GRINDELWALD

© Mirabilis Verlag 2014
www.mirabilis-verlag.de
Alle Texte, alle Fotografien: © Lothar Struck
Titelbild: © Lothar Struck
Satz: Wolfgang Schanz, Miltitz bei Meißen
ISBN 978-3-9816674-3-1
Alle Rechte bleiben vorbehalten. Ohne schriftliche Genehmigung des
Verlags darf kein Teil des Werkes in irgendeiner Form wiedergegeben,
vervielfältigt und verbreitet werden.
»Es gibt die ‚verkrachte Existenz‘ und das ‚verfehlte Leben‘; das erstere ist vorzuziehen«
Peter Handke, »Die Geschichte des Bleistifts«
»Vielleicht gehst du den falschen Weg.
Gedanken, die quälen: Du wirst sie nicht los,
Auch wenn die Sonne hervorkommt.«
Hermann Lenz, »Nach Hinterschmiding«
Grindelwald. Eine Autofiktion.
Es war ein derart einschneidender Moment, dass ich etliches, was um dieses Ereignis herum geschehen ist, vergessen habe. Ich stehe auf einer Verkehrsinsel in Grindelwald und telefoniere mit meiner Mutter. Kurz vor dem Abendessen; ein kurzes Melden nach einigen Tagen. Sie erzählt von meinem Vater, der beim Zahnarzt gewesen war wegen seines Gebisses, welches nicht passte. Es passte schon seit Jahren nicht, aber immer wieder hatte er den Gang zum Arzt hinausgezögert und stattdessen mit Unmengen von Gebissklebern versucht, eine Festigkeit zu erzeugen. Seit Jahren nimmt mein Vater dieses Pulver; das kleine rote Fläschchen ist in zwei, drei Tagen leer. Es ist Natriumalginat. Angeblich harmlos. Aber immer wieder, nach oder, peinlicher, manchmal während des Essens, fällt ihm das Gebiss heraus; länger als zwei, drei Mahlzeiten hält so eine Klebung nicht. Der Arzt hatte nun, wie meine Mutter sich ausdrückte, einen »Knubbel« im Mund festgestellt. Er kann kein neues Gebiss anpassen, bis dieses Ding entfernt ist. Man nahm eine Probe.
Ich weiß nicht mehr, ob meine Mutter mir schon damals sagte, dass es Krebs war. Oder ob das erst später war. Aber ich verließ die Telefonzelle mit dem Gefühl, dass mein Vater Krebs hat. Er war jenseits der 70, starker Raucher; Spieler. Sein plötzlich fasslicher, möglicher Tod ließ mich über ihn nachdenken. Ich ging wie in Trance aus dieser Telefonzelle. Und wurde traurig.
Dabei hatte ich oft meinem Vater den Tod gewünscht. Nicht als kleines Kind, jähzornig mit dem Fuß aufstampfend. Nein, später. Als er an diesem Weihnachten nicht kam, sich nicht meldete, meine Mutter am 24.12. nachmittags das Hotel in Hannover anrief, in dem er gewohnt hatte und wo er tatsächlich am 23.12. ausgezogen war (der Mann aus dem Hotel betonte, dass er immer erst spät abends auf sein Zimmer gekommen war, was uns merkwürdig vorkam, weil doch die Kaufhäuser um 18.30 Uhr schlossen). Einen Teil seines Gepäcks hatte er im Hotel stehen lassen. Niemand wusste, wo mein Vater war. Seine Einnahmen waren mit ihm verschwunden. Über die Feiertage erreichte man seinen Chef nicht, wir hatten nur die Nummer des Büros. Mein Vater war eine Art freier Handelsvertreter (»Propagandist« sollte ich in der Schule sagen – und niemand, selbst die Lehrer nicht, konnte mit diesem Begriff etwas anfangen; ich beharrte jedoch darauf), der auf Messen oder Ausstellungen ein Heimwerkergerät, eine Art Hobelbank mit Schraubstock, verkaufte. Das Weihnachtsgeschäft wurde dann in einem Kaufhaus gemacht; in Stuttgart oder Berlin, meistens jedoch in Hannover oder Hamburg. (Warum diese Städte, war dann irgendwann klar.)
Diesmal also Weihnachten. Es war das zweite oder dritte Mal, dass mein Vater plötzlich verschwunden war. Es war immer für drei, vier Tage. Ostern (wie Jahre vorher)? Ja. Aber Weihnachten? Da musste doch was passiert sein! Meine Mutter telefonierte sich die Finger wund. Ihre Verzweiflung überspielte sie mit Drastik. Hinzu kam: Ich drängte sie laufend, da und dort anzurufen; seinen guten Freund, den »reichen« Autohändler M. (für uns war er halt reich, weil er ein Haus hatte und wir auf dem mehr schlecht als recht ausgebauten Dachboden eines Altbaus wohnten, durch den im Winter manchmal Schnee eindrang und sich zu kleinen Hügelchen formte).
Als ich aus der Telefonzelle in Grindelwald heraustrat, erinnerte ich mich an meine Gefühle an jenem Weihnachtsfest, als ich meinem Vater den Tod wünschte, nur damit das alles endlich vorbei war. Denn irgendwie hatte ich gewusst – trotz der Sorge, die mitschwang – wie es wieder einmal ausgehen würde: Durch einen Anruf, nach Tagen der Furcht, ja Angst, mit dem Standardsatz »Ich habe einen Fehler gemacht«; jene gespielte Reue, die meine Mutter nicht mehr hören konnte, weil sie nicht ernst gemeint war oder sie glaubte, dass sie nicht ernst gemeint war. Dieses unterschwellige Betteln und Flehen um ein Wieder-aufgenommen-Werden in die Familie. Eine Familie bestehend aus meiner Mutter, meinem Stiefbruder U. (der Sohn aus der ersten Ehe meiner Mutter) und mir. Alles Menschen, die ihm vielleicht nicht den notwendigen Halt geben konnten, dachte ich in Grindelwald; aber damals, als ich mit einer Grippe im Bett lag und auf ihn wartete und stattdessen »Drei Männer im Schnee« schaute, verfluchte ich diesen Mann. Warum er nicht wenigstens einen Anruf machen konnte. Oder einfach aus dem Leben verschwinden. Aber was dann? U., zehn Jahre älter als ich, war Hilfsarbeiter, menschlich fragil, ohne Ausbildung, meine Mutter weit über 50 Jahre, ebenfalls ohne Ausbildung. Und ich lungerte in einer Schule herum, die mich abstieß und schließlich, noch schlimmer, gleichgültig machte, und mir war es schleierhaft, wie ich Mutters Idee von einer Karriere in einer Versicherung oder Bank jemals erfüllen sollte.
Mein Vater blieb verschwunden, auch zwischen den Jahren, aber es gab einen Hinweis. Ein Freund von ihm (eher ein Bekannter), dieser bekloppte Maler, den ich ein paar Monate vorher kennengelernt hatte und der mit uns zur Messe nach Kempen fuhr, wobei er, der Maler, aussehend wie ein Clochard, nach Alkohol riechend, für die zwanzig Minuten Bahnstrecke ein Erste-Klasse-Ticket löste, während mein Vater und ich in der Zweiten Klasse fuhren, dieser Mann wollte ihn gesehen haben. Meine Mutter rief ihn an, er war um elf Uhr morgens noch betrunken, wusste es nicht genau, ja, er hatte ihn vor ein paar Tagen gesehen, in einer Spielhölle am Mönchengladbacher Busbahnhof. Wann denn? Und: War er‘s wirklich? Ja, nein, ich weiß nicht. Mein Vater war also in der Stadt? Aber was sollten wir tun, die ganzen Spielkaschemmen abklappern, die wir gar nicht kannten und die man uns auch nicht zeigen würde? Eine Frau, die ihren Mann sucht, wird bei solchen Leuten sofort zum Gespött. Meine Mutter ging dann gleich im neuen Jahr zu einem Anwalt. Sie kam zurück, desillusioniert. Ja, eine Scheidung wäre kein Problem, und ja, er müsse Unterhalt zahlen, aber wie schnell ist er dann verschwunden und nicht auffindbar, man kennt das ja aus dem Fernsehen. Und dann mit mir und meinem Stiefbruder? Ich bremste plötzlich meine Mutter, wollte nicht mit 16 oder 17 als Ungelernter irgendwo arbeiten müssen oder von Sozialhilfe leben.