Gerd Friederich
Tod dem König
Historischer Roman
Gerd Friederich, aufgewachsen im hohenlohischen Langenburg und schwäbischen Bietigheim an der Enz, studierte in Würzburg fürs Lehramt (Deutsch, Kunst, Geschichte, Geografie) und berufsbegleitend in Tübingen (Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Landeskunde) und Nürnberg (Malerei). Er arbeitete als Lehrer, Heimerzieher, Personalreferent, Schulrat, Lehrerausbilder und veröffentlichte viel Fachliteratur. Jetzt lebt er im Taubertal, schreibt historische Romane und malt Porträts und Landschaften.
1. Auflage 2013
© 2013 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Anette Wenzel, Tübingen,
unter Verwendung des Gemäldes »Ankunft der Postkutsche«
von Carl Spitzweg (1857).
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1592-5
E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1593-2
Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1272-6
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Autor
VORWORT
DIE HANDELNDEN PERSONEN
ERSTES KAPITEL: Einsamer Entschluss
ZWEITES KAPITEL: Der Nikolaus kommt
DRITTES KAPITEL: »Tod dem König!«
VIERTES KAPITEL: Schwer verwundet
FÜNFTES KAPITEL: Verpappte Hochzeit
SECHSTES KAPITEL: Österreichisch-preußische Allianz
SIEBTES KAPITEL: Nichts als Ärger
ACHTES KAPITEL: Hoffnungen keimen
NEUNTES KAPITEL: Schwerer Fehler
ZEHNTES KAPITEL: »Wo bleibt der König?«
Schwäbisch ist zweifellos eine schöne und kreative Mundart. Verwendet man sie jedoch in einem Roman, dann kann das abträglich sein. Lautgetreu geschrieben ist sie schwer zu lesen, sogar für Schwaben. Außerdem sind die charakteristischen Nasal- und Gutturallaute mit unseren 26 Buchstaben kaum abzubilden. Und nichtschwäbische Leserinnen und Leser müssen sich mit unbekannten Wörtern herumplagen. Darum deute ich das Schwäbische oft nur an. Einzelne schwäbische Wörter oder Sätze, die nicht sofort zu verstehen sind, werden auf derselben Seite in Fußnoten erklärt.
Noch zwei kleine Lesehinweise. Im Schwäbischen wird -st in der Regel zu -sch oder -scht, zum Beispiel isch (ist), gehsch/gohsch (gehst) oder Mischt (Mist), Moscht (Most). Viele Vokale und Konsonanten werden verschluckt, bei Verben (zum Beispiel mache statt machen, wobei das -e wie im englischen Artikel »the« ausgesprochen wird) genauso wie bei allen anderen Wortarten, zum Beispiel dr (der), au (auch), awa (ach was), bsoffe (besoffen), di (dich), dei (deine), do (dort), ka (kann), Rege (Regen), Fra (Frau), Ma (Mann).
König Wilhelm, Pfarrer Abel und Schulmeister Wilhelm mühen sich redlich, nach der Schrift zu sprechen. Und das wollen wir augenzwinkernd anerkennen. Der Schultes, der selten über seinen Flecken hinausgekommen ist, bewundert die drei Herren wegen ihrer Sprache, die er für ausgefeiltes Hochdeutsch hält. Also gibt er sein Bestes, sich auch gebildet auszudrücken, zumindest dann, wenn er mit diesen Herren schwätzt oder in amtlicher Mission unterwegs ist. Will er seinem Herzen Luft machen oder muss er seinen Senf dazugeben, kann es leicht sein, dass er ins Schwäbische verfällt.
Fritz Frank |
ist Schultes (Bürgermeister), Lindenwirt, Großbauer und Weingärtner in einem und damit der erste Mann in Enzheim. |
Minna Frank |
trägt als Frau des Schultes mit Würde die Bürde der ersten Dame von Enzheim. Sie ist auf dem Lindenhof für das Gesinde, die Küche, die Schweine und das Kleinvieh zuständig. |
Nikolaus |
kommt mit der Postkutsche und stellt sich als Kammerdiener des Königs vor. |
König Wilhelm |
hat im Herbst 1841 seinen 60. Geburtstag und sein 25-jähriges Thronjubiläum gefeiert. |
Johannes Abel |
ist als Pfarrer allseits beliebt, nur Koloman Neumaier mag ihn nicht. |
Albert Wilhelm |
hat als frisch gebackener Schulmeister Magda, die jüngste Tochter des Schultes, geheiratet. Er dirigiert den Liederkranz, ist Ratsschreiber und Mitarbeiter des Enzheimer Intelligenz-Blattes. |
Magda Wilhelm |
ist die Frau des Schulmeisters, betreibt den einzigen Laden im Ort und hilft in der Linde aus. |
Hubert von Haudegen |
ist Vorsteher der Geheimen Kriegskanzlei und Adjutant des Königs. |
Paula |
dient auf dem Lindenhof als Küchen- und Obermagd, seit Kurzem auch als Hofdame. |
Koloman Neumaier |
schafft als Knecht beim Oberschlaule. |
Siegmund Hiederer |
ist Knecht im Weingut Klötzner. |
Leopold |
kommt aus Wien und ist eine zwielichtige Person. |
Ernesto |
stammt aus Sizilien und ist als Barbier eine Institution. |
Die »Pfarrersköchin« |
ist verwitwet, nicht unvermögend, will wieder heiraten und wohnt neben dem Pfarrhaus. Pfarrer Abel dient sie als Köchin. |
Anna Läpple |
ist eine ehrbare Witwe mit »viel Sach«. |
Karl |
ist Ober- und Rossknecht beim Schultes. |
Hansli Wägeli |
kommt aus der Schweiz. Er ist auf dem Lindenhof für das Großvieh verantwortlich. Nur reiche Bauern können sich einen »Schweizer« leisten, einen Fachmann fürs Milchvieh. |
Frieder Frank |
ist als ältester Sohn des Schultes auf dem Lindenhof für die Landwirtschaft zuständig. |
Christian Frank |
hat als zweitältester Sohn beim Onkel in Oberriexingen die Kunst des modernen (sortenreinen) Weinbaus erlernt und macht seinem Vater die Zuständigkeit für die Weinberge und den Weinausbau streitig. |
Frieda |
dient der Anna Läpple als Kindsmagd. |
Gottlob Vorderlader |
ist Scharwächter (Hilfspolizist) und wohnt im Wengerttor. |
Amtsbote Heinrich |
hinkt und dient sonntags dem Pfarrer als Kirchendusler. |
Der »Jenseits« |
ist ein reicher Jungbauer. |
Paul Knöpfle |
hat ein loses Mundwerk und besitzt die Weinstube Rebstöckle am Weinmarkt. |
Graf Heinrich |
hadert immer noch mit dem Schicksal. Er wurde 1806 auf Befehl Napoleons Untertan des Königs von Württemberg. |
Der »Oberst« |
dient im preußischen Ersten Garderegiment zu Fuß. |
Der »Rittmeister« |
befehligt, seitdem er einen Arm verloren hat, einen Trupp preußischer Trainsoldaten. |
Der »Dubbeler« |
heißt von Haus aus Prinz Albrecht, ist einfältig, aber beliebt in Enzheim. |
»Uiuiui!« Er staunt. Ein Schneesturm fegt durch die Gassen. Der Wind heult und pfeift aus allen Ritzen. Leer ist der Schlossplatz, fort sind die Wachen. Die Konkordia auf der neuen Siegessäule verschwimmt im flauschigen Weiß.
Der König steht am Fenster und ergötzt sich. »Oooh!« Das Gestöber wird dichter, der Himmel düster. »Aaah!« Mitten am Tag bricht die Dämmerung herein.
Jeden Herbst freut er sich auf die kalte Jahreszeit mit ihrer Pracht und ungestümen Macht. Und wenn die ersten Flocken wirbeln, wähnt er sich in seiner Kindheit zurück. Dem fleißigen Hamster schadet der Winter nicht, hatte ihn sein Erzieher einst gelehrt, als er neun war. Tagtäglich war er mit Magister Gros nach dem Essen durch die Gegend gestreift. Auch bei Blitz und Donner, Sturm und Regen, erst recht bei Schnee. In einer Stunde konnte er mehr sehen, hören, riechen und fühlen als den ganzen Vormittag im grauen Unterricht. Sie genossen zusammen die Wunder der Natur und trotzten den Launen des Wetters. Von Gros lernte er viel von Abenteuern in eisigen Ländern.
Seit damals mag er den Winter, die verschneiten Felder, die raureifen Wälder. Besonders liebt er den Tanz der stiebenden Kristalle in frostiger Luft. Als Kind, entsinnt er sich, baute er Schneemänner und schlitterte auf blankem Eis. Mit Schneebällen zielte er auf die hohen Mützen der Gardisten oder seifte Buben das Gesicht mit Schnee ein. Den Vater brachte das in Rage. »Er soll meinen Sohn des kindischen Zeitvertreibs entwöhnen«, schnauzte er den Hauslehrer an.
Jetzt durch den tiefen Schnee stapfen. Sich gegen den Wind legen. Die Schlittschuhe anschnallen und über einen zugefrorenen See gleiten. Juchei, das wäre schön! Endlich einmal tun und lassen dürfen, was gerade in den Sinn kommt. Ohne Rücksicht auf Prestige und Protokoll. Ohne viel Brimborium in den Tag hinein leben.
Herrje, wie lange ist das her? Was, über ein halbes Jahrhundert? Mein Gott, wie die Zeit vergeht. Ach, siebenundzwanzig Jahre als Regent sind es auch schon? Eine lange Zeit und eine große Last. Hat man da nicht ein Recht auf die kleinen Freuden eines unbekümmerten Daseins?
Und während er an unbeschwerte Kindertage und lästige Herrscherjahre denkt, klopft es.
»Herein!« Er sagt es ungehalten über die Schulter.
Der Kammerdiener betritt den Salon und verneigt sich tief im Rücken des hohen Herrn. »Majestät, Oberstleutnant von Haudegen bittet um kurze Audienz. Es sei dringend.«
Dicke Flocken fallen. Der Monarch staunt und nimmt sie doch nicht wahr. Er träumt mit offenen Augen von einem sorglosen Leben, von Tagen und Wochen ohne Aufgaben und Pflichten. Wenn alle Menschen ein Recht auf mich haben, grübelt er, warum soll dann ich nichts von mir haben? Es wird Zeit, dass ich mich endlich mal mir selbst gönne. Versonnen fährt er sich mit der Hand übers Gesicht.
»Majestät.«
Er seufzt. »Nun gut«, knurrt er, »ich lasse bitten.«
Der Diener entfernt sich lautlos. Gleich darauf stürmt Hubert von Haudegen herein, Vorsteher der Geheimen Kriegskanzlei und Adjutant des Königs. In gebührendem Abstand schlägt er die Hacken zusammen und nimmt Haltung an.
Der König dreht sich nicht um, denn er muss sich ein Lachen verbeißen. Angeblich macht sich der Herr Oberstleutnant in die Hosen, wenn er vorreiten muss, wie man in der Kavallerie zu sagen pflegt. Hofschranzen haben das seiner Majestät gesteckt. Und jetzt stelle man sich einmal vor, was das für eine akrobatische Glanzleistung ist, mit vollen Hosen Haltung anzunehmen und gleichzeitig die Hacken zusammenzuschlagen. Unwillkürlich muss er schnüffeln. Man riecht nichts. Noch nicht!?
Stille im weitläufigen Salon mit den blauen Tapeten und den Glasschränken, gefüllt mit Prachtbänden, in die der Hausherr nie hineinschaut. Bücher und Schränke sind für ihn nur Dekoration. Er mag den ganzen Plunder nicht, nimmt ihn jedoch hin, weil er für neuen Firlefanz kein Geld ausgeben will. Dafür gefällt ihm das Eisbärfell an der Wand umso mehr. Und im Eskimokajak aus Holz, Knochen und Seehundfell, das aus Grönland stammt und jetzt in der Ecke liegt, macht er nachmittags sein Nickerchen. Darum tickt auch die pompöse Weltuhr mit dem großen Planetengetriebe nicht. Die Zeiger stehen immer auf Mittag.
Der Landesfürst verschränkt die Arme. Gerade malt er sich in den schönsten Farben aus, wie es wäre, wenn er dorthin reiste, wo Schnee liegt von Januar bis Dezember, so weit das Auge reicht. Im hohen Norden, über Finnland hinaus zum Nordpol hin, soll es Menschen geben, die im ewigen Winter leben.
Ein Räuspern ruft ihn in die Gegenwart zurück.
»Nun, Oberstleutnant?« Nach wie vor schaut er durchs Fenster auf die weiße Pracht. »Wo brennt’s?«
Haudegen, hastig und servil: »Beunruhigende Nachrichten, Majestät.«
»Für wen?«
»Für uns alle. Insbesondere für Sie, Majestät.«
Der König schüttelt den Kopf. »Ist im Jänner alles weiß, wird der Sommer gerne heiß.«
»Majestät …«
Abrupt dreht sich der Monarch um, damit er Mimik und Gestik seines Adjutanten studieren und die Hosen begutachten kann.
Haudegen ist wie vom Donner gerührt. Die Augen aufgerissen, den Mund weit geöffnet, stiert er auf seinen allerhöchsten Dienstherrn.
Wilhelm I. lächelt nachsichtig. Ja, er hat sich in seinem ausgedehnten Weihnachtsurlaub völlig verwandelt. Nicht mehr die kurze, nach vorn gekämmte Frisur wie einst bei Julius Caesar. Vielmehr sind die Haare jetzt lang und auf der linken Seite gescheitelt. Aus dem dezenten Oberlippenbart ist ein graublonder, kräuselnder Vollbart geworden. Und auf der Nase sitzt eine Brille mit Ohrenbügeln. Somit ein fremdes Gesicht mit vertrauter Stimme.
Der Adjutant stottert: »Ma…, Maje…, Majestät …?«
Der König schmunzelt. Jetzt hat er Gewissheit. Die Tarnung ist gelungen.
»Majestät …«
»Oberstleutnant, wie seh ich aus?«
Haudegen windet sich wie ein Aal.
»Hol er den Kammerdiener!«
Haudegen flitzt. Der Diener rennt, ein in Diensten seines Landesfürsten ergrauter Herr im schwarzen Frack. Eigentlich heißt er Eugen, seine Majestät nennt ihn jedoch Dietram, was so viel bedeutet wie schwarzer Rabe.
Der Diener verneigt sich zweifach.
»Wie seh ich aus?«
Bereits beim Aufrichten packt den treuen Dietram das Entsetzen. »Wie ein russischer Anarchist«, witscht es ihm unwillkürlich heraus. Gleich schlägt er sich auf den Mund. »Verzeihung, Majestät, das ist mir leider entschlüpft.«
»So, so, entschlüpft.« Der König lacht, dass die Bauchdecke wackelt und die Beinkleider rutschen. »Brav, Dietram.« Er zieht die Hose hoch. »Bring mir in einer halben Stunde eine heiße Schokolade.« Und weil er ein Leckermäulchen ist, bestellt er auch noch ein Stück Apfelschmarren und ein paar Mandelplätzchen.
Der Rabe macht einen tiefen Bückling und flattert verstört davon. Hoheit, glaubt er, ist heute in garstiger Stimmung. Gewiss ärgert sich Seine Majestät über den vielen Schnee. Und diese Verwandlung. Gräss-lich! Wozu? Was geht hier vor? Ihm schwant nichts Gutes.
»Nun, Haudegen, was sind das für Nachrichten, die Sie derart aufscheuchen, dass Sie mir auf die Nerven fallen müssen?«
»Man trachtet Euer Majestät nach dem Leben.«
»Weiß man, wer?«
Haudegen, schrill und bang: »Staatsfeinde …«
Mit knapper Geste schneidet der Herrscher seinem obersten Späher das Wort ab. »Verschonen Sie mich mit dem ewigen Geseire.«
»Verzeihung, Majestät.« Haudegen klingt kläglich. »Meine Kundschafter haben diesmal sehr konkrete Hinweise.«
»Meine Kundschafter«, äfft der Monarch seinen Adjutanten nach. Ein spitzbübisches Grinsen huscht über sein Antlitz. »Haudegen, Haudegen! Was haben Ihre Blindschleichen diesmal ausgespäht?« Mahnend hebt er den Finger: »Wenn aber ein Blinder den andern leitet, werden beide in die Grube fallen. Lukas 6, Vers 39.« Der König ist bibelfest, denn er ist nicht nur Landesfürst, sondern nach altem Recht auch Landesbischof, und wird von zwei Hofpredigern, einem evangelischen und einem katholischen, rund um die Uhr beraten und betreut.
Haudegen reißt Mund und Augen auf.
Majestät runzelt die Stirn. »Zum wievielten Mal servieren Sie mir solche Schauergeschichten? Zum zwanzigsten? Oder ist das halbe Hundert schon voll?«
»Majestät …«
»Huhu! Da fürcht ich mich.«
Wie ein begossener Pudel steht der Oberstleutnant da. Er ist ratlos. Wie soll er seinen Herrn vom Ernst der Lage überzeugen?
Der kostet die Verlegenheit seines Offiziers einen Moment aus. Dann fragt er ruhig: »Dieselbe Machart?«
Haudegen, übereifrig und hektisch: »Ja, Majestät, wieder ein Pamphlet gegen Sie. Man trachtet Ihnen nach dem Leben. Die meinen es ernst, Ma…«
Eine schlenkernde, wegwerfende Handbewegung, der Dienstbeflissene ist augenblicklich verstummt.
»Bild! Bild!« Der Monarch ist gebildet. Das sieht man auf den ersten Blick. Seine Sprache ist gebildet. Sein Antlitz ist gebildet. Seine ganze Erscheinung strahlt Bildung aus. Darum ist er rasch im Bilde, der Gebildete, und das pflegt er militärisch knapp so auszudrücken: »Bild! Bild!«
Er denkt ein Weilchen nach, bis er schließlich den Uniformierten streng ins Visier nimmt: »Sie sind ein verschwiegener Mann, Haudegen … oder?«
»Majestät können sich auf mich verlassen.«
»Ich habe Ihr Ehrenwort als Offizier, dass Sie alles, was ich Ihnen jetzt sage, für sich behalten?«
»Zu Befehl, Majestät! Ehrenwort!«
Der König winkt den Adjutanten näher zu sich heran. »Ich will endlich wissen, ob an den ständigen Attentatsgerüchten etwas dran ist.« Dann weiht er ihn in seinen streng geheimen Schlachtplan ein.
Er werde nicht, wie öfters angeraten und in den Zeitungen gemeldet, zusammen mit seiner Gattin ins Ausland reisen. Die Königin fahre allein zu ihren Verwandten. Er bleibe im eigenen Land.
»Hier in Stuttgart?«
»Nein.«
»Wo werden Majestät residieren?«
»Nirgendwo. Den Budenzauber habe ich gründlich satt.«
»Majestät …«
»Schweigen Sie, Haudegen!«
Der Oberstleutnant schlägt die Hacken zusammen.
»Ich gönne mir Erholung in Enzheim. Aber inkognito!«
Haudegen fallen die Augen aus dem Kopf.
»Ein einziges Mal will ich erleben, wie es sich anfühlt, unter normalen Menschen zu sein und nicht auf Schritt und Tritt erkannt zu werden. Außerdem möchte ich in Ruhe und Abgeschiedenheit den Winter in seiner ganzen Pracht genießen.«
Haudegen, jetzt tief besorgt: »Gestatten, Majestät, was soll aus den ausgearbeiteten Plänen für die nächsten Wochen werden?«
»Mein Besuch in Enzheim steht doch auf dem Programm, nicht wahr?«
Haudegen nickt. »Ist längst amtlich verkündet, Majestät.«
»Na also! Bestätigen Sie in aller Deutlichkeit nochmals diesen Besuch. Öffentlich! In allen Zeitungen des Landes soll man’s lesen können! Die restlichen Termine sagen Sie ab. Es wird Ihnen bestimmt etwas einfallen.«
Der Offizier macht ein gequältes Gesicht. Er trägt Bedenken vor und erinnert vor allem an die Bedrohung durch die Attentäter.
Der König bleibt hart. Enzheim sei überschaubar und nicht zu weit von der Landeshauptstadt entfernt. Er werde ohne Begleitung und unter falschem Namen reisen. Sobald in der Öffentlichkeit bekannt sei, dass der König dem Städtchen an der Enz einen Besuch abstattet, fänden sich die Spitzbuben mit Sicherheit dort ein. Er werde eher da sein und persönlich die Lage sondieren. Dem Hofstaat sei kundzutun, er breche nach Italien auf und komme an Ostern zurück.
»Um Himmels willen, Majestät.«
Mit einem energischen Blick erinnert der Herrscher an die zugesicherte Geheimhaltung.
»Und Sie, Majestät, werden …«
»Keine Fisimatenten, Haudegen! Ich reise! Basta!«
»Darf ich wenigstens …«
»Nichts da! Sie werden mich samt Bagage unauffällig zur Postkutsche bringen!«
Der Oberstleutnant salutiert, schüttelt den Kopf und zieht eine bedenkliche Schnute.
Ein erhobener Zeigefinger bringt ihn zur Räson: »Noch ein Sterbenswörtchen, Haudegen, und Sie finden sich auf der Feste Hohenasperg wieder!«
Etliche Tage später am Abend. Schneewolken über Enzheim. Ärgerliche Sorgen verdämmern.
Fritz Frank, Stadtschultheiß, Großbauer und Weingärtner, sitzt in der Unterstadt in seiner miefigen Gaststube, denn er ist auch noch Lindenwirt. Die Linde hat seine Minna mit in die Ehe gebracht. Er hat sie aus Liebe gefreit, aus Liebe zu ihrem Sach. Seitdem mehrten sich die Gäste, häufte sich der Wohlstand und rundete sich ihr Bauch ebenso wie seiner.
Gerade studiert er im Schein einer funzeligen Petroleumlampe das Enzheimer Intelligenz-Blatt.
»Post!«
»Ja, spinnst du?!« Er explodiert. Er schäumt. Er kratzt sich den Zorn aus dem Bauch: »Du Granatentrampel!«
Obermagd Paula hat ihm die Post auf die aufgeschlagene Zeitung geworfen. Nur noch Fetzen klemmen zwischen Daumen und Zeigefinger.
Er schnellt vor wie ein Ochsenfrosch auf Beutefang, packt die Post und schmeißt sie ihr hinterher. Gleich wird ihm besser.
»Schultes, des hab i net welle.«
Der Ärger des Schultheißen, den alle Welt nur Schultes nennt, verraucht zwar nicht so schnell, wie er detoniert ist. Aber immerhin so rasch wie der Pulverdampf einer Pistole. Paula ist eine gute Seele, das weiß er. Bald ein Jahrzehnt dient sie schon auf dem Lindenhof.
»Jetzt rührst einen Papp an und klebst meine Zeitung zammen!« Er wird wieder entspannt und kommod.
Die treue Magd klaubt die Post vom Boden auf und legt sie vorsichtig auf die entfernteste Ecke des Tisches. Mit hängenden Schultern und schlechtem Gewissen schleicht sie in die Küche. Die zerfetzte Zeitung nimmt sie mit.
Er bruddelt noch eine Weile vor sich hin und angelt sich nebenbei die drei Poststücke. Das neueste Regierungsblatt, das wöchentlich erscheint. Den Registerband zum nämlichen Regierungsblatt fürs abgelaufene Jahr. Und einen Brief, der gesiegelt ist. Königliches Hofamt oder so ähnlich. Der schlampige Siegelabdruck ist gerade noch zu entziffern.
»Au!«, entfährt es dem Schultes. Schuldbewusst zieht er den Kopf ein. Post von allerhöchster Stelle. Das bedeutet oft nichts Gutes. Seufzend legt er das Schriftstück ungeöffnet zur Seite.
Zunächst nimmt er sich den hundertfünfzig Seiten umfassenden Registerband für 1842 vor. »Die Buchstabensupp braucht keine Sau«, mault er vor sich hin. Kopfschüttelnd blättert er in den endlosen Orts-, Personen- und Sachverzeichnissen für das abgelaufene Jahr.
»Glump, verreckts! Arschwisch, verleimter!«
Er schiebt das Buch weit von sich und schlägt das neueste Regierungsblatt vom 7. Januar 1843 auf. Giftblättle schimpft er es. Und schon wieder erregt er sich, nein, jetzt schwillt ihm der Kamm.
»Blutsauger! Erzspitzbuben! Profitmichel!«
Er kennt mehr als dreitausend Schmäh- und Schimpfwörter, zehn für jeden Tag, von abscheulicher Abfuggerer und armseliger Affendackel bis wüste Zuttel und verhutzelter Zwiebelkopf.
Er ärgert sich gottsmillionisch, weil das Justizdepartement rückwirkend zum 1. Januar das tägliche Kopfgeld für Gefangene auf vierzehn Kreuzer erhöht hat.
Wütend rollt er das Blättle zu einer Röhre zusammen und trommelt auf den Tisch.
»Abgschlagene Siach! Blöde Hornochsen! Liederliche Federfuchser!«
Einmal, ein einziges Mal einem dieser elenden Paragrafenschmierer kräftig in den Hintern treten dürfen, das wäre eine Wohltat für sein geschundenes Untertanengemüt! Seit Längerem frisst sich ein starker Grimm gegen die Regierung in Stuttgart durch seine Seele.
Er sinniert ausgiebig, denn das Rechnen hat man zu seiner Jugendzeit noch nicht in der Schule gelernt. Vierzehn Kreuzer täglich, das sind zwei Kreuzer mehr als bisher. Macht für jeden Häftling? Er fährt sich nachdenklich übers Gesicht. »Bei dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr …«, Zuversicht breitet sich über seinem Antlitz aus, » … sind das dreihundertfünfundsechzig Kreuzer, wenn wir für jeden Tag einen Kreuzer mehr blechen müssen. Und zwei Kreuzer mehr pro Tag und Jahr macht … akkurat das Doppelte.« Er kratzt sich hinterm Ohr. »Das Doppelte von dreihundertfünfundsechzig …?« Er zählt zuerst die Hunderter zusammen, die Zehner, die Einer. »Macht …?«, Frohlocken blinkt aus seinem Gesicht, »… ungefähr siebenhundertdreißig Kreuzer.« Sechzig Kreuzer sind ein Gulden, das weiß jedes Kind. Also denkt er nach, spreizt die Finger in der Hosentasche, während es in seinem Gesicht arbeitet. Offen zeigt er nie, dass er sich mit dem Dividieren schwer tut. Lieber spielt er den Taschenrechner. Zehn mal sechzig macht sechshundert, elf mal ist sechshundertsechzig, zwölf mal ergibt siebenhundertzwanzig. »Aha! Summa summarum zwölf Gulden und …zehn Kreuzer.« In einem Jahr, wohlgemerkt. Macht nach Adam Riese in vier Jahren? »… achtundvierzig Gulden … und … vierzig Kreuzer.«
Im Zucht- und Arbeitshaus sitzt bekanntlich der Schnellreich ein. Der ist vor drei Jahren als Schieber und Betrüger entlarvt worden. Zwar konnte er fliehen. Doch kurze Zeit später wurde er verhaftet und zu sieben Jahren Zuchthaus verdonnert. Folglich wird er noch vier Jahre brummen. Und weil er Enzheimer Bürger ist, muss seine Heimatgemeinde die Haftkosten zahlen. So will es das Gesetz.
»Achtundvierzig Gulden und vierzig Kreuzer«, echauffiert sich der Stadtpräsident, zumal man dafür ein Krautgärtle kaufen oder mit der Ulmer Schachtel in den Balkan auswandern könnte. Somit richten zehn mittellose Spitzbuben eine Kommune leicht zugrunde. Darum ist schon mancher brave Schultheiß auf die Idee gekommen, einen ortsansässigen Galgenvogel aus Kostengründen in einer entlegenen Güllegrube zu entsorgen statt im Zuchthaus durchzufüttern.
Der Schultes ächzt und knirscht mit den Zähnen. »Wart nur, Bürschle! In vier Jahren kommst du heim. Dann ist’s aus mit der fidelen Zuchthauserei.«
Er schnauft tief durch, bis er sich wieder abgeregt hat. Argwöhnisch wie eine Katze, die etwas Rares fressen soll, beäugt er den Brief. Endlich schnappt er zu, dreht ihn um und um, beschnuppert ihn, fährt mit dem Finger unter das Siegel und bricht es auf.
»Oberhofrat seiner Majestät des Königs Wilhelm I.« steht auf dem gedruckten Briefkopf. In gleichmäßiger Handschrift teilt ein gewisser Oberstleutnant von Haudegen mit, demnächst werde ein Kammerdiener Seiner Majestät nach Enzheim kommen, um den seit langem angekündigten Besuch des Königs vor Ort vorzubereiten.
Kopfschüttelnd steht der Schultes auf und stelzt steifbeinig in die Küche. Reißmatheis!1 Seit die Hundskälte über Enzheim hereingebrochen ist, tun ihm alle Knochen weh.
Es riecht durchdringend nach Essig. Paula hat aus Weizenmehl, kochendem Wasser und Essig einen Kleister angerührt. Sie sitzt am Tisch, unglücklich, zerknirscht und wütend zugleich. Am liebsten würde sie aus der Haut fahren, wenn sie könnte. Doch alles klebt. Die Hände vor allem, Schürze und Ärmel, sogar Gesicht und Haare. Die Frau ist von Kopf bis Fuß ein einziger klebriger Klumpen.
Der Tisch ist übersät mit Zeitungen, denn sie hat von alten Ausgaben des Enzheimer Intelligenz-Blatts Randstreifen abgeschnitten. Damit versucht sie verzweifelt, mit Pappfingern die zerfetzte Hauspostille ihres Patrons zu reparieren.
Des Schultes Minna dagegen hat die Ruhe weg. Gerade stellt sie die abgepfiffene2 Milch beiseite. Sie wackelt auf ihren krummen Beinen zum Herd, auf dem eine schwere Eisenpfanne glüht. Mit einem großen Holzlöffel haut sie Zwiebelringe im Kreis herum.
»Hör dir das an.« Er stellt sich neben sie und liest ihr den Brief vor.
Seine Angetraute stichelt. »Da werden sie uns so einen alten Klufenmichel3 schicken.«
Ihr Göttergatte ist eher ärgerlich. Er wähnt einen Aufpasser und Besserwisser im Anmarsch. Die Dünkel aus der Landeshauptstadt kann er nicht verputzen. »Aberjetza, wenn der motzig wird, muss er den Stall ausmisten oder Holz spalten.«
»Du Suppenlalle! Kapierst du’s net, du Saubauer? Die schicken einen, der dir beibringen soll, wie man sich anständig aufführt. Glaubst du, dass sich der König dein Gemaule anhört?«
»Der scheißt auch keinen Grießpudding.«
»Bloß schwätzt im ganzen Ländle keiner so ungewaschen raus wie du.«
Der Schultes zieht das Genick ein und verlässt angesäuert die Küche.
Der Stadtregent schnürt die genagelten Stiefel, zieht einen wasserdichten Kittel an, setzt seinen breitkrempigen Hut aufs störrische Haupthaar und wirft sich einen Schal um den Hals. In der Schankstube kippt er schnell einen Schnaps gegen die Kälte. Noch einen zur Vorbeugung gegen Halsweh. Und einen dritten zur Stabilisierung des inneren Gleichgewichts. Dann schnappt er die brennende Laterne an der Haustür und leuchtet sich in die Dunkelheit hinaus.
Die Gassen sind saumäßig glatt. Dazu herrscht ein eisiges Schneefegen. Menschenleer ist die Hauptstraße, stickig die Luft. Dicker Qualm senkt sich von allen Schornsteinen herab.
Der Schultes stemmt sich gegen den Wind. Breitbeinig, mit den Händen balancierend, den Hintern hängend, um Stürze abzufedern, schlurft er zum Ochsen in die Oberstadt hinauf, schleift auf dem Eis vor dem Rathaus um die Kurve in die Burgunderstraße hinein und klopft an die Pfarrhaustür. Abels Amtsstube ist ihm mittlerweile Asyl für Notfälle und Trost bei Kümmernissen.
Hochwürden, ein Mann von Geist und Humor, sitzt meist zuhause herum, wenn er nicht gerade das Katheder in der Volksschule wärmt und die Schulkinder mit seinen Religionsstunden langweilt. Stets ist er schwarz gekleidet. Die Hosen glänzen am Hintern, an den Knien sind sie abgeschabt. Der Kittel ist an den Ellenbogen bereits fadenscheinig. Von einem neuen Gewand will er dennoch nichts wissen. Lieber gibt er sein Geld für teure Bücher aus. Seine Frau ist vor geraumer Zeit gestorben, die Kinder sind längst aus dem Haus. Eine Nachbarin führt ihm den Haushalt. Predigten schreibt er wie der geölte Blitz, trotzdem – oder gerade deshalb – sind sie griffig und nahrhaft und gehen zu Herzen. Auch für Hochzeiten, Taufen, die Kirchenbücher und die Beaufsichtigung von Schule und Schulmeister verschwendet er nicht viel Zeit. Und die Kirchen- und Schulvisitationen des Dekans, der alle zwei Jahre die amtlichen Bücher prüft und den Unterricht kontrolliert, bringen ihn seit Ewigkeiten nicht mehr aus der Fassung.
Ergo liest er viel, stiert durchs Fenster, knackt Sonnenblumenkerne und spielt sein Lieblingsinstrument, die Maultrommel. Sein Steckenpferd ist die Himmelsguckerei. In sternklaren Nächten steigt er im Schein einer Laterne auf den Kirchturm und schaut mit seinem Fernrohr ins All. Wenn es über der Kirche irrlichtert, wissen die Enzheimer, dass ihr Pfarrer im Turm hockt und durchs Glockenfenster die Sterne zählt. Vor drei Jahren hat er sich ein neues Teleskop gegönnt, das ihm ein berühmter Wiener Instrumentenmacher eigens gefertigt hat.
Auch an diesem Abend ist Abel zuhause – und langweilt sich. Das aktuelle Pfarrersblättle, den Merkur, kennt er schon auswendig. Weil es nebelig ist, kann er nicht auf den Turm und das Firmament bewundern. Darum kommt der Besuch des Schultes gerade zur rechten Zeit. Zumal die beiden ungekrönten Oberhäupter Enzheims ohnehin alle naslang die Köpfe zusammenstecken.
»Sie trinken gewiss einen Schoppen mit mir, Herr Bürgermeister.« Das ist keine Frage, sondern eine lieb gewordene Feststellung.
Der Schultes weiß, dass er im Pfarrhaus stets einen guten Tropfen kriegt. Seinen eigenen Wein, seinen besten, Enzheimer Grafenstolz. Weil in Enzheim jeder Wengerter an Martini einen Teil seiner Kirchensteuer als Gefällwein zahlt. Der Lindenwirt wählt hierfür Jahr für Jahr einen exquisiten Rebensaft von seinen sortenreinen Lagen am Schlossberg. Und so oft er kann, hängt er bei Abel an der Flasche und zehrt von seiner Steuerlast.
Sie gurgeln, sie beißen, sie schlotzen und genießen. Auch das ein lang erprobtes Ritual. Der Schultes kommt, und Abel löst ihm die Zunge. Ist die Gurgel erst geschmiert, redet sich’s ganz ungeniert. Eine alte Weisheit, die jeder Pfarrer aus dem Alten Testament kennt.
Der Hausherr ist mopsfidel. »Was ficht Sie an, Herr Bürgermeister? Sie sind so blass um die Nasenlöcher.«
»Ojemine!« Der Gast klagt sein Leid. Der Besuch des Königs liege ihm im Magen, weil die Aufwartung seiner Majestät allmählich zur Haupt- und Staatsaktion missrate. Eigentlich habe er dem Landesvater ein paar erholsame Tage an der Enz gönnen wollen. Jetzt sei der schöne Plan zunichte. Ein gewisser Oberstleutnant von Haudegen, Oberhofrat seiner Majestät, künde einen Kammerdiener an, der die Festivitäten vorbereiten solle. Dass Hofschranzen das Kommando in seinem schönen Städtle übernähmen, gehe ihm gegen den Strich.
Abel tröstet. »Dann trägt die Hofkanzlei die Schuld, wenn es dem König bei uns nicht gefallen sollte. Bitte sehen Sie es einmal von dieser Seite.«
Der Schultes stutzt. Er schluckt. »Aberjetza, meinen Sie …?«
»Ja! Bestimmt! Ist der Kammerdiener hier, werden wir ihn kräftig melken. Alles, was Majestät wünscht, kitzeln wir aus dem Lakaien heraus. Bringen Sie ihn nur her.«
Der Stadtrat tagt jeden zweiten Dienstag um sechs, gleich nach dem Abendläuten. Der 2. Januar war sitzungsfrei. Denn in den Zwölfnächt zwischen dem 24. Dezember und dem 6. Januar darf es keine Hochzeiten geben, ebenso ist jede Form von Spaß oder Streit verboten, zum Beispiel Tanzen oder Possenreißen, Rechtsgeschäfte oder Hader aller Art. Aus diesem Grund sind auch keine Sitzungen erlaubt, weil die leider öfter in Raufhändel oder Narreteien ausarten. Darum finden sich die Herren Stadträte im gerade angefangenen Jahr 1843 erstmals am 16. Januar im Ratssaal ein.
Im Königreich Württemberg verwalten sich die Kommunen selbst. Der Ortsvorsteher heißt in den Städten Stadtschultheiß und in den Dörfern bloß Schultheiß. Hierzulande schmücken lange Titel die wichtigen Ämter, während sich die zweitrangigen mit kurzen Namen begnügen müssen, weil dafür weniger Verstand nötig sei. Der Stadtschultheiß oder Schultheiß ist örtlicher Regierungschef und zugleich Vorsitzender im Stadt- beziehungsweise Gemeinderat. Dieser stützt sich auf vier Säulen. Den Kirchenkonvent, dem auch der Pfarrer und der fürs Geld der Kirchengemeinde zuständige Kirchenpfleger angehören. Den Bürgerausschuss, der alle wichtigen Gemeinderatsbeschlüsse vorberaten muss. Den Stadt- oder Gemeindepfleger, der die kommunalen Finanzen besorgt. Und den Verwaltungsaktuar, den das Oberamt als Kreisbehörde auf Kosten der Gemeinde bestellt und der für alle wichtigen Verwaltungsakte zuständig ist.
Der erlauchte Stadtrat zu Enzheim setzt sich aus elf Persönlichkeiten zusammen, zehn davon auf Lebenszeit gewählte und zum Zeitpunkt ihrer Wahl mit irdischen Gütern reich gesegnete Männer. Frauen traut man nur das Kinderkriegen, das Kochen, das Kühemelken und das Jubilieren im Kirchenchor zu. So will es das Gesetz. Insgeheim haben sie jedoch die Hosen an.
Nach der Kommunalverordnung von 1813 müssen die Stadträte mit Kopf und Kragen für jeden Schmarren haften, den sie anrichten. Wenn sie zum Beispiel einen Königsschmarren beschließen, ein sogenanntes Jahrhundertwerk, das man erst in hundert Jahren ausbügeln oder gradbiegen kann, zahlen nie die Bürger. Darum müssen die Deputierten bei Amtsantritt vorsorglich zwanzig Gulden pro hundert Einwohner in der Kasse hinterlegen. Weil es gegenwärtig 1064 Enzheimer gibt, sind bereits zweihundertzwanzig Gulden sichergestellt. Eine weise und nützliche Regelung für die ganze Welt und alle Zeiten, die den Württembergern seinerzeit geglückt ist.
Denker und Lenker ist Fritz Frank, Schultheiß, Lindenwirt, Großbauer, Wengerter und Mitglied im Kirchenkonvent. Demzufolge der erste weltliche Mann von Enzheim. Alles geht bei ihm nach Recht und Billigkeit, das heißt nach dem Recht, das der Schultes für billig hält. Als Vorsitzender des Stadtrats thront er kraft Gesetzes hoch erhobenen Hauptes oben am Tisch, flankiert vom Ratsschreiber. In Enzheim ist das sein eigener Tochtermann.
Der blutjunge Schreiber hat weder Sitz noch Stimme in diesem Gremium und ist vom Volk nicht gewählt, sondern vom Stadtparlament ernannt worden. Er muss all den Lohkäs aufschreiben, den die Herren Stadträte verzapfen. Trotzdem hat er in jüngster Zeit peu à peu an Einfluss gewonnen. Denn erstens wurde er vor über einem Jahr zum Schulmeister gewählt und gehört damit kraft Amtes nach Pfarrer und Bürgermeister zur kommunalen Dreifaltigkeit. Zweitens hat er die jüngste Tochter des Lindenwirts gefreit und sich als Einflüsterer vom Schultes breitgemacht, weshalb etliche Einwohner ihn den Ohrewusler heißen. Und drittens betreibt seine Frau Magda das einzige Lädle weit und breit. Bei ihr treffen sich die Frauen zum Ratschen und Tratschen und kontrollieren nebenbei, wie viel Geld ihre Männer für Rauchtabak und stinkige Stumpen ausgeben. Nahezu unbemerkt hat sich der junge, unscheinbare Mann, der vor ein paar Jahren als schüchterner Provisor4 hier hereinschneite, vom armen Dorflehrerlein zur grauen Eminenz gemausert. Als Schulmeister weiß er die Jugend hinter sich. Als Publizist des Enzheimer Intelligenz-Blatts kaut er den Lesern ihre Meinung vor. Als Ratsschreiber kennt er alle Interna im Städtle. Als Schwiegersohn des Schultes berät er das Stadtoberhaupt. Und als Dirigent vom Liederkranz hat er die Herzen der Männer erobert. Er bringt den Enzheimern Kultur und Muse bei und verschafft den Herren der Schöpfung mit seiner Singstunde allwöchentlich ein Alibi fürs Wirtshaus, weil die Sangesbrüder nach dem Jauchzen und Tirilieren ihre rauen Kehlen befeuchten müssen. Dabei – hier schließt sich der Machtkreis – hören sie bei Bier und Wein auf das Kommando seiner Magda, weil die blutjunge Frau noch immer in der elterlichen Linde aushilft. Sie hat ein gefälliges Äußeres, weshalb sie die älteren Herren Miezekatze rufen. Wie eh und je wickelt sie die Stammgäste um den Finger. Sie ist die starke Frau hinter ihrem weichen Mann und reißt entsprechend das Maul auf.
Der Spaßmacher im Elferrat ist der Knöpfles Paul, Inhaber des Weinlokals Rebstöckle und ein großer Galgenstrick vor dem Herrn. Das Gegenteil ist der Küfer Schorsch. Meist hockt er stumm da und süffelt an seinem Bier, bis er sachte einduselt und zu ruseln5 beginnt. Dann gibt’s den Oberschlaule vom Oberhof. Der hat nie eine eigene Meinung, dafür einen Rettichkopf und eine Schwertgosch. Damit pflegt er zuweilen die Sitzungen aufzumischen. Anders der Hannes, seines Zeichens Hofbauer vom Enzgrund. Er ist ein verschlossener Mann, besonnen und auf Ausgleich bedacht. Unterstützt wird er häufig vom Ziegelbrenner und Töpfer Johannes Bierlein, der sich jeden Abend im Bett müht, mithilfe des zerschlissenen Schulbuches seines Sohnes die Rechenkunst zu erlernen. Der Chaot in der Mannschaft ist der alte Schöpflein, ein Querkopf und Tüpfelscheißer. Nicht selten macht er gemeinsame Sache mit dem Nagelschmied Köhler, einem trübsinnigen Rappelkasper. Der verdient sein Auskommen nur noch mit Hängen und Würgen, seit es Nägel aus der Fabrik gibt. In jeder Sitzung schwitzt er Blut und Wasser, weil er fürchtet, der nächste Beschluss bringe ihn an den Bettelstab. Dagegen pfeift Leonhard Ledlein, der erste und einzige Maurermeister weit und breit, zu jeder Zeit vor sich hin. Als Vorsteher des neu gegründeten Turnvereins glaubt er, die Interessen der jungen Leute zu vertreten. Schließlich ist da noch der Jüngste in der Runde, der neue Häfnerbauer. Genau genommen heißt er Willy Wöbbel. Er hat die Karlene Häfner geheiratet und ist für deren ermordeten Mann in das Stadtparlament nachgerückt.
Im Sitzungssaal stinkt es gottserbärmlich nach Petroleum. Die Lampe rußt. Der Docht flackert und illuminiert den Saal nur dürftig. Das zuckende Licht lässt die Gesichter der elf wie dämonische Fratzen aus der Finsternis aufblitzen.
Es geht um zwei Themen, die erhöhten Häftlingsgebühren und den Besuch des Königs.
»Der Schnellreich kann bei mir als Knecht schaffen, wenn er aus dem Zuchthaus kommt. Ich guck danach, dass er aus Versehen durch eine Heuluke fällt«, lautet der unziemliche Vorschlag des Schöpflein.
Auch Nagelschmied Köhler frönt der Leidenschaft für Selbstjustiz: »Am besten vor dem ersten Zahltag.«
Großes Gelächter.
Der Hofbauer verzieht keine Miene. Sachlich verweist er auf das Gesetz. Da stehe doch drin, dass das Vermögen eines Häftlings zur Deckung der Haftkosten herangezogen werden darf.
Bierlein kapiert gleich. »Der Schnellreich hat noch ein schönes Haus in der Münzgasse. Wenn wir das verganten6 …«
»… sind wir den schleimigen Bruder endgültig los«, ergänzt der Knöpfle, »weil er bei uns kein Dach mehr über dem Kopf hat.«
Sofort geht der Schultes darauf ein und stellt erleichtert fest: »Aberjetza machen wir sein Anwesen zu Geld und legen den Erlös bei unserem Sparverein an. Dann kann der Schnellreich seine Kosten selber zahlen.«
Sie nicken den Vorschlag einstimmig ab.
Ein warmer Hauch von Einvernehmen weht durch den Saal. Der Schultes lehnt sich entspannt zurück. Er kann ja nicht ahnen, dass die Sitzung noch turbulent wird.
Zunächst setzt ein nicht enden wollendes Palaver ein. Was soll man dem König bieten?
Die Vorschläge stapeln sich auf dem Tisch. Festlicher Empfang auf dem Marktplatz. Begrüßung durch den Stadtrat, Spalier der Veteranen, Aufmarsch der Ehrenjungfrauen, Defilee der Honoratioren, Auftritt des Gesangvereins, Schauturnen, Huldigung der Schuljugend. Danach Stadtbesichtigung mit kleinem Umtrunk an der Flößerlände unten an der Enz. Nachher Festgottesdienst mit Kirchenchor. Schließlich ein Festbankett im Rathaus mit anschließendem Tanz. Und für den nächsten Tag …
»Wenn er den erlebt.«
Lähmende Stille. Entgeisterte Blicke. Was ist in den Hannes gefahren?
»Wenn ich der König wär«, sagt der Hofbauer Hannes leise, aber bestimmt, »würd ich mich über das überzwerche Festle net freuen. Vergesst net, es ist Winter. Da kriegt halb Enzheim den Rotz.«
Der Hofbauer sei ein Lommel, ein Nörgler, und das Programm noch viel zu dürftig, entrüsten sich die einen. Vielmehr müsse man Majestät beispiellose Attraktionen bieten, wie sie in keinem Kalender stehen.