Weihnachten, Geburtstage
und andere Katastrophen
Sonja, die Heldin in Blanca Imbodens Roman »Drei Frauen im Schnee«, ist verheiratet, Mutter von Teenager-Zwillingen und lebt mit ihrer Familie unter demselben Dach wie ihre Schwiegermutter. Das allein schon sorgt für allerlei Zündstoff. Eines Tages beschließt Sonja: Dieses Jahr muss Weihnachten anders werden. Leider gelingt ihr das nicht wie gewünscht. Im Gegenteil. Das Fest der Liebe und des Friedens gerät völlig aus den Fugen, weil nicht nur anstrengende Menschen, sondern auch noch verstörte Tiere ein nicht sehr weihnächtliches Chaos veranstalten. Also packt Sonja kurzerhand ihren Mantel, verlässt das Haus und – bekommt ein Geschenk: zwei neue Freundinnen. Nachdem die Silvesternacht für Sonja dann noch verrückter endet als Weihnachten, treffen sich die drei Frauen im Schnee, in den Bergen, auf dem Stoos. Und jede verändert damit das Leben der anderen zum Positiven.
»Drei Frauen im Schnee« ist eine heiter-besinnliche, ebenso komische wie nachdenkliche Geschichte rund um die Festtage, mit scharfsinnig beobachteten Szenen, wie wir sie alle kennen. Ein witziges und sehr charmantes Weihnachtsmärchen, das einem – anders als Blanca Imbodens Bestseller »Wandern ist doof« – nicht die Stunden im Liegestuhl am Strand versüßt, sondern die Zeit vor dem Kaminfeuer in der guten Stube.
, geb. 1962, war Sekretärin, Sängerin und Seilbähnlerin und lebt heute ihren Traumberuf: Schriftstellerin. Wenn sie nicht gerade in den Bergen unterwegs ist oder auf Lesetour durch die ganze Schweiz reist, tut sie das, was ihr das Liebste ist: Sie setzt sich hin und schreibt. Meist Romane, immer wieder mal Kolumnen und ab und zu auch eine Kurzgeschichte. Für Wörterseh schrieb Blanca Imboden zahlreiche Bestseller – die erfolgreichsten: »Wandern ist doof – Ein Kreuzworträtsel mit Folgen« (2013) und »heimelig – Warum Nelly aus dem Altersheim spazierte und nie mehr wiederkam« (2019). Die Autorin, die im Schwyzer Talkessel aufgewachsen und verwurzelt ist, lebt heute in Malters LU. www.blancaimboden.ch
Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.
© Wörterseh, Lachen
Wörterseh-Bestseller als Taschenbuch
3. Auflage 2020
Die Originalausgabe erschien 2013 als Klappenbroschur
Lektorat: Antje Steinhäuser
Korrektorat: Andrea Leuthold
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina
Fotos: Cover © Justin Metz/Ikon Images/Corbis und Paul Edmondson/Corbis; »Über das Buch« © Stoosbahnen AG, Stoos-Kapelle vor den Mythen; Composing Thomas Jarzina
Layout, Satz und herstellerische Betreuung: Rolf Schöner, Buchherstellung
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel
ISBN 978-3-03763-307-6 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-03763-037-2 (Originalausgabe, vergriffen)
ISBN 978-3-03763-544-5 (E-Book)
www.woerterseh.ch
Über das Buch
Über die Autorin
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Danke …
Die besinnlichen Tage zwischen Weihnachten und Neujahr haben schon manchen um die Besinnung gebracht.
Joachim Ringelnatz
Von allen Geschenken, die uns das Schicksal gewährt, gibt es kein größeres Gut als die Freundschaft – keinen größeren Reichtum, keine größere Freude.
Epikur von Samos
Dies ist auch ein Buch über Freundschaft, daher widme ich
es den wichtigsten Freundinnen meines Lebens:
Christa Keller (†), Sindy Hedinger-Kenel,
Lucia Schmid-Camenzind, Gaby Hartmann-Nobs,
Tina Bolfing und vor allem Cily Müller
und Rita Betschart-Wiget.
Nichts ist wertvoller als eine gute Freundin.
Danke.
Ich liebe unser gemütliches Frühstück am Sonntagmorgen. Paul holt frische Brötchen und die Sonntagszeitung. Die Zwillinge, Amelie und Lilly, decken unterdessen den Tisch. Der Kaffee duftet durchs Haus. Wir sitzen gemeinsam am stämmigen Eichentisch in der Küche, reden über Gott und die Welt und hören einander zu. Wir albern herum und genießen es, zusammen zu sein. Das sind wichtige Momente in unserem sonst oft chaotischen Familienleben. In diesen Momenten bin ich von ganzem Herzen Familienmensch und liebe meine Töchter und meinen Ehemann besonders.
Heute kommen wir auf Weihnachten zu sprechen.
»Oma möchte morgen das Haus dekorieren. Ich komme etwas früher von der Arbeit«, erklärt mein Mann.
Die Mädchen verdrehen die Augen. Ich kann sie verstehen. Jedes Jahr muss Paul unter Lebensgefahr einen alten, verrosteten Weihnachtsstern außen unter dem Dach anbringen. Man könnte längst etwas Neues kaufen, das sich viel leichter installieren ließe. Aber diesen Stern hat Pauls verstorbener Vater vor vielen Jahren eigenhändig in seiner Werkstatt zusammengebastelt. Und meine Schwiegermutter Irene besteht darauf, dass er Jahr für Jahr ihr Haus ziert. So wie sie überhaupt alles Jahr für Jahr genau gleich haben will.
The same procedure as every year …
»Der Stern geht ja noch«, meint Lilly. »Aber die Engel!«
Sie zieht eine Grimasse.
Unser Treppenhaus wird vor dem ersten Advent mit Engeln dekoriert. Sie hängen und stehen und kleben und liegen überall. Ach ja, und einige fliegen sogar.
»Manchmal denke ich beim Heimkommen, ich sei irrtümlich schon im Himmel gelandet«, schimpft Lilly weiter.
»Du kommst sowieso nicht in den Himmel«, bemerkt Amelie trocken, worauf ihr Lilly den Ellenbogen in die Seite rammt.
»He, ihr beiden!«, mahnt Paul. »Das gehört nun mal zu Weihnachten, und ihr wisst: Das macht eure Oma auch für euch, weil sie euch lieb hat.«
Lilly steckt sich demonstrativ den Finger in den Hals, was Paul gerade nicht sieht, weil er sich Leberwurst aus dem Kühlschrank holt.
»Weihnachten ist doof«, sagt sie.
»Genau«, bestätigt Amelie.
Weihnachten ist doof?
Ich hör wohl nicht recht!
Jedes Jahr quäle ich mich durch dieses Fest, das ganz und gar unter Irenes Regie steht. Und wenn ich nur ein einziges Mal eine winzig kleine Änderung im Programm anrege, wird mir erklärt, dass ich doch wenigstens der Kinder wegen meine eigenen Wünsche zurückstecken könne.
»Die Kinder lieben das Fest so, wie es ist«, erklärt Irene jedes Mal voller Überzeugung. Damit nimmt sie mir Jahr für Jahr den Wind aus den Segeln. Denn ich liebe meine Zwillinge und will ihnen sicher nicht Weihnachten verderben.
Und nun die knallharte Offenbarung: Weihnachten ist doof!
»Jetzt reichts aber! Wie seid ihr denn heute drauf? Warum wird hier plötzlich alles infrage gestellt?«
Paul ereifert sich und schickt auch mir einen strafenden Blick.
»Was passt euch denn nicht an Weihnachten? Wir haben es doch jedes Jahr richtig schön. Wir singen und spielen zusammen, bekommen ein gutes Essen …«
»… ja, eine fette Gans. Pfui Teufel. Immer dasselbe Menü«, wirft die sportliche Lilly trotzig ein. »Ich kann so fettes Zeug nicht vertragen. Aber das interessiert natürlich keinen.«
Die begeisterte Tennisspielerin achtet tatsächlich immer sehr auf eine gesunde Ernährung. Durchaus denkbar, dass ihr Magen revoltiert, wenn er plötzlich massive Speisen verdauen muss.
Paul schimpft weiter: »Es geht da nicht nur um euch. Es geht auch um Traditionen. Onkel Leo kommt ja auch immer zum Fest aus dem Altersheim. Ein bisschen Respekt vor dem Alter würde euch gut bekommen.«
Jetzt verdrehen beide Mädchen die Augen.
»Respekt vor unserem Großonkel?«
Lilly hat mit einem Mal einen roten Kopf, so sehr regt sie sich auf: »Unser Großonkel Leo … der ist immer so aufdringlich! Er ist widerlich.«
Ich bin sprachlos.
»Ach, kommt! Er ist ein alter Mann. Da übertreibt ihr sicher ganz ordentlich«, lacht Paul nur.
Ich habe inzwischen meine Sprache wiedergefunden: »Was macht er?«
»Er kommt uns viel zu nahe, und wenn er an uns vorbeigeht, streift er uns unauffällig. Das ist bestimmt kein Zufall oder alberne Neckerei, dafür macht er es viel zu oft und außerdem bei uns beiden. Manchmal gibt er uns einen bescheuerten Klaps auf den Hintern. So etwas muss sich doch heute nicht einmal mehr die Serviertochter in einer zwielichtigen Kneipe gefallen lassen. Nein, er ist wirklich ein Widerling«, schimpft nun auch Amelie.
»Auch wenn er mir übers Haar streicht, ekelt mich das an. Wir sind doch nicht seine Puppen«, legt Lilly nach.
»Das will ich gar nicht hören. Sicher steckt keinerlei böse Absicht dahinter«, erklärt Paul bestimmt und schaut finster in die Runde. Da habe ich aber auch ein Wort mitzureden: »Paul! Wie kannst du nur! Du meinst also, sie sollen sich nicht so zieren? Er ist ja mit ihnen verwandt, also ist ein kleiner Übergriff zu verschmerzen? Was ist denn das für eine Einstellung? Und was für Signale gibst du unseren Töchtern für ihr Leben?«
Ich verschlucke mich fast an meinem Kaffee vor Empörung.
»Amelie und Lilly, eines ist klar: Keiner kommt euch zu nahe, wenn ihr das nicht wollt. Sollte er das dieses Jahr wieder tun, dann wehrt euch so laut, dass wir das alle hören. Das müsst ihr mir versprechen!«
Die Mädchen nicken und schauen mich dankbar an. Ich schäme mich: Für diesen alten Lüstling, der sich Onkel Leo nennt, für meinen Mann, der alles nicht schlimm findet, und für mich, weil ich nie etwas bemerkt habe.
Fröhliche Weihnachten!
Es ist noch nicht einmal Advent, und ich habe schon genug davon.
»Denkt einfach daran: Nächsten Sonntag ist der erste Advent, und wir sind wie immer am Nachmittag bei Oma oben«, sagt Paul schließlich nur.
Er öffnet die Zeitung und meldet sich damit vom Gespräch ab, verstimmt und eingeschnappt.
»Nein!« Lilly gibt noch immer keine Ruhe.
»Diesmal geht das wirklich nicht!«, wird sie von Amelie unterstützt.
Oh, wenn die Zwillinge zusammenhalten, sind sie eine nahezu uneinnehmbare Festung.
Paul lässt genervt die Zeitung sinken.
Er bemüht sich, nicht zu schreien, aber das macht seinen Tonfall fast noch bedrohlicher: »Ihr seid jetzt sechzehn Jahre alt, und bisher haben wir das jedes Jahr so gemacht. Da möchte ich doch gern wissen, warum es plötzlich nicht mehr geht? Bloß zwei Stunden, nicht mehr! So viel sollte euch die Familie wert sein. Die Adventssonntage gehören der Familie. Basta.«
Lilly erklärt, dass ein großer Star in ihre Schule komme.
»John Grisham liest an der Kantonsschule, und er erzählt uns, wie er schreibt. Wir können mit ihm reden und ihm Fragen stellen«, sprudelt es aus ihr hervor.
»Der Krimiautor?«, fragt Paul entsetzt.
»Wir lesen gerade ›Das Fest‹, einen älteren Roman von Grisham, eine Weihnachtsgeschichte. Dort beschreibt er ein Ehepaar, das einfach mal beschließt, Weihnachten ausfallen zu lassen. Ein wirklich cooles Buch mit schrägen Einfällen.«
»Ja, ja. Den Film dazu kenne ich. Wieso muss der am ersten Advent in die Schule kommen? Seit wann geht ihr freiwillig an einem Sonntag zur Schule?«
Paul versteht die Welt nicht mehr.
Lilly wehrt sich: »Es ist ein Wunder, dass er überhaupt gerade in der Schweiz ist und dass er uns tatsächlich die Ehre gibt. Da kann man doch nicht über Termine diskutieren!«
Tja, meine Mädchen werden langsam groß und unbequem. Sie haben eine eigene Meinung, ein eigenes Leben, einen eigenen Terminkalender.
Höchste Zeit, dass ich es ihnen gleichtue.
»Da werden Papa und ich halt allein bei Irene Kaffee trinken. Solange ich nicht euren Anteil an Plätzchen und Keksen in mich reinstopfen muss …«, erkläre ich und lege dabei meinem Ehemann beruhigend die Hand auf die Schultern.
Er brummelt etwas in sich hinein, und die Mädchen verabschieden sich schnell, aus Angst vor weiteren Diskussionen. Amelie beginnt, Geige zu üben, und Lilly knallt kurz darauf ihre Zimmertür zu, genervt von den endlosen Tonleitern.
Paul sitzt ratlos da, und er könnte einem fast ein ganz klein wenig leidtun. Aber es ist höchste Zeit, dass er diese Lektion lernt: Nichts ist in Stein gemeißelt. Nur weil etwas ein paar Jahre so und nicht anders war, muss es nicht ewig genau gleich weitergehen. Die Mädchen werden langsam erwachsen und haben ihr eigenes Leben.
Ich habe mir für das neue Jahr auch einige Veränderungen vorgenommen. Paul muss aufpassen, dass er den Zug nicht verpasst, wenn er der Einzige ist, der sich nicht vom Fleck bewegt.
Seit wann stehe ich eigentlich so auf Kriegsfuß mit dem Weihnachtsfest?
Als Kind habe ich Weihnachten geliebt. Ich habe nur allerschönste Erinnerungen daran. Auch als die Kinder noch klein waren und wir in einer Altbauwohnung gehaust haben, waren die Festtage immer eine glückliche, aufregende Zeit. Wir feierten unkonventionell und fantasievoll. Da gab es auch mal eine Schneeballschlacht statt der Weihnachtsgeschichte oder ein Spaghetti-Essen statt eines aufwendigen Festmenüs.
Aber dann ist Pauls Vater gestorben, und Irene hat sich großzügig bereit erklärt, in ihrem Haus am Dorfrand von Schwyz die kleine Dachwohnung zu beziehen und uns den großen unteren Teil zu überlassen. Jetzt wohnen wir in einer imposanten Villa mit Garten – und mit Irene. Seit wir hier leben, führt Irene über die Weihnachtsfeste Regie. Sie kann in ihrer Wohnung keine Gäste mehr bewirten, dafür ist diese zu klein. Also findet das Fest bei uns statt – aber nach Irenes Spielregeln, nämlich so, wie es immer schon war. Vor dem ersten Advent wird das Haus geschmückt. An den Adventsnachmittagen wird bei ihr oben musiziert und Kaffee getrunken. Am Heiligen Abend wird in unserer Wohnung groß gefeiert, mit wechselnden Gästen aus der Verwandtschaft. Onkel Leo ist immer dabei. Es gibt eine Gans mit Kartoffelstock, dazu Rotkraut und zur Nachspeise, wenn keiner mehr auch nur ansatzweise Appetit hat: Schwarzwäldertorte. Danach sind alle satt und müde. Es folgt eine Stunde Musizieren vor dem Christbaum. Im Anschluss liest Irene die Weihnachtsgeschichte vor. Schließlich gibt es Geschenke.
Ach so: der Christbaum!
Sein Schmuck besteht aus Erbstücken von Irenes Familie. Wehe, es fällt etwas herunter! Antike, wertvolle Kugeln. Nur hat leider jede eine andere Farbe. Dazu kitschige Engel mit abblätternder Goldverzierung, dazwischen Mengen von Lametta, dass man fast davon blind werden könnte. Die Glitzerstreifen werden mehrere Jahre verwendet, versteht sich …
Um 23 Uhr gehen alle gemeinsam in die Mitternachtsmesse. Die Wohnung sieht zu diesem Zeitpunkt aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Egal. Danach gehen alle schlafen, außer mir. Ich räume auf und putze, weil am 25., so will es der Familienbrauch, ein Weihnachtsbrunch stattfindet. Selbstverständlich habe ich versucht, da und dort das Programm und die Vorschriften ein wenig zu lockern. Aber ich habe immer auf Granit gebissen. Paul meinte, seine Mutter sei nun schon alt, da müssten wir einfach Rücksicht nehmen auf ihre Gewohnheiten. Traditionen seien doch etwas Schönes. Außerdem hätten wir ja auch diese großartige Wohnung von Irene bekommen.
Die Mädchen haben bisher nie aufgemuckt. Ich dachte tatsächlich, sie hätten Weihnachten gern, genauso und immer wieder gleich.
»Wie kommst du darauf?«, meint Amelie, als ich sie am Nachmittag darauf anspreche. »Das Fest ist nervtötend. Ihr seid alle immer dermaßen gereizt, dass wir vom ersten Advent an das Gefühl haben, wir dürften nur noch auf Zehenspitzen gehen. Nie streitet ihr euch so oft wie vor Weihnachten.«
Stimmt das?
Wahrscheinlich schon.
Ich bin tief betroffen.
Asche auf mein Haupt.
Aber Amelie plappert munter weiter: »In der Schule lesen wir ja gerade Weihnachtsgeschichten aller Art. Den Roman von Grisham, den solltest du dir auch mal reinziehen. Oder die Geschichte von Böll über die Frau, die einfach jeden Tag Weihnachten feiern wollte und sonst Schreikrämpfe kriegte.« Amelie erzählt, dass sie in der Schule viele Diskussionen über Weihnachten geführt hätten. Fächerübergreifend, wie sie betont. »Stell dir vor: Wir haben darüber abgestimmt, wer von uns das Weihnachtsfest abschaffen möchte. Das Fest blieb nur knapp von der Abschaffung verschont, und als wir genauer nachgefragt haben, wollten viele bloß nicht auf die Geschenke verzichten.«
Weihnachten abschaffen?
Manchmal sind die Gespräche, die im Schulunterricht geführt werden, wirklich gewöhnungsbedürftig. Während wir früher Geschenke gebastelt und bei Kerzenlicht andächtig gefühlvollen Geschichten gelauscht haben, diskutieren die Kinder heute über die Abschaffung von Weihnachten. Hätte das früher ein Lehrer gewagt, hätten die Eltern geschlossen protestierend bei ihm auf der Matte gestanden, der Gemeindepfarrer allen voran.
Allerdings fand ich es mutig und unkonventionell, als die Schüler im Oktober gemeinsam im Unterricht einen Brief an unsere Großhändler schrieben: Niemand wolle bereits im Herbst Weihnachtsgebäck kaufen, erklärten sie, mit all ihren Unterschriften. Vorausgegangen war ein Statement der Migros, der frühe Verkaufsstart von Weihnachtsgebäck entspreche einem Kundenwunsch. Ha! Das fand sogar ich lächerlich. Wer geht denn allen Ernstes im Oktober in den Supermarkt und bedauert es, wenn es noch keine Mailänderli und Zimtsterne zu kaufen gibt?
Und ich gebs zu: Ich war wirklich entsetzt, als bereits Mitte Oktober rund um unser Einkaufszentrum die Bäume ihre Blätter lassen mussten, um die Äste mit Lichterketten einfassen zu können. Und als ich Anfang November beim abendlichen Einkauf auf dem Parkplatz von bunten Leuchtscheinwerfern erfasst wurde und fast nicht mehr aus der Parklücke herauskam, weil ich derart geblendet wurde, war ich auch verärgert.
Aber ist das Schulstoff?
Andererseits ist es natürlich gut, wenn sich die Schüler nicht nur mit abstraktem Schulwissen abfüllen lassen, sondern sich auch mit dem Leben auseinandersetzen. Sie sollen ja möglichst viel diskutieren und hinterfragen. So lernen die jungen Leute, sich eine eigene Meinung zu bilden und sich auszudrücken.
Dass sogar das Weihnachtsfest infrage gestellt wird, erstaunt mich allerdings. Ich wünschte, ich könnte auch in meiner eigenen Familie mehr und offener darüber reden. Hier, heute und jetzt flammt ein kleines, winziges Flämmchen von Widerstand in mir auf.
Singen ist eine meiner Leidenschaften. Ich habe schon immer gesungen und kann mich sogar ein wenig auf dem Klavier begleiten. Als junges Mädchen wollte ich Sängerin werden. Heute macht mir der Gesang das Putzen erträglicher. Was für eine extrem langweilige Hausarbeit. Sisyphus lässt grüßen. Die Putzerei schlägt das Bügeln noch um Längen.
Go on now go – walk out the door – just turn around now – ’cause you’re not welcome anymore …
Ich singe mich durchs Wohnzimmer, übertöne glatt den dröhnenden Staubsauger. Die Stereoanlage habe ich laut aufgedreht. Trotzdem singe ich Gloria Gaynor locker an die Wand.
I’ve got all my life to live – I’ve got all my love to give – and I’ll survive – I will survive – hey hey
Gerade habe ich mich so richtig schön in Schwung gesungen, da werde ich unsanft aus dem Discozeitalter ins Jetzt zurückgeholt.
»Muss das so laut sein, Sonja?«
Irene. Meine Schwiegermutter. Ihre Überraschungsbesuche sind eine regelmäßige Heimsuchung.
»Irene, wie schön, dass du zu Besuch kommst, überraschend wie immer«, schreie ich und zeige meine Zähne, in der Hoffnung, sie würde dies als eine Art freundliches Lächeln wahrnehmen.
Irene schreitet entschlossen auf den CD-Player zu und dreht die Lautstärke herunter. Sie drapiert theatralisch einen Adventskranz auf unserem Esstisch und fegt dafür unwirsch ein paar herumliegende Jugendmagazine beiseite.
»Ich habe euch auch einen gekauft. Die Jungen aus der Nachbarschaft kamen gerade vorbei. Ich dachte schon, dass du ihr Klingeln gar nicht gehört hast.«
Ja, alle Jahre wieder versuche ich, das Klingeln zu ignorieren, wenn die Jugendvereine ihre Adventskränze an der Haustür verkaufen wollen. Sie sind im Supermarkt schöner und billiger. Im letzten Jahr haben wir ohnehin ganz darauf verzichtet, und keiner hat ihn vermisst.
»Oh, schon wieder Weihnachten?«, frage ich unschuldig.
»Schon wieder Weihnachten?«
Irene schluckt schwer und schaut mich fassungslos an.
»Am Sonntag ist der erste Advent«, antwortet sie, empört über meine Unwissenheit und Ignoranz.
»Danke«, sage ich höflich und zeige auf ihr Mitbringsel. »Die Mädchen werden sich bestimmt freuen.«
Allerdings sieht der Adventskranz ziemlich kümmerlich aus, und die Kerzen stecken recht windschief in dem Ding. Aber es ist ja die Geste, die zählt …
Irene rauscht kopfschüttelnd von dannen, und mir ist die Lust, zu singen, vergangen. Meine Laune war vorher eindeutig besser. Ich räume den Staubsauger weg, binde meine Haare zusammen und fange an, die Toilette zu putzen. Das passt nun besser zu meiner Stimmung.
Wie oft haben wir schon darüber diskutiert: Irene soll hier nicht unangemeldet reinschneien. Wenn Paul einmal, zermürbt von meinen Klagen, mit Irene darüber gesprochen hatte, gab sie sich immer einsichtig. Und ein paar Tage später stand sie wieder aus irgendeinem unerhört wichtigen Grund überraschend mitten in der Wohnung.
Es ist höchste Zeit, dass ich selber wieder aus der Wohnung herauskomme. Im September habe ich im Zuge einer Umstrukturierung meinen Teilzeitjob bei der hiesigen Bank verloren. Und dies, obwohl doch Paul dort ein hohes Tier ist. Nicht einmal Beziehungen sind mehr das, was sie einmal waren. Anfangs fanden es alle ganz nett, dass ich wieder mehr zu Hause war. Ich auch. Paul meinte, ich könne mir Zeit lassen, mir eine kleine Auszeit gönnen, wir hätten ja keine finanziellen Probleme. Aber inzwischen schreibe ich bereits wieder Bewerbungen. Allerdings sind gerade im Bankgewerbe viel zu viele Menschen auf Stellensuche. Ich werde mich wohl auf einen völlig anderen Job einstellen müssen. Gut, dass ich flexibel bin und zudem in jungen Jahren in verschiedenen Branchen gearbeitet habe. Erschwerend kommt allerdings dazu, dass ich im nächsten Jahr vierzig werde – das scheint auf dem Arbeitsmarkt ein unverzeihliches Schwerverbrechen zu sein. Dabei fühle ich mich jung. Allerdings fühlt Irene sich auch jung, und sie ist über siebzig. Nun, für die Zwillinge sind wir wohl beide eh nur eins: Grufties.
Amelie und Lilly kommen gemeinsam heim, als ich gerade einen Kaffee trinke. Sie schimpfen über das Wetter und schütteln die ersten Schneeflocken von ihren Kleidern. Ich habe mich inzwischen von Gloria Gaynor verabschiedet. Aus dem Radio plätschert eine unsäglich schmalzige Country-Version von »Leise rieselt der Schnee«.
»Schuhe aus!«, brülle ich den Mädchen entgegen und hasse mich selber für meinen Tonfall.
Lilly steht schon in der Küche und versaut den frisch geputzten Boden mit ihren nassen Tretern. Ach, ich weiß, warum ich wieder außer Haus berufstätig sein möchte. Hausarbeit ist so aufreibend, so endlos und öde. Die Wertschätzung ist genauso gering wie die Entlöhnung.
»Sorry, aber ich muss gleich weg«, sagt Lilly nur und nimmt sich eine Banane aus dem Kühlschrank. »Training.«
Klar. Mein kleines Tenniswunder ist immer irgendwie auf dem Sprung. Dafür hat es Amelie ausnahmsweise gar nicht eilig, in ihr Zimmer zu kommen. Sie setzt sich neben mich.
»Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass du nicht mehr lange zu leben hättest?«, fragt sie mich und trinkt aus meiner Kaffeetasse.
»Ich würde nie mehr putzen«, antworte ich leichthin, bin aber irritiert. Was sind das nun wieder für Fragen? Welche Ängste stecken dahinter?
»Bist du krank?«, frage ich und mustere sie aufmerksam.
Sie sieht kerngesund aus, wie immer. Wie ein Schneewittchen. So nenne ich meine Zwillinge manchmal wegen ihres langen, dunklen, vollen Haars und ihrer zarten, reinen Haut. Früher hörten sie das zwar gern, heute sage ich es besser nicht mehr allzu laut.
Amelie holt ihren Laptop und zeigt mir eine Seite, die mir fast die Sprache verschlägt. Natürlich habe auch ich von den Theorien gehört, dass am 21. Dezember 2012 die Welt untergehen werde. Aber was ich da sehe … Da gibt es einen laufenden Zähler, einen Countdown bis zum Weltuntergang. Es sind nur noch 23 Tage. Auch die Stunden, Minuten und Sekunden, die uns bleiben, werden gezählt.
Amelie schaut mich an.
Sie wird doch so etwas nicht etwa glauben? Mein intelligentes Mädchen?
»Amelie, glaub einer alten Frau: Ich habe schon mehrere solche vorhergesagten Weltuntergänge locker überlebt. Wir werden auch diesen überstehen, das verspreche ich dir.«
»Wie kannst du es versprechen?«, fragt sie vorwurfsvoll. »Hast du alle diese Theorien studiert? Maya-Kalender, Sonnenstürme, Nostradamus, die Hopi-Indianer …«
Gleich kommt wieder der Vorwurf, ich würde sie nicht ernst nehmen.
»Du nimmst mich gar nicht ernst!«
Wusste ichs doch.
Manchmal ist es verdammt schwierig, seine Kinder ernst zu nehmen. Ich gebe mir Mühe.
»Was würdest du denn tun, wenn du sicher wüsstest, dass am 21. Dezember die Welt untergeht?«, frage ich Amelie.
Sie überlegt nicht lange: »Ich würde sicher die Schule schwänzen.
Und vielleicht versuchen, möglichst viel Zeit mit Familie und Freunden zu verbringen.«
Gott, wie vernünftig sie ist, meine Tochter!
Was hätte ich wohl in ihrem Alter gesagt? Ich würde von zu Hause abhauen und per Anhalter nach Paris fahren. – Ich würde Peter, in den ich seit Wochen verliebt bin, einen Brief schreiben. – Ich würde mich schminken und stylen und jede Nacht in den Discos abtanzen bis zum Umfallen. – Ich würde eine Bank überfallen und mir endlich eine elektrische Gitarre kaufen … Etwas in dieser Art.
Waren wir wilder oder kindischer, als wir sechzehn waren? Manchmal ist es beängstigend, wie ernst und wie reif meine Töchter wirken, besonders Amelie, die Stille. Aber nur manchmal.
»Und du, Mama: Was würdest du wirklich tun? Was würdest du bedauern, nicht getan zu haben?«
Ihre tiefblauen Augen bohren sich in meine. Sie möchte eine ehrliche Antwort, nicht bloß etwas Dahergesagtes.
Diese kann ich ihr aber nicht geben. Ich bin nämlich durchaus glücklich mit meinem Leben. Gut, ich habe meinen Job verloren. Aber in den letzten Monaten war das absehbar, und die miese Stimmung in unserer Abteilung war kaum mehr auszuhalten. Und ich bin in der glücklichen Situation, mir keinen Stress machen zu müssen mit der Stellensuche. Ich werde wieder etwas finden. Und ja, Irene geht mir manchmal ziemlich auf den Geist. Ich wünschte mir ab und zu, wir würden nicht zusammenwohnen. Was ich in der Tat bedauere, ist, dass Paul und ich uns in den letzten Jahren auseinandergelebt haben. Es wird mir Tag für Tag mehr bewusst. Ich möchte gern versuchen, das wieder zu ändern. Der Weltuntergang wäre mir dabei im Weg.
»Ich bin eigentlich glücklich, aber ich möchte schon noch ein paar Dinge erleben. Dieses Jahr möchte ich wieder mit Papa auf den Silvesterball gehen. Ich hätte wirklich keine Lust auf einen Weltuntergang«, sage ich schließlich halbherzig.
Es tut mir leid, aber ich kann meiner Tochter gegenüber nicht immer komplett offen und aufrichtig sein.
Ich glaube, sie spürt das. Ihr skeptischer Blick lässt mich ganz verlegen werden. Sie klappt den Laptop zu.
»Ihr vergesst doch nicht unseren Elternabend morgen?«, sagt sie streng und geht in ihr Zimmer.
Bald höre ich ihre Geigenübungen, Tonleitern und Arpeggien über drei Oktaven. Amelie möchte einmal Musik studieren, und bei ihrem Fleiß und ihrer Ernsthaftigkeit halte ich das durchaus für möglich.
Es ist Elternabend, und Paul geht nicht hin. So läuft das bei uns. Er hat immer einen total wichtigen Termin. Das bringt er jeweils richtig glaubhaft rüber. Ich vermute, alle in seiner Firma sind eingeweiht und arbeiten an seinem Alibi mit.
Schon als die Mädchen in der Primarschule waren, machten Elternabende keinen Spaß. Da kannte ich aber noch viele Eltern, und wir machten das Beste aus dem Anlass, gingen manchmal hinterher noch gemeinsam in eine Kneipe. Aber jetzt, auf dem Gymnasium, hat das Ganze gar keinen Unterhaltungswert mehr. Ich kenne die anderen Eltern nicht oder würde sie gern nicht kennen. Mein Frauenarzt ist dort und ein ehemaliger Lehrer von mir. Wenn ich anschließend heimgehe, denke ich jedes Mal, dass es vertane Zeit war. Ernstliche Schulprobleme würde man sowieso in Gesprächen unter vier Augen klären. Hier geht es bloß um Organisatorisches, Grundsätzliches. Ein paar Eltern lieben die Auftritte vor Publikum und spielen sich auf. Sie bringen irgendwelche Beschwerden, die man auch im persönlichen Gespräch regeln könnte, lieber vor versammelter Gesellschaft vor.
Ich hasse es, allein auf Elternabende zu gehen. Ich komme mir vor wie eine Alleinerziehende und werde eigenartig gemustert. Bilde ich mir zumindest ein.
Diesmal wird es wider Erwarten recht spannend. Nachdem die üblichen Themen bezüglich Schulverlegung, Schulstressbewältigung, Notendurchschnitt erledigt sind, ergreift die Frau meines Gynäkologen das Wort: »Immer wieder wird betont, wie viel Schulstoff unsere Kinder zu bewältigen hätten. Da wundert es mich doch umso mehr, wie man während der Unterrichtszeit so viel über Weihnachten diskutieren kann. Ja, sogar der Weltuntergang wurde thematisiert.«
Ganz rot ist sie im Gesicht geworden vor Eifer, die Gute.
Schon schießt eine andere Frau in die Höhe und doppelt nach: »Diskutieren ist eine Sache. Aber hier wurde sogar das Weihnachtsfest an sich angezweifelt. Man hat über eine mögliche Abschaffung abgestimmt. Wo leben wir denn eigentlich? Werden an dieser Schule gar keine christlichen Werte mehr vermittelt?«
Sie blickt in die Runde, Beifall heischend, und bekommt ihn tatsächlich.
Jetzt kommt mein ehemaliger Lehrer zu Wort: »Nicht einmal mehr ein Weihnachtskonzert steht auf dem Programm. Ich glaube, das gab es an dieser Schule überhaupt noch nie!«
Und seine Frau ergänzt: »Meine Tochter hat mir einen Kalender gezeigt. Heute sind es nur noch 22 Tage bis zum Weltuntergang.« Der Klassenlehrer sieht aus, als hätte er den Weltuntergang am liebsten gleich hier und jetzt. Der junge Mann ist ziemlich blass geworden.
Aber der Schulleiter, ein stämmiger Mittfünfziger, der schon tausend Elternabende erfolgreich gemeistert hat, stellt sich vor ihn: »Bitte, bitte, keine Aufregung. Wir wollen doch die Kirche im Dorf lassen!«
»Ja, ja, die Kirche im Dorf lassen, aber Weihnachten abschaffen!«, keift eine Dame von ganz hinten.
Sie spuckt ein wenig beim Reden, so sehr strengt sie sich an, auch in der vordersten Reihe gut verstanden zu werden.
Ich sitze nur da und beobachte das Spektakel. Ja, ich hatte mich auch über den Umgang mit der Thematik gewundert. Aber hier scheint es mir nicht in erster Linie um ein ernsthaftes Gespräch mit dem Klassenlehrer und die Suche nach Erklärungen zu gehen, sondern vielmehr darum, dass alle fröhlich mitmachen, sobald einer sich traut aufzumucken.