»Der liebenswerteste Drecksack seit John Self in Martin Amis’ Gierig. Verflucht lustig und trotzdem bewegend.« Ian Rankin
»Straight White Male ist ein echter Herzensbrecher von einem Buch; eine zielgenaue literarische Abhandlung über den allzu mörderischen Kampf zwischen menschlichen Begierden und sozialen Zwängen, verkleidet als hochtouriger Roman voller testosterongetränkter Exzesse.« Irvine Welsh
»Es gibt nichts Überdrehteres, Traurigeres und Lustigeres, als wenn Niven über die männliche Psyche schreibt. Ich habe dreimal geweint und fünfzigmal schallend gelacht. Großes Kino!« Caitlin Moran
»Man muss einerseits lachen, bis einem der Bauch wehtut, um dann aber doch auch mit den Tränen zu kämpfen.« Shortlist
»Verflucht lustig, doch hinter dem Feuerwerk des schwarzen Humors versteckt sich eine unglaublich bewegende Geschichte menschlicher Erlösung.« Sunday Mirror
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
STRAIGHT WHITE MALE
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Copyright © 2013 by John Niven
Copyright © 2014 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München,
unter Verwendung des Originalumschlags von Glenn O’Neill
Gesetzt bei C. Schaber Datentechnik, Wels
ISBN: 978-3-641-10725-3
V002
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Für meinen Bruder, Gary Niven
(1968–2010)
If I could only be tough like him,
Then I could win,
My own, small, battle of the sexes
XTC, »Sgt. Rock (Is Going To Help Me)«
erster teil
AMERIKA
eins
Bequem in den Clubsessel gelehnt, schlug Kennedy Marr die Beine übereinander und starrte aus dem deckenhohen Fenster, als müsse er die Frage überdenken. Von seinem dank der Klimaanlage angenehm gekühlten Platz hoch oben in Century City blickte er gen Osten – das Haifischbecken der Creative Artists Agency befand sich nur ein paar Schritte die Straße runter. Tief unter sich sah er Downtown Los Angeles in der Julihitze schmoren. »Broiling« nannten es die Einheimischen. Gott, diese Amerikaner. Seit acht Jahren lebte er jetzt hier und wusste immer noch nicht, was »broiling« eigentlich war. Ein Mittelding aus »frying« und »boiling«? Wäre »froiling« da nicht besser? Egal, es war erst kurz nach elf Uhr und bereits elend heiß. Diese degenerierte Stadt, ein einziges Vergehen an der Natur – ein riesiger Garten, aus einem Wüstenbecken gehauen. Als würde man ein zwanzigtausend Hektar großes Treibhaus in der Arktis unterhalten. Er war sich bewusst, dass Dr. Brendle – in Kennedys Augen eine der degenerierteren Schöpfungen dieser degenerierten Stadt – ihn erwartungsvoll ansah. Sein verkniffenes, bierernstes Gesicht harrte offenbar einer Antwort. In diesem Augenblick dämmerte Kennedy, dass er den Wortlaut der Frage vollkommen vergessen hatte. Nein, er war kein guter Zuhörer.
»Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?«, fragte er und strich eine Falte aus dem Hosenbein seines Leinenanzugs. Er spürte das dumpfe Rumoren des üppig bemessenen Screwdriver, den er sich auf dem Weg hierher in einer Bar am Santa Monica Boulevard hinter die Binde gekippt hatte, um sich wie jede Woche für diesen höllischen Termin zu wappnen.
»Nun, lassen Sie es mich anders formulieren«, sagte Brendle und klickte mit dem Kugelschreiber. »Warum befleißigen Sie sich als ein intelligenter Mann, der Sie doch sind und dessen Job unzweifelhaft einen Gutteil Selbstanalyse erfordert, beständig eines Benehmens, von dem Sie genau wissen, dass es Ihr Umfeld verletzt?«
Kennedy gab vor, eine Weile darüber nachzudenken, während er an seiner Antwort feilte. Was er sagen wollte, war: »Warum schieben Sie sich Ihre Frage nicht in Ihren fetten Hintern?« Er stellte sich vor, die Worte tatsächlich auszusprechen, und malte sich aus, wie seine Aussprache härter wurde. Wie sie von dem weichen südirischen Akzent, den er für die alltäglichen Anforderungen des Lebens in den USA – Restaurants, Frauen, Talkshows – bereithielt, in den deutlich kantigeren Dialekt der Sozialbauviertel von Limerick umschlug, der ihm in die Wiege gelegt worden war. Schließlich sagte er: »Mir ist nicht ganz klar, was mein Beruf damit zu tun hat, Les. Sie wissen, was ich meine: ›Seid nicht zu eilig, wenn ihr den Morallehrern Vertrauen schenkt oder sie bewundert, sie predigen wie die Engel, aber leben wie die Menschen‹ und all dieser Scheiß.«
Brendle grinste. »Natürlich, ich verstehe.« Er machte sich eine Notiz.
Du verstehst? Überhaupt nichts verstehst du, du grottendämlicher Affenarsch!
Brendle seufzte, nahm die Brille von der Nase und rieb sich die Augen. »Mir ist völlig klar, dass Sie gerade lieber woanders wären, Kennedy. Mir ist auch bewusst, dass Sie Dr. Schlesinger den Vorzug geben würden.«
Der Mistkerl erlaubt sich an dieser Stelle doch tatsächlich ein verstohlenes Lächeln.
»Und darüber hinaus bin ich mir natürlich auch jener Freud’schen Maxime bewusst, nach der niemand unzugänglicher für die Psychoanalyse ist als die Iren. Aber wäre es angesichts der Tatsache, dass Sie gar keine andere Wahl haben, nicht vielleicht den Versuch wert, dieser Erfahrung zumindest irgendetwas abzugewinnen? Etwa, indem Sie sich bemühen zu verstehen, warum Sie eigentlich hier sind? Mir scheint …«
Kennedys Gedanken schweiften ab. Im Anschluss an diesen Termin hatte er noch einen weiteren zu absolvieren. Im Büro seines Managers. Zwei Meetings an einem Tag? Wie um Himmels willen hatte er es dazu kommen lassen können? Er starrte auf die Wand hinter Brendle, musterte die gerahmten Diplome und Zitate. Ja, warum war er eigentlich hier? Es fiel ihm schwer, dies auf einfachere Weise zu beantworten als mit R. P. McMurphys Erwiderung auf ebendiese Frage: Weil ich mich prügele und gern ficke.
Vor ein paar Monaten, im Frühling, war Kennedy während der Happy Hour im Powerhouse unweit des Hollywood Boulevard – einem von ihm regelmäßig frequentierten, weil recht ergiebigen Jagdrevier – bei seinem fünften oder sechsten Long Island Iced Tea mit einer attraktiven Frau ins Gespräch gekommen. Sie war Anfang dreißig gewesen, erweckte den Eindruck, als wüsste sie, wie man einen Schwanz verwöhnt, und hatte, wie sich herausstellte, vage von ihm gehört. Zumindest hatte sie von einem seiner Bücher und definitiv von einigen Filmen gehört, an denen er mitgewirkt hatte.
Eins führte zum anderen, und recht schnell hatte Kennedy in einer der Sitzecken ganz hinten neben dem Billardtisch seine Hände unter ihre Bluse geschoben, während die ihren sein dichtes schwarzes Haar durchwühlten. Das orangefarbene Licht gedimmt, die Stooges in der Jukebox, ihre Zähne ineinander verkeilt und einen angenehm harten Nippel zwischen Daumen und Zeigefinger, hörte er plötzlich die Worte »HE! WAS, ZUM TEUFEL …!«, rasch gefolgt von einem »Oh, verdammte Scheiße« seitens der Nippel-Besitzerin.
Dieser Kerl – dieser E.G.A.L. (Ehemann, Geliebter, Arsch, Lover, egal was) – war gar nicht mal von schlechten Eltern gewesen, wie Kennedy später einräumen musste. Er hatte ihm nicht sofort einen ungestümen, schlecht gezielten Faustschlag versetzt, wie viele andere es getan hätten. Oder dämlich dahergeredet und seinem Widersacher so wertvolle Sekunden verschafft, um auf die Beine zu kommen. Er hatte einfach über den Tisch gelangt, Kennedy am Revers gepackt – das Revers eines sehr schicken Anzugs aus der Savile Row, Gieves & Hawkes, um genau zu sein – und ihn aus der Sitznische gezerrt. Exakt in diesem Moment hatte Kennedy erkannt, wie unglaublich groß dieser Typ war. Auf der Brusttasche seiner Jacke, einer Art Mechanikerkluft, war der Name »Todd« eingestickt. Dieser Todd hatte Kennedy in die Höhe gehoben, wobei Kennedys Füße in der Luft Zeichentrick-Fahrrad fuhren, und ihn ganz nah an sein purpurrot anlaufendes Gesicht herangezogen. Ein Gesicht, das fraglos seinen Zweck erfüllte: großflächig mit Akne überzogen, die flache Stirn gefurcht, die knubbelige Nase voller geplatzter Äderchen, aber auch zwei klare, knallharte Augen. »Was zum Teufel treibst du …«, knurrte Todd – und beging damit einen Fehler. Denn das verschaffte Kennedy den entscheidenden Augenblick, um nachzudenken.
Für Kneipenschlägereien gilt, was für alle Spielarten der schönen Künste gilt: Klischees zu vermeiden ist von unschätzbarem Vorteil. Man muss das Ganze aus einer möglichst abwegigen Position und ungewöhnlichen Perspektive heraus angehen. Die Eröffnung sollte kraftvoll und unerwartet sein. Dann gilt es, so rasch wie möglich zum Punkt zu kommen, um sich daraufhin schnellstmöglich zu verpissen. Was das betrifft, ähneln Kneipenschlägereien durchaus dem Verfassen von Drehbüchern. Hier wie dort zählt allein die Wirtschaftlichkeit. Als Todd also die Worte »… Penner da mit meiner Freundin?!« aussprach, setzte Kennedy bereits zur Eröffnung an.
Er krallte beide Hände um den Hinterkopf des Hünen, schnellte vorwärts und versenkte die Zähne in dessen saftiger Erdbeernase.
Um Kennedy abzuschütteln, versuchte Todd es nun mit der umgekehrten Strategie. Die beiden wirbelten quer durch die Bar, zerschmetterten Gläser und rempelten Leute an, während die Freundin kreischte, Iggy Pop »1969« heulte und Todds Blut in Kennedys Mund strömte – was eine kurzzeitige Aids-Panik bei ihm auslöste. Dann riss Todd sich seinen Gegner mit einem unmenschlichen Gebrüll aus dem Gesicht und schleuderte ihn bis ans Ende des Raums, wo dieser schließlich äußerst unsanft auf den Billardtisch krachte. Mann, das war schmerzhaft. Kennedy blickte auf, um – schlecht, ganz schlecht – zu sehen, wie Todd blutverschmiert auf ihn zuwalzte. Just als Todd ihn erreichte, die Faust geballt und bereit, seinen Widersacher in den grünen Filz des Tisches zu rammen, registrierte Kennedy Schatten und Geräusche im Rücken seines Kontrahenten: schwarze Umrisse, das Knistern und Rauschen von Funkgeräten, das Klappern von Schlagstöcken, die in der Enge der Bar mit dem hölzernen Mobiliar kollidierten.
Die Polizei.
»Vielen Dank«, sagte Kennedy, richtete seine Krawatte und wischte sich das Blut vom Mund, während zwei der Cops sich auf seinen tobenden, kreischenden Gegner stürzten, ihn zu Boden warfen und ihm Handschellen anlegten.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte der dritte Cop mit besorgtem Blick auf seine rot verschmierte Visage.
»Ich denke schon, Officer«, keuchte Kennedy und wischte sich noch mehr von Todds Blut aus dem Gesicht.
»He! He!«, riefen die Bullen am Boden, als der buckelnde und austretende Todd einen von ihnen abwarf. »Verdammt! Der Typ rastet aus.«
»Scheiß drauf – SITUATION GEKLÄRT!«, brüllte einer der Beamten.
Kennedy griff sich einen herrenlosen Whisky von einem der benachbarten Tische und leerte das Glas, während er zusah, wie sein Gegner unter den Stromstößen des Elektroschockers zusammensackte.
Seine Mutter hatte mal wieder recht behalten: Kennedy war ein echtes Glückskind.
Wobei sein Glück sich diesmal dann doch in Grenzen hielt. Denn – wie konnte es anders sein – es mangelte nicht an Gästen und Angestellten, die bezeugen konnten, was der eigentliche Auslöser der Schlägerei gewesen war. Dass Kennedy nämlich ein halbes Dutzend Cocktails getrunken, seine Zunge bis tief in die Lunge der Frau geschoben und ihrem Freund beinahe den Zinken abgebissen hätte. Und da dies nun einmal Kalifornien und Kennedy der einzige Beteiligte war, der etwas Geld an den Hacken hatte, flatterte alsbald eine Vorladung nach der nächsten in den Posteingangskorb eines der Klageflut sehr bald überdrüssigen Herrn namens Bernie P. Wigram – Kennedys Anwalt.
Todd verklagte Kennedy wegen Körperverletzung. Todds Freundin verklagte Kennedy wegen sexueller Nötigung. Irgendeine Frau verklagte Kennedy wegen eines Traumas, das sie vorgeblich der Tatsache zu verdanken hatte, ungewollt Zeugin dieser barbarischen Auseinandersetzung geworden zu sein. Sogar die gottverdammte Bar verklagte Kennedy. Er war milde überrascht, dass ihn nicht auch noch Iggy Pop wegen der »nicht lizenzierten Beschallung eines Faustkampfes mit seiner Musik« vor Gericht zerrte. Am Ende einigten sich alle Beteiligten außergerichtlich – die von ihm zu zahlende Gesamtsumme belief sich auf einen Betrag im niedrigen sechsstelligen Bereich –, und Kennedy musste sich bloß wegen der sexuellen Nötigung vor Gericht verantworten. Da es sich dabei bereits um seine dritte Anhörung in einem Fall von Störung der öffentlichen Ordnung binnen weniger als zwei Jahren handelte – am Pool des London Hotel in West Hollywood hatte er einen Regisseur zu Boden geschlagen und an der Fountain Avenue in einen Vorgarten gepinkelt –, stellte ihn der Richter vor die schwierige Wahl, sich entweder in Therapie oder sechs Tage in den Knast zu begeben.
Also hockte er nun in Brendles Praxis, starrte den Seelenklempner hasserfüllt an und wünschte sich zum zigsten Mal, dass er sich für das Gefängnis entschieden hätte. Als vierundvierzigjähriger Autor und jüngster Schriftsteller, der es je auf die Shortlist des Booker Prize geschafft hatte, saß er an einem Montagmorgen in einem Büro in Century City und lauschte den Weisheiten und Erkenntnissen eines Mannes mit einem miesen zweitklassigen Abschluss von irgendeiner staatlichen amerikanischen Universität.
Und was diesen schlechten Scherz über Dr. Schlesinger betraf: Dr. Nicole Schlesinger, Brendles Vorgängerin als Kennedys gerichtlich bestellter Therapeut, war deutlich ansprechender als Brendle gewesen. Sogar so ansprechend, dass Kennedy sie nach ihrer dritten Sitzung auf einen Drink ins Chateau Marmont eingeladen hatte, wo er sie mit Brett Ratner, Angelina Jolie und dem Konzept des doppelten Martini bekanntmachte.
An jenem Abend hatte er es nicht einmal nach Hause geschafft, sondern sie gleich dort in einem Bungalow hinten beim Dschungel-Pool des Chateau gevögelt.
Womit Dr. Leslie Brendle in sein Leben getreten war, der ihn jetzt schon wieder ansah, als würde er auf irgendetwas eine Antwort erwarten. Gott, Kennedy brauchte dringend eine Zigarette. »Entschuldigung?«, fragte er.
Brendle seufzte. »Lassen Sie uns mal etwas mit weniger Konfliktpotenzial versuchen. Erzählen Sie mir von Ihrem Wochenende. Was ist passiert?«
»Oh, das Übliche. Nicht besonders viel.«
Aber irgendwas passierte ja immer.
Der Freitagabend war nicht groß aus dem Rahmen gefallen: Dinner mit den Jungs in irgendeinem neuen Restaurant, das der Bekannte eines Bekannten gerade eröffnet hatte, danach ein paar Drinks im Soho House, und in den frühen Morgenstunden war er schließlich mit irgendeinem Sternchen, das mal in einer ABC-Sitcom mitgespielt hatte, zu sich nach Hause gefahren. Am Samstag hatte er einen ruhigen Abend verbracht. Nun ja, mehr schlecht als recht …
Kennedy hatte es sich mit Whisky, Zigarre und Laptop auf dem Bett gemütlich gemacht und sich in aller Ruhe ein Filmchen bei YouPorn angeschaut – zwei Lesben mit einem Umschnall-Dildo von der Größe eines Zugluftdackels –, als auf seinem Bildschirm ein Skype-Fenster aufploppte und den Anruf eines Mädchens namens Megan ankündigte, das er vor einigen Monaten in New York kennengelernt hatte. Er klickte auf »akzeptieren«, und so dauerte es nicht lange, bis Megan ihn mit ihrer eigenen Live-Show direkt aus ihrem Apartment in Brooklyn unterhielt. Er verkleinerte das YouPorn-Fenster und genoss Megans gymnastische Einlagen in vollen Zügen – dieser Elan, diese Entschlossenheit, dieser Enthusiasmus des Amateurs, zumal verglichen mit der routinierten Professionalität, die gerade im Fenster neben ihr zur Schau gestellt wurde –, als er spürte, wie neben ihm auf dem Bett sein iPhone vibrierte: eine SMS von PattyCakes2, einer rothaarigen Teufelsbraut namens Patricia. Sie hatte ihn letztes Jahr bei einer Lesung in San Francisco angesprochen. Ihre Antwort auf die Frage »Wie läuft’s? Was machst du gerade?«, die er ihr im Laufe des Tages getextet hatte, erfolgte in Form eines Fotos. Kennedy schielte vom Laptop in Richtung des Handys und erkannte, dass sie es sich anscheinend … war das etwa eine Aubergine? Er tippte mit dem Daumen einen ermunternden Kommentar, während er mit einem Auge immer noch Megan im Blick hatte – Herr im Himmel! – und dabei träge den Schritt seiner Boxershorts massierte. Plötzlich bimmelte irgendwo ein Telefon. Hektisch sah er sich im Zimmer um, wobei er den halben Whisky verschüttete, bevor er kapierte, dass das Klingeln aus dem Lautsprecher seines Laptops kam. Mit einem lapidaren »Bleib dran, Süßer … da muss ich rangehen« marschierte Megan aus dem Bildausschnitt.
Mist. Indem er den Cursor über das YouPorn-Fenster bewegte und es wieder vergrößerte, stellte Kennedy fest, dass seine Lesben irgendwann in den letzten paar Minuten Gesellschaft von einem über zwei Meter großen schwarzen Quarterback bekommen hatten und das gemeinsame Geschäft zu einem erfreulichen Abschluss gekommen war. Genau genommen sah es aus, als hätte jemand die beiden Mädels mit einer Wasserkanone bespritzt, die direkt an das Hauptventil für Tapetenkleister angeschlossen war.
Kennedy scrollte das YouPorn-Menü herunter und klickte auf die Worte »ICH BIN KHLOE UND BESORG’S MIR LIVE VOR DER KAMERA!«. Kurz darauf befand er sich im Chat mit einer Provinzschönheit Anfang zwanzig, die mit einem neonpinkfarbenen Vibrator herumfuhrwerkte.
»Hallo, Jim«, begrüßte sie ihn mit seinem User-Namen. »Was soll ich für dich tun?«
»Na ja, Khloe, wie wär’s, wenn du dich einfach auf deine Menschenkenntnis verlässt?«, schlug Kennedy vor. Und sie ließ sich nicht zweimal bitten. Puh. Dann vibrierte abermals sein iPhone – diesmal war es die »FaceTime«-App: ankommender Anruf. Er tippte auf den Touchscreen, um festzustellen, dass Patricia in San Francisco ebenfalls beschlossen hatte, live auf Sendung zu gehen. Sie presste ihre schweren Brüste aneinander, zog und zwirbelte an ihren Nippeln, als würde sie mit aller Macht versuchen, sie abzuschrauben, und stöhnte: »Ich will dich in mir spüren.« Erst als eine andere Stimme fragte: »Tut mir leid, Süßer, wo waren wir stehen geblieben?«, wurde Kennedy bewusst, dass Megan wieder auf Skype zurück war. Er regelte die Lautstärke des Laptops herunter und ließ seinen Blick zwischen dem Monitor des Notebooks, wo Khloe und Megan in zwei verschiedenen Fenstern um die Wette animierten, und Patricia auf dem iPhone pendeln. Dabei fühlte er sich wie ein Fluglotse, der mittels dreier Kontrollbildschirme versucht, eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe abzuwenden, während sich über ihm in der Luft immer neue Maschinen in kollidierenden Flugbahnen stapeln.
Plötzlich verspürte er eine gewisse körperliche Irritation. Das Gefühl war eher unangenehm. Es dauerte einen Augenblick, bis er die Ursache lokalisiert hatte. Wenn er mit der Daumenspitze über seinen erigierten Penis rieb, konnte er dort etwas fühlen. Es war winzig, aber hart – als befände sich ein Sandkorn direkt unter der Haut seines Schwanzes. Das war neu. Indem er den Daumen von oben mehr zur Seite des Schaftes hin bewegte, war es ihm möglich, den direkten Kontakt mit der Stelle zu vermeiden und trotzdem mit zufriedenstellendem Ergebnis weiterzuwichsen.
Kennedy tat mindestens so viele Dinge gleichzeitig wie ein Chirurg in einem überlasteten Feldlazarett, der nebenher fürs Jurastudium büffelt und eine Flotte gekidnappter Jumbojets zur Landung überredet. Dabei gelang es ihm sogar noch, zu trinken und eine Cohiba zu rauchen. Womit er den Mythos, moderne Männer seien nicht multitaskingfähig, eindeutig Lügen strafte.
»Oh, oh, oh, mein Gott«, stöhnte Patricia in San Francisco. Wie lange konnte eine Aubergine eigentlich eine derartige Tortur überstehen? »Los, spritz mir ins Gesicht.«
Megan hatte in New York schreiend ein bestrumpftes Bein um das Kopfende des Bettes geschlungen, Mittel- und Zeigefinger ihrer rechten Hand flatterten wie Kolibrischwingen über ihrem Schamhaar.
»DAS FÄNDEST DU WOHL GEIL, JIM, WENN DAS HIER DEIN SCHWANZ WÄRE?«, kreischte Khloe in irgendeiner anderen Stadt, während sie sich das pinkfarbene Monster auf allen vieren ins Rektum bugsierte.
Kennedy hatte zwei unterschiedliche Stöpsel im Ohr – über einen hörte er Patricia auf dem iPhone, über den anderen Khloe und Megan auf dem Laptop – und antwortete nur mit unpersönlichem Dirty Talk. Dabei vermied er es tunlichst, seine Gespielinnen beim Namen zu nennen. Das minimierte die Gefahr, die Damen auf die Gegenwart der jeweils anderen aufmerksam zu machen. Allerdings bedeutete dies auch, dass Kennedy mit einem Stereo-Sperrfeuer eingedeckt wurde, das immer ohrenbetäubender wurde, je mehr es an allen Fronten zur Sache ging. Panik, Verwirrung, Grunzen und Kreischen: Es klang, als wäre ein Brand in einem Kreißsaal ausgebrochen. Genau in dem Augenblick, als seine zitternden und zuckenden Beine jenen Punkt ankündigten, ab dem es kein Zurück mehr gab, tat Kennedy etwas, das sich als folgenschwerer Fehler erweisen sollte. Während er hastig nach einem Kleenex tastete, fühlte er, wie der Stöpsel des iPhone aus seinem rechten Ohr rutschte. Äußerst erpicht darauf, die Verbindung zu Patricia nicht ausgerechnet jetzt zu verlieren, wo sie so kurz davorstand, seine Theorie von der begrenzten Belastbarkeit einer Aubergine zu bestätigen, griff er nach dem Handy und hob es über seinen Kopf. Dabei rutschte ihm das Gerät aus der Hand und fiel geradewegs in das Glas mit eisgekühltem Macallan-Soda, das er auf seiner Brust balancierte. Als er sich vorbeugte, um das iPhone herauszufischen, kippte er das ganze Glas um, dessen Inhalt sich über das MacBook Air auf seinem Bauch ergoss.
Ein paar Minuten später, als er keuchend und blinzelnd inmitten durchnässter Luxuslaken und ruinierter Technologie im Wert von mehreren Tausend Dollar saß, kam Kennedy ins Grübeln – ein reumütiges Grübeln, o ja, es war definitiv Reue im Spiel. Er nahm an, er hätte die Katastrophe womöglich vermeiden, die Situation vielleicht gerade noch retten können, wenn er nicht zeitgleich ejakuliert hätte.
Oh Mann, dieses Internet.
Kennedy gewann immer häufiger den Eindruck, dass sich die Kunst des Wichsens gerade auf dem Zenit, einer Art Renaissance-Hoch befand. Erst die Technologie ermöglichte es, den der Selbstbefleckung eigenen Moment elisabethanischen Theaters voll auszukosten. Früher, in der Steinzeit der Selbstbefriedung, als man noch missmutig über einer eselsohrigen, gewachsten Ausgabe von Razzle, Shaven Ravers oder Spunk buckelte, betraf der einzige potenzielle Verlust oder Schaden in der Regel ein paar verblichene Seiten oder eine abgeschriebene Socke. Wenn man sich damals einen runterholte, hatte das einen entscheidenden Vorteil, dachte Kennedy und nippte gelassen an einem frischen Cocktail, während er die zischende, ratternde Ruine seines Laptops und den Leichnam seines iPhones sezierte, es hat dich nicht um beschissene dreitausend Dollar ärmer gemacht.
Warum tat er sich das an? Vermutlich waren die Hormone schuld. Warum hörte das zugegeben recht limitierte Bewegungsrepertoire des menschlichen Körpers niemals auf, ihn zu faszinieren? Wie viele Symphonien konnte man aus den immer gleichen zwölf Noten herauspressen? Bis zu welchem Grad würden Menschen wie Kennedy – als Schriftsteller musste er einfach daran glauben, dass es andere gab, die so waren wie er – für ein wenig Abwechslung beim Orgasmus willentlich ihr Leben ruinieren?
Fragen, die es definitiv wert waren, ihnen nachzugehen.
»Sie verschweigen mir etwas«, sagte Brendle.
Vielleicht brachte es ja wirklich etwas, dem Kerl mal zuzuhören. Brendle mochte zwar ein öder, zweitklassiger Intellektueller sein, aber Kennedy würde darauf wetten, dass der gute Doktor letzte Nacht nicht in seinem eigenen Gästezimmer übernachtet hatte, weil sein Bett, sein Telefon, sein Laptop und seine Würde allesamt schwelende Opfer eines höllischen, den Kontinent umspannenden Aktes der Über-Kreuz-Onanie geworden waren.
Wie aber sollte er Brendle klarmachen, dass es ihm nicht um den Geschlechtsakt an sich ging, sondern wirklich nur um den allerletzten Teil dieses Aktes, um die Zielgerade, den Homerun? Diesen Moment, wenn er, über irgendeine Zwanzigjährige mit der Haut einer jungfräulichen Buchseite gekrampft, gegen sich selbst anheulte. Wenn er spürte, wie das Leben selbst in seinem Unterleib hämmerte und kochte, verzweifelt darauf wartend, losgelassen zu werden, um sich vorwärtszustürzen. Wenn er kurz davorstand, die Oberleitung zu berühren – so kurz vor dem Abschluss. Wenn er doch nur dort verharren und den dringlichsten Teil dieses Nervenkitzels so lange wie möglich auskosten könnte, bis ihm der Schweiß übers Gesicht lief, die Hoden sich nach innen stülpten und in seinen Körper hineinwanderten, seine Augen zu Schlitzen wurden – die Zähne gebleckt, sein Gesicht das eines rasenden Backenhörnchens mit Überbiss im Windkanal, während er den Wahnsinn hinausschrie, die Götter verfluchte und gegen das Kopfende des Bettes trommelte, bloß um alles noch etwas hinauszuzögern. Nur in diesem Teil des Aktes konnte er alles vergessen. Nur dort konnte er den Gedanken an seinen Tod, sein Sterben und den Grabstein mit seinem Namen darauf ausblenden. Nur dort konnte er die Gesichter seiner Tochter, seiner Exfrauen, seiner Mutter, seiner Schwester, all derer verdrängen, die er geliebt, betrogen und in seinem unstillbaren Verlangen verloren hatte, genau an diesen finalen Teil des letzten Aktes zu gelangen.
In seinem Buch Mehr noch sterben an gebrochnem Herzen hatte Saul Bellow von dem »Schmerzkatalog« geschrieben, den wir gegen Ende unseres Lebens alle abhaken müssen. Von jenem traurigen Kassenbuch, in dem ein Großteil des Solls auf das Konto der Liebe beziehungsweise von Vergehen gegen die Liebe geht. Und Kennedy Marr hatte sich an der Liebe vergangen. Gottverdammte Scheiße, und wie er sich an der Liebe vergangen hatte. Er hatte sich an ihr versündigt. Er hatte Schmerzen und Kummer verursacht, hatte das Vertrauen von Frauen missbraucht, wunderschöner Frauen, die einmal neben ihm gelegen und ihn mit Augen angesehen hatten, die sagten: »Ich entblöße mich völlig vor dir. Dies ist alles, was ich bin, und ich vertraue dir mit Leib und Seele.«
Nun, er hatte über all das seinen Samen gespritzt und sich aus dem Staub gemacht, um mehr davon zu finden. Er dachte an Millie und Robin, seine Exfrau und seine Tochter, drüben in England. Robin war jetzt sechzehn. Er und Millie hatten sich getrennt, als Robin gerade vier gewesen war, weshalb sie keine wirklich konkreten Erinnerungen an die gemeinsame Zeit hatte. Er sah sie etwa ein halbes Dutzend Mal im Jahr – hin und wieder kam sie ihn für ein oder zwei Wochen besuchen. In den Sommerferien gewöhnlich für einen Monat. Sie trafen sich in London, wenn er geschäftlich dort zu tun hatte. Sie waren Kumpels. Sie tauschten Playlisten über iTunes. Robin versuchte, Kennedy für den Kram zu begeistern, den sie hörte. Was war das noch mal, was sie mir letzte Woche geschickt hatte? Irgendwas mit J? Scheiße, die Stimme dieses Kerls könnte Milch gerinnen lassen. Und Kennedy versuchte – in der Regel mit größerem Erfolg –, ihr die Musik seiner Jugend näherzubringen. Sie spielte Bass in einer Schülerband. Sie war das, was man heutzutage ein »Indie Kid« nannte. So wie er selbst es in den Achtzigern gewesen war. Auch wenn das zu dieser Zeit üblicherweise noch nicht so hieß. Damals hieß es einfach nur, dass man »kein Vollidiot« war. Dass man weder auf Bon Jovi stand noch meinte, zu Jeanshosen auch noch Jeansjacken tragen zu müssen. Außerdem war Robin süß. Sehr süß sogar. Kennedy dachte daran, was sein Großvater damals in Limerick vor so vielen Jahren über den Unterschied zwischen Töchtern und Söhnen gesagt hatte: »Wenn du einen Sohn hast, musst du dich nur um einen Schwanz sorgen.« Dann musste man nicht über die allgegenwärtige Begierde da draußen und all die anderen Kennedys nachdenken. Seine Tochter schien ihn zu mögen. Aber war das, was sie für ihn empfand, auch wirklich … Gott! Lass mich damit in Frieden, dachte Kennedy. Er würde sich seine Gedanken dann machen, wenn er es üblicherweise tat: in der Nacht, mit der Whiskyflasche in Reichweite. Denn man kam nicht drum herum, sich diese Gedanken zu machen. »Die Arbeit ist die Existenz«, wie Bellow sagte.
Wie sollte er Dr. Brendle verständlich machen, dass er sich aufs Fürchterlichste an der Liebe versündigt hatte und deshalb zu Recht fürchtete, sie würde ihm das am Tag der Abrechnung vorhalten? Dass er dann am tiefsten in ihrer Schuld stehen würde, wenn er sie am nötigsten brauchte und nichts anderes mehr zu bieten hatte? Und der Liebe wurden ihre Forderungen niemals verwehrt. Also öffnete man die Whiskyflasche. Zog sich das Koks rein. Warf eine Xanax oder Vicodin ein. Man schob dem Mädchen den Rock hoch und klammerte sich an die Oberleitung, so fest und so lange man eben konnte. Und man tat es wieder und wieder und wieder.
Wie sollte er dem guten Doktor all das erklären? Kennedy seufzte. »Ach, verdammt«, sagte er. »Drauf geschissen.«
zwei
»Ich verspreche dir, du hast es bald auf deinem Schreibtisch, Eric. Schneller, als du denkst. Ich weiß genauso gut wie du, dass es allmählich eng wird, aber Kennedy nimmt seine Verpflichtungen ernst. Er nimmt jeden einzelnen Draft ernst. Äußerst ernst. Selbst wenn es ein Polish ist. Obwohl er das Wort ›Polish‹ hasst.«
Braden Childs, Kennedy Marrs leidgeprüfter Manager – und wirklich jeder, der mit Kennedy Marr zu tun hatte, egal ob persönlich oder beruflich, ob Putzfrau, Agent oder Exfrau, hatte das Prädikat »leidgeprüft« mehr als verdient –, lauschte hoffnungsvoll in die Stille am anderen Ende der Leitung. Wenn er diesen Text abspulte, dann tat er das längst mit der lakonischen Zuversicht von Floskeln wie »Hallo, willkommen bei Burger King, darf ich Ihre Bestellung aufnehmen?«. Oder der einer erfahrenen Prostituierten, die ihrem Kunden die »Do’s« und »Dont’s« ihres Service auflistet. Früher hatte er sich gelegentlich gewundert, wie oft er das in Kennedys Namen tun musste. Inzwischen tat er es wie betäubt, fühlte sich dabei wie ein Soldat der Wehrmacht beim Rückzug durch das sowjetische Hinterland: Jeder neue Tag bescherte ihm einen neuen Albtraum.
»Ach ja, er hasst also das Wort ›Polish‹?« Endlich: die Stimme von Eric Joffe, Produzent von Filmen wie Dämonische Mächte und Untreue Erinnerungen. »Hast du auch nur den leisesten Schimmer, wie scheißweit wir mit dem Film im Verzug sind?«
»Du bist aufgebracht, Eric«, erwiderte Braden. »Das kann ich hören.«
»Aufgebracht? Braden, aufgebracht war ich im April. Allmählich laufe ich Gefahr, auszuflippen. Stehe kurz davor, Amok zu laufen. Und komm mir jetzt bloß nicht mit der Writer’s Guild. Dann engagier ich nämlich einen Auftragskiller! DER DREH BEGINNT IM SEPTEMBER, UND ES GIBT IMMER NOCH KEIN VERFICKTES DREHBUCH!«
»Freitag, Eric. Versprochen.«
»Du hörst mir jetzt gut zu: Wenn am Freitag kein UPS-Wagen vor meinem Haus hält und mir das Drehbuch liefert, dann verklage ich dich und deinen Klienten wegen Vertragsbruchs. Auf die zweihundertfünfzigtausend Dollar, die ich diesem irischen Schwanzlutscher bei Unterzeichnung gezahlt habe, und außerdem auf Schadenersatz wegen des verzögerten Drehbeginns. Hast du mich verstanden? Das ist mein voller Ernst. Kein Scherz!«
»Ja, ich hab dich verstanden, Eric. Freitag. Ich melde mich dann später diese Woche.«
»Freitag!«
Klick.
Braden legte den Hörer auf und zeigte ihm den ausgestreckten Mittelfinger. In Wahrheit bereitete ihm Joffe keine allzu großen Sorgen. Der Typ hatte seine beste Zeit hinter sich, hatte seit Ewigkeiten keinen Hit mehr gelandet und war eigentlich nur noch im Geschäft, weil er mit Universal einen Vertrag über drei Filme abgeschlossen hatte. Joffe zog gnadenlos diese lächerliche Nummer mit dem Brüllen und Fluchen durch, wie sie Joel Silver und andere alte Säcke wohl immer noch für zeitgemäß hielten. Er wollte seinem abgehalfterten Thriller einen Hauch von Klasse verleihen, und ein Drehbuch-Polish von jemandem mit Kennedys Reputation schien das für ihn in greifbare Nähe zu rücken. Joffe zahlte eine halbe Million Dollar, bloß um mit Kennedys Namen im Vorspann eines Films zu protzen, der an den Kinokassen vermutlich nicht einen einzigen Cent einbringen würde. Als Braden in seinem Kalender allerdings die Termine des heutigen Nachmittags überflog, stolperte er über einen Namen, der ihm ernsthaft Sorgen bereitete. Große Sorgen.
Scott Spengler.
Die letzten vier von Spengler produzierten Filme hatten allein in den USA ganze 1,2 Milliarden Dollar eingespielt. Er war smart, er war hip, er besaß ein Gespür für kommerzielle Stoffe, und die Stars liebten ihn. Er brüllte und fluchte nicht. Er sorgte bloß stillschweigend dafür, dass man nie wieder ein Angebot bekam, wenn er auch nur den geringsten Einfluss darauf hatte. In einer Stadt, die von Einfluss lebte – und zwar auf Pump –, war das die pure Macht. Spengler hatte Beziehungen. Echte Beziehungen.
»Danny«, rief Braden durch die geöffnete Tür, »kannst du mich mit dem Büro von Scott Spengler verbinden?« Er blickte auf seine Uhr. »Und finde bitte raus, wo zum Teufel Kennedy steckt.« Im Vorzimmer stürzte sich Danny – zweiundzwanzig und Absolvent der UCLA-Filmhochschule – aufs Telefon.
Braden schwang seine abgenutzten Adidas-Sneaker auf den Schreibtisch – Agenten trugen Anzug, Manager Jeans und Turnschuhe – und begann, ein halbes Dutzend Papierstapel zu durchforsten: Kennedys aktuelle Projekte. Neben ihm auf dem Schreibtisch lagen einige Schreiben der Steuerbehörde und ein Bericht von Kennedys Vermögensberater, Craig Baumgarten, der jetzt gerade im Konferenzraum am Ende des Flurs saß und dort wartete. In Bradens Kopf rotierte ein Rolodex voll mit den Namen der Produzenten, Studios und Verlagen, mit deren Aufträgen sie gerade im Verzug waren.
Im Unterschied zu Agenten begleiten und lenken Manager die gesamte Karriere ihres Klienten. Die Aufgabe eines Agenten – in Kennedys Fall war das Jimmy Warr, der drüben im gläsernen Turm von ICT saß – beschränkt sich dagegen darauf, so viele Aufträge wie irgend möglich zu akquirieren. Neben Childs und Warr beschäftigte Kennedy auch noch seine britische Literaturagentin Connie Blatt sowie Stropson & Myers, seine britische Film- und TV-Agentur. Mit Craig Baumgarten von Baumgarten, Finch & Strunk (Vermögens- und Steuerberater) und Bernie Wigram (Rechtsberatung) war das Team, das Kennedy Marrs Karriere plante und optimierte, schließlich komplett.
»Jenny von Scotts Büro auf Leitung zwei«, rief Danny durch die Tür. Braden löste den Blick von einem Romanmanuskript mit dem Titel Unbetitelt, das direkt unter einem Manuskript mit dem Titel Unvollendet lag, nahm den Hörer ab und drückte auf die grün blinkende Taste.
»Hallo, Jenny.«
»Hallo, Braden. Ich habe hier Scott für dich, aus Australien.«
»Alles klar.«
Der große Scott Spengler persönlich, direkt aus dem australischen Busch, wo er gerade einen Film mit Tom und Scarlett drehte. Wer in Hollywood wirklich was zu sagen hatte, der rief einen zurück. Nur ein Gernegroß ließ einen auflaufen – das hatte man schnell raus. »Braden.«
»Hallo, Scott. Entschuldige, dass ich deinen Anruf von heute Morgen verpasst habe. Wie läuft’s denn da unten?«
»Bestens. Pass auf …« Noch so etwas, das die großen Tiere auszeichnete: kein Smalltalk. »… Michael möchte sich mit Kennedy treffen.«
»In Ordnung.«
»Er ist Fan. Möchte bloß mal Hallo sagen.«
»Klasse.« Michael Curzon war sechsundzwanzig und einer der Hauptdarsteller in Spenglers neuestem Film, für den Kennedy das Drehbuch geschrieben hatte. Curzon war angesagt. Auf dem Sprung nach oben. Aber noch kein richtiger Superstar.
»Jenny wird mit dir einen Termin für ein Dinner vereinbaren.«
»Gerne. Ich werde mit Kennedy sprechen, wenn ich ihn nachher sehe.«
»Gut. Und noch was …« Es knisterte und rauschte in der Leitung. Nach einem kurzen Augenblick absoluter Stille konnte Braden den Wind rauschen hören. Er stellte sich vor, wie Spengler vor seinem zweifelsfrei riesigen Trailer am Set auf und ab tigerte. »Julie hat heute Morgen ihren Vertrag unterzeichnet.«
»Ich …« Heilige Scheiße.
»Ich wollte, dass du das erfährst, bevor es morgen in der Branchenpresse steht.«
»Das ist ja … fantastisch! Meinen Glückwunsch, Scott. Das ist … eine Riesensache.«
»Du kannst Kennedy von mir ausrichten, dass sie ihn zu gegebener Zeit kennenlernen möchte.«
»Was bedeutet das für dein Budget?«
»Nach oben offen. Vielleicht hundert Millionen?«
Braden pfiff anerkennend.
»Ich nehme an, die Studios werden den Drehbeginn nun vorziehen wollen. Kennedy ist mit der Neufassung doch hoffentlich im Zeitplan?«
»Selbstverständlich«, log Braden.
»Sehr gut. Wir sprechen uns.«
»Bis bald, Sc…« Klick.
Braden lehnte sich zurück. Erst allmählich erschloss sich ihm die ganze Tragweite des eben Gehörten.
Julie Teal, vermutlich der größte weibliche Star diesseits der dreißig, hatte ihre Mitwirkung an Spenglers Film zugesagt. Budget, Interesse und Erwartungen würden gleichzeitig in die Höhe schießen. Das Studio wollte mit dem Dreh früher als geplant beginnen, um den Film rechtzeitig fürs nächste Weihnachtsgeschäft fertigzustellen. Wie weit war Kennedy mit dem Drehbuch? Und wo zum Teufel steckte er überhaupt? Ein weiterer Blick auf sein schweres ICW-Chronometer: Es war beinahe ein Uhr mittags. Kennedy würde vermutlich nach seiner Ankunft etwas essen gehen wollen. Was bedeutete, dass Braden den Rest des Nachmittags vergessen konnte. »Danny?«, rief er abermals, und diesmal erschien sein Assistent in der Tür. Dünn, bärtig, das weiße Hemd locker über die Chinos hängend. »Ist Craig schon hier?«
»Er wartet im Konferenzraum.«
»Danke. Versuch bitte noch mal, Kennedy zu erreichen.«
Braden nahm seinen Statusreport und legte ihn oben auf den Finanzbericht und die Unterlagen der Steuerbehörde. Einen weiteren Report – Connie Blatts Prognose der europäischen Buchtantiemen, Lizenzeinnahmen und Vorschüsse für das kommende Jahr – legte er auf einem dicken Ordner mit Kennedys Konto- und Kreditkarten-Auszügen der letzten zwölf Monate ab.
Diese Papiere lieferten das Rüstzeug für ihre geplante Krisenintervention.
drei
Das Opfer der anstehenden Intervention schmorte an der Ecke Wilshire und Robertson Boulevard in der brütenden Hitze und genoss ein letztes Mal das süße Gift seiner Marlboro. Wie es Kennedys Gewohnheit war, hatte er seinen Aston Martin DB9 in der Tiefgarage geparkt. »Schicke Karre, Mann«, lautete der Kommentar des jungen Mexikaners vom Parkservice. Kennedy hatte den Aufzug ins Erdgeschoss genommen, wo er die Rezeption durch die Glastüren verließ, um draußen noch eine zu rauchen, bevor er die Fahrt bis in den neunten Stock und zu den freudlosen, nikotinfreien Büros von Childs & Dunn fortsetzte. Rückblickend entpuppte sich diese überflüssige, völlig unnötige Zigarette – überflüssig und unnötig im Gegensatz zu den anderen neunundfünfzig absolut nicht überflüssigen und unbedingt notwendigen Zigaretten, die er im Laufe eines durchschnittlichen Tages rauchte – als Fehler: Sie gab ihm die Gelegenheit, an sein klingelndes Handy zu gehen. Sein Zweithandy: Wenn man so viel trank wie Kennedy, war es eine gute Idee, immer ein aktualisiertes Ersatzhandy in petto zu haben.
»Hallo?«
»Willst du mich eigentlich verarschen, Kennedy?«
»Vicky … schön, deine Stimme zu hören.«
»Ich meine, ohne mir davon zu erzählen?«
»Du musst schon etwas konkreter werden, Vicky.«
Vicky Marr, geborene Lombardi, würde in Bälde seine nächste Exfrau sein. Sie, die ihn erst als Journalistin interviewt und dann zwölf Jahre lang als seine Assistentin gearbeitet hatte, war einer dieser Menschen, die ihn mit Haut und Haar geliebt hatten. Einer der Menschen, die Kennedy sich auf schlimmstmögliche Art und Weise zum Feind gemacht hatte.
»Du hast das Kreditlimit meiner American-Express-Karte eingeschränkt, ohne mir vorher Bescheid zu geben? Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie peinlich das ist?«
»Bitte … äh … was habe ich getan?«
»Meine Karte wurde gerade abgelehnt. Ich habe bei AMEX angerufen, und dort hat man mich informiert, dass mein Limit reduziert wurde.« Es war beeindruckend, wie viel Kummer die aktuelle Mrs. Marr in das Wörtchen »reduziert« legen konnte.
»Sag mal, Vicky, bist du auf Crack oder so? Denk doch mal darüber nach. Ich? Bei American Express anrufen? Mit einem dieser Trottel dort quatschen, in der Warteschleife landen und dann so etwas arrangieren? Kapierst du denn nicht, was für ein Aufwand das wäre?«
»Na ja, es erschien mir schon … etwas untypisch für dich«, gab sie zu.
»Wie auch immer, es ist ja nicht so, dass ich verpflichtet wäre, dir eine Karte für mein Konto zu geben. Ich habe gesagt, du könntest sie nutzen, solange die Scheidung noch nicht durch ist, weil …«
»Vermutlich, weil du dich immer noch schuldig dafür fühlst, auf unserer Hochzeit meine beste Freundin gevögelt zu haben. Na? Könnte das vielleicht der Grund sein, Kennedy?«
Es war eine verdammt miese Nummer gewesen, die er da abgezogen hatte. Oh ja. Daran gab es nichts zu rütteln.
Dabei hatte Kennedy damals, vor etwas über zwei Jahren, gar nicht vorgehabt, auf seiner eigenen Hochzeit untreu zu werden. Nicht, dass er Vicky jemals in irgendeinem Sinne treu gewesen wäre.
Er erinnerte sich undeutlich an eine von reichlich Alkohol befeuerte Fummelei mit einem Garderobenmädchen während seines ersten Dates mit Vicky in einem edlen Steakhouse an der Upper West Side. Er hatte seine Zigaretten in seiner Jacke vergessen und die Garderobenmarke nicht mehr gefunden. Das Mädchen war so nett gewesen, ihn in die Garderobe zu lassen, sodass er eigenhändig danach suchen konnte. Sie studierte Englisch an der Columbia University und war außerdem ein erklärter Fan von ihm. Ziemlich schnell machten sie in den duftenden Falten teurer New Yorker Mäntel herum, während Vicky nur fünfzig Meter entfernt einen Zweihundertdollar-Barolo in einem Weinglas von der Größe eines Goldfischglases schwenkte. Er konnte sich immer noch daran erinnern, wie fest sich der Hintern des Garderobenmädchens durch die dünne Baumwolle ihres Kleids angefühlt hatte. Kennedy Marr hätte seine rechte Hand gegeben, um den Geburtstag seiner Tochter auswendig zu wissen. Auf der anderen Seite war er ohne langes Nachdenken in der Lage, die genaue Beschaffenheit eines Arsches zu beschreiben, den er wann betatscht hatte? Vor zwei Jahren? Was stimmte nicht mit ihm? Vielleicht gehörte er in Therapie. Dann erinnerte er sich: Er war ja in Therapie.
Aber die Sache mit Simone auf seiner Hochzeit war noch mal ein ganz anderes Kaliber gewesen. Zu seiner Verteidigung – und Verteidigung war etwas, das Kennedy dringend brauchte, mein Gott, wie dringend er sie brauchte – blieb höchstens zu sagen, dass es bereits ziemlich spät und er absolut volltrunken gewesen war. Noch dazu hatte seine eigene Braut ihn in ihrer gemeinsamen Suite im Beverly Hills Hotel gerade mit einer äußerst wohlmeinenden Line Koks überrascht. Auf seinem Weg zurück zur Polo Lounge war er Simone in die Arme getorkelt, die – hier tritt erneut die Verteidigung vor, allzeit bereit, ihre Argumente vorzutragen – auch noch unverschämt gut aussah. Außerdem hatten sie beide immer schon so ein unausgesprochenes Ding am Laufen. Simone war ebenfalls betrunken gewesen, und die Behindertentoilette neben der Lobby hatte sich ihnen regelrecht aufgedrängt. Was folgte, war ein irrer Rausch aus Alkohol und Triebgier, in dessen wirrem Verlauf irgendwie an einer Kordel gezogen wurde. Definitiv der falschen Kordel: Kennedy hörte lautes Geschrei – und als er sich umdrehte, geblendet von grellem Licht, standen da diese Hotelangestellten, die wohl mit einem in Schwierigkeiten geratenen Behinderten gerechnet hatten. Was sie stattdessen vorfanden, war ein frisch verheirateter Starautor auf Zehenspitzen, der gerade die beste Freundin seiner Frau von hinten bearbeitete. Und inmitten des Personals: Vicky, immer noch im Hochzeitskleid, schnaufend, die Fäuste geballt. Das Gefühl, ins Gesicht geschlagen zu werden, während der eigene Schwanz noch bei jemandem im Hintern steckt, ist … nun ja … ziemlich speziell. Der Richter im Scheidungsverfahren hatte lauthals gelacht, als Vickys Anwalt die gnädigerweise entschärfte Beschreibung der Ereignisse dieser Hochzeitsnacht verlas. Zum Zeitpunkt der Geschehnisse waren sie weniger als neun Stunden verheiratet gewesen. Zwei Jahre danach war das Gezänk um die Scheidungsvereinbarung immer noch nicht beendet. Dämliches Kalifornien.
Während Kennedy in der prallen Mittagssonne auf dem Bürgersteig stand, drohte das iPhone an seinem Ohr zu glühen, was nicht allein der höllischen Hitze geschuldet war. Vickys Zorn schien noch lange nicht verraucht zu sein. »Und noch etwas: Murray wird sich bei dir wegen dem Warhol melden.« Murray Chalmers war der Anwalt der künftigen ehemaligen Mrs. Marr.
»Den verdammten Warhol habe ich gekauft.«
»Du hast ihn FÜR MICH GEKAUFT, KENNEDY!«
»Für das Haus!«
»Unser Haus.«
»Hör zu, Vicky, ich muss jetzt dringend in ein Meeting, in Ordnung? Ich ruf dich später an.«
»WAG ES BLOSS NICHT, JETZT AUFZU…«
Klick. Und Stille.