Nr. 2726
Totentanz
Der Kampf des Widerstands – und der Preis des Erfolgs
Christian Montillon
Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
1.
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8.
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10.
11.
12.
Kommentar
Leserkontaktseite
Glossar
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Seit die Menschheit ins All aufgebrochen ist, hat sie eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die Terraner – wie sich die Angehörigen der geeinten Menschheit nennen – sind längst in ferne Sterneninseln vorgestoßen. Immer wieder treffen Perry Rhodan und seine Gefährten auf raumfahrende Zivilisationen und auf die Spur kosmischer Mächte, die das Geschehen im Universum beeinflussen.
Im Jahr 1514 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Anfang des sechsten Jahrtausends entspricht, gehört die Erde zur Liga Freier Terraner. Tausende von Sonnensystemen, auf deren Welten Menschen siedeln, haben sich zu diesem Sternenstaat zusammengeschlossen.
Doch die Galaxis ist unruhig: Auf der einen Seite droht ein interstellarer Krieg, auf der anderen Seite ist das Atopische Tribunal in der Milchstraße aktiv. Seine ersten Repräsentanten sind die Onryonen, die die Auslieferung Perry Rhodans und Imperator Bostichs fordern.
Die beiden Männer gelten als die Hauptfraktoren eines in der Zukunft stattfindenden Weltenbrandes, und ebendies soll verhindert werden. Nach erheblichen Opfern werden Rhodan und Bostich durch das Tribunal zu einer fünfhundertjährigen Haftstrafe verurteilt. Andernorts in der Milchstraße erhält der Herrscher des tefrodischen Reiches für seine Hilfe bei der Festsetzung Rhodans einen Zellaktivator. Doch nicht alle Tefroder sind damit einverstanden. Es kommt zum TOTENTANZ ...
Schechter – Der Tomopat ist keine Leiche.
Vetris-Molaud – Der Tamaron soll eine Leiche werden.
Oc Shozdor – Der Geheimdienstchef geht notfalls über Leichen.
A. C. Blumencron – Der Händler hat eine Leiche im Keller.
Uvan-Kollemy – Der Agent will den Totentanz beenden.
»Der Tamaron lebe ewig!«
Ashya Thosso, Sorgfaltsministerin
1.
Spieglein, Spieglein in der Hand
Apsuma, 5. Oktober 1514 NGZ
Uvan-Kollemy tauchte in die Leiche ein und schaute sich um.
Der Agent der Gläsernen Insel hatte in seiner Laufbahn viele Tote gesehen, die meisten schlimmer zugerichtet als dieser Milizionär namens Aacyr-Cugham. Nur wenige hatten ihn allerdings in vergleichbarer Weise fasziniert.
»Verrat mir dein Geheimnis«, sagte er zu dem Holo der Leiche.
Er bekam keine Antwort. Natürlich nicht.
Er trat einen Schritt zurück, heraus aus der in der Luft schwebenden Darstellung des Toten: aus der fremdartigen Welt aus Nervennetzen, Aderngeflechten, inneren Organen und Knochen wieder in die kühle Sachlichkeit des Leichenschauhauses. Er wusste nicht, was ihm lieber war.
Das Holo schwebte in der Mitte eines kleinen, klinisch weißen Raums. Datenkolonnen, Grafiken und die Ergebnisse der Autopsie flirrten in dreidimensionalen Feldern um den Toten. Die Leiche selbst lag in einem durchsichtigen Tank an einer Wand, steril, gesichert und ...
... rätselhaft. Sämtliche technische Tricks vermochten ihr Geheimnis nicht zu lüften. Dazu brauchte es einen messerscharfen Verstand. Schärfer als das Vibroskalpell des Medikers, der die Leiche zuerst untersucht hatte.
Der Spiegel, die in Uvan-Kollemys Handfläche implantierte Positronik, vergrößerte auf einen Sprachbefehl hin das Holobild und zoomte auf die klaffende Halswunde.
In ihr hatte der Gerichtsmediziner fremdartiges genetisches Material gefunden, wodurch Uvan-Kollemy vor zwei Tagen überhaupt erst auf den Mord an dem Milizionär aufmerksam geworden war. Zu Lebzeiten war der Tote ein Künstler gewesen, wie der Agent aus den Infodateien wusste. Doch nun, im Tod, war Aacyr-Cugham selbst ein Kunstwerk. Der Betrachter musste es auf sich wirken lassen, es genauestens studieren, um seine wahre Bedeutung zu erfassen.
Etwas, das Uvan-Kollemy nicht gelungen war, obwohl er seit drei Stunden nichts anderes tat.
»Du vernachlässigst deinen Auftrag!«
Uvan-Kollemy drehte sich um und sah Oc Shozdor, den Leiter des tefrodischen Geheimdiensts. Seinen obersten Vorgesetzten. »Das sehe ich anders.«
»Du sollst Boocor Vazur im Auge behalten, einen potenziellen Attentäter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er das Hotel Laumhus Gäste verlassen hat und sich nun ausgerechnet im Leichenschauhaus der Gläsernen Insel aufhält. Oder ist er vielleicht gestorben?«, fragte Shozdor süffisant. »Na, das wüsste ich aber.«
»Ich habe mir erlaubt, meinen eigentlichen Auftrag auszuführen. Dieser lautet nämlich nicht, jemanden zu beobachten, sondern das Attentat auf den Hohen Tamrat Vetris zu verhindern.« Uvan-Kollemy zeigte auf den Toten im Tank. »Und diese Leiche hat etwas damit zu tun. Ich weiß es. Ich spüre es! Vertrau mir.«
Oc Shozdor lächelte. »Das tue ich. Sonst würde ich dich nicht ungestört gewähren lassen.«
Uvan-Kollemy ersparte sich den Hinweis, dass man kaum von ungestört sprechen konnte, wenn einem der Chef der Gläsernen Insel höchstpersönlich über die Schulter schaute.
»Also«, sagte Oc Shozdor. »Wo siehst du den Zusammenhang?«
»Ich weiß es noch nicht. Aber diese ungewöhnliche DNS, die man in der Wunde gefunden hat, gibt mir Rätsel auf. Der Gedanke an sie lässt mich nicht los.«
»Deshalb hast du die Leiche hierher bringen und von unseren Leuten untersuchen lassen?«
»Richtig.«
»Mit welchem Ergebnis?«
»Leider keinem anderen als bisher. Die DNS ist nicht tefrodisch und stammt auch nicht von Tefor. Ich habe das Gen-Archiv der Gläsernen Insel durchsucht, um dort mehr über die Herkunft dieser genetischen Hinterlassenschaft zu erfahren. Erfolglos. Ich verstehe das nicht. Wie kann es sein, dass ich nicht einmal dort etwas finde? Was für ein Wesen kann diesen Mann ermordet haben?«
Oc Shozdor trat näher an das Holo und begutachtete die Halswunde des Toten, die riesig vor ihm schwebte. Sein Gesichtsausdruck spiegelte eine Mischung aus Ekel und geradezu widerwilliger Faszination. »Ich bin hier, weil ich von deinem Suchauftrag erfahren habe«, sagte er, ohne sich zu Uvan-Kollemy umzudrehen. »Ich frage mich, weshalb du dich gerade für diesen Mord und diese DNS-Spuren interessierst.« Er zögerte einen Augenblick. »Wenn es eine Sache gibt, der ich noch mehr traue als dir im Allgemeinen, ist es dein Instinkt. Also habe ich die Daten der Analyse abgerufen und machte mich selbst auf die Suche.«
Uvan-Kollemy war wie elektrisiert. »Und?«
»Ich bin fündig geworden.«
»Wo?«
»In der Datenbank des Gefängnisses Holosker auf Aunna.«
Ein höchst interessanter Ort. Schwerverbrecher wurden dort für immer weggeschlossen. Wobei für immer häufig hieß nicht allzu lange, denn die Sterberate dort war hoch. »Von wem stammt die DNS?«
»Von einem Tomopaten namens Schechter. Ein Profikiller. In manchen Kreisen nannte man ihn auch Schechter, den Schlächter.«
»Ein was?« Uvan-Kollemy war enttäuscht von sich selbst, von einem ihm gänzlich unbekannten Volk hören zu müssen. »Ein Tempomat?«
»Tomopat«, verbesserte Shozdor. »Auch unsere Datenbänke wissen nur sehr wenig über sie, weil sie selten in Erscheinung treten. Ich werde die bekannten Informationen auf deinen Spiegel übertragen.«
Uvan-Kollemy zeigte auf das Holo des Toten. »Und dieser Schechter ist hierfür verantwortlich?«
»Nun, genau das ist das Problem.«
»Dass er in Holosker gefangen sitzt und Aacyr-Cugham deshalb nicht getötet haben kann?«
»Nein. Sondern dass er tot ist und Aacyr-Cugham deshalb nicht getötet haben kann. Er starb im Eis von Aunna bei einer Strafaktion.«
Uvan-Kollemy starrte das Holo des Toten an. Wer hat dich umgebracht? Und warum? »Aber es ist definitiv Schechters DNS?«
»Ohne Zweifel.«
»Das heißt, Schechter hat entweder einen genetischen Zwilling, der in seine Fußstapfen tritt, oder ...«
»Wenn du an einen Klon denkst – vergiss es. Selbst da gibt es Abweichungen. Die DNS stammt von dem Tomopaten Schechter persönlich. Keine Kopie.«
»Also begeht jemand einen Mord und versucht, ihn anhand einer in der Leiche hinterlassenen Genprobe dem Tomopaten in die Schuhe zu schieben.«
»Klingt reichlich unwahrscheinlich«, sagte Oc Shozdor.
»Richtig. Also, was hältst du davon: Schechter ist nicht annähernd so tot, wie die Verwaltung von Holosker uns glauben machen will?«
Ach wie gut, dass niemand weiß ...
Apsuteris, 6. Oktober 1514 NGZ
Schechter starrte sein Spiegelbild an. Ein bizarres Bild: Er trug über der Tefroder-Maske noch eine zweite. Da die erste jedoch nicht als Maske zu erkennen war und man in den meisten Vierteln von Apsuteris ohne eine solche auffiel, blieb ihm keine andere Wahl.
Ein rot glühender Strahlenkranz umgab seine Mütze. Über den Augen trug er eine Binde aus schwarzem, wie Lack glänzendem Stoff, die ihn dank optischer Sensoren dennoch alles um ihn herum sehen ließ. Es fühlte sich an, als würde ein Ghyrd nicht nur seine tödlichen Arme fesseln, sondern auch sein Gesicht.
Schechter wandte sich ab und musterte die restlichen Besucher des Spiegelparks. Da tummelten sich Tefroder in wallenden bunten Seidengewändern; einer trug einen hautengen Dress, der nur die Geschlechtsmerkmale verhüllte. Ein zweiter stellte ebenfalls einen hautengen Dress zur Schau, der aber alles andere verhüllte – nur eben die Geschlechtsmerkmale nicht. Es trieben sich Leute mit Phantasieuniformen herum. Manchen ragte ein Rüssel aus dem Gesicht, was bedeutete, dass sie entweder Unither waren oder sich als solche verkleidet hatten.
Ein Publikum, wie es bunter nicht sein konnte. Narren, Schechters Meinung nach.
Sie alle verfolgten dasselbe Ziel: Sie wollten sich in dem weitläufigen Park unter den Bäumen, auf dem weichen Rasen oder am Ufer des kleinen Teichs von den Anstrengungen in den Vergnügungsvierteln ausruhen. Die umherschwebenden Spiegelfolien ermöglichten es ihnen, den Sitz ihrer Masken zu prüfen, bevor sie sich in die nächste Runde aus Spiel, Sex, zwielichtigen Geschäften oder Klubbesuchen mit erlaubten oder unerlaubten Rauschmitteln stürzten.
Nun ja, fast alle. Schechter besuchte den Spiegelpark in der kleinen Metropole an der Küste aus einem anderen Grund.
Der Tomopat schlenderte zur Kante, einer Steilklippe, von der aus die Besucher einen atemberaubenden Ausblick auf die aufgepeitschte See genossen. Ein Prallfeld verhinderte, dass einen der Wind – oder ein eifersüchtiger Liebhaber, ehemaliger Geschäftskollege oder der eigene Lebensverdruss – in die Tiefe stieß.
Eine Gruppe junger Tefroder mit silbern glänzenden Trikots und Totenkopfmasken machte sich einen Spaß daraus, mit Anlauf gegen das Feld zu springen, sich davon abzustoßen und nach einem Salto oder einer noch spektakuläreren Übung wieder auf den Füßen zu landen. Mit rüden Sprüchen peitschten sie einander zu immer waghalsigeren Sprüngen auf. Wenn einer auf dem Rücken landete und aufschrie, lachten die anderen. Einer schlug aus Versehen mit dem Gesicht gegen die unsichtbare Wand; ein Blutfleck blieb zurück, der in der Luft zu schweben schien.
»Unsere Jugend«, sagte eine Stimme hinter Schechter, die genauso einem Mann wie einer Frau gehören konnte. Oder einer Positronik. »Waren wir früher auch so unbekümmert?«
Er wandte sich um. Vor ihm stand jemand, der ein tiefblaues Kapuzengewand trug. Der Stoff hing sackartig über dem Körper und verbarg dessen Konturen. Die Gestalt war groß, sicher zwei Meter, vielleicht noch einige Zentimeter mehr. Die Kapuze hing weit über die Stirn, doch nicht nur sie kaschierte das Gesicht. Ein optisches Verzerrerfeld lag davor.
Dies war der Junker, der oberste Leiter des innertefrodischen Widerstands. Schechters oberster Auftraggeber für den Mord an Tamaron Vetris Molaud. Wo sonst als in Apsuteris konnte sich jemand wie der Junker in seiner Verkleidung unauffällig bewegen? Kein Wunder, dass er diesen Ort für ein Treffen gewählt hatte.
»Ich war nie unbekümmert«, antwortete Schechter etwas verspätet auf die Frage. Er dachte an seinen ersten Mord, den er im Kindsalter begangen hatte. Es war der Mörder seiner Schwester gewesen. Nein, unbekümmerte Zeiten kannte er nicht.
»Caus-Iver hat mir mitgeteilt, dass du mich sprechen willst«, kam der Junker zur Sache. Caus-Iver gehörte ebenfalls zum Widerstand; er war der Chefmediker im Tamanischen Heilkunsthaus, das Schechter derzeit als Unterschlupf diente, in diesen letzten Tagen vor dem Attentat auf Vetris. »Ich habe dafür gesorgt, dass niemand mithören kann, also sprich offen. Bist du mit deiner Tefroder-Verkleidung nicht zufrieden?«
»Doch, natürlich. Sie passt, als wäre sie mir auf den Leib geschneidert.« Was daran lag, dass Caus-Iver sie ihm tatsächlich auf den Leib geschneidert hatte – mehr noch, er hatte den Tomopaten chirurgisch einem Tefroder angeglichen. »Mir geht es um etwas anderes.«
»Ich höre.«
»Ich arbeite an einem neuen Plan für das Attentat. Deiner hatte eine entscheidende Schwäche.«
»Welche?«
»Er taugt nichts. Ich habe eine Simulation durchgespielt. Sie endete mit meinem Tod. Deshalb machen wir es nun so, wie ich es gern hätte.«
Der Junker musterte Schechter. Zumindest vermutete der Tomopat das, denn das Verzerrerfeld ließ natürlich nichts dergleichen erkennen. »Darf ich ehrlich sein? Mir ist es gleichgültig, wie du das Attentat ausführst. Hauptsache, es endet mit dem Tod unseres verehrten Hohen Tamrats.«
»Das wird es. Aber dazu benötige ich Informationen.«
»Was willst du wissen?«
»Was weißt du über andere geplante Anschläge? Bei Vetris' Beliebtheit in manchen Kreisen darf ich wohl davon ausgehen, dass ich nicht der Einzige sein werde, der ihm ans Leben will. Sosehr dieser Mann geliebt und verehrt wird, sosehr wird er auch gehasst.«
Der Junker wandte sich zu den Jugendlichen um und beobachtete sie eine Weile bei ihrem Treiben. »Es sieht spektakulär aus, was sie da tun, nicht wahr? Wie sie sich scheinbar ins Nichts stürzen und dennoch auf sicherem Untergrund landen. Spektakulär, aber ungefährlich. Doch das ist ein Trugschluss.«
»Tatsächlich?« Schechter fragte sich, worauf die Gestalt im Kapuzengewand hinauswollte.
»Die Prallfeldaggregate sitzen in regelmäßigem Abstand etwa zwei Meter unterhalb der Felskante. Tagein, tagaus sind sie Wind und Wetter ausgesetzt. Und der salzhaltigen Luft der See. Trotz aller Technik ist es bisher nicht gelungen, die Aggregate völlig davor zu schützen. Vor allem das Salz erwies sich als sehr aggressiv. So kann es gelegentlich vorkommen, dass das Prallfeld für einen Augenblick flackert oder gar aussetzt.«
»Tatsächlich?«, wiederholte der Tomopat. Das mochte ja faszinierend sein, aber es war auch völlig irrelevant.
»Wenn einer der Kerle im falschen Moment springt und eine Lücke erwischt, liegt zwischen ihm und seinem Tod nur noch ein hundert Meter tiefer Fall. Wenige Sekunden voller Verblüffung und vielleicht auch Faszination.«
»Warum tun sie es dann?«
Der Junker sah Schechter an. »Um sich vor den anderen zu beweisen. Um ihren Respekt zu gewinnen.«
»Und nun die entscheidende Frage: Wieso erzählst du mir das?«
»Um ein Ziel zu erreichen, muss man manchmal ein Risiko eingehen.«
»Du meinst, mir etwas über andere Attentäter zu sagen, sei ein Risiko?«
»Wir wissen von jemandem, der möglicherweise einen Anschlag plant. Ein Flottenoffizier und ehemaliger Agent der Gläsernen Insel. Vor über zwanzig Jahren aus dem Geheimdienst entlassen. Damals ein erfahrener Killer, den man auch mit Exekutionsaufträgen betraute. Inzwischen scheint er sich einer Vereinigung putschbereiter Flottenoffiziere angeschlossen zu haben, der sogenannten Gruppe Norec.«
»Wie heißt er?«, fragte Schechter ungeduldig. Die alberne Mütze drückte ihn am Hinterkopf. »Wo kann ich ihn finden?«
»Glaubst du wirklich, es ist eine gute Idee, dich mit ihm zu treffen? Er kann dir nicht helfen. Er ist kein möglicher Partner, sondern eine Gefahr. Man beobachtet ihn und wird ihn wohl bald verhaften.«
Woher wusste der Junker all diese Details? Gehörte er etwa selbst der Flotte an? Welche Position im tefrodischen Machtgefüge nahm er ein? Er musste weit oben stehen, hatte wahrscheinlich ein prominentes Gesicht, das jeder kannte. Zu gern hätte Schechter dem anderen sein Geheimnis entrissen, doch er zügelte sich.
»Ich halte es in der Tat für eine gute Idee«, sagte der Tomopat. »Sogar für eine entscheidende, wenn mein Plan aufgehen soll. Wer ist es?«
Die Gestalt im Kapuzengewand blickte noch einmal kurz zu den Jugendlichen. »Es ist deine Entscheidung, auch wenn ich sie nicht gutheiße. Er heißt Boocor Vazur, hält sich vermutlich im Hotel Laumhus Gäste auf und wird von einem der besten Agenten der Gläsernen Insel beobachtet, von Uvan-Kollemy. Lass es mich nicht bereuen, dass ich dir das gesagt habe.«
»Das wirst du nicht. Keine Sorge.«
Freundlicher Besuch
Im Tamaghat, 6. Oktober 1514 NGZ
Vetris-Molaud saß an seinem Arbeitstisch im Kabinett des Sterns von Apsuma und lächelte sein Gegenüber an. »Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast.«
Der gewaltige Schreibtisch dominierte den fünfeckigen Raum, das Regierungszentrum des Tamarons, der dahinter auf seinem Sessel thronte – ein überdeutliches Zeichen für jeden Besucher.
Dhayqe ließ sich davon nicht einschüchtern. Sein Gesicht strahlte Freude aus; die Haut war von einem feinen, schuppigen Silberblau bedeckt. Der Tesqire überragte Vetris weit, was die Machtsymbolik im Kabinett ohnehin kippen ließ. Vetris störte sich nicht daran ... schließlich hatte er es mit einem Freund zu tun.
Dhayqe war humanoid mit vier Gliedmaßen, genau wie Tefroder; am auffälligsten war sein überlanger, etwa einen halben Meter hoch aufragender Hals, der sich in diesem Moment noch zusätzlich ausdehnte. Der Tesqire konnte ihn in alle Richtungen drehen und auf diese Weise seine gesamte Umgebung im Auge behalten, ohne den Oberkörper bewegen zu müssen.
Ähnlich überbeweglich zeigten sich die Ellenbogen und Knie; Dhayqe drehte sich häufig an Stellen um 180 Grad oder mehr, die den Sehgewohnheiten eines Tefroders nach einfach nicht dafür geschaffen waren.
»Es ist mir stets ein Vergnügen, mich mit klugen Leuten zu unterhalten«, sagte Dhayqe. »Für eine solche Freude muss ich mir nicht eigens Zeit nehmen. Ich habe sie.« Er hob die Arme, die in einem Vierfingerkranz endeten, und legte sie vor der Brust zusammen.
Der Tesqire war ein Fürsprecher des Atopischen Tribunals, eine seiner Zungen, die mit großer Geduld und ausgesuchter Freundlichkeit für das Tribunal warb. Vetris fand ihn ... geschmeidig. Wendig. Ein durchaus angenehmer, kluger Gesprächspartner, angenehmer jedenfalls als die meisten Onryonen, auch wenn Vetris das niemals laut ausgesprochen hätte.
»Ich möchte zwei Dinge mit dir besprechen«, sagte Vetris.
»Ich freue mich darauf.«
»Wie du sicher weißt, findet am 12. Oktober die Zeremonie statt, während der ich den Zellaktivator umlegen werde. Ein großer Augenblick für das Neue Tamanium.«
»In der Tat.«
»Du weißt es also?«
»Selbstverständlich. Und ebenso selbstverständlich wird es ein großer Augenblick für die Tefroder und für dich persönlich werden.«
»Wird ein Atope bei diesem feierlichen Moment anwesend sein?«
Dhayqe reckte seinen langen Hals und neigte den Kopf ein wenig. »Ich fürchte, ich muss dich enttäuschen. Das lässt sich leider nicht einrichten. Sowohl der ehrenwerte Chuv als auch Richter Matan Addaru Dannoer sind anderweitig gebunden.«
»Schade. Ich hätte mich gefreut, die Bedeutung der Zeremonie durch eine solche Präsenz zu erhöhen. Zu gerne hätte ich einem Atopen Gastfreundschaft gewährt und ihn an diesem großen Augenblick teilhaben lassen.«
Der Tesqire strahlte. »Es wäre ein Gewinn für beide Seiten gewesen, zweifellos. Wie schön, dass du das so siehst. Die Anerkennung des Tribunals ist dir aber bereits gewiss. Schließlich hast du den Zellaktivator in letzter Instanz vom Tribunal erhalten. Der Anwesenheit eines Atopen bedarf es dazu nicht.«
»Ich verstehe«, sagte Vetris. Natürlich verstand er – auch das, was der Tesqire nicht ausgesprochen hatte. Politik war eine Kunst, die Vetris-Molaud bis ins Detail beherrschte – und Dhayqe offenbar genauso. Enttäuschende Nachrichten mussten stets positiv verpackt werden.
Umso mehr überraschten ihn die nächsten Worte seines Gastes im Kabinett.
»Aber wenn schon nicht an diesem Tag, so möchte der Atope Matan Addaru Dannoer das Helitas-System in nächster Zeit dennoch mit seinem Besuch beehren.«
Dannoer war der Richter, der Perry Rhodan und Bostich im spektakulären Prozess auf Terra zu fünfhundert Jahren Mobilitätsentzug verurteilt hatte. Ausgerechnet er wollte ihn aufsuchen?
»Eine Ehre«, sagte Vetris. Oder eine Gefahr? Der Tamaron hoffte nicht. »Ich sehe seinem Besuch mit Freude entgegen. Vielleicht kann ich mit ihm dann über den zweiten Punkt sprechen, der mir sehr am Herzen liegt.«
Dhayqes Hals reckte sich noch ein wenig mehr in die Länge. »Womöglich kann ich dir ja auch weiterhelfen. Worum geht es?«
Vetris schaute zu einem der vertikalen Aquarien an den Seitenwänden des Kabinetts, in denen sich seine Skorpione tummelten. Einer krabbelte gerade über die obere Kante des Glaszylinders, fiel zu Boden und huschte auf den Arbeitstisch zu. Falls Dhayqe sich dadurch beunruhigen ließ, zeigte er es nicht.
»Ich frage mich, warum man Luna nicht ins Helitas-System gebracht hat, wie es vorgesehen war«, sagte der Tamaron.