seiner Unerreichbarkeit anzieht, und die Unausweichlichkeit des Scheiterns als antreibende Bestätigung des endlichen Unterwegs.
Die Vergeblichkeit menschlichen Tuns ist der geheime Grund, der die deutsche Kultur anspornt. Er wird auch thematisiert – von den Kirchen und Konzertsälen bis in die Bierzelte. Die Sehnsucht ist überall wie die Luft, die man atmet. An einigen Orten tritt sie aber besonders energisch hervor – gleichsam als aufmerksamer Wächter der germanischen Identität.
Warum sonst wurden Deutschland und der deutsche Sprachraum zur Wiege der höheren Musik?
In diesem ureigenen Element entfaltet die Sehnsucht die Vielfalt ihres Geschehens. Durch explosive Leidenschaft oder sanfte Traurigkeit, kriegerisch oder mystisch kommt die Wonne der Ekstase zum Ausdruck: Selbsterfahrung auf höchstem Flug. Gestalt der unendlichen Unruhe, welche Fülle findet in der Stille oder im Kampf.
Wein, Weib, Gesang. Sich selbst verlieren, um das Leben – durch den Genuss der Selbstaufopferung – überhaupt fortzupflanzen. Das Ich wird aufgeopfert, damit das Wir entsteht. Entscheidend ist die Ekstase des Sterbens. Ist das nicht der Alltag des Germanentums? Minnegesänge, Volksfeste, höhere Musik. Kontemplation durch Bach und Erfolgserfahrung bei Mozart und Beethoven. Schubert und Schumann – jeder eine Welt. Dazu der Krieg der Kolosse: Wagner im Liebeskampf mit und gegen Nietzsche. Einheit durch die Vielfalt. In der Verschiedenheit schöpfen alle aus dem einen Grund: Leben durch den Tod, Eros und Thanatos. Sie gehen auseinander hervor.
Gigantische Mythologie als Wiege von Gigantomanie. Das hat zu Katastrophen geführt – obwohl es als Vorbereitung zum großen Schöpfungstag gemeint war, an welchem der Mensch sich endlich selbst begegnet und zu leben anfängt. Das tragischste – wenn auch nicht das einzige – Missverständnis dieses so großen wie gefährlichen Gedankens war der Nationalsozialismus. Er verwechselte die Menschheit mit dem Germanentum.
Derselbe Wind, der die Musik belebt, weht in der philosophischen Dichtung wie in der mystischen Wissenschaft. Deren Exponenten sind hochkarätig: Der Naturmystiker aus Görlitz, der den metaphysischen Ungrund zu sehen vermeinte, der dominikanische Meister, der zu enthüllen versuchte, was ich war, bevor ich war; der Philosoph aus Königsberg, der die begrenzte Welt der Vernunft offenlegte und zugleich vor dem Ding an sich, dem Geheimnis des Noumenons, Ehrfurcht empfand, und der Physiker aus Ulm, der die Relativität in der Unendlichkeit offenlegte, sind Größen aus der gleichen Familie. Unverkennbar die Geistesverwandtschaft. Ob Sturm oder Ruhe, Feuer oder Schnee, Leidenschaft oder Kalkül – in der transzendentalen Spaltung der Sehnsucht pulsiert stets Urleben.
Über Deutschland hinaus ist der Mensch an sich gemeint. Wäre es möglich, diese Seinserfahrung von Nationalismen und Regionalismen dorthin zurück zu befreien?
Ohne das Postulat der Vernunft wäre die Menschheit der Barbarei ausgeliefert. Ohne Wissenschaft und Technik könnte der Mensch sein Dasein auf Erden kaum würdevoll bewältigen. Das Menschliche jedoch blüht erst durch die schöpferischen Prozesse der Kunst auf. Dichtung, Musik, Spiritualität beflügeln zur Dimension, in welcher die Schönheit waltet und auch das Leiden durch die Aura des Erhabenen würdevoll zu erscheinen vermag.
2 Vgl. dazu José SÁNCHEZ de MURILLO, Die Deutschen und ihre Minderwertigkeitskomplexe, in Aufgang 11, Stuttgart 2014.