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Jutta Treiber, Autorin,

geboren in Oberpullendorf im Burgenland, studierte Germanistik und Anglistik und arbeitete als Lehrerin. Seit 1988 freie Schriftstellerin. Sie erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den Kinderbuchpreis und den Jugendbuchpreis der Stadt Wien sowie den Österreichischen Jugendbuchpreis.

Jutta Treiber

Vergewaltigt

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Vergewaltigt
von Jutta Treiber

Von Jutta Treiber unter anderem im GlrG Verlag als E-Book erschienen
„Der blaue See ist heute grün“, ISBN 978-3-7074-1734-0

1. digitale Auflage, 2015

www.ggverlag.at

ISBN E-Book 978-3-7074-1733-3
ISBN Print 978-3-8000-5470-1

© 2015 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien

Alle Rechte Vorbehalten.

1. Kapitel

Franka ist mutig. Franka hat keine Scheu, zu widersprechen. Ungerechtigkeiten aufzuzeigen. Gerechte Handlungsweisen einzufordern. Franka geht mit energischen, federnden Schritten. Ihre Freundinnen trauen sich nachts nicht allein nach Hause. Franka schüttelt den Kopf über so viel Ängstlichkeit. Franka hat ein strahlend schönes Lächeln. Franka wirkt beinahe unverletzlich. Franka ist manchen unheimlich, weil sie so ist, wie sie ist.

Franka, das war nicht immer ihr Name. Eigentlich heißt sie Franziska. Und bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr sagten alle »Franzi« zu ihr. Aber Franzi, das ist kein Name für ein dreizehnjähriges Mädchen. Und Franziska auch nicht. Franka, das passt. Das ist kurz, das hat Pfiff, das klingt nach Freiheit.

Am Anfang war der Name fremd, aber je länger Franzi ihn sich überstülpte, umso mehr wurde er zu einer passenden Haut. Mit vierzehn war Franzi Franka. Und nur Franka. Franzi war eine Erinnerung. Eine schöne Erinnerung. An eine glückliche Kindheit. Eine Kindheit mit vielen Freundinnen, mit Barbiepuppen auf Barbiepferden, mit Verkleidungen und Rollenspielen, mit Schwimmen und Radfahren, mit Singen, Tanzen, Klavier- und Gitarrespielen und mit Eltern, die meistens verständnisvoll waren. Eltern, die zwar den Nachteil hatten, dass sie sich lautstark beschimpften, wenn sie gegensätzlicher Meinung waren, und einander manchmal – wie in alten Slapstickfilmen – Tortenstücke an den Kopf warfen, sich aber ziemlich rasch beruhigten und nach dem Gewitter wieder unter blauem Himmel und einer warmen Ehesonne weiterlebten. Die elterlichen Streitereien waren für Franka zwar schwer auszuhalten, aber sie waren offenbar der Preis für die Harmonie danach. Verstärkt wurden sie durch die Tatsache, dass die Eltern auch beruflich zusammenarbeiteten. Sie betrieben gemeinsam ein Fotogeschäft, ein eigenes, das zu keiner großen Handelskette gehörte. Hinter dem Geschäft befand sich ein Fotostudio, in dem die beiden Porträtaufnahmen oder Passbilder machten. Franka hielt ihre Eltern für sehr gute Fotografen. Ihre Porträtfotos waren außergewöhnlich, nicht die ewig gleichen Fotos, die in den Auslagen der durchschnittlichen Fotografen hingen: Kinder, glatt frisiert und im schönsten Sonntagskleid, mit einem Teddybären in der Hand und einem dämlichen Grinsen im Gesicht, oder Hochzeitspaare, mit Weichzeichner aufgenommen, von Rosen umrankt. Solche Fotos machten ihre Eltern nicht. Sie versuchten, das Besondere in jedem Gesicht zu entdecken und diese Charakteristika auf dem Foto herauszubringen. Von Franka selbst hatten sie im Lauf der Jahre Unmengen von Fotos gemacht, die besten hatten sie vergrößert, sie hingen in Frankas Zimmer und mittlerweile in der ganzen Wohnung.

Franka stand vor dem Spiegel. Sie legte die Hände auf die Wölbungen an den Oberschenkeln, verjüngte die Silhouette zu einer geraden Linie. Wenn ich diesen Reiterhosenspeck nicht hätte, wäre ich wirklich schlank, dachte sie. Sie trat einen Schritt zurück. Deine Sorgen möchte ich haben, Franka!, sagte sie zu sich selbst. Es gibt Schlimmeres als ein paar Gramm Fett auf den Schenkeln.

Sie zog Jeans an und einen hellblauen Pullover, den sie gern trug. Er passte zu ihren hellblauen Augen. Sie tuschte die Wimpern, zeichnete die Augenkonturen mit einem Kajalstift nach, trug einen kräftig roten Lippenstift auf, bürstete ihr glattes hellbraunes Haar, das sie schulterlang trug. Steckte Geldbörse und Handy in die Tasche, zog die schwarze Lederjacke an, und bevor sie ging, schaute sie kurz ins Arbeitszimmer der Mutter.

»Ich treff mich mit Stefan!«, sagte Franka. »Wir gehen ins Kino.«

Die Mutter nickte. Sie mochte Stefan, wenn auch nicht vorbehaltlos. Aber dann, welchen Freund der eigenen Tochter mochten Eltern schon vorbehaltlos?

Franka hatte vor einigen Monaten zum ersten Mal mit Stefan geschlafen. Es war an einem Sonntagnachmittag gewesen, irgendwann im vorigen Herbst. Stefan hatte damals noch bei seinen Eltern gewohnt, die waren fürs Wochenende weggefahren. »Komm, wir gehen zu mir«, hatte Stefan gesagt und Franka hatte genickt, sie war ein wenig beklommen gewesen, hatte gewusst, dass es nun geschehen würde, das sogenannte erste Mal. Stefan war sanft gewesen. Auch umsichtig. Er hatte ein Kondom benutzt, ohne dass Franka ihn dazu hätte auffordern müssen. Sie fühlte sich sicher bei Stefan, sie konnte ihm vertrauen. Es hatte ein bisschen wehgetan, Franka hatte geblutet, ziemlich stark sogar, und war deshalb ein wenig erschrocken.

Stefan und sie waren noch eine Weile im Bett gelegen, hielten sich umschlungen, Franka war kurz eingeschlafen, und als sie aufwachte, sagte sie, sie müsse nun nach Hause gehen. Die Mutter hatte auf sie gewartet, Franka hatte sie angesehen und sofort gewusst, dass die Mutter wusste.

»Willst du mich nichts fragen?«, hatte Franka gefragt.

Und die Mutter hatte gelächelt und gesagt: »Nein, aber ich höre.«

Es war gut, ihr alles sagen zu können. Es war gut, dass sie es als selbstverständlich hinnahm. Es war gut, sie wegen des Blutes fragen zu können. Es war gut, dass sie Franka beruhigte.

Stefan wartete vor dem Kino auf Franka. Er stand da, in seiner typischen Haltung, an der sie ihn jederzeit und auf große Entfernung erkannt hätte. Den schlanken Körper leicht vorgebeugt, den schmalen Kopf zur Seite geneigt, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Als er sie sah, huschte ein Leuchten über sein Gesicht. Er nahm Franka an beiden Händen, zog sie an sich und küsste sie. Sie standen vor den Schaufenstern, unter einem Vordach, auf dem viele kleine Lichter die Illusion eines Sternenhimmels erzeugten. Stefan hatte schon die Karten gekauft. In einer Retrospektive wurde ein älterer Film gezeigt: Luna Papa.

Das Mädchen geht durch den Wald, heiter, voll Vertrauen; der Mann, der nicht sichtbar wird, verführt sie; sie gibt seinen Worten nach, sie liebt ihn; er verlässt sie, gesichtslos, kommt nie wieder. Sie wird schwanger, streitet mit dem Vater, ist für den behinderten Bruder verantwortlich, verliert sich selbst an die anderen. Am Ende jedoch entschwebt das Mädchen, das Dach ihres Hauses trägt sie davon wie ein fliegender Teppich.

Nach der Vorstellung gingen Franka und Stefan in das Café gegenüber dem Kino und unterhielten sich über den Film. Stefan war der Meinung, dass hier eine Vergewaltigung stattgefunden hätte, Franka hatte das nicht so interpretiert.

»Na, hör mal«, sagte Stefan, »da kommt ein wildfremder Mann im Wald auf sie zu, zwingt sie, mit ihm zu schlafen, schwängert sie und verlässt sie auf Nimmerwiedersehen. Als was würdest du das denn sonst bezeichnen?«

»Aber sie hat ihn geliebt. Er hat sie nicht gezwungen, er hat sie verführt.«

»Hätte sie sich ihm widersetzen können?«

»Trotzdem«, sagte Franka, »ich sehe das nicht so. Sie hat sich in seine Stimme verliebt und hat gedacht, er sei der Mann ihres Lebens. Dass er nachher auf Nimmerwiedersehen verschwindet, ist eine andere Geschichte.«

»Apropos Mann fürs Leben«, sagte Stefan und es klang halb ernst und halb ironisch. Er kramte in seiner Jackentasche und zog ein kleines Päckchen hervor. »Für dich«, sagte er. Franka war überrascht, öffnete es, zum Vorschein kam ein Silberring. »Nur so – oder gibt’s irgendeinen Anlass?«

»Genau vor einem Jahr haben wir das erste Mal miteinander geschlafen«, sagte Stefan.

Franka räusperte sich. »So lang ist das schon her«, murmelte sie. »Tut mir leid, ich hab nicht dran gedacht.«

»Das macht nichts«, sagte er.

»Doch«, sagte Franka.

Das Geschenk, so gut es auch gemeint war, freute sie nicht. Wenn Stefan einfach nur gesagt hätte: Weißt du, was für ein Tag heute ist … Oder so. Dann hätte sie überlegen können, dann wäre ihr vielleicht eingefallen, worauf er anspielte, und wenn nicht, hätte sie immer noch sagen können: Ach ja, klar, natürlich, weißt du noch, wie … Aber so, mit dem Geschenk, hatte sie keine Chance. Es war beschämend, dass er dieses Datum im Kopf behalten hatte und sie nicht.

»Danke«, murmelte sie. Und hatte dann eigentlich keine Lust mehr, noch länger in dem Café zu bleiben. Sie schaute ihn an, sein schmales Gesicht mit dem zusammengebundenen Pferdeschwanz. Es wirkte noch schmaler als sonst. Man sah ihm an, dass er enttäuscht war, aber er schwieg.

Er ist so höflich!, dachte Franka, so verdammt höflich. Und wusste im selben Moment, dass sie ungerecht war und dass sie sich in Wirklichkeit nur über sich selbst ärgerte.

»Plié, relevé und drehen, drehen. Lächeln, meine Damen, lächeln!« Katharina, die Tanzlehrerin, hob den Kopf leicht an und klatschte in die Hände. Franka beneidete sie um ihren durchtrainierten Körper, an dem sich kein einziges Gramm Fett angesetzt hatte. Katharina war wie eine Pflanze, schlank und biegsam und dennoch fest und widerstandsfähig.

Franka stand in der vordersten Reihe, vor den großen Spiegeln, ihre Mutter schräg hinter ihr. Tanzen war neben dem Fotografieren immer die große Leidenschaft ihrer Mutter gewesen und sie hatte auch in Franzi die Begeisterung fürs Tanzen geweckt und sie in sämtliche Ballett- und Jazztanzkurse mitgeschleppt, die sie besuchte. Das war so weitergegangen, bis Franzi dreizehn war. Da wollte Franka keinesfalls mehr mit der Mutter gemeinsam eine Ballettstunde besuchen. Und auch keine Jazztanzstunde. Franka wollte tanzen und die Mutter sollte sie gefälligst in Ruhe lassen. Die Mutter hatte das respektiert. Bis Franka dann, ein halbes Jahr nach ihrem sechzehnten Geburtstag, gesagt hatte: »Jetzt darfst du wieder!«

Die Mutter hinter ihr stöhnte und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Katharina merkte die Anstrengung und schob ein paar weniger kräfteraubende Bodenübungen ein. Und danach ein ruhigeres Stück. »Ausdruck, meine Damen, die Arme langsam nach oben führen, halten, halten …« Das war eine gute Gruppe. Katharina arbeitete gern mit den Leuten. Am Ende des Jahres würde es eine öffentliche Aufführung geben.

»Möchten Sie dabei auch mitmachen, Frau Weber?«, fragte sie Frankas Mutter.

»Um Gottes willen, nein!«, sagte die. »Ich tanze gerne, aber eine Aufführung – nein, nein, nicht mit diesen jungen Mädchen, ich weiß, wo meine Grenzen sind.«

Katharina dachte zwar, dass Frau Weber besser tanzte als so manches der jungen Mädchen, aber wenn sie nicht wollte, gut!

Franka ließ das heiße Wasser an ihrem Körper herabrinnen. Angenehme Entspannung nach dem Tanzen. Sie betrachtete ihre Brust, ihren flachen Bauch. Ich kann mit meiner Figur zufrieden sein, dachte sie. Alles andere, was ich sonst immer denke, ist Blödsinn. Ich muss ja nicht Haut und Knochen sein. Und Stefan findet meinen Körper schön.

Nach der Tanzstunde fühlte sich Franka ihrer Mutter immer sehr nahe. Sie hängte sich bei ihr ein. Dabei fiel ihr Blick auf ihre eigene Hand. »O nein!«, rief sie. »Das ist doch …«

»Was ist passiert?«, fragte die Mutter.

»Der Ring!«, sagte Franka. »Stefans Silberring. Ich muss ihn beim Duschen verloren haben. Oder beim Tanzen.«

Sie gingen nochmals ins Studio zurück, suchten nach dem Ring, konnten ihn aber nicht finden.

»Shit!«, fluchte Franka. »Shit, shit, shit! In der letzten Zeit geht alles schief!« Sie erzählte der Mutter die Sache mit Stefans Silberring.

»Na ja«, sagte die Mutter, »du hast ein Geschenk vergessen und ein Geschenk verloren, was soll’s? Es gibt Schlimmeres.«

Es gibt immer Schlimmeres, dachte Franka. Und es blieb in ihr eine leichte Unruhe.

Sie kaufte Stefan ein Rosenquarzbäumchen. Rosenquarz wirkte angeblich gut gegen Computerstrahlung. Stefan arbeitete seit Kurzem bei einer Regionalzeitung, deren Website er betreute. Auf dem Wochenmarkt sah Franka einen Silberring, der so ähnlich aussah wie Stefans Ring. Sie kaufte ihn und auch einen zweiten für Stefan. Vielleicht würde er gar nicht merken, dass es nicht der echte war. Lessings Ringparabel kam ihr in den Sinn. Drei Ringe, von denen nur einer echt war, die anderen nachgemacht, aber vom echten nicht zu unterscheiden. Drei Ringe, die bei den Menschen, die sie trugen, die gleichen guten Eigenschaften hervorrufen sollten. Franka lachte bei dem Gedanken.

Stefan merkte sofort, dass der Ring anders aussah als der, den er Franka geschenkt hatte. Also nix mit Ringparabel. »Tut mir leid, Stefan«, sagte Franka, »aber ich habe den Ring beim Tanzen verloren. Ich dachte, du würdest es vielleicht nicht merken.«

»Kennst du das elfte Gebot?«, fragte Stefan.

Franka runzelte die Stirn.

»Du sollst die Menschen nicht unterschätzen!«, fuhr Stefan fort. »Oder auf Deutsch gesagt: Du sollst sie nicht für blöder halten, als sie sind.«

Franka seufzte. »Danke für Gebot samt Interpretation«, sagte sie. »Ich kenne viele elfte Gebote, sie stammen alle von dir.«

Stefans Lippen wurden schmal und seine Augen bekamen einen leicht arroganten Ausdruck. Es sah aus, als würde Stefan die Augenlider absichtlich halb über die Augen hängen lassen und sich dahinter mit leichter Verachtung zurückziehen.

»Sei jetzt bitte nicht beleidigt, Stefan«, sagte Franka. »Aber deine elften Gebote sind manchmal schwer zu ertragen. Ich wollte es einfach nur wiedergutmachen. Ich hab’s gut gemeint.«

Gleich wird er sagen: Gut gemeint ist nicht gutgemacht, dachte Franka. Das sagt er öfter. Wenn er das jetzt sagt, flippe ich aus. Das ist wahrscheinlich auch ein elftes Gebot. Eines von den vielen.

Er sagte es nicht. Vielleicht hatte er die Bemerkung hinuntergeschluckt. Franka besann sich, dachte: Als er mir den Ring schenkte, hat er es auch gut gemeint. Und ich hab eigentlich auch gedacht: Gut gemeint ist nicht gutgemacht, auch wenn ich es nicht genauso formuliert habe. Also, warum werfe ich es ihm vor?

Irgendwie klappt es nicht mehr so recht zwischen uns. Er ist lieb, er bemüht sich um mich, er macht mir Geschenke, er ist höflich und aufmerksam, aber er hat so viele elfte Gebote. Das ist auf die Dauer mühsam und langweilig.

»Ich gehe heute Abend babysitten«, sagte sie. Der Satz stand in keinem Zusammenhang zu dem vorher Gesagten. Franka fragte sich selbst, ob die Botschaft dieses Satzes gelautet hatte: Ich kann den Abend heute nicht mit dir verbringen.

Stefan nickte. Hatte er die Botschaft verstanden?

Ein Mal in der Woche ging Franka babysitten. Zu einem jungen Ehepaar, das vor Kurzem in die Stadt gezogen war und hier keine Omas oder sonstigen Verwandten hatte. Leo arbeitete im Tourismusbüro, Ilse in der Bücherei. Ihr Sohn Samuel war drei und hatte eben begonnen in den Kindergarten zu gehen. Franka hatte Ilse in der Bücherei kennengelernt, sie waren ins Gespräch gekommen. Ilse hatte erzählt, dass sie einen Babysitter suche, damit sie wenigstens ein Mal in der Woche gemeinsam mit ihrem Mann ausgehen könne, und Franka hatte sich angeboten. Frankas Mutter hatte das sehr befürwortet und gesagt: »Uns ist es damals genauso gegangen, als wir hierher gezogen sind. Wir hatten auch keine Verwandten und waren froh, als wir eine junge Frau fanden, die ab und zu auf dich aufgepasst hat.«

Es gab zwei Wege zu dem Haus, in dem Ilse und Leo wohnten. Der eine führte durch die Stadt, die Bahnstraße hinunter, die Hauptstraße entlang und die Föhrengasse hinauf. Der zweite, wesentlich kürzere Weg ging über die Höhenstraße am Stadtrand. Franka ging fast immer den kurzen Weg über die Höhenstraße. Nur wenn sie etwas zu besorgen hatte, wenn sie Schaufenster betrachten oder das Kinoprogramm erkunden wollte, ging sie durch die Stadt.

An diesem milden Septemberabend nahm Franka wieder den Weg über die Höhenstraße. Die Luft war noch warm. Franka ging mit kräftigen, federnden Schritten. »An deinem Gang würde ich dich auf zwei Kilometer Entfernung erkennen«, sagte Birgit, ihre beste Freundin, immer zu ihr. Franka seufzte tief, versuchte alles aus sich herauszuatmen. Die Sache mit dem Silberring, so läppisch sie anmutete, beunruhigte sie mehr, als ihr lieb war. Warum eigentlich?, dachte sie. Es ist doch wirklich nichts passiert. Aber sie fühlte, dass es kein gutes Omen für ihre Beziehung zu Stefan war. Sie versuchte diese Gedanken abzuschütteln. Mach den Kopf frei für Samy, dachte sie. Er verdient es. Er ist ein so lieber kleiner Kerl. Wenn Samy mich umarmt und abschmatzt, mir etwas erzählt und den Eltern winkt und ihnen klarmacht, dass sie endlich gehen sollen, damit er und ich ungestört spielen können, dann möchte ich ihn dafür abküssen.

Sie ging die Bahnstraße hinauf und bog nach rechts ab in die Höhenstraße. Neben der Straße stand ein Bagger. Dahinter sah man eine hohe Rosskastanie. Der Wind spielte mit den Blättern. Franka erinnerte sich daran, wie sie und Birgit als Kinder immer Rosskastanien gesammelt und daraus Tiere und Männchen gebastelt hatten. Das war eine schöne Zeit, dachte Franka und kam sich plötzlich alt vor.

Die Landschaft lag im Abendrot. Hügel und freie Felder. Eine schöne, friedliche Landschaft. Franka lebte gern hier. Die Stadt war groß genug, um vieles zu bieten, Kino, Disco, Theater, Kabarett, Konzerte, Sportmöglichkeiten, und klein genug, dass man noch viele Leute kannte, viele Freunde hatte und dass man keine Angst haben musste, wenn man abends allein nach Hause ging.

Ihr Vater war da anderer Meinung, er wollte Franka immer mit dem Auto von überall abholen, auch vom Babysitten, aber Franka lachte ihn aus. »Wegen eines Fünf-Minuten-Wegs!«, sagte sie. »Ich glaub, du spinnst. Zahlt sich doch gar nicht aus, den Motor anzulassen!« Die Mutter sah das auch so. Und betonte, dass Franka kein kleines Kind mehr sei.

»Eben drum!«, sagte der Vater. Franka und die Mutter sahen sich an und verdrehten die Augen. »Du siehst Gespenster!«, sagte Franka an dieser Stelle des Gesprächs jedes Mal. »Was sollte mir in dieser langweiligen Stadt schon passieren?« Die Mutter brummelte etwas Bestätigendes im Hintergrund.

Franka trug graue Jeans, einen grauen Pullover und die schwarze Lederjacke. Sie schaute auf die Uhr. Sie wollte einmal ganz genau wissen, wie lange sie für die Strecke brauchte. Nach exakt fünf Minuten kam sie bei Leo und Ilse an.

Samy erwartete sie schon an der Tür. Seine Eltern sagten, sie würden um zehn Uhr wieder zurück sein.

»Reiten, reiten!«, rief Samy.

»Warte, Samy«, lachte Franka, »Lass mich erst ein bisschen verschnaufen.« Sie zog Lederjacke und Schuhe aus. Ließ Samy reiten. Baute ein Legohaus mit ihm. Ging mit ihm auf den Balkon, weil der Abend noch so mild war. Sang ihm ein Lied vor.

»Samy müde!«, sagte er irgendwann. Sie gab ihm das Fläschchen und legte ihn ins Bett. Las ihm eine kleine Gutenachtgeschichte vor. Während sie las, schlief er ein.

Franka ging ins Wohnzimmer. Stöberte im Bücherregal. Stieß auf Paulo Coelho »Der fünfte Berg«. Schmökerte ein bisschen darin. Und stieß auf einen Satz, der sie eigenartig berührte: »Tragödien hinterlassen sichtbare Spuren und Ruhm nur belanglose Erinnerungen.« Der Satz ließ sie nicht mehr los. Sie dachte, dass sie in ihrem bisherigen Leben noch nie eine wirkliche Tragödie erlebt hatte. Wenn sie sich mit ihren Freundinnen in der Schule verglich, so musste sie vor sich selbst zugeben, dass es ihr verdammt gut ergangen war. Sigrids Eltern hatten eine große Baufirma und daher nie Zeit für sie, Pias Bruder war vor zwei Jahren bei einem Autounfall gestorben, Natalies Schwester war behindert, Peters Eltern hatten sich scheiden lassen …

Warum hab ich eigentlich so unverschämtes Glück?, fragte sich Franka. Alles, was ich anpacke, gelingt mir. Meistens zumindest. Und sie schämte sich für die Tatsache, dass sie läppische Dinge wie ein vergessenes Geschenk oder einen verlorenen Silberring so aufbauschte. Meine Sorgen möchte ich haben!, dachte sie. Und nahm sich vor, in Zukunft mehr an die Schicksale der anderen zu denken, wenn sie sich wegen einer Lappalie beunruhigte.

Leo und Ilse kamen pünktlich nach Hause. Sie waren beim Heurigen gewesen und hatten dort ein paar Freunde getroffen.

»Magst du noch was trinken?«, fragte Ilse.

»Nein, danke«, sagte Franka. »Ich schau, dass ich nach Hause komme.«

»Soll ich dich begleiten?«, fragte Leo.

»Nein, nein, vielen Dank. Es sind nur fünf Minuten«, sagte Franka.

»Trotzdem …«, sagte Leo. »Es ist dunkel. Und ich möchte nicht schuld sein, wenn dir etwas passiert.«

»Ich bitte dich«, sagte Franka. »Du redest schon wie mein Vater, dabei bist du viel jünger. Nein, nein, ich bestehe auf meinem Recht, mich allein durch die Gegend zu bewegen. Übrigens, darf ich mir den Coelho ausborgen?«

Sie ging am Friedhof entlang. Sah flackernde rote Lichter. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass die Höhenstraße am Friedhof vorbeiführte. »Papa und Leo machen mich noch ganz verrückt!«, dachte sie. Sie begann zu singen. Wer keine Angst hat, singt. Aber umgekehrt kann man auch die Angst durch Singen vertreiben.

Der Wind war stärker geworden. Er rauschte in den Blättern der Bäume, ein starkes Lied, und die Äste tanzten und warfen bizarre Schatten auf den Weg. Von der entfernten Bundesstraße her kam das Summen von Autos. Die Turmuhr schlug. Zuerst hell, dann dunkel.

Franka gelangte zu dem abgestellten Bagger, da hörte sie Zweige knacken und sah einen Schatten vorbeihuschen. Dann war es still. Franka schüttelte den Kopf. Hatte sie tatsächlich jemanden gesehen oder gaukelte ihr die Angst etwas vor?

»Sei nicht blöd, Franka«, sagte sie zu sich selbst. »Lass dich von diesen ängstlichen Männern nicht irremachen! Und das nächste Mal verbietest du ihnen so dumm daherzureden.« Der Wind brach ein paar Äste der Rosskastanie. Sie schlugen krachend auf. Es ist nur der Wind!, dachte Franka. Sie ging mit energischen Schritten weiter und begann wieder zu singen.

2. Kapitel

Franka ballte die Faust. Auf dem Weg in ihre Klasse hatte sie aus der 4A ohrenbetäubenden Lärm gehört, also hatte sie zur Tür hineingeschaut und gesehen, wie einer der vierzehnjährigen Jungen auf einen anderen, der am Boden lag, wild mit den Fäusten einschlug.

»Hör sofort auf!«, schrie Franka.

Der Junge war von ihrem Auftreten so überrascht, dass er innehielt und Franka verblüfft ansah. Er hatte dichtes verstrubbeltes Haar, war sehr groß und von der Schlägerei schon hochrot im Gesicht. Auf dem Boden lag ein kleinerer Junge, ebenfalls hochrot, mit kurzen blonden Locken. Er rappelte sich auf.

»Idiot!«, sagte Franka zu dem Schlägertypen. »Jetzt ist Schluss mit der Mafiatour. Und zwar sofort. Sonst könnte es mir einfallen, dass ich deinen Lehrern etwas erzähle!«

Ich hasse Jungen, die sich prügeln, dachte sie beim Weggehen. Aber noch mehr hasse ich Leute, die andere verpfeifen. Warum agiere ich so?, fragte sie sich kurze Zeit später. Warum spiele ich mich auf, als wäre ich Robin Hood, der Rächer der Armen und Schwachen? Sollen sie sich prügeln, was geht mich das an? Warum glaube ich immer, dass ich mich in alles einmischen muss? Ich kann es mir selbst nicht erklären. In der letzten Zeit kann ich mir anscheinend gar nichts mehr erklären.

»Na, wieder mal die Welt gerettet?«, fragte Birgit und ihre schwarzen Augen blitzten spöttisch. Birgit war klein und zierlich, hatte einen dunklen Teint, schwarze Augen und dichte kurze Locken. Sie wirkte wie ein kleiner Kobold. »Ich hab schon gedacht, du stürzt dich selbst in die Schlacht.«

Franka zuckte zusammen, fühlte sich irgendwie ertappt.

»Warum sind diese Burschen eigentlich so blöd?«

Birgit zuckte die Achseln. »Das Animalische in uns, weiß der Teufel …« Es war ihr offensichtlich egal. »Hast du heute Nachmittag Zeit?«, fragte sie. »Gehen wir rollerskaten?«

Franka nickte.

In der Turnstunde spielten sie »tug o’ war«. Da die Turnlehrerin auch Englischlehrerin war, ließ sie immer wieder englische Ausdrücke in den Turnunterricht einfließen. Tug o’ war, das war nichts anderes als Tauziehen.

Sie liefen mit weit ausholenden Schwüngen den Radweg entlang. Sie hatten kurze T-Shirts angezogen, es war noch warm. Franka fuhr voraus, sie war die bessere und schnellere Skaterin. Sie war auch draufgängerischer als Birgit, fuhr manchmal abschüssige Straßen hinunter ohne zu bremsen. Birgit beneidete Franka um ihre Unbekümmertheit.

Franka war schon weit voraus, drehte um, fuhr zurück in Richtung Birgit, dann rollten sie in gemäßigtem Tempo nebeneinander her. Neben dem Radweg floss ein Bach, dessen Ufer dicht bewachsen war. Die Weiden bildeten ein Dach über dem Wasser.