Über das Buch

An einem frühen Oktobermorgen erhält Detective Emmanuel Cooper zu nachtschlafender Stunde einen Anruf: Sein Chef schickt ihn in die Drakensberge, um einen anonym gemeldeten Todesfall zu untersuchen. Zulu-Detective Shabalala soll ihn als Übersetzer und Fährtenleser begleiten. Vielleicht kann dieser Fall die beiden in Ungnade gefallenen Kriminalermittler rehabilitieren?

 

Wie aufgebahrt liegt ein junges Mädchen auf dem abgelegenen Felsplateau. Aber woran starb Amahle, die Tochter des Zulu-Chiefs? Wer hat Blumen über sie gestreut und ihren Leichnam vor Raubtieren beschützt? Cooper und Shabalala treffen überall auf Dünkel und Argwohn. Jeder im Tal scheint Dreck am Stecken zu haben. Und je tiefer Emmanuel bohrt, desto grimmiger wird das Schweigen, das ihm entgegenschlägt. Bis jemand erneut zu Gewalt greift.

 

»Tal des Schweigens« wurde für den Edgar Award nominiert und stand auf der Top Ten von Publishers Weekly, auf der Shortlist für den Anthony Award sowie für den Ned Kelly Award.

 

»Ein Roman voll der Rhythmen, Gerüche und Farben Afrikas: Malla Nunn ist eine wunderbare Erzählerin. Ein in jeder Hinsicht großartiges Buch!« Deon Meyer

 

»Eine rundum fesselnde und mitreißende Lektüre … akkurat und gesättigt mit der Stimmung der 1950er Jahre in Südafrika.« Mike Nicol

 

Über die Autorin

Malla Nunn wurde in Swasiland geboren und eingeschult, doch in den 1970ern emigrierte ihre Familie nach Australien, um der Apartheid zu entgehen. Dort graduierte Malla Nunn in Englisch und Geschichte, ging dann in die USA und machte einen Abschluss in Theaterwissenschaften. Sie schuf als Drehbuchautorin drei preisgekrönte Dokumentarfilme, darunter »Servant of The Ancestors«. Malla Nunn heiratete in traditioneller Swasi-Zeremonie, ihr Brautpreis waren 18 Kühe. 2009 erschien ihr literarisches Debüt »A Beautiful Place to Die«, der Beginn des mehrfach ausgezeichneten Krimizyklus um Detective Sergeant Emmanuel Cooper. »Tal des Schweigens« ist der dritte Roman dieser Serie. Malla Nunn lebt und arbeitet in Sydney.

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Dank

an die Ahnen, meine Eltern, meine Schwestern, meinen Bruder und meine wunderschönen Kinder Sisana und Elijah. Und an meinen Mann Mark – Lektor, Geschichtenlotse und erbarmungsloser Vernichter von Adjektiven –, der die Kühnheit besaß, mir zu sagen, was nicht funktionierte. Meine Agentinnen, Catherine Drayton von Inkwell Management und Sophie Hamley von der Cameron Creswell Agency, sind ruhige Führerinnen in Zeiten des Zweifels. Terence King, Militärforscher und Historiker, für ausgezeichnete Arbeit in Sachen Fakten und Zahlen. Simon Lapping, Afrikaaner-Kulturattaché. Meine Auntie, Lizzie Thomas, für die Hilfe beim Zulu. Eric und Rose Campbell für das Cottage und Michael O Klug für die Einladung zum Brisbane Writers Festival. Ein Nicken an Meg Simmons für die Frage »Wie geht’s Emmanuel?« und an Burcack Muraben, der mich ständig mit der Forderung nach »mehr Shabalala!« verfolgt hat. Tiefsten Dank an Judith Curr von Atria Books. Und an Emily Bestler, die mir jedes Mal hilft, die beste Version meiner Geschichte zu finden.

Ich danke euch allen.

Glossar

Afrikaaner: in Südafrika beheimatete, Afrikaans sprechende Nachfahren der zumeist niederländischen, aber auch deutsch- und französischsprachigen Siedler des 17. Jh. Früher Buren geheißen (Afrikaans: Boere, wörtlich Bauern), nennen sie sich seit Anfang des 20. Jh. Afrikaners (deutsch: Afrikaaner), der Begriff Buren ist entweder abwertend oder nationalistisch geprägt.

Afrikaans: früher Kapholländisch oder Kolonial-Niederländisch, die Sprache der Buren, heute eine der elf Amtssprachen in Südafrika und Muttersprache von rund sieben Millionen Südafrikanern, weit weniger als die Hälfte davon ist weiß (ca. 38 %).

Baas: bedeutet Herr, Meister, Chef, Vorgesetzter, Anführer, Leiter, Häuptling, Kapitän, Besitzer. Ma’ Baas – mein Herr – war eine den afrikanischen Bediensteten aufgezwungene Anredeform gegenüber weißen Vorgesetzten, weißen Farmern, weißen Respektspersonen.

Boerboel: (sprich Buhrbul) ein massiger Hofhund. Um ihre Farmen vor Raubtieren und Viehdieben zu schützen, etablierten holländische Siedler im 17. Jh. einen Hund vom Mastifftyp. Der Boerboel ist ein großer, kräftiger Hund mit gut entwickelter Muskulatur, Widerristhöhe bei Rüden 65 cm, bei Hündinnen 60 cm, als Rasse erst seit dem 20. Jh. anerkannt.

Boerewors: zu einer Schnecke gerollte Grillwurst aus gehacktem Rind, Schwein und Wildfleisch (meist Antilope), stark gewürzt mit Kräutern, Muskat und Koriander

Burenkriege: Bis ins 20. Jh. hinein haben sich die niederländisch- und die englischstämmigen Siedler in Südafrika um die Pfründe gestritten und einander erbittert bekämpft. Hintergrund: Nach der Abtretung der niederländischen Kapkolonie an Großbritannien 1806 und der Aufhebung der Sklaverei 1836 wichen etwa 10 000 Buren beim ›Großen Treck‹ ins Hinterland aus und gründeten 1842 den Oranje-Freistaat (Hauptstadt Bloemfontein) und 1853 die Südafrikanische Republik (Transvaal, Hauptstadt Pretoria). Die 1877 erfolgte Annexion durch Großbritannien löste 1880/81 den Ersten Burenkrieg aus, an dessen Ende die Südafrikanische Republik ihre Unabhängigkeit zurückerlangte. Im Zweiten Burenkrieg 1899 bis 1902 siegten die militärisch überlegenen Briten. Im Frieden von Vereeniging verloren die Burenrepubliken ihre Selbständigkeit, die Verwendung des Niederländischen in Schulen und vor Gerichten wurde erlaubt. 1907 räumte Großbritannien den ehemaligen Burenrepubliken Selbstverwaltung ein, wahlberechtigt waren nur Weiße und einige wohlhabende Nichtweiße; 1925 wurde Afrikaans neben Englisch zweite offizielle Amtssprache in der Südafrikanischen Union.

Fuß: ein früher fast weltweit verwendetes Längenmaß (Griechen und Römer erbten den Fuß von den Ägyptern, später wurde die regional uneinheitliche historische Maßeinheit im angloamerikanischen Maßsystem standardisiert). Ein Fuß beträgt 30,48 cm (12 Zoll). Großbritannien gab 1973 das angloamerikanische Maßsystem zugunsten des metrischen Systems auf, die Umstellung stieß allerdings auf vielfältigen Widerstand. Ein fünfeinhalb Fuß großer Mann misst nach metrischem System einssiebzig.

Location: In der Apartheid-Ära war die »Location« ein von der Verwaltung festgesetztes Stück Land, oft außerhalb einer Stadt oder Ortschaft, wo die Eingeborenen gemäß den Segregationsregulierungen zu wohnen hatten. Es ging darum, die Eingeborenen streng von den Weißen zu trennen. Manche größeren Locations fern der Städte hatten den Charakter der Indianerreservate Nordamerikas mit eigenen Stammesgesetzen, andere waren eher wie Townships, Quartier der für die Weißen in den Städten und Dörfern arbeitenden Eingeborenen. (Quelle: AFRICANDERISMS, https://archive.org/stream/cu31924026563795/cu31924026563795_djvu.txt)

Marula-Baum: Der Marula-Baum (Sclerocarya birrea), auch Elefantenbaum, wird bis zu 18 Meter hoch. Er trägt mirabellengroße goldgelbe Früchte, die wild geerntet und zu Amarula-Likör verarbeitet oder auch direkt als Obst verzehrt werden können.

Mathéma: Afrikanischer Wermut (Artemisia afra), eine buschige Staude, auch Heilpflanze

Nasionale Party: 1914 von dem nationalistischen Politiker James Barry Munnick Hertzog gegründet, regierende Partei in Südafrika von 1924 bis 1934 und von 1948 bis 1994, verantwortlich für den Aufbau des Apartheidstaats, um die Vorherrschaft der weißen Minderheit zu sichern. Sorgte ab 1948 für Inkrafttreten der Segregationsgesetze, z. B. das Verbot von Mischehen, das Gesetz gegen unmoralische Handlungen (jede sexuelle Beziehung zwischen Weißen und Nichtweißen), das Gesetz zum Einwohnermeldewesen, das alle Südafrikaner in drei Gruppen einteilte: weiß, schwarz und gemischtrassig, sowie Gesetze über Gebietszuweisungen und Zuzugskontrolle.

Piel: Penis, Pimmel

Shaka Zulu (* 1787, † 1828), legendärer Zulukönig ab 1816, war maßgeblich verantwortlich für den Aufstieg der Zulu von einem kleinen Clan zu einem mächtigen Volk mit Macht über einen großen Teil des heutigen Südafrika. Er veränderte die zuvor stark ritualisierte und wenig blutige Kriegsführung der Zulu, machte sie zu einem Instrument der Unterjochung durch brutales Gemetzel und gilt als einflussreichster afrikanischer Militärführer sowie als Begründer des Gedankens einer Zulu-Nation.

Sophiatown: Stadtteil von Johannesburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 50 000 Menschen dort, es wurde u. a. zum Symbol für eine neue städtische Kultur der schwarzen Bevölkerung, kulturell vergleichbar mit Harlem in New York. Sophiatown war arm, schmutzig und überbevölkert, mit vielen Kriminellen (tsotsis), Gangs und mafiösen Organisationen. Anfang der 1950er wurde im Zuge der Segregationsgesetze der Abriss des berüchtigtermaßen ›gemischtrassigen‹ Sophiatown beschlossen, die Bewohner in andere Townships umgesiedelt, der Stadtteil als »Triomf« (nur für Weiße) wieder aufgebaut und erst 2006 in Sophiatown zurückbenannt.

Stinkwood-Baum: ein südafrikanischer Hartholzbaum (Ocotea bullata, Afrikaans: Stinkhout, Xhosa: Umhlungulu, Zulu: Umnukane), früher ein begehrtes Möbelholz, steht heute unter Naturschutz

Stoep: erhöhte oder ebenerdige Veranda, auf der man – je nach Wohlstand – hauptsächlich sitzt oder auch arbeitet, eine Art Freiluftzimmer

Stone: früher im British Empire eine Maßeinheit für Gewicht, erst seit 1985 offiziell abgeschafft. Ein Stone entspricht 6370 Gramm. Eine zehn Stone schwere Leiche wiegt also knapp vierundsechzig Kilogramm.

Township: Instrument der Segregationspolitik in Südafrika, nämlich als Teil der »idealen Apartheidsstadt«, in der alle »Rassen« sorgsam getrennt wurden. Laut dem Natives Urban Areas Consolidation Act von 1945 waren separate Wohngebiete für die »nichtweiße« Bevölkerung zu schaffen: Locations und Townships. Letztere sollten immer nur vorübergehendes Quartier für die schwarze Bevölkerung sein, die gerade in Industrie oder Bergbau gebraucht wurde.

Tsotsi: Gangster, Halbstarker, Tunichtgut

Veld: Grasland, Steppe, Savanne

Voortrekker: die Pioniere der Burenbesiedlung Südafrikas, hatten im 19. Jh. und während der Apartheid Kultstatus

Yellowwood-Baum: Breitblättrige Steineibe (Podocarpus latifolius), Nationalbaum Südafrikas, wird bis zu 35 Meter hoch

Zoll: Der Zoll ist der zwölfte Teil eines Fußes, 1956 als internationaler oder englischer Zoll auf exakt 25,4 mm festgelegt (zum groben Überschlag rechnet es sich schneller mit zweieinhalb Zentimetern). Mit Einführung des metrischen Systems geriet der Zoll weitgehend außer Gebrauch, nur im englischen Sprachraum hält er sich bis heute.

 

Der CulturBooks Verlag

 

CulturBooks ist ein Digitalverlag, der von Zoë Beck und Jan Karsten geführt wird. Seit Oktober 2013 erscheint ein vollständiges literarisches Programm – von der Kurzgeschichte, über die Novelle bis zu Romanen und Sachbüchern – mit einem Konzept, dem die denkbar einfachste Idee zugrunde liegt: Wir publizieren nur Texte, die uns gefallen. Erst wenn wir voll hinter einem Titel stehen, nehmen wir ihn ins Programm auf und setzen alles daran, das richtige Publikum für ihn zu finden.

 

Wir veröffentlichen Originale und Ersterscheinungen, wir halten im Print Vergriffenes verfügbar und wir kümmern uns um Lizenzausgaben toller Bücher aus sympathischen Verlagen.

 

Im Herbst 2015 erweiterte der CulturBooks Verlag sein Angebot von elektrischen Büchern um ein Unplugged-Label: Wir veröffentlichten mit »Cops in the City« und Ratih Kumalas Roman »Das Zigarettenmädchen« unsere ersten Printbücher. Natürlich gibt es davon auch, ganz konservativ, eBook-Ausgaben.

 

Unser vollständiges Programm finden Sie unter culturbooks.de. Dort können Sie sich auch für unseren Newsletter anmelden, wenn Sie über unsere Lesungen und Neuerscheinungen informiert werden möchten.

 

Ratih Kumala: »Das Zigarettenmädchen«

 

Jeng Yah – diesen Namen flüstert der Zigarettenbaron Pak Raja immer wieder, als er im Sterben liegt. Er möchte sie noch einmal sehen, bevor er stirbt. Seine drei Söhne wollen dem letzten Wunsch ihres Vaters entsprechen. Was aber hat es mit dieser Frau auf sich, über die ihre Mutter vor Wut und Eifersucht nicht reden will? Die jungen Männer machen sich auf die Reise, die sie von Jakarta tief ins Herzen Javas führt – und in eine Vergangenheit, die von Schuld und Verrat, von Liebe und Freundschaft, von Neid und Eifersucht erzählt. Zwei Männer, die wegen einer schönen Frau zu bitteren Feinden werden, zwei Familien, deren Wege sich über drei Generationen immer wieder kreuzen, bis die Versöhnung unmöglich scheint …

 

»Das Zigarettenmädchen«, der fünfte Roman der indonesischen Autorin Ratih Kumala, ist eine Geschichte über zwei Gründer von Zigarettenfabriken und die Entwicklung der Tabakindustrie, die das Land bis heute nachhaltig prägt. Dabei webt sie die politischen und gesellschaftlichen Hintergründe der jungen Republik ein, vom Ende der niederländischen Kolonialherrschaft und der Invasion der Japaner über die Massenmorde an den Kommunisten bis hin zum heutigen Indonesien.

 

»Das Zigarettenmädchen« – ein großer Familienroman, unterhaltsam und leichtfüßig, ein verrauchtes indonesisches »Buddenbrooks«.

 

Ratih Kumala: »Das Zigarettenmädchen«. Aus dem Indonesischen von Hiltrud Cordes. Mit 10 Illustrationen von Iksaka Banu. CulturBooks unplugged, Oktober 2015. 280 Seiten, Klappenbroschur. 17,90 Euro. eBook: CulturBooks Longplayer, 11,99 Euro.

 

Carlo Schäfer: »Das Bimmel ist ein hochloder Diffel«

 

Carlos kennt keine Berührungsängste, er begibt sich direkt ins Handgemenge mit dem Wahnsinn dieser Welt, mitten hinein in das Vereinsleben deutscher Dichter und Denker, die Idiotenfabriken von Schreibschulen, den Regiogrimmi, in die Hysterien von Facebookdebatten, in die Foren von Fernsehpfarrern, Volksmusikanten und xenophoben Vollpfosten.

 

Es ist Notwehr: Carlos bekämpft die täglichen Plagegeister, die da heißen Dummheit, Blödigkeit, Dreistigkeit, Ahnungslosigkeit, Frechheit, Gemeinheit, Widerwärtigkeit, Schmierigkeit und Gier mit der so ziemlich schärfsten ästhetischen und erkenntnistheoretischen Waffe, die es gibt: Mit Komik. Zu unserem großen Vergnügen.

 

Carlos Miniaturen aus dem heutigen galoppierenden Wahnsinn bieten sicher den radikalsten Querschnitt durch die Realitäten dieser Republik. Ein Querschnitt, der auch die sozialpsychologisch und -hygienisch verzweifeltsten, die ästhetisch heruntergekommensten und moralisch verderbtesten Gegenden mit einschließt, aus denen wir über den Zustand von Merkel-Land hier und heute in fünfzig Jahren mehr lernen werden, als wir jetzt schon ahnen.

 

Carlo Schäfer: »Das Bimmel ist ein hochloder Diffel.« Aus den »Carlos«-Kolumnen. Mit einem Vorwort von Thomas Wörtche. Digitales Original. CulturBooks Album, Mai 2015. 160 Seiten. 4,99 Euro.

 

Carlo Schäfer: »Der Tod dreier Männer«

 

Carlo Schäfer schreibt da weiter, wo Nikolai Gogol, Franz Kafka und Daniil Charms aufgehört haben: über das Groteske und Irre der Welt – präzise, genau, wahnwitzig, komisch und hammerhart. Ein Miniaturenroman, subtil gewoben, mit Knalleffekten.

 

»Der Tod dreier Männer. Über den Heimgang des Karl Karst, des dicken Herrn Konrad und dessen, der sich David nannte, sowie Medizin, Diakonie, Schädlingsbekämpfung und Theodizee« – so der vollständige Titel – ist ein roman noir ohne offensichtliches Verbrechen. Angesiedelt in zutiefst verbrecherischen Gegenden der menschlichen Seele.

 

»Ich hätte in meinem Leben gern mehr gute Dinge getan«, sagt er. »Aber dafür war ich zu dick. Ich habe aber eigentlich auch nicht allzu viel Schlechtes getan. Die Leute behandeln einen, als wäre man ein schlechter Mensch, wenn man dick ist, aber das ist nicht gerecht.«

 

»Carlo Schäfer bricht mit den Gesetzmäßigkeiten der Krimiliteratur, indem er auf Subversion durch Witz, Kodderschnauze und Sinnverweigerung setzt. Äußerst lesenswert.« Bruno Laberthier, faust-Kultur

 

Carlo Schäfer: »Der Tod dreier Männer«. Kurzroman. (Auch in englischer Übersetzung erschienen) CulturBooks Maxi, 2013. Digitales Original. 100 Seiten. 5,99 Euro.

 

 

21

Die sterbende Sonne setzte den Himmel in Brand. Vögel bezogen ihre nächtlichen Schlafplätze, und eine warme Brise strich über die Mathéma und die Yellowwood-Bäume hinweg. Emmanuel saß im Schneidersitz da und badete im letzten Licht des Tages. Die unzerstörbare Schönheit der Welt machte ihn staunen. Ein Vollmond, der über dem Schlachtfeld aufging, Pfirsichblüten, die auf ein frisches Grab fielen, Grashalme, die durch das geplatzte Straßenpflaster einer ausradierten Stadt brachen, und die Menschheit, die sich Ameisen gleich an der Oberfläche plagte. Krieg oder Frieden, die Erde kümmerte es nicht.

»Haben wir gewonnen, Sergeant Cooper?«, fragte Zweigman. Er lehnte an der Wand des Tunnels und kratzte sich an Armen und Beinen, eine recht übliche Nebenwirkung des Morphiums in seiner Blutbahn.

»Versuchen Sie mal, nicht zu sprechen.« Daglish klemmte die Ecken der Decke hinter Zweigmans Schultern. »Sie müssen sich ausruhen.«

Auch mit Drogen abgefüllt und frisch genäht widersetzte der deutsche Arzt sich allen Anweisungen. Er wedelte Daglish beiseite und sagte: »Erzählen Sie mir, was es Neues gibt.«

Emmanuel stand auf, ging hinüber und setzte sich neben Zweigman, ganz dicht, um den verletzten Arzt davon abzuhalten, sich zu bewegen. Eine ganze Nacht und ein Tag medikamentengestützten Schlafs hatten Zweigman gestärkt, aber er war noch nicht endgültig außer Gefahr.

»Wir haben nicht gewonnen, und die Neuigkeiten sind nicht gut«, sagte Emmanuel. »Unsere Hauptverdächtige, ein Hausmädchen auf der Little Flint Farm, hat für die Tatzeit beider Morde ein Alibi. Sie ist raus, und auf unserer Verdächtigenliste steht sonst niemand.«

Mercy Mhaule hatte am Freitag nach der Arbeit eine schnelle Runde durch alle Kraals gedreht, wo es gutaussehende unverheiratete Männer gab, egal ob sie dauerhaft dort lebten oder zeitweilig fortgingen, um in den Minen von Jo’burg zu schuften. Sie behandelte den Umstand, dass sie unverheiratet war, wie eine Krankheit, die bis zum Jahresende geheilt sein musste. Sie hatte sogar noch einen Abstecher zum Matebula-Kraal gemacht – auf Anraten einer Freundin, die ihr gesteckt hatte, dass der Große Chief möglicherweise nach einer neuen Frau Ausschau hielt. Am Sonntag hatte sie der Morgenandacht beigewohnt, mit ihren Cousins zu Mittag gegessen und dann vor dem Schlafengehen noch das kollektive Nachtgebet mitgemacht. Mercy hatte ein Dutzend Zeugen für beide Abende und keinen einzigen Heiratsantrag.

»Shabalala …« Zweigman kratzte sich an Stoppelkinn und Nacken, driftete mal in die Gegenwart, dann wieder weg. »Ich hab ihn doch gesehen. Jetzt ist er fort.«

»Shabalala ist eine Falle überprüfen gegangen, die er heute Morgen gelegt hat.« Emmanuel blickte in das schwindende rote Licht am Himmel. »Er wird bald zurück sein.«

»Und Lilliana und Dimitri geht es gut?«

Bei dem Gedanken daran, wie Zweigmans Frau und Sohn dem Verlust ihres Ehemanns und Vaters nur um Haaresbreite entgangen waren, stellten sich unwillkürlich Emmanuels Nackenhärchen auf. »Ja«, sagte er leise. »Sie sind beide wohlauf.«

»Lilliana macht sich zu viele Sorgen. Davida ist stark. Sie wird sich bald an ihr neues Leben gewöhnen. Ihre Mutter wird ihr dabei helfen. Und wir auch.«

»Davida?«, fragte Emmanuel. Die Zweigmans hatten Davida damals in der Hinterwäldlerstadt Jacob’s Rest bei sich aufgenommen und sie beschützt. Das deutsche Paar und ihre ›gemischtrassige‹ Ersatztochter standen sich weiterhin nahe, auch wenn Zweigman ihren Namen in Emmanuels Gegenwart kaum je erwähnte.

»Pssst … sie braucht jetzt Schlaf.«

»Ist sie denn krank?« Emmanuel beugte sich näher zu Zweigman und versuchte seine Aufmerksamkeit zurückzugewinnen. Er wollte hören, dass Davida glücklich war, dass seine leichtsinnige Handlungsweise nicht ihre Chance auf Liebe und Frieden ruiniert hatte.

»Na schön, das Mädchen zu ficken war schon ein klein bisschen unartig von dir«, sagte der Sergeant Major. »Aber es war bloß eine Nacht, Cooper, vor über einem Jahr. Sie hat’s wahrscheinlich längst vergessen. Oder ist es das, was dir zu schaffen macht – dass du nur eine Fußnote für sie warst?«

Emmanuel zuckte die Achseln. Er wusste selber nicht genau, warum die Erinnerung an Davida sich weigerte zu verblassen.

»Ich hätte Gitarre spielen lernen sollen«, murmelte Zweigman und kratzte sich am Ohrläppchen. »Stattdessen hab ich Akkordeon gelernt. Meine Mutter sagte, das würde mich bei Feiern beliebt machen …«

»Ruhen Sie sich aus«, sagte Emmanuel. Der Deutsche trieb in Zeit und Raum und Morphium dahin. »Ich muss Doktor Daglish beim Feuermachen helfen.«

»Tolle Frau. Wäre ich zehn Jahre jünger und noch der Mann, der ich mal war … aber diese Tage sind vorbei …« Zweigman rutschte tiefer unter die Decke und gähnte. »Einmal in den Sommerferien rannten Lilliana und die Kinder barfuß über die Wiese und versuchten Glühwürmchen mit dem Kescher zu fangen. Ich sah den Mond auf dem See.«

Zweigman glitt in den Schlaf, und Emmanuel verließ die Höhle, um einen Vorrat trockenes Holz zu suchen. Er würde heute Nacht von Davida Ellis träumen und erneut die Erinnerung durchleben, wie sie im weißen Nachthemd übers Veld lief, für immer aus seinem Leben rannte. Wo war sie jetzt?

Die Sonne ging unter, und der Abendstern ging auf. Rote Farbe verglühte am Horizont zu Kohlegrau, dann legte sich die schwarze Nacht um sie. Morgen um diese Zeit würde der Sangoma über die Zukunft von Amahles Mutter und ihrer kleinen Schwester entscheiden. So schön diese Landschaft im Frühling war, so harsch und kalt war sie im Winter. Schnee fiel in den Bergen, und Nahrung war dann schwer zu finden. Wie lange konnten Mutter und Tochter überleben, ausgestoßen und allein, bevor sie im Dorf der Vorfahren zu Amahle stießen?

* * *

Eine Hand kroch unter den Saum des schweren Brokatvorhangs, den Emmanuel als Decke benutzte, und tastete sich vor zu seiner Waffe. Er lag still und wartete darauf, dass Traum sich von Wirklichkeit schied. Die Hand erreichte den Druckknopf und zerrte am Leder. Kein Traum. Das war real. Emmanuel griff zu und bekam ein knochiges Handgelenk zu fassen. Gabriel zappelte und versuchte freizukommen, er schwitzte heftig im schwachen Schein des verlöschenden Feuers. Die King’s Row College-Uniform befand sich noch mehr in Auflösung, und Schmutzstreifen überzogen sein Gesicht.

»Was machst du da?«, flüsterte Emmanuel. Zweigman, Daglish und Shabalala schliefen rings um das Lagerfeuer, eingewickelt in Decken und Vorhänge aus Gabriels Fundus gestohlener Schätze.

»Ich hol mir deine Waffe«, sagte Gabriel.

»Wozu?« Emmanuel ließ den Schuljungen los und sah auf seine Uhr. Viertel nach vier, kurz vor dem Morgengrauen.

»Um die Rote Königin zu töten. Sie röstet ein Baby in den Kohlen.«

Das Militärsanatorium in England, wo Emmanuel sich erholt hatte, nachdem er im Krieg angeschossen worden war, beherbergte Wahnsinnige mit Tötungstrieb, lebende Leichen, die nur zerknautscht in der Ecke lagen, und unstete Nachtgeister, die durch die Gänge pirschten und nach Hause zu finden versuchten. Seine Erfahrungen dort hatten Emmanuel Respekt gelehrt vor der Macht des Geistes, eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen. Er konnte es in Gabriels Stimme hören: Die Rote Königin war real.

»Erzähl mir von der Roten Königin«, sagte er.

»Sie ist da unten.« Gabriel deutete in den nachtdunklen Wald. »Ich habe den ganzen Tag nach ihr gesucht, und dann hab ich sie gefunden.«

»Warum willst du sie töten?« Emmanuel versuchte es mit sanfter Logik, um zum Kern der Phantasiewelt des Knaben vorzustoßen.

»Sie war es, die Amahle auf dem Berg in Schlaf versetzt hat.« Gabriel schaukelte aufgeregt vor und zurück. »Sie hat böse Magie benutzt, aber wenn ich sie töte, kann sie Amahle finden und sie von der anderen Seite zurückbringen.«

Emmanuel schüttelte den Vorhang ab und griff nach seinen Schuhen. Wenn im Vorratsschrank Leere herrschte, wurden auch weit hergeholte Ideen zu Möglichkeiten. Seine Bewegungen weckten Shabalala, der über den Felsen herbeikroch in die dämmerige Welt von Hexen und Roten Königinnen.

»Sergeant?« Der Morgengruß des Zulu-Detective war zugleich eine Bitte um Aufklärung.

»Ich habe sie gefunden«, sagte Gabriel. »Die Frau, die einen Fluch auf Amahle gelegt hat. Emmanuel gibt mir seine Pistole nicht. Hast du eine?«

»Nein.« Shabalala beugte sich zu dem verwilderten Schuljungen hinüber und flüsterte: »Wie lautet der Name dieser Frau?«

»Die Rote Königin«, sagte Gabriel.

Emmanuel tauschte einen Blick mit Shabalala und bekam ein leichtes Achselzucken zur Antwort. Ob böse Hexe, Rote Königin oder silbernes Einhorn, es gab sonst keine Spuren, denen man folgen konnte.

»Bring uns zu dieser Frau«, sagte Shabalala zu dem Jungen. »Emmanuel nimmt seine Pistole mit, falls sie versucht, uns mit einem Fluch zu belegen.«

Gabriel stand auf und knöpfte sein Jackett zu, so wie er es wohl beim täglichen Morgenappell am College tat. »Wir müssen schnell machen«, sagte er mit einem Seitenblick auf den Webley, der immer noch in seinem Holster steckte. »Bevor sie davonfliegt.«

Emmanuel fuhr in seine Schuhe, Shabalala ebenso. Gabriel sprang von der Tunnelmündung auf das Felsplateau und rannte los in den Wald. Sie folgten ihm, ließen sich vom Klang seiner Schritte zwischen Bäumen und dichten Farnen hindurchleiten. Blassblaue Dämmerung erhellte schwach den Pfad.

Mit Gabriel und Shabalala Schritt zu halten erforderte Emmanuels ganze Konzentration, und er verlor das Gefühl für Zeit und Richtung. Der Wald lichtete sich, sie querten eine steinige, mit Aloe gesprenkelte Ebene. Ein roter Funke stach durch die Dunkelheit.

Gabriel wurde langsamer. »Ihr Feuer«, sagte er.

Sie verließen die Ebene und betraten einen eher spärlich mit Marula-Bäumen bestandenen Hain. Der Rauch des Feuers trug ihnen den Geruch von verkohltem Fleisch und brennenden Kräutern zu. Emmanuel verschloss sich jeder emotionalen Reaktion. Was immer dort in den Kohlen lag, es konnte nicht mehr geändert werden, nur hingenommen und dann begraben.

»Langsam …«, mahnte Shabalala zur Vorsicht. »Sonst hört sie uns.«

»Schnell«, entgegnete der Junge. »Sonst entwischt sie uns.«

Als sie sich näherten, flog eine Turteltaube aus den Bäumen auf. Der Klang ihres Flügelschlags in der Luft wirkte wie eine Warnsirene. Verschlafene Vögel zwitscherten los und stießen Alarmrufe aus. Emmanuel erspähte eine menschliche Gestalt, die sich am Feuer aufrichtete.

»Das ist sie«, rief Gabriel aus. »Die Rote Königin.«

Die Gestalt entfernte sich schnellen Schrittes von den Flammen und verschwand zwischen den Bäumen. Shabalala holte Luft und rannte los. Etwas Braunes blitzte ein paarmal zwischen den hohen Stämmen auf. Emmanuel brach nach rechts aus und lief dann parallel zu Shabalala, falls die fliehende Gestalt einen Haken schlug.

Das Aufschimmern von Braun war verschwunden und Emmanuel blieb stehen, versuchte sich zu sammeln. Der Klang rennender Füße wurde in einiger Entfernung immer leiser und verschmolz dann mit Vogelgezwitscher. Er drehte sich einmal im Kreis, desorientiert. Ein Lichtschein glomm zwischen schilfdünnen Stämmen, und er ging in diese Richtung. Ihm graute vor dem, was er in den Kohlen vorfinden würde.

Gabriel Reed hockte dicht am Feuer, fasziniert von einem verschmorten Objekt, das genau in der Mitte lag. Er rückte zur Seite, als Emmanuel erschien, wandte aber die Augen nicht von den Flammen. »Das ist das Baby«, sagte er.

Die Organe eines Kindes galten als mächtigstes Mittel schwarzer Muti, um einem Fluch Wirkung zu verleihen, und das galt noch mehr für die eines Fötus. Der Qualm stach Emmanuel in die Augen und die abstrahlende Hitze des Feuers brannte heiß auf seiner Haut. Er verharrte am Rand des sandigen Fleckens und brachte es nicht über sich, noch näher heranzugehen. Der Rauch und die Flammen spiegelten den Traum, in dem er durch brennenden Schutt taumelte und etwas suchte, was er nicht sehen konnte, und die Gegenwart eines toten Kindes steigerte seine Angst noch. Irgendwo in den Trümmern seines Alptraumes, verborgen hinter Aschewolken, gab es eine Frau und ein in Baumwolle gehülltes Kind. Das wusste er jetzt.

»Eins nach dem anderen, Soldat«, sagte der Sergeant Major. »Es gibt hier keinen anderen Weg als vorwärts. Beende die Mission.«

Emmanuel ging über den Sand, trat ans Feuer und starrte direkt in die schwelende Glut. Verkohltes schwarzes Fleisch klaffte auf und zeigte elfenbeinfarbene Rippen, darüber eine Reihe Zähne. Emmanuel beugte sich näher. Der Stand der Backenzähne schien nicht richtig.

»Such mir mal einen langen Stock, Gabriel. Wir wollen uns das genauer ansehen.«

Der Junge sprang auf und fuhrwerkte im Unterholz herum, bevor er mit zwei von Blättern befreiten jungen Zweigen wiederkam. Die Anziehungskraft des verkohlten Kadavers war eindeutig überwältigender als das Verlangen, die Rote Königin zu finden und zu töten.

Er reichte Emmanuel einen der Zweige, und sie zerrten die Überreste aus dem Feuer auf den Sand. Ein Rückgrat, Rippen und leere Augenhöhlen bestätigten, dass es sich einst um ein Lebewesen gehandelt hatte. Emmanuel hockte sich hin und fuhr mit der Spitze des Stocks die Kieferlinie nach, die lang und schlank war und definitiv nicht menschlich.

»Ein kleines Tier«, sagte er. »Könnte alles sein. Ein Hundewelpe oder eine neugeborene Impala.«

»Ein Baby«, beharrte Gabriel.

»Ja«, bestätigte Emmanuel. »Aber kein menschliches. Shabalala wird vielleicht wissen, was es ist.«

Der Himmel erhellte sich langsam, und einzelne Pflanzen und Felsen wurden erkennbar. Sich um Shabalala zu sorgen war Emmanuel bis jetzt nicht in den Sinn gekommen. Der Zulu-Detective war schnell und stark – aber was, wenn diese schwarze Muti tatsächlich wirkte und er einen Gegner mit dunklen Kräften jagte?

»Schwachsinn hoch zwanzig.« Der Sergeant Major spuckte die Worte. »Verdammt noch mal, Cooper, hast du nichts zu tun? Dann such dir was. Shabalala kommt gleich wieder.«

Emmanuel befolgte den Rat. Er schritt um das Feuer herum, vergrößerte den Kreis bei jeder Umrundung und suchte nach Hinweisen auf die Identität der Frau. Gabriel folgte ihm, setzte seine nackten Füße sorgfältig in die Abdrücke von Emmanuels Schuhen.

Eine silberne Perle schimmerte wie ein Tautropfen in der Wölbung eines braunen Blatts. Emmanuel hob sie auf und platzierte sie auf seiner Handfläche.

»Guck.« Gabriel ging neben einem Felsbrocken in die Hocke. »Noch eine, und noch eine.«

Silberperlen waren über den Boden verstreut worden und in Erdritzen gerollt. Karin Paulus hatte am Vortag etwas über Perlen gesagt. Emmanuel sammelte ein Dutzend davon auf und steckte sie in die Jackentasche.

»Sie gehören der Hexe«, sagte Gabriel. »Sie trägt sie an den Schultern und auf dem Rücken.«

Das war es. Karin hatte gesagt, die Frau bei Philani im Felsunterschlupf trug braunes Rehleder mit schimmernden Perlen um die Schultern. Eine Art Stola?

»Beschreib mir die Hexe«, sagte Emmanuel.

»Schwarze Haut. Trägt eine rote Krone.« Ein Phantomzeichner der Polizei hätte seine liebe Not mit dieser Beschreibung.

»Ist sie groß oder klein?«

»Sie ist voll.« Gabriel sammelte weiter Silber aus dem Dreck, entzückt von jeder einzelnen Perle. »Aber sie ist hungrig.«

»Sie ist fett.« Emmanuel bemühte sich, der Antwort einen Sinn abzuringen. Er hatte endlose englische Winterabende mit Rätselspielen im stickigen, mit Porzellansiamkatzen dekorierten Wohnzimmer seiner Schwiegereltern verbracht. Er verabscheute Ratespiele.

»Nein.« Gabriel steckte seine Beute in die Tasche. »Sie ist voll, nicht fett.«

»Also schön.« Emmanuel versuchte es mit einem anderen Ansatz. »Jeder hat zwei Namen. Den, bei dem er gerufen wird, und den, den du ihm gibst. Richtig?«

»Ja.«

»Wie lautet der andere Name der Roten Königin?«

Gabriel runzelte die Stirn. »Den kenne ich nicht, Emmanuel. Wir wurden einander nie vorgestellt.«

»Aber du würdest sie wiedererkennen, wenn du sie siehst?«

»Natürlich.«

Nicht, dass es eine große Rolle spielte. Ein psychisch instabiler Schuljunge war nicht gerade ein idealer Zeuge. Seine Aussage müsste durch stichhaltige Beweismittel erhärtet werden, besser noch durch ein unterschriebenes Geständnis der Frau.

Gabriel wirbelte herum, als rennende Schritte donnernd auf sie zukamen. Emmanuel öffnete den Druckknopf seines Holsters. Es konnte Shabalala sein, oder aber die Frau kam zurück, um sich ihr Objekt schwarzer Muti zu holen.

Der Zulu-Detective brach aus dem Wald und blieb am Feuer stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Sein Gesicht war schweißnass, sein zerknitterter Anzug und die verschmutzten Hosenaufschläge trugen die Spuren von zwei Tagen Tunnelübernachtung. So, wie sie hier zu dritt ums Feuer standen, konnten sie sich vor der Armenküche für Obdachlose in die Schlange einreihen, ohne aufzufallen.

»Sie hat sich versteckt, und ich habe sie verloren.« Shabalala wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. »Als das Tageslicht durchkam, habe ich ihre Fährte gefunden und bin ihr gefolgt bis zum Kraal von Chief Matebula. Es gibt da einen losen Ast im Zaun. So ist sie wieder hineingekommen.«

»Wahrscheinlich hat sie ihn selbst gelockert.« Emmanuel fragte sich, wie viele ›selbstsicher klingende‹ junge Frauen in der Familiensiedlung leben mochten. »Karin hörte die Frau in Philanis Unterschlupf über Chief Matebula sprechen. Außerdem haben Gabriel und ich die hier gefunden …« Er holte die Perlen aus der Tasche und hielt sie Shabalala hin. »Karin sagte, die Schultern der Frau waren mit braunem Wildleder und Perlen bedeckt.«

»Ihre Schultern waren bedeckt?« Der Zulupolizist sah Emmanuel scharf an.

»Ja.«

»Das hättest du mir sagen müssen, Sergeant.« Shabalala fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn, aber nicht schnell genug, um den erbosten Ausdruck auf seinem Gesicht ganz zu verbergen. Er war sehr aufgebracht. »Es war wichtig.«

»Ich hab vergessen, es zu erwähnen«, sagte Emmanuel. Wo war er da mit seinen Gedanken gewesen – bei dem Fall oder bei Karins und Ellas Nummer? »Entschuldige bitte.«

Shabalala sah weg, verlegen, weil er sich hatte hinreißen lassen. »Es ist in Ordnung. Wir lernen beim Gehen, wo der Weg verläuft.«

Dass er seine Worte zurückbekam, brachte Emmanuel zum Lachen. »So ist es, Constable, genau das tun wir. Jetzt erklär mir, was an einem Schal so wichtig ist.«

»Verheiratete Frauen bedecken ihre Schultern und ihren Kopf. Ledige tun das nicht.«

»Uns bei der Little Flint Farm auf die Lauer zu legen und Mercy zu befragen war folglich reine Zeitverschwendung.« Sie hatten einen ganzen Nachmittag damit vertan, sinnlos im Busch herumzuhocken.

»Vielleicht nicht ganz.« Shabalala starrte nachdenklich in die sterbenden Flammen. »Mercy ist am Freitag in den Matebula-Kraal gegangen, weil ihre Freundin gehört hatte, dass der Chief nach einer neuen Frau sucht.«

»Richtig«, sagte Emmanuel.

»Womit wollte der Große Chief denn für seine neue Frau bezahlen?«

»Du bist hier der Zulu-Experte, Shabalala. Sag du es mir.«

»Mit Vieh. Mit vielen Kühen, wenn er ein hübsches junges Mädchen erstehen will.«

»Und der Chief mag hübsche junge Dinger«, sagte Emmanuel. Jede der fünf Frauen im Ehefrauenbereich bei Amahles Begräbnis war schön gewesen, mit zarter Haut und Kurven. Ehefrau Nummer eins, Mandlas Mutter, und auch Nomusa besaßen außergewöhnlichen Liebreiz.

»Fünf Frauen, dazu viele Kinder, die man satt kriegen, und einen Kraal, den man zusammenhalten muss.« Shabalala dachte laut. »Es gab einen sicheren Weg für den Großen Chief, an Kühe zu kommen, um sein Verlangen nach einer sechsten Frau zu stillen.«

»Amahle«, sagte Emmanuel, der jetzt die Verbindung erkannte. »Er brauchte Amahles Brautpreis, um sich selbst eine weitere Frau zu kaufen.«

»Ich denke, darum war der Chief so wütend und begrub seine Tochter so würdelos. Er war ein Kind, dem man den Zucker vorenthalten hat.«

Emmanuel rückte näher ans Feuer. Die glühenden roten Kohlen verbreiteten einen bittersüßen Duft. Er überdachte noch einmal die Ermittlung. Jedes denkbare Mordmotiv, von Raub über Lust bis zu Eifersucht, war untersucht worden, und keines hatte sich untermauern lassen.

»Amahle wurde umgebracht, um zu verhindern, dass der Chief erneut heiratet.« Dieses komplexe Motiv wäre Emmanuel nie in den Sinn gekommen, und wenn er den Fall ein ganzes Leben lang überdacht hätte. »Welche von seinen Frauen würde so weit gehen?«

»Die, die am meisten zu verlieren hat«, sagte Shabalala. »Die keine Kinder hat, welche ihr im Alter zur Seite stehen, und keine Freundinnen unter den anderen Frauen.«

Emmanuel erinnerte sich, wie die fünfte Frau aufgestanden war, um Amahles Leiche zu sehen, während die anderen Frauen trauerten und schrien. Dann fiel ihm ein anderes Detail wieder ein: der hohe Turm ihres mit Perlen und Fasern verwobenen Haars zu einer steifen, ockerroten Krone. Gabriels schlafwandlerische Gabe für Namen hatte schließlich doch keine übernatürliche Metapher produziert – die fünfte Frau war tatsächlich die Rote Königin.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Ehe mit Matebula ein Leben ist, für das man töten würde«, sagte Emmanuel.

»Die Verhungernden kämpfen um Krümel. Die jüngste Frau hat gar nichts außer der Gunst des Chiefs. Keine Kinder, kein Geld, keine Verbündeten.«

Ein Gedanke traf Emmanuel. »Sie wusste nicht, dass Amahle vorhatte, die Hochzeit zu kippen und zu fliehen.«

»Yebo.« Shabalala stieß tief den Atem aus. »Hätte sie nur noch eine Woche gewartet …«

Eine Woche mehr, und Amahle, die Schöne, wäre fortgeflogen. Sieben helle Frühlingstage machten den Unterschied zwischen einem würdelosen Grab und einem verwirklichten Traum.

Wenn nur.

»Lass dich auf die Nummer nicht ein, Cooper. Diese zwei kleinen Worte können dich jederzeit fertigmachen«, sagte der Sergeant Major. »Wenn nur dein Vater langsamer mit dem Messer gewesen wäre und deine Mutter schneller gelaufen, wenn nur Hitler Maler geblieben und nicht Politiker geworden wäre, wenn nur deine Ehe gehalten hätte und du kein einsamer Mann wärst, ganz allein, der sich durch die Morde fremder Menschen wühlt. Der Scheiß wird dich wahnsinnig machen, Soldat. Alles, was du hast, ist das Jetzt.«

Wieder einmal hörte Emmanuel auf den Sergeant Major. Der gegenwärtige Augenblick enthielt genug Herausforderungen, um jede Melancholie abzuwehren. Denn die Identität eines Mörders aufzudecken und sie vor Gericht zu beweisen, das waren immer noch zwei verschiedene Aufgaben. Er ging durch, was sie bisher in der Hand hatten.

»Karin wird nicht zugeben, dass sie am Samstagabend Philani und die Frau im Felsunterschlupf gesehen hat. Sie wird nicht ihr Leben zerstören, nur um eine Zulufrau vor Gericht zu bringen«, sagte Emmanuel. »Sie fällt als Zeugin flach.«

Shabalala warf einen schnellen Blick auf Gabriel, der immer noch auf der Erde nach Silberperlen wühlte.

»Desgleichen«, sagte Emmanuel. »Er ist zwar weiß, aber das wird unserem Fall nichts nützen. Er ist zu sonderbar. Außerdem würde sein Bruder ihn nie aussagen lassen, und ich kann’s ihm nicht mal verdenken.«

Ein Junge mit einem sehr wackligen Zugriff auf Verhaltensregeln und keinerlei Sinn für äußere Erscheinung konnte nicht vor Gericht im Zeugenstand bestehen.

»Damit bleiben uns keine Zeugen.« Shabalala starrte in seinen Hut. »Die fünfte Frau kommt davon.«

»Wenn sie den Mord nicht gesteht, wird wahrscheinlich genau das passieren«, sagte Emmanuel. Dies war der dritte und schwierigste Meilenstein der Initation in die Bruderschaft der Detectives: zusehen, wie eine Ermittlung aus Mangel an Beweisen verschrumpelt und stirbt.

Gabriel stopfte seine Ausbeute an Silberperlen in die Tasche und kehrte zu dem verbrannten Kadaver zurück. Er ließ sich im Sand nieder, um das verkohlte Skelett und die brüchigen Sehnen zu inspizieren, die die Masse zusammenhielten. »Was ist das, Shabalala?«, fragte er. »Emmanuel sagt, es ist kein Baby.«

Jetzt, da die Sonne ein gutes Stück über den Bergkuppen stand und hell strahlte, hatten sie volles Tageslicht. Shabalala hockte sich neben Gabriel auf seine Fersen und untersuchte die Überreste, froh über die Ablenkung von dem zerfasernden Mordfall. »Ein Baby ist es schon«, sagte er. »Aber ein Buschbock-Baby.«

»Oh.« Gabriel ergriff den langen Stock, den sie benutzt hatten, um den Körper aus dem Feuer zu holen, und stieß die Spitze in eine Augenhöhle. »Warum hat die Hexe es umgebracht und im Feuer verbrannt? Es war noch so klein.«

»Huh …« Shabalala ließ sich das Szenario noch einmal durch den Kopf gehen, die rot glühenden Kohlen, das bittersüße Aroma, das aus dem Feuer aufstieg. »Du hast eine sehr gute Frage gestellt. Lass mich sehen, ob die Antwort im Feuer steckt.«

Er nahm den anderen langen Stock, um in Asche und sterbender Glut herumzustochern. Je tiefer der Ast hineinstieß, desto intensiver wurde der Geruch. Emmanuel beugte sich über Shabalalas Schulter und hielt sich die Hand vor Mund und Nase, um den Gestank abzublocken.

»Was ist das?«

»Kräuter, denke ich, aber mehr als eine Sorte. Es ist eine Mischung aus süß, bitter und sauer. Ich kann mich nicht erinnern, das je zusammen gerochen zu haben.« Irritiert sah er auf. »Das ist verwirrend.«

»Ein Muti-Ritual«, sagte Emmanuel. Der abgeschiedene Ort und der verbrannte Kadaver gingen ihm unter die Haut. Zumal der Rauch und das Bild der Phantomfrau mit dem Kind im Feuer aus seinem eigenen wiederkehrenden Traum zu stammen schienen.

»Es ist Muti«, bestätigte Shabalala. »Nur zu welchem Zweck, das weiß ich nicht.«

»Vielleicht geht’s um Glück.« Emmanuel trat zurück, um frische Luft zu atmen. »Damit der Sangoma Nomusa und ihre Tochter auch ja aus dem Kraal wirft.«

Shabalala stand auf und wandte sich Emmanuel zu. Sein Gesicht trug den listigen Ausdruck eines Jägers, der gerade herausgefunden hat, wie er eine schwer fassbare Beute fangen kann. »Ich weiß, wie wir sie kriegen, Sergeant«, sagte er.