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Die Hauptpersonen des Romans
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PERRY RHODAN – die Serie
Nr. 2725
Preis der Gerechtigkeit
Der Tamaron bereitet seinen Triumph vor – und der Widerstand plant ein Attentat
Christian Montillon
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Anfang des sechsten Jahrtausends entspricht, gehört die Erde zur Liga Freier Terraner. Tausende von Sonnensystemen, auf deren Welten Menschen siedeln, haben sich zu diesem Sternenstaat zusammengeschlossen.
Doch die Galaxis ist unruhig: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg, auf der anderen Seite ist das Atopische Tribunal in der Milchstraße aktiv. Seine ersten Repräsentanten sind die Onryonen, die die Auslieferung Perry Rhodans und Imperator Bostichs fordern.
Die beiden Männer gelten als die beiden Hauptfraktoren eines in der Zukunft stattfindenden Weltenbrandes, und ebendies soll verhindert werden. Nach erheblichen Opfern werden Rhodan und Bostich durch das Tribunal zu einer fünfhundertjährigen Haftstrafe verurteilt. Andernorts in der Milchstraße triumphiert derweil der Herrscher des tefrodischen Reiches: Im Gegenzug für seine Hilfe bei der Festsetzung Rhodans bekommt er einen Zellaktivator. Er hält ihn für einen PREIS DER GERECHTIGKEIT ...
Schechter – Dem Tomopaten sind Leben und Tod nicht gleichgültig.
Vetris-Molaud – Der Tamaron findet ewiges Leben verlockend.
Gador-Athinas – Den Tefroder reizt eine Nonne.
A. C. Blumencron – Dem Terraner ist sowieso alles egal.
Schechters Liste
»Wie viele ich getötet habe?« Schechter gab einen Laut von sich, der vielleicht ein Lachen war, vielleicht auch Bedauern ausdrückte. »Das ist eine Frage, die ich noch niemandem beantwortet habe.«
Während draußen ein Stern vorüberzog, hatte der Tefroder Gador-Athinas ein wenig Angst vor der eigenen Courage. Oder genauer gesagt, nicht nur ein wenig. Trotzdem sprach er aus, was ihm durch den Kopf ging: »Könnte sein, dass es daran liegt, dass du nicht gern redest. Keinem vertraust.«
Keine Freunde hast.
Den letzten Gedanken behielt er dann doch für sich.
»Du irrst dich«, sagte Schechter. Seine Stimme klang kalt. Wie immer. »Ich war ein Auftragskiller. Es gab viele Jobs.« Wahrscheinlich war die Grimasse, die er mit seinem unfertigen Gesicht zog, ein Lächeln. »Und weil man jemanden wie mich nur für schwierige Aufgaben holt, musste ich mir vorher stets einen Weg bahnen. Eine Zielperson, viele Leichen, du verstehst?«
Wie gut Gador-Athinas verstand! Deshalb hatte er Schechter im Auftrag des tefrodischen Widerstands von seinem Gefängnisplaneten befreit: weil sie nicht irgendeinen Auftragskiller brauchten, sondern den besten. Anders ging es nicht, wenn man Vetris-Molaud töten wollte.
Gador-Athinas wurde schwindlig, als er nur daran dachte. Seine Handflächen fühlten sich feucht an und widerlich warm. »Ja, ich verstehe dich.«
Er fühlte sich plötzlich unwohl in dem engen Laderaum seines Gleiters, den sie in den letzten Tagen zum Aufenthaltsraum umfunktioniert hatten, zur Arena für ihre Gespräche. Der Tomopat Schechter schlief sogar darin; der Gleiter war kein Luxushotel, in dem man sich seine Bettstatt aus einem Dutzend Plätzen aussuchen konnte.
Gador-Athinas nahm für die Nächte mit der Pilotenkanzel vorlieb und dem einigermaßen waagrecht gestellten Pilotensitz. Alles war ihm lieber, als direkt neben Schechter zu schlafen. Wer wusste schon, ob er sonst eines Morgens tot aufwachte. Oder, nun ja, eben nicht mehr aufwachte. Schechter würde es nicht absichtlich tun, bestimmt nicht, aber wenn sich der Ghyrd löste und sich die Arme verselbstständigten, wäre das Ergebnis dasselbe. Ein bisschen Wüten, ein bisschen Tod, und es gab einen weiteren Namen auf dieser imaginären Todesliste.
Nur nicht dran denken, ermahnte er sich. Womöglich hätte Schechter seine Arme ja doch unter Kontrolle. Vielleicht ist alles halb so schlimm, und ich übertreibe maßlos mit meinen Befürchtungen. Zu viel Unsicherheit, wenn es nach ihm ging. Er hatte nie zuvor ein so ... unheimliches Wesen gesehen wie den Tomopaten.
Hinter der Sichtscheibe des Gleiters zog erneut ein Stern vorüber, ein winziger Punkt, scheinbar zum Greifen nah.
Im All täuschten die Entfernungen allzu leicht, das begriff Gador-Athinas besser als je zuvor, als sich im nächsten Moment etwas vor die ferne Sonne schob: eine gigantische Kugel, so groß, dass sie gerade noch komplett zu sehen war, obwohl sie über eine Million Kilometer weit weg lag. Es war Tefor, die Hauptwelt des Helitas-Systems, das Machtzentrum des Neuen Tamaniums der Tefroder – ein Planet, der winzig wäre im Verhältnis zu dem scheinbar ach so kleinen Stern, der viele Lichtjahre entfernt lag.
Wie die Dinge doch täuschten.
Und wie harmlos Schechter aussah, solange der Ghyrd seinen Oberkörper wie eine Zwangsjacke einschnürte. Sobald der Tomopat diese Jacke ablegte und seine Arme zum Vorschein kamen, wurden diese zu mörderischen Werkzeugen, die sich rasend schnell bewegten und sich in etwas verwandelten, was ...
... was ...
Der Tefroder fand keine Worte dafür. Er wusste nur, dass Schechter damit wüten konnte; dass es ihm ein Leichtes war, mit diesen Killerwerkzeugen Dutzende Gegner abzuschlachten, die sich ihm in den Weg stellten. Es war eine Eigenart seines Volkes, über das kaum jemand etwas wusste – die Tomopaten traten extrem selten in Erscheinung. Genau genommen kannte er nur einen einzigen Tomopaten: Schechter.
Die echten Arme waren an den Oberkörper des Tomopaten gebunden, um sie im Zaum zu halten. An den durchaus bizarren Anblick des Ghyrd, der Zwangsjacke des Tomopaten, hatte sich Gador-Athinas längst gewöhnt. Kamen die Arme frei, standen sie außerhalb von Schechters Kontrolle und bewegten sich rasend schnell.
Gador-Athinas glaubte nun, eine Beschreibung gefunden zu haben, ein Hilfskonstrukt. Sie verwandelten sich in etwas Insekten- oder Schlangenartiges, das nur einen Zweck zu kennen schien: zu töten.
Vielleicht griffen die freigelegten Arme auch auf eine nicht nachvollziehbare Weise auf das Bewusstsein des Tomopaten zu und veränderten es. Machten ihn zu der Bestie, die sich immer ihren Weg bahnte.
Dass Schechter auf der Eiswelt Aunna inhaftiert gewesen war, stellte einen Glücksfall für den Widerstand dar. Wenn man es denn Glück nennen wollte, nun schon seit Tagen neben einem Monster in einem engen Gleiter durchs All zu treiben und sich nach außen tot zu stellen. Wobei sich der Tefroder immer mehr fragte, ob sein Begleiter tatsächlich ein Monster war.
Er wusste es nicht. Zwischen ihnen entwickelte sich von Stunde zu Stunde mehr ein sonderbares Vertrauensverhältnis – was seine grundlegende Furcht vor dem zigfachen Mörder aber nicht änderte. Sie redeten über Dinge wie Schechters Vergangenheit als Auftragskiller: kein sonderlich angenehmes Gespräch. Kein Thema, das sich Gador-Athinas vor einem Jahr hätte träumen lassen. Oder vor einem Monat. Oder ...
»Ich bin nicht dumm«, sagte der Tomopat unvermittelt. »Ich weiß, warum du mich befreit hast. Du hast es mir selbst gesagt. Und nun erzähl mir Genaueres.«
»Du sollst den Tamaron Vetris-Molaud töten.« Wie er es so aussprach, klang es ganz einfach. Und zugleich völlig verrückt. Denn genau das war es: völlig verrückt. Niemand in dieser gesamten Galaxis war besser gesichert als ausgerechnet Vetris.
Vetris, der aufstrebende Star der Milchstraße, der Mann, der alles und jeden in den Schatten stellte.
Vetris, der sein Volk, die Tefroder, ganz an der Spitze sehen wollte.
Vetris, der Diktator, der sich selbst nicht so nannte und den auch niemand sonst so nannte, was in Gador-Athinas' Augen nichts daran änderte, dass es exakt der Wahrheit entsprach. Und es gab genug, die genauso dachten wie er; der interne tefrodische Widerstand reichte bis in die höchsten Gefilde der staatlichen Macht.
Vermutlich.
Denn so genau wusste Gador-Athinas das nicht. Er vermutete es lediglich. Es musste hochrangige Politiker geben, die den Widerstand unterstützten. Nur kannte er keine Namen. Natürlich nicht. Wenn ihre Identität bekannt würde, wären sie keinen Tag später tot.
Der Gleiter näherte sich weiter im Schleichflug der Hauptwelt Tefor, um schon bald abzudrehen und seinem Zufallskurs im Helitas-System zu folgen. Die beiden einzigen Passagiere schwiegen und schauten ins Leere.
Endlich ergriff Schechter das Wort. »Das habe ich längst begriffen. Aber das ist nicht alles, oder?« Er sagte es ohne jede Überraschung.
»Deshalb hat der Widerstand dich befreit.«
»Es ist ein interessantes Angebot. Ich weiß aber nicht, ob ich es annehmen werde, solange ich nicht alle Details kenne.«
Angebot? Der Tefroder hätte das Wort am liebsten geschrien. Doch er beherrschte sich. Eben noch hatte er an ihr sonderbares Vertrauensverhältnis gedacht.
Schechter nannte ihn stets seinen Patron, wahrscheinlich, weil er begriffen hatte, dass der Widerstand ihn schon während seiner Zeit auf der Eisgefängniswelt beschützt hatte. Von der Tatsache, dass er als erster Gefangener jemals der Hölle der Eiswelt Aunna und der Gefängnisstadt Holosker entkommen war, ganz zu schweigen.
»Ich wäre froh«, sagte Gador-Athinas ruhig, »wenn du dir die Details unseres Vorschlags anhörtest.«
»Einverstanden.« Schechter legte den Kopf auf die Seite. »Ich höre.«
»Ich kann dir diese Details nicht nennen.«
»Du willst nicht?«, fragte der Tomopat, um sich sofort zu verbessern: »Natürlich, du kannst es tatsächlich nicht. Weil dir die Einzelheiten selbst unbekannt sind.«
Gador-Athinas stimmte zu. »Glaub mir, ich will sie auch gar nicht kennen. Je weniger ich weiß, desto besser.«
»Du vermagst dieser Sache so leicht nicht mehr zu entkommen, Patron.«
»Wie meinst du das?«
Schechter schaute ihn nur schweigend an.
*
Am nächsten Tag – die am weitesten verbreitete Zeitrechnung dieser Galaxis nannte ihn den 16. September 1514 NGZ – ging eine verschlüsselte Nachricht ein; genauer gesagt, nur ein Signal. Gador-Athinas wartete bereits seit Tagen sehnsüchtig darauf. Nun, da es endlich eingetroffen war, bekam er Angst.
Der Tefroder hatte sich an dieses unwirkliche Abwarten, diesen Schwebezustand zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, so gewöhnt, dass sich seine Seele eingeredet hatte, es könnte ewig so weitergehen.
Nun fiel dieses zarte Lügengespinst, das auf äußerst wackligen Füßen stand, in sich zusammen. Die Realität holte ihn ein. Das Leben. Er ertappte sich dabei, an seinen Fingernägeln zu beißen; sie sahen ohnehin nicht gut aus: spröde und fast bis aufs Fleisch abgekaut.
Er nahm die Hand herunter. »Schechter!«, rief er aus der Steuerkanzel des Gleiters nach hinten.
Der Tomopat hielt sich im Laderaum auf, vielleicht schlief er. Vielleicht schlief Schechter aber auch nie, sondern war immer bereit, stets unter Strom.
»Was willst du, Patron?«
»Es hat sich eine Änderung ergeben.« Die Worte hörten sich seltsam an, als hätte ein anderer sie gesprochen – gekünstelt und im Tonfall eines Roboters. Gador-Athinas räusperte sich. »Wir werden den Gleiter endlich verlassen.«
»Wohin gehen wir?«
»Nach Tefor.«
Schechters Kopf erschien im Durchgang. Der Tomopat ähnelte einem Tefroder oder Terraner – nur dass seine Mimik unfertig aussah, unausgereift.
Wenn Gador-Athinas die Augen schloss, konnte er sich Schechters Gesicht kaum vorstellen, geschweige denn es beschreiben; und das nach der ganzen gemeinsam verbrachten Zeit. Es war, als wäre die Erinnerung daran nur ein Traum. Oder als wäre Schechter selbst nur ein Traum im Kopf eines anderen.
»Tefor. Interessant. Demnach besuchen wir das Zentrum der Macht«, sagte Schechter. »Ich gehe davon aus, dass deine Freunde beim Widerstand keine Narren sind. Wir werden also nicht das Attentat heute oder morgen ausführen wollen, sondern uns Zeit zur Vorbereitung lassen.«
»Du nimmst ...« Den Auftrag. »... das Angebot also an?«
Schechter schwieg.
Der Tefroder sah es als Zustimmung. Zumindest war es keine Ablehnung. Immerhin ein kleiner Erfolg. Er lenkte den Gleiter in Richtung der tefrodischen Hauptwelt, steuerte den Doppelkontinent Niper-Tevertar an.
Sie tauchten in die Atmosphäre ein, sanken der Oberfläche entgegen. Eine dichte Wolkenschicht blockierte die Sicht. Sie durchstießen die tief hängenden, schweren und regenfeuchten Wolken. Dicke Tropfen prasselten auf die Sichtscheibe des Gleiters, es war grau und trüb.
Nebelschwaden hingen über der Landbrücke, die die Teile des Doppelkontinents verbanden. Sie schienen mit dem Ozean zu verschmelzen. Aus der Höhe wirkten die Wellen winzig, doch wer dort unten stand, sah sich wohl meterhohen Brechern gegenüber.
»Das ist also das heutige Tefor«, sagte Schechter.
Gador-Athinas fühlte den verrückten Zwang, seine Heimat zu verteidigen: »Es gibt auch schönere Ecken ... mit besserem Wetter.«
»Du weißt, wo ich die letzte Zeit verbracht habe«, erwiderte der Tomopat. »Auf einer eisigen, gefrorenen Höllenwelt. Dagegen ist jedes Wetter schön. Stell dir eine Welt aus Feuer und Lavaseen vor, auf denen Überlebenshabitate schwimmen. Ich wäre mit Freuden dorthin gegangen. Alles ist besser, als jahrelang zu frieren. Immer. Auch in den sogenannten sicheren Zellen der Gefängnisstadt.«
Du hast also ... Befindlichkeiten? Deine Opfer würden heute gern frieren. Dann wären sie wenigstens nicht tot. Gador-Athinas nickte trotz dieses bitteren Gedankens. Er hatte kein Recht, abfällig über einen Auftragskiller zu richten, während er mithalf, diesem das nächste Opfer zuzuführen. Der Weg zu Vetris-Molaud würde einigen Blutzoll erfordern.
»Du hast recht«, sagte er deshalb. Es fühlte sich besser an als sein erster heuchlerischer Gedanke, für den er sich schämte.
Der Gleiter landete auf dem kleinen Raumhafen Elan-Dijtu. Alles war im Vorfeld natürlich perfekt geregelt worden. Es gab eine offizielle Landeerlaubnis, niemand stellte Fragen oder nahm gar eine Überprüfung vor.
Kelen-Setre wartete bereits auf die Neuankömmlinge.
Gador-Athinas öffnete das Einstiegsschott für den Besucher, und bald saßen sie zu zweit im Pilotenraum. Kelen-Setre war sein Kontaktmann zum Widerstand. Derjenige, der eine Stufe höher in der Hierarchie stand. Und sie beide waren Leidensgenossen: Sie hatten nahe Angehörige durch Aktivitäten des machtgierigen Tamarons Vetris-Molaud verloren. Gador-Athinas' Sohn war vor Kurzem während eines völlig unsinnigen Feldzugs gestorben ...
... genau wie bereits vor Jahren seine Frau, die zugleich Kelen-Setres Schwester gewesen war.
Von verwandtschaftlicher Verbundenheit war zwischen den beiden Männern allerdings nichts zu spüren. Sie mochten einander nicht, das glaubte Gador-Athinas mit Fug und Recht auch für Kelen-Setre behaupten zu können. Aber sie respektierten den jeweils anderen und arbeiteten am gemeinsamen Ziel – das verband sie vielleicht mehr als die Erinnerung an eine tote Frau, die vor vielen Jahren ihr Leben miteinander verknüpft hatte.
»Gador«, sagte Kelen-Setre knapp und nickte. Sie arbeiteten zusammen und verfolgten dasselbe Ziel. Und das mussten sie im Geheimen tun, wenn sie nicht im nächsten Moment von einem Agenten der Gläsernen Insel, des tefrodischen Geheimdienstes, getötet werden wollten.
Damit verband sie mehr als die meisten Freunde.
Wobei sich Gador-Athinas ohnehin fragte, was dieses Wort ihm bedeutete, wenn ihm als möglicher Freund nur der Name Schechter einfiel. Was war nur aus seinem Leben geworden? Was ...
»Gador?« Der Besucher sah ihn fragend an.
»Kelen«, erwiderte Gador-Athinas die Begrüßung. Er nickte, übertrieben, künstlich. »Ich freue mich, dich zu sehen.«
Der Neuankömmling schaute an ihm vorbei, reckte den Hals. Er wollte offenbar Schechter sehen, mit derselben Art Neugierde, wie man in einem Safaripark ein frei laufendes Raubtier beobachten mochte.
Wenn ihm diese Neugierde nur nicht zum Verhängnis wurde. Waren nicht arkonidische Sarruj-Parks dafür bekannt, nur angeblich sicher zu sein und schon so manchen Touristen das Leben gekostet zu haben? Was die Besucherzahlen im Übrigen nicht nach unten, sondern im Gegenteil steil nach oben trieb.
»Ich freue mich, dich zu sehen«, behauptete Gador-Athinas. Eine glatte Lüge. Es gab eine Menge Gefühle in ihm; zu viele, um sie klar sortieren zu können. Freude gehörte jedoch ganz sicher nicht dazu. »Ich übergebe dir hiermit Schechter und kehre zurück in mein normales Leben.«
Genau das war der springende Punkt. Wollte er das? Konnte er das? Und warum klang es schon wieder so, als hätte ein Fremder diese Worte mit seinem Mund gesprochen oder irgendein auf Logik basierendes Computerprogramm, das ihn fernsteuerte?
Es war eben keine Frage der reinen Logik. Er steckte viel zu tief in dieser Sache, die mit der irrsinnigen Befreiungsaktion zugunsten eines x-fachen Mörders aus einem Hochsicherheitsgefängnis begonnen hatte und zu einem noch viel irrsinnigeren Attentat führen sollte.
»Gador«, sagte Kelen-Setre, und es klang fast mitleidig. So, wie man zu einem etwas begriffsstutzigen Kind sprechen mochte, mit dieser Mischung aus Mitleid, Rührung und Herablassung: Gador, Gador, wenn du wüsstest, kleiner Mann. »Du bist frei, zu tun und zu lassen, was du willst, doch ich empfehle dir, noch einmal nachzudenken. Zurück in dein altes Leben? Vergiss es. Du hast dich viel zu tief in die Belange des Widerstands verstrickt.«
»Aber ...«, begann Gador-Athinas halbherzig und war froh, dass er nicht weitersprechen musste, weil der Besucher ihm ins Wort fiel.
»Wenn du versuchst, so zu tun, als ob nichts gewesen wäre, begibst du dich unnötig in Gefahr.«
Schechter trat plötzlich aus dem Durchgang zum Lagerraum. Er war so schnell und lautlos wie ein Gespenst aufgetaucht. Er stand wie meistens auf einem seiner beiden Beine, das zweite vor den Leib gehoben. Er nutzte es so geschickt und gelenkig, wie ein Tefroder mit Armen und Händen umging. Der freie Fuß steckte in einer Art Schuh mit sensiblen, flexiblen Taschen für die Zehen, die von der Länge her an Finger erinnerten.
»Ich empfehle dir ebenfalls, nicht zu gehen, Patron«, sagte der Tomopat. »Ohne jeden Zweifel haben sich die Agenten der Gläsernen Insel bereits auf deine Spur gesetzt. Außerdem würde ich dich vermissen. Die Chancen, dass ich tue, worum der Widerstand mich bittet, steigen, wenn ich dich in meiner Nähe weiß.«
Was war das eben gewesen? Hatte Schechter ihn indirekt einen ... Freund genannt?
Und falls ja, wollte Gador-Athinas das überhaupt?
Die Antwort gab er sich selbst. Sicher wollte er. Denn umgekehrt ergab es keinen Sinn, es länger zu leugnen: Schechter war der einzige Freund, der ihm noch blieb, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte und seine Welt aus den Fugen geraten war.
»Ihr habt recht«, sagte er. »Ich bleibe.«
Ich bleibe bei dir, mein tödlicher Freund.
Selbst-Suche
»Kieselstein«, sagte die Nonne. Sie war groß, größer als Gador-Athinas, und ihr Blick war abwesend.
Dennoch nahm sie ihn sofort gefangen. »Was meinst du?«
»Kieselstein«, wiederholte die Tefroderin und streckte ihm die linke Hand entgegen. Sie war zur Faust geballt, doch nun öffnete sie sie. »Das ist mein Kieselstein.«
Gador-Athinas blickte auf das flache, abgegriffene Etwas. Ein Kieselstein, dachte er. Warum zeigst du ihn mir? Laut sagte er: »Er ist schön.« Was er eigentlich meinte, war: Du bist schön.
»Danke«, sagte sie, und es klang so fröhlich, als antworte sie in Wirklichkeit auf die nicht ausgesprochene Frage. »Ich bin Khaika. Eine der Nonnen von Vraz. Ich bringe euch zu eurer Klause.«
»Und der Stein?«, fragte Schechter. Seine Augen bewegten sich unruhig im Gesicht. Die Lippen waren rau wie Wüstensand und zugleich so blass, als wabere dichter Nebel davor. »Ist er ein Begrüßungsgeschenk?«
Khaika hob ihren Arm und hielt den Stein vor ihre schmalen, fast farblosen Lippen. Mit der freien Hand beschirmte sie ihn. Dann wisperte sie einige Worte, die Gador-Athinas nicht verstehen konnte und Schechter zweifellos genauso wenig.
Nur der Stein hört sie,