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Astrid Kofler

Lebenskörner

Roman

HAYMON verlag

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit dem Südtiroler Künstlerbund.

© 2010
HAYMON verlag
Innsbruck-Wien
www.haymonverlag.at

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7515-2

Umschlag- und Buchgestaltung:
Kurt Höretzeder, Büro für Grafische Gestaltung, Scheffau/Tirol
Mitarbeit: Ines Graus
Coverfoto: Astrid Kofler

Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.

Für Hans Karl, Nathanael,
Rahel und Ruben

Meinen Eltern und Ulli und
denen, die so vieles erzählten

Inhalt

18. April 1927, Ostermontag

8. Dezember 1927

24. September 1939

6. November 1939

1. Mai 1940

17. August 1942

9. September 1943

3. Dezember 1943

7. Juli 1944

11. November 1944, St. Martin

18. Jänner 1945

30. März 1945

10. Juli 1945

27. Juli 1946

28. Februar 1947

18. September 1949

9. November 1949

11. August 1950

6. April 1953, Ostermontag

18. Juni 1956

23. Februar 1958, Holepfannsonntag

20. Jänner 1960

14. Februar 1960

20. August 1961

24. Juli 1964, St. Christophorus

11. September 1965

Dienstag, 1. Juli 1969

24. Dezember 1970, Heiligabend

Donnerstag, 8. Juni 1972

19. April 1973, Gründonnerstag

17. November 1973

4. November 1974

3. November 1980

11. Juli 1982

6. Jänner 1990, Perathnacht

24. Juni 1992

6. Februar 1993

3. März 1993

9. April 1993

15. August 1994

12. September 2001

14. und 15. August 2004, Mariä Himmelfahrt

13. Dezember 2005

10. Juni 2006

13. Dezember 2006

10. August 2007

18. April 1927, Ostermontag

Als Giuseppina und Giuseppe Ingannamorte Hochzeit hielten und sich anschickten, einen Sohn zu zeugen

Jetzt können wir unser Märchen beginnen, dachte Giuseppina, nachdem sie die Schuhriemen in einem Doppelknopf gebändigt und sich die Tasche wieder auf den Rücken geworfen hatte. Jetzt können wir unser Märchen beginnen, sagte Giuseppe leise und sie neigte den Kopf, weil sie laut gedacht hatte, und ernst sah sie ihn an und merkte, wie er sie warmen Auges betrachtete, und geradeaus blickte sie wieder und beachtete den Atem an diesem Morgen. Schritt vor Schritt setzte sie und kein Band war mehr lose.

Giuseppina war die vierte Tochter ihres Vaters, sie war die jüngste und jene, die ins sonntagmorgendliche Bett hatte schlüpfen dürfen und mit ihren ungeputzten Zähnen an seinen Barthaaren ziehen, bis ein Stoppel sich löste und sie ihn von der Zunge fischen konnte und betrachten. Giuseppina war diejenige, von der der Alte sich wünschte, dass sie immer bei ihm bleiben solle und wenn schon, dann als letzte gehen. Noch hatte die eine nicht entschieden und die anderen hatten keinen gefunden.

Er würde sie vermissen beim Frühstück. Die Zahncreme, die ihre Tante stets selbst zubereitete, aus zerstampfter Pfefferminze und Blumenasche, aus Schweinefett und weißem Bienenwachs und Olivenöl, hatte sie in der Eile vergessen. Sie war es gewohnt, sich damit die Zähne zu reinigen, obwohl das Gemisch auf den Zähnen klebte und ihre Freundin darob lachte und meinte, sie solle es sich besser ins Gesicht schmieren, um die Haut zu schützen vor Wind und Falten. Nun rieb sich Giuseppina mit dem Zeigefinger die Zähne glatt.

Es war noch nicht ganz hell, die Sonne noch hinter den Hügeln, ein erstes Strahlenbündel warf das Licht voraus, die Bäume rauschten, die Wipfel bewegten sich, die Landschaft gewellt. Knappe zwei Stunden, so hatte Giuseppe gesagt, müssten sie gehen. Da war eine Kirche und ein Frater Minore in klappernden Zoccoli, mit einem kahlgeschorenen Hinterkopf und langem Bart, den er sich schon mehrmals an aufflammenden Kerzen versengt hatte, einer, der bereit war, ihnen die Beichte abzunehmen und den Bund der Liebe vor Gott zu segnen, wo andere Umhimmelswillen das Dorf herbeiriefen und die entsetzten Eltern dazu. Der Wind schmerzte im rechten Ohr und der große Zeh des rechten Fußes schmerzte, die Kuppe war durch das Loch gerutscht, die Strickmasche, die hielt, schnitt ein. Beim Anziehen in Herrgottsfrüh hatte sie das Loch im Strumpf bemerkt, aber einen anderen zu suchen, hätte zu viel Lärm gemacht, die Tür ihres Schrankes quietschte, Zeit und Licht fehlten, es notdürftig zu stopfen. Eine Tasche hatte sie schon tags zuvor hinter dem Baum versteckt, der an der Wegkreuzung stand, Bänder hatte sie so an der Tasche montiert, dass sie diese am Rücken tragen konnte und die Hände frei hatte, sollte er sie halten wollen. Geschlafen hatte sie nicht, Müdigkeit spürte sie keine. Wieder traf ihr Blick sein warmes Lächeln. Das schwarze Kopftuch lag schon über der Stirn, noch tiefer zog sie es, das schmerzende Ohr zu schützen. Am Hügel schöpfte ein Bauer dunkle Erde aus einem Karren, die im Winter mit dem Regen hinab gerutscht war, frischer Mist dampfte in der Morgenluft und die aufsteigende Wärme mischte sich mit dem Nebel, der aus den Tälern kroch.

Giuseppe trug einen Kasten am Rücken, Hausierer war er und gewohnt, weit zu gehen und Schweres zu schleppen. Hier und dort hatte er eine Bettstatt, unter Dach und im Heustadel; bis Kinder da sein würden, wollte Giuseppina mit ihm gehen. Immer schneller wurde er und sie hackte sich unter, sie wollte nicht hinter ihm bleiben, er hatte dem Vater die liebste Tochter genommen. Hinunter blickte sie kurz, ob die Schnürsenkel noch hielten, und sah wieder auf. In eineinhalb Stunden würde Hochzeit gehalten werden, in schwarzer Tracht und schwarzem Kopftuch, Trauzeugen vielleicht, das wusste nur der Frater bislang, ein Händedruck als Dankeschön, Gebäck aus Mandeln und dazu Likör, aus der Speisekammer hatte sie sich gestern eine Blechkanne voll abgefüllt. Salz hat sie eingepackt und eine Schüssel aus Ton. Und Essiggurken, ein Glas Essiggurken. Im Krieg, als keiner die Zeit hatte, die Felder zu bestellen, da waren Essiggurken der tägliche Salat gewesen, im Winter, im Sommer, im Frühling und im Herbst. Dass Giuseppe sie jetzt ansah, das spürte sie, aber nach vorne schaute sie unbeirrt, sah wie die Sonne die Hügelkuppen zum Schimmern brachte, musste lächeln und wurde wieder ernst, denn ernst zu sein, danach war ihr, und ernst zu sein, erschien ihr auch angebracht, che Dio abbia pietà di noi. Das Kopftuch zog sie in die Stirn, das bei jedem Schritt über die frischgewaschenen Haare nach hinten rutschte, der Wollrand um den Zeh schnitt ein und schmerzte. Da drückte sie seinen Arm an ihre Seite und fühlte sich stark wie der Knoten in ihrem Nacken, der vom Kopftuch vor dem Wind geschützt war, und erneut spürte sie den Schmerz im Ohr und ein Kitzeln unter der Nase, sie tropfte ihr stets in frischer Herrgottsfrüh. Es ist nicht mehr weit, sagte er. Durch ein Dorf gingen sie, da standen noch Blumen in Kisten an den Fenstern.

Die hat man wohl vergessen im Herbst in den Keller zu stellen, dringend zurückschneiden müsste man sie und das faule Laub entfernen, dann werden sie sich erholen von Raureif und Frost und im Sommer wieder blühen. Die Mutter stellte immer die Blumen hinunter, zu Allerseelen wurde alles verräumt, auch wenn das Meer noch warm war und der Tag sonnig. Die Mutter machte alles so, wie die Nonna es machte und wie die Urgroßmutter und deren Mutter zuvor. Ich werde dich vermissen, Mamma, und ich werde dich vermissen, Papà. Ich will vergessen, was vorher war, alles, was trennt, will ich vergessen. Lieber Gott, hilf mir, sag mir, dass das nicht falsch ist, was ich tue. Bitte hilf, dass ich damit leben kann, dass Papà heute erwachen wird und Mamma es von ihm zu hören bekommt. Liebe Muttergottes, steh du mir bei, Heiliger Antonius hilf, dass der Vater seine Ruhe findet, und ich auch, jetzt, nicht nur in der Stunde des Todes.

Wenn Kinder da sind, dachte sie sich, als ihr Blick auf den Kirchturm fiel, wenn Kinder da sind, will ich hier ein Haus haben und einen Garten und ein Fenster auf die Straße. Er wird im Frühling Samen verkaufen und im Sommer wird er Schuhe richten, und Messer und Scheren schleifen wird er im Herbst und im Winter. Auch Schirme konnte er flicken, die würde er nach Hause bringen und sie würde ihm helfen. Er wusste stets, wem welcher Schirm gehörte, das hat man ihr erzählt. Er nahm sie mit, und brachte sie nach einem Jahr wieder. Schirme würde er ohnehin nicht oft bringen, zu teuer waren sie und man floh hier nicht den Regen, der viel zu selten kam, man stellte sich hinein und trank ihn und tanzte.

Wenn Kinder da sind, dachte sie sich, als ihr Blick auf den Kirchturm fiel, will ich hier wohnen. Wenn er hier ist, soll er die Glocken läuten, wie sein Vater es tat und der Großvater und der Urgroßvater auch. Da soll er den Altar herrichten für die Messe und vom Boden das Wachs abschaben, das von den Kerzen tropft. Und wenn er nicht hier ist, will ich es für ihn tun. Für ihn, und die Kinder, und für meinen Vater.

Er gab ihr Zeit abends sich umzuziehen und ging diskret aus dem Zimmer. Ums Haus auf die Toilette ging er und zu der Bank unter dem Olivenbaum auf eine letzte Prise Tabak. Sie nahm das weiße Nachthemd aus der Tasche und schüttelte es aus, breitete es auf das Bett und strich es glatt. Nackt zog sie sich aus, war verwundert über so viel Haut, die sie an sich noch nie betrachtet. Sie besah sich den Zeh, der rot war vom vielen Gehen und dem Loch, das ihn schnürte, gedankenverloren massierte sie ihn und rieb ihn, bis der Abdruck des Strumpfes verschwunden war. Dann nahm sie die Waschschüssel, stellte sie etwas tiefer von der Kredenz auf den Stuhl, beugte sich darüber und versuchte, mit hohler Hand etwas Wasser in die Achseln zu schaufeln. Das kalte Nass lief herab über die Seiten ins Hohlkreuz, wo es sich fand und wieder trennte und weiter rann in die Kniekehlen bis hinunter auf den Boden, wo es kleine zitternde Kugeln bildete, die sie an die Blasen eines Hefeteiges erinnerten. Sie rieb sich trocken, fast rot, das war wie eine Sucht, sich an den vorderen Schienbeinen zu kratzen, bis sie fast blutig waren, vor allem im Winter war das so, wenn sie Wollstrümpfe trug. Dann holte sie eine Dose aus der Tasche, öffnete sie und entnahm ihr mit dem Daumen, dem Zeige- und Mittelfinger vorsichtig ein wenig des weißen Pulvers. Es waren die Überreste einer zermörserten, geweihten Kröte; sie hatte sie einst vertrocknet am Wegesrand gefunden und vorsorglich im Buschen versteckt, den sie mit den Schwestern im vergangenen Sommer zur Kräuterweihe in die Kirche trug. Sie wollte heute noch ein Kind empfangen. Der Mutter eines Sohnes verzieh der Vater gewiss.

Der Sohn, den er in dieser Nacht noch zeugen wollte, das dachte sich Giuseppe draußen unter den Sternen, nach der Trauung und dem Likör und dem Mandelgebäck, der Sohn sollte den Namen eines Sängers erhalten, von dem er einst in der Zeitung gelesen hatte, Enrico hieß er und man hörte seine Stimme auf runden Platten aus schwarzem Schellack.

Enrico Ingannamorte soll einen Tenor haben, nein, einen Bass soll er haben, man wird ihm zuhören, meinem Sohn, wenn er singt im Kirchenchor, man wird ihm zuhören, wenn er spricht, man soll ihn lieben, meinen Sohn. Und reich wird er werden und für Gerechtigkeit kämpfen und ein gutes Leben haben in der Neuen Welt. Und ich werde ihn begleiten, wenn er es will und wenn ich kann, ich werde ihm ein Haus bauen und da sein, wenn er mich braucht. Deine Mutter hat vielleicht andere Namen für dich, aber ich möchte, dass du Enrico heißt. Du wirst in die Schule gehen und im Meer tauchen, vielleicht wirst du einmal einen Schneeball auf die Nase bekommen, hoch oben im Norden, da schneit es oft meterhoch im Winter, ich war einmal dort, mein Sohn, das ist lange her. Du wirst der Liebe begegnen und Kraft brauchen und loslassen lernen. Du wirst die Welt bestaunen und vor ihr zurückschrecken, du wirst Verantwortung übernehmen und du wirst sehen, dass Unglücke an allen Ecken und Enden lauern, und ich werde dich lehren, frohen Mutes weiterzuschreiten und deinem Schutzengel zu vertrauen. Und du wirst lieben, ja lieben wirst du und selber Söhne zeugen. Du wirst ein ganz wunderbarer Mensch, und ich möchte dir in die Augen schauen. Ich möchte dich Kind sein lassen, entschuldige bitte, die Zeiten sind andere geworden. Das Herz klopfte Giuseppe, es klopfte so sehr, dass er sich strecken musste und den Gedanken zu verscheuchen versuchte, was es denn wirklich war, das ihn in Aufregung versetzte. Giuseppina war nicht die erste Frau, der er sich näherte. Er wusste, was geschehen sollte, und er hatte gelernt.

Giuseppina hatte sich bedächtig angezogen, die Falten ausgestrichen, die Knöpfe an den Handgelenken verschlossen. Sie nahm die Heilige Schrift aus der Tasche, die sie zur ersten Kommunion bekommen hatte. Vor Jahren schon hatte sie sich angewöhnt, das Buch zu öffnen und dort zu lesen, wohin der Blick ihr fiel. Und wenn ich alle meine Habe den Armen schenkte und wenn ich meinen Leib hingeben würde, um Ruhm zu gewinnen, und hätte die Liebe nicht, so würde mir’s nicht nützen. Das seidene, etwas schütter und fransig gewordene Bändchen, das weiter hinten zwischen den Blättern steckte, zog sie vorsichtig heraus, legte es auf die aufgeschlagene Seite, klappte das Buch aber nicht zu, sondern legte es geöffnet unter die Bettstatt. Lange war dort nicht mehr gekehrt worden, bemerkte sie, als sie sich vornüberbeugte, um das Buch mit der Hand noch weiter hineinzuschieben. Doch für heute war das Zimmer gut und für morgen hatte Giuseppe schon etwas gefunden, noch einige Stunden von hier entfernt, aber nahe dem Meer, hatte er gesagt. Den Strumpf würde sie davor noch stopfen müssen, aber morgen hatte sie Licht und Zeit, und Faden und Nadel hatte sie dabei.

Sie betupfte die Stirn mit Weihwasser, das sie am Morgen noch von dem Pater mit auf den Weg bekommen hatte, es war still gewesen und schlicht und ohne Zeugen, dann legte sie sich leise aufs Bett, die Arme auf der Brust gefaltet, ihre Großmutter hatte man einst so aufgebahrt, fiel ihr jetzt ein.

Wie wird es sein, an das ich so oft dachte? Wie wird es sein, wovon die Mädchen am Brunnen sprachen? Wird man es sehen, an meinen Augen, wird es schmerzen? Die Mutter hat immer gesagt, man würde es erkennen an dem Blick, wenn ein Mädchen kein Mädchen mehr war. Wird man es sehen, auch wenn ich verheiratet bin? Ich werde immer bei dir sein, Giuseppe, ich werde immer mit dir gehen, ich werde immer auf dich warten, ich werde auch hinter dir gehen, aber lieber neben dir, wenn du es erlaubst. Ich liebe dich. Bitte Gott, lass mich sterben, vor ihm.

Links und rechts schwer duftende Blumen, viel Rauch im Zimmer und wenig Luft, die Augen geöffnet, am Grab erst hatte der Großvater die Augen der Großmutter geschlossen, bevor man den Deckel über ihren Körper schob, und über den Sarg dann die schwere Platte. Er selbst hatte sie waschen wollen und anziehen, das war ungewöhnlich gewesen und es hatte ihn mitgenommen.

Bewegungslos lag Giuseppina und wartete auf ihren Mann. Das Leben ist nicht weit weg vom Tode, dachte sie und dankte der Großmutter im Himmel, dass sie sich an sie erinnert hatte. Und die Seelen der Verstorbenen bat sie, stets bei ihr zu sein. Allerseelen war ihr immer wichtiger gewesen als das Fest der Heiligen. Sie freute sich, als es endlich geschah.

8. Dezember 1927

Als Magdalena Vonbun ihr zweites Kind gebar und Kreszenz Strumpflohner die kleine Johanna zur Taufe trug

Ohne Eile kehrte die alte Frau das Laub zusammen, das der Wind ihr vor die Tür geblasen hatte. Die Schwiegertochter hatte noch geholfen, Holz in das Haus zu tragen. Und Wasser hat sie aus dem Brunnen in die Küche geschleppt. Es würde nicht mehr lange dauern, seit dem Morgen hatte sie Wehen.

Wie ein Teppich lagen die Blätter unter dem Baum, der Horizont goldbekränzt, es sah nach Schnee aus heute Abend, der erste in diesem Winter. Viermal hell und sechsmal dunkel läuteten die Glocken im Dorf, der Mesner war zur Holzarbeit nach Amerika, seine Schwestern waren weniger polternd.

Bald würde die Quelle vereisen, von der sie ihr Wasser ableiteten bis zu ihrem Brunnen, bald hieß es wieder Tropfen fangen und Schnee schmelzen am brühheißen Ofen.

Eine volle Stube vertreibt die Flausen, dieses Kind wird jede Erinnerung an ihn löschen. Vielleicht tue ich ihr unrecht, vielleicht hat sie tatsächlich seit ihrer Hochzeit mit Johann nie mehr an ihn gedacht. Sie war ja nicht die einzige, verurteilen darf ich sie nicht. Da kommen sie aus dem Süden daher, und schenken Likör auf und erzählen von einem Meer, das Salz ans Ufer schwemmt, und von Trauben, die so süß sind, dass der Wein keinen Zucker braucht, und schon legen die Mädchen sich ihnen hin und haben dann die Bescherung. Nein, Magdalena fürchtet sich nicht. Sie wäre wohl mit ihm gegangen, hätte sie ihn geliebt, auch wenn es Mut braucht da unten, hier heroben hatte er seine Uniform, die ihn wacker machte und streckte, unten war er wohl nur einer von vielen. Was auch immer war, jetzt wird es gut, vielleicht hat sie tatsächlich nie mehr an ihn gedacht, die Frau meines Sohnes, der kleine Seppl wird endlich einen Bruder bekommen, Hauptsache ein Bub. Und der Johann ist auch nicht mehr der Jüngste. Der Krieg. Und das Aug. Er wird ein guter Vater sein, der Johann, ich kenn das gar nicht, dass ein Vater so mit seinem Sohne spielt, der nicht einmal von ihm ist. Wenn erst einmal der Bub da ist, wird niemand mehr davon reden, dass der Johann nicht der richtige Vater vom Seppl ist. Und niemand wird mehr reden von Gottes Strafe, weil der Kleine sich so lange nicht einstellen wollte. Niemand mehr wird etwas sagen, weil er heute geboren wird, an dem Festtag, als die Gottesmutter empfangen ward. Die Heilige Anna hatte auch lange warten müssen auf das Kind und dann gebar sie Jesus’ Mutter. Mir soll es recht sein, wenn der Johann den Seppl studieren lässt. Bei den Patres wird er es gut haben. Das wird wohl das Beste sein. Noch zwei Scheit ins Feuer, kein bisschen Wind heute, es wird Schnee geben heute Nacht.

Kein Tollkirschengift hatte getötet damals, Kreszenz war ins Nachbardorf gerufen worden, als dem zarten Mädchen der Bauch aufging wie ein Germteig. Tränen in den Augen standen ihm, seine Mutter hatte es nicht mehr erkannt, die Wangen, der ganze Körper glühendrot und dampfend und die Hände und Füße eiskalt. Mit den Zähnen hatte sie geknirscht und geschrieen hatte sie und viel Essig und Wasser brauchte Kreszenz, um das Mädchen zu beruhigen, und Kampfer und aufgebrühte frische Minze, um das Gift wieder auszutreiben. Der Balg wollte leben und wachsen in ihrem Bauch und sie wollte ihn mehr denn je, als sie ihn kämpfen spürte, auch wenn eine Nachbarin es besser gemeint und ihr das Gemisch verabreicht hatte und der Pfarrer von der Kanzel schimpfte und den ledigen Müttern drohte mit Hölle und Unheil und Schmach.

Sie war eine schöne Frau, die Magdalena Vonbun. Sie war fruchtbar und fein und belesen für die Handvoll Schuljahre, die sie nur haben durfte, sie las fromme Bücher aus dem Konvent und ging auch mit dem Seppl ihren Weg, diente für kargen Lohn und kein schlechtes Wort kam ihr über die Lippen. Es gab keine sonst, die den Johann mochte, als er aus dem Krieg kam, mit erfrorenen Zehen und humpligem Gang, mit schütterem Haar und einem starren Aug. Er wollte dem Seppl ein Vater sein und aus Dank ging Magdalena am Abend der Hochzeit noch, ging sie am Abend der Hochzeit noch und band sich die Schürze um, und ging, nach den Schweinen zu sehen und dem Vieh im Stall. Ein lediges Kind hat die Frau meines Sohnes, dachte Kreszenz, aber darob wird sie brav sein und bedächtig und fleißig. Aus jedem Rest noch konnte sie etwas kochen, aus jedem Stück Stoff nähte sie ein Hemd, und die Kühe striegelte sie, als gälte es, sie auf dem Markt zum Verkauf anzupreisen. Einen tiefen Glauben hatte sie und Gottvertrauen. Und sie war bescheiden. In aller Früh hatten sie geheiratet, sie hatten in einer Restauration gefrühstückt und waren zum Fotografen gewandert, bei ihren Eltern holten sie den Seppl und nahmen sogleich den Weg wieder zurück in sein Dorf.

Schon tags darauf bürstete und rumpelte sie die Wäsche, brachte sie zum Bach zum Schwemmen und trug sie auf dem Kopfe wieder heim. Eine eigene Quelle hatten sie, das Wasser war von den Steinen rein, sie wohnten oberhalb des Dorfes, die anderen hatten zum See zu gehen zum Waschen. Freilich, im Winter war der Waldbach gefroren.

Ich habe Angst. Ich habe Angst, mehr Angst heute als damals. Ich weiß nicht, was kommt. Ich freu mich auf das, was kommt, und es macht mir Angst. Wie das Leintuch duftet, das Nachthemd, das mir die Mutter zur Hochzeit gab. Nach Sonne duftet es und ist weiß und gebügelt und stark. Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Maria, Gottesgebärerin, steh mir bei. Ich hab so Angst, Heilige Muttergottes, sei bei mir. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae.

Bei Kreszenz hatte Magdalena schon den Seppl entbunden. Ledige Frauen kamen oft zum Entbinden hierher. Kreszenz war streng, schneidig und spitzzüngig, aber die Wöchnerinnen kamen trotzdem. Keine könne so gut schwingen, hieß es, wenn ein Kind nicht atmen wollte, und sie fragte nie nach dem Vater des Kindes. Und sie fragte auch Jahre später nicht, wenn die eine oder andere wiederkehrte, weil das Kind krank war oder das nächste auf dem Weg.

Wie Früchtestücke auf einer frisch gekochten Marmelade schwammen die Blätter auf dem schon fast gefrorenen See, ein zäher Sirup. Dunkel war er und wappnete sich für den Winter. Sich umgeben mit undurchlässigem eiskaltem Glas, um sich zu schützen vor Fremdem und Bösem, dachte die alte Frau und kehrte die Blätter in Richtung Stall. Wenn es ein Bub wird, dann soll er Johann heißen, wie sein Vater, dachte sie, und wie der Großvater, mein Mann. Wenn es ein Bub wird, wird es für alle leichter sein, dachte sie, lehnte den Besen gegen die Hauswand, holte den Rosenkranz aus der Schürze und ging hinein. Drinnen kochte das Wasser, sie hörte Magdalena in der Stubenkammer beten. Seppl lief durch den Gang, er solle nach draußen gehen, sagte die Alte dem Jungen und reichte ihm ein Stück Brot, er solle nach der Olga schauen, ob sie schon kälbern würde, und warf noch zwei Scheit in den Ofen. Windeln und Tücher lagen auf dem Tisch, sie nahm die Schürze ab, wusch sich die Hände in einer Schüssel, in der sie einen Teil des siedenden Wassers mit kaltem gelöscht hatte, band sich eine frische Schürze um den Bauch, holte das Wehenkreuz aus dem Schrank, nahm sich die Tasche mit Kräutern und Schnaps, mit Klemme und Schere, steckte den Rosenkranz ein und das Fläschchen Weihwasser, entzündete die Kerze vor dem Bild des Heiligen Antonius, ging hinauf ins Zimmer ober der Stube.

Währenddessen saßen in der Kammer neben dem Beinhaus die Schwestern des Holzerbauern und putzten Totenköpfe, reinigten und schmiergelten sie sorgsam und befestigten ein Schild an jedem Kinn, um Vertauschungen vorzubeugen, bis ein grüner Kranz und gemalte Blätter an den Schläfen und ein Kreuz und ein Name an der Stirn den Verblichenen unverwechselbar machten. Im Winter war immer viel zu tun. Solange der Boden noch weich war, mussten Gräber entleert werden, wenig Platz gab es hier in diesem Dorf zwischen Abgrund und brüllendem See. In der kleinen Kapelle hinter dem Friedhof wurden die Knochenköpfe gestapelt, in eckiger Schrift standen Namen darauf und mancher Schädel hatte noch Zähne. Einer lag auf dem anderen und manche lachten und manche bleckten und nebeneinander lagen manchmal zwei, die sich im Lebtag nicht mochten. Der Bruder war soeben gestorben und es war Zeit, dass der Jüngste nach Hause käme, den Hof und das Feld und die Mesnerei zu übernehmen, das Läuten war eines Mannes Angelegenheit. Ledig waren sie alle, die Brüder wie die Schwestern, die zwei Frauen guter Hoffnung, den Richtigen noch zu finden. Sie hörten viel und hatten viel zu erzählen. Im Kamin pflegte es alljährlich zu ächzen und zu jammern, wenn es Winter wurde und kalt und die Rauhnächte nahten. Der Vater, Gotthabihnselig, hatte einst auf der Lichtung im Wald den Hexenkranz von der Lärche gehackt und er war wieder gewachsen wie ehedem. Suppe und Wein bekamen seither alle Bettler, die an ihre Türe klopften, und seit dem Kriege kamen sie häufig.

Ein Herz malte heute die eine und die andere malte dem Schädel ein grünes Blatt auf die Stirn. Es war Feiertag Abend und die zwei Mesnerbäuerinnen hatten zu viele Krapfen verdrückt. Der Schweiß perlte der einen auf der Stirn, die andere hatte verwischte Augengläser. Das Fett glänzte am Kinn und an ihren Mundwinkeln wie das Haar am Scheitel der Älteren. Tresl hatte seit der Kindheit das Haar stets an der selben Stelle geteilt und so straff nach hinten gekämmt und gebunden, dass mittelt am Haupt eine Glatze entstanden war in der Form eines langen dünnen Fingers. Gebräunt war der Scheitel wie die Wangen, sie sah aus, als wäre sie weit zum Predigen gezogen, als hätte sie mehr gesehen als ihre Schwester Kathl, die eigentlich Katharina hieß. Stets zugeknöpft waren beide, unter dem Kinn eine Brosche mit einer Nadel, die bedrohlich aussah, ein dunkles Hemd mit Falten und Rüschen.

Ruhig war der Abend, war die Nacht, das Ausgebackene lag schwer im Magen. Da kam der Seppl gelaufen, etwas verängstigt, da der Mond verdeckt war, die rostbraunen Blätter lagen nass auf den Gräbern, der Friedhof war dunkel. Im Beinhaus flackerte schwach das Licht. Den ganzen Weg her hatte er gebetet, alle Heiligen hatte er angefleht, deren Namen er kannte, den Schutzengel und die Muttergottes. Die Mütze hatte er in der Eile verloren, nur das Hemd hatte er an, den braunen Lodenfleck, und Schuhe, die er ansonsten nur kirchtags trug. Mit den Holzknospen hätte er sich schwerer getan zu laufen.

Die Mesnerinnen mögen doch bitte nach dem Pfarrer rufen, keuchte er, die Mutter habe ein Mädchen geboren. Der Vater würde gleich kommen zur Taufe mit Kreszenz und dem Kind. Wie soll es denn heißen?, fragte die jüngere der zwei Schwestern den Siebenjährigen. Johanna, rief der Junge, das habe die Großmutter so gemeint, sagte er, bekreuzigte sich und lief betend wieder heim. Möchtest du hier nicht warten, rief die ältere Mesnerschwester ihm nach, ich mach dir eine warme Milch. Danke, rief er, ohne sich noch einmal umzuwenden. Sie warf sich den Wollschal um Hals und Schultern und machte sich auf ins Widum zum Pfarrer, dessen Häuserin sie war; die Jüngere aber ging nach Hause in die Küche, um der Wöchnerin aus Mehl und Wasser, aus Salz und etwas Zucker und Germ weißes Brot zu bereiten. Die Truten, das wusste sie bestimmt, würden Wöchnerinnen ersticken und Neugeborene stehlen. Nur mit dem Weißen scheuchte man sie davon.

Die Großmutter wird das Kind bei der Taufe halten, das Vater Johann geschnürt und eingepackt auf dem Leiterwagen zur Kirche zog. Die Räder ächzten, die ersten Schneeflocken glitten vom hellen Himmel herab in die Dunkelheit, der brüllende See lag ruhig.

24. September 1939

Als Luigi und Angiolina Esposito im Norden blieben, um etwas für die Heimat zu tun

Eigentlich waren Luigi und Angiolina Esposito vor zwei Jahren vom Süden hinauf ins Grenzland gezogen, um Geld zu verdienen und zu sparen, um ehestmöglich zurückzukehren und sich in der Heimat ein Haus zu bauen. Ein eigenes Haus wollte Luigi haben in dem kleinen Dorf an der neu gebauten Via Panoramica mit dem Blick hinaus aufs Meer, da wollte er jeden Abend sitzen auf der Terrasse unter der Laube und Wein trinken und Musik hören und hinausschauen in die Weite und zufrieden sein. Er war aufgebrochen, da die Arbeit in der Saline hart war und kaum bezahlt, und nach dem Krieg, der seiner Mutter fast vier Jahre lang den Vater geraubt hatte und seiner Tante und vielen anderen Frauen im Dorfe den Mann in alle Ewigkeit, war sie noch schlechter bezahlt. Er war aufgebrochen, just hinauf in den Norden, weil es da Land gab und Arbeit und tüchtige Leute brauchte, das hatte der Podestà gesagt, hinauf in die Berge, von wo aus der Krieg seine Schatten bis ans Meer geworfen hatte, wo sein Onkel sein Leben ließ, nicht nur sein Onkel, sondern viele Männer des Dorfes auch, in Erfüllung der Pflicht, die eingeschrieben war in ihre Herzen als italienische Patrioten. Durch den Krieg waren die Armen noch ärmer geworden und die Reichen unermesslich reicher.

Soeben erst geheiratet hatten Angiolina und Luigi Esposito, noch war seine Frau nicht schwanger geworden. Trotzdem packte sie Kisten voller Erinnerungsstücke und Gebrauchsgegenstände und Wäsche und Windeln ein, alle Habe, die beweglich war, als hätte sie vor, so schnell gar nicht mehr zurückzukehren. Man weiß nie, das war ihre Überzeugung, die Heimat, sie bleibt, Heimat bis zum Tode, aber manchmal zwingt sie einen fortzugehen, damit man sie sich im Herzen und im Gewissen besser erhalten kann.

Zwei Katzen nahm sie mit und das Aquarium mit dem Goldfisch und dem Schleierschwanz, das war Bedingung gewesen an ihren Mann, etwas Meer, obwohl es Süßwasserfische waren, die sie die lange Zugfahrt bis hinauf auf ihrem Schoße balancierte. Der Mann aber, dessen Vettern als Händler von Koffergrammophonen und Bausätzen zur hauseigenen Zusammenstellung von Tonträgern den Stiefel auf- und abwärts gereist waren und schon da und dort ihre Betten und Tischdecken aufgeschlagen hatten, packte alles an regionalen Schallplatten ein, dessen er nur habhaft werden konnte.

Nach wenigen Tagen schon hatte Angiolina die kleine Wohnung am Rande der neuen Stadt zwischen den langen Ziegelreihen und rotbraunen Schloten in ein häusliches Ambiente verwandelt, die Wäsche flatterte auf der Leine, die sie vom Fenster hinüber auf einen Baum spannte, jeden Morgen neu, da sich mit der Nacht Staub und graue Luft auf den Spagat senkten und auf dem blendenden Leinen schmutzige Ränder hinterließen. Jede Früh duftete es nach gebratener Zwiebel und gebratenem Hackfleisch für die tägliche Pasta asciutta.

Es war alles schnell gegangen, ein Verwandter hatte schon vorgesorgt und Luigi hatte im Nu die kleine Bar an der Kreuzung gepachtet, an der die Straßen sich teilten, die eine, die zur Aluminiumfabrik führte, die andere zum Magnesiumwerk. Bar Maria nannte Luigi sie, es gab keinen Zweifel, dass dies ein guter Name war, seine Mutter trug den Namen Maria, und es würde ihr gefallen, wenn sie ihn besuchen käme, wenn Rosario es gut hieß, sein Vater, dieser hielt nicht so viel vom Verreisen und die Menschen des Nordens mochte er nicht. Bar Maria. Die Madonna hatte die Familie stets sicher aus allen Nöten geführt, eine einzige Schwester nur hatte die spanische Grippe Ende des Krieges mit sich genommen, im Hause des Nachbarn waren es vier Kinder, die die Eltern zu begraben hatten. Er schenkte nur Likör und Wein aus, den er aus dem Süden bezog, und schenkte den vielen Männern, die hier Fremde waren wie er, Geborgenheit und Stimmung und Heimat. Wenn er politisierte und polterte, was in seiner Familie lag, wenn er politisierte und Karten spielte an den runden Tischen neben der Theke, da stand Angiolina in der Küche und füllte entkernte Oliven mit Knoblauch und kochte Caponata di melanzane und Peperonata, die sie auf geröstetes Brot legte, goss Olivenöl darüber und briet roten Salat und Reiskugeln und wurde selbst immer dicker, obwohl sie noch immer nicht schwanger geworden war, und erntete Delizioso und Squisito und devo darti un bacio, Angiolina, und setzte sich manchmal zu den Männern auf eine oder zwei gedrehte Zigaretten. Manchmal baten sie die nach Arbeit und Leidenschaft und Zigaretten riechenden Arbeiter dieses zuzubereiten oder jenes, und sie tat es gerne und nahm viel Zwiebeln, um den Geruch des Schweißes zu übertreffen, junge Männer waren es, nicht unhübsch in ihren schmutzigen weißen Hemden, die geöffnet waren und den Blick erlaubten bis zum Bauchnabel, über gebräunte Haut und dichte Haare, die zu viert und fünft in kleinen Mietswohnungen hausten und zu Hause keine Arbeit, da wo sie herkamen, keine Arbeit hatten und hier keine Frauen und die Mütter in der Ferne. Die Mamma war sie ihnen, Angiolina, die Monat für Monat wartete auf eigene Söhne, und sie briet ihnen Vögel, Lerchen und Wachteln und Ortolane, die sie abschossen oder mit Netzen fingen, und sie lernte auch Polenta zu kochen und würzte die Spaghetti, dass sie auf den Lippen brannten, und sie schwieg, wenn die Männer anstatt auf die enge Toilette ins Freie gingen und hinterm Haus zur Demonstration ihrer Manneskraft den Hosenschlitz öffneten und das Basilikum nur knapp verfehlten, das sie mit viel Liebe pflegte. Origano, das hatte sie bald bemerkt, der blühte hier und verblühte und getrocknet schmeckte er nach nichts. Auch einen gelben Ginster hatte sie in den kleinen Garten gepflanzt, der wie aus dem umliegenden Asphalt und Beton gestochen war. Kleine Zweige pflegte sie abzuschneiden und in ein Glas auf den Tresen zu stellen, wenn er blühte. In Gedanken war sie oft dort unten, an der steilen Küste, wo das Dorf sich an den Berg drängte, wo Verwandte tagtäglich hinaus fuhren ans Meer und die Sonne abends safranrot in die Wellen tauchte, ihre Heimat war dort, wo Luigis Brüder im Wasser standen und das Salz abschöpften und die Hände zerrissen hatten und die Füße zerschunden, aber Heimat war auch überall, wenn man sie aufrecht im Herzen trug und in ein Beet pflanzte, das wie ein Felsen jeder Brandung widerstand.

Berge und Tunnels und schmale Straßen gab es auch da, wo sie herkam, die Berge hier interessierten sie nicht. Den freien Sonntag verbrachte sie in der Kirche, und am Nachmittag war sie daheim und zündete eine Kerze an unter der kleinen Statue des San Antonio und schürte fleißig den Ofen und flickte Socken und Hosen und Hemden und wusch die Tischdecken und Servietten der Woche und füllte das Bügeleisen mit Glut und bügelte die Wäsche des Sonntags zuvor und betete um Gnade und Kindersegen, während Luigi sich auf das Fußballfeld begab und beim Gerangel vor dem Tor des Gegners ganz vergaß, dass er hier arbeiten wollte und Geld verdienen, dass er hergekommen war, weil der Duce dazu aufgefordert hatte, aber glücklich sein wollte er hier nicht.

Dicker war auch er geworden trotz des Fußballspielens, und als ein erster Pokal sein Regal in der Bar Maria schmückte, da war sein Widerstreben gebrochen und er baute an die kleine Bar einen Raum und stellte einen einarmigen Banditen hinein und einen Flipperautomaten und als allererster weit und breit einen Calcetto-Tisch, und als sich das herumgesprochen hatte und seine Bar auch am Sonntag überfüllt war, so dass er sich um eine Signorina umsehen musste, da es der Frau zu viel wurde, kaufte er sich ein Auto, mit dem er an ruhigeren Nachmittagen in den Wald fuhr, um mit Kameraden, die Schichtdienst leisteten wie auch er, Steinpilze zu sammeln, so viele sie tragen konnten, und bald sah man ihn nicht mehr mitspielen am Fußballfeld, aber sitzen sah man ihn und schreien und winken.

Ogni spicchju è spacchju, sagte Angiolina unverdrossen und kümmerte sich um die Männer und warf einen Blick zur kleinen Marienstatue, die auf einer Konsole über der Kaffeemaschine stand, mit handgemachten Blumen umwunden, steifes glänzendes Papier, das aus dem Orient stammen musste. Jede kleine Hilfe war gut, und man musste einander helfen, wollte man ein gottgefälliges Leben führen in so schweren Zeiten.

Eigentlich wollten sie gar nicht so lange bleiben. Eigentlich hatten sie nie wirklich überlegt, wie lange sie bleiben würden. Als aber Mussolini und Hitler im Sommer die Umsiedlung jener planten, die sich nicht anpassen wollten an die neuen Verhältnisse, als Angiolina endlich in anderen Umständen war, als Luigi ein großes Schmierblatt hinter dem Scheibenwischer fand, geh heim, walsche Sau, da gab es für ihn keine Veranlassung mehr in den Süden zurückzukehren, wo sein Geschäft nie florieren würde.

Am letzten Septembersonntag des Jahres sagte er zu seiner Frau, es sei höchste Zeit, dass die Menschen hier den wahren Herren Platz machten, denn schließlich hätten ja sie den Krieg gewonnen und nicht die hier. Er würde ein Ferienhaus am Meer bauen, um den August dort zuzubringen, wenn eh niemand hier war, der sie brauchte.

6. November 1939

Als der kleine Luis ertrank und der Vater entschied weiterzuziehen

Nun ist alles gut, sagte Mariales Vater, nachdem er als einer der ersten unterschrieben hatte, noch lange vor der Frist, die Mussolini und Hitler gesetzt hatten. Wenn sie unter den ersten waren, die gingen, so dachte er sich, dann würden sie einen Hof bekommen, einen der schönsten, einen Hof, der seinen Kindern das Zuhause bot, das sie verloren hatten. Wir sind aus dem Nichts gekommen, wir gehen ins Nichts, was hat das schon für eine Bedeutung, hatte er am Abend zuvor noch zu seiner Frau gesagt, die sich zaghaft erkundigt hatte, ob man sie denn dort würde wollen, ob man sie denn nicht wieder verschicken würde, was sollten sie denn machen dort mit so vielen Heimatlosen, Fremde mochte man nirgends, das Zurückkehren würde schwierig werden, sollten sie nicht doch hier, vielleicht in diesem Dorf, etwas pachten, ein Hof auf der Schattenseite sei frei und viele würden frei werden, wenn die anderen wegziehen. Zurück können wir nicht, sagte Mariales Vater, und er erhob die Stimme, du weißt es, wir können nur nach vorne schauen, hinaus, wir können nur weiterziehen, in ein anderes Leben, das hier ist zu nah.

Seit einem guten halben Jahr schon lebte er mit seiner Frau und den sieben Kindern in Johann Strumpflohners Haus, oberhalb des Dorfes, eine Stunde Fußmarsch entfernt lagen sein eigener Hof und die Scheune und der Stadel. Nur mehr schwarze Mauern standen dort, das Holz war eingebrochen und der Gestank lag noch immer auf dem, was übrig war. Der Ofen war alt gewesen, das Feuer, das man die ganze Nacht für das morgendliche Brotbacken geschürt hatte, war ausgebrochen, es war windig in dieser Nacht und die Flammen sind gesprungen, nur zuschauen konnten sie und die Mutter hielt den Kindern die Hände vor die Augen, damit das Licht ihnen die Sehkraft nicht raube, am Ende des Winters war es gewesen und der Schnee in den Bergen noch nicht getaut und im Tümpel war kaum Wasser.

Es ist nun alles gut, sagte Luis Strumpflohner, des Johanns Vetter, an diesem Vormittag zu seiner Frau. Wir werden gehen in ein Nichts, das mehr sein wird als das, was wir verlassen. Was ist denn Heimat schon, der Brunnen, aus dem wir das Wasser schöpften, das Gehöft, in dem das Vieh verbrannte, die Stube, in der die Kinder spielten, was gibt sie uns schon, das wir woanders nicht finden könnten, dort, wo wir reden können wie eh und je und wo unsere Kinder wieder lernen dürfen in der Sprache, in der man uns das Lesen und Schreiben beigebracht hat. Das Land hier ist nicht mehr unseres, du wirst sehen, Frau, alle werden fürs Gehen entscheiden, werden heim wollen ins Reich, wir werden die ersten sein. Was haben wir von dem Gefühl, Frau, daheim zu sein, wenn die Kinder hungern und die Verwandtschaft unruhig wird. Einen Fluss wird es auch dort geben, der sich durch das Tal schlängelt und die Äcker nährt, einen Himmel gibt es auch dort, es wird auch dort Wiesen geben und Hügel und eine Stadt in der Nähe und Mühlen und Bäume und Getreide, das reift, und Brot, vielleicht wird es heller sein, oder dunkler, aber sättigen wird es und die Kinder werden wachsen.

Just in diesem Moment, als Luis Strumpflohners Frau begann, sich Gedanken zu machen, was den Mann so aufgeräumter Laune sein und so viel reden ließ, ob er wohl glaubte, was er sagte, weil er so viel sprach, just in diesem Moment erhob sich über ihren Köpfen eine Schar von Wildenten. Sie suchen die zurückgebliebenen Kartoffeln auf den Feldern und Samen und Körner, das was verloren ging zwischen den Stoppeln, dachte sie. Sie schauen sich schon um nach einem offenen Wasser, dachte er, bevor der See gefriert, es ist Herbst und es ist Zeit zu fliegen. Johanns Hof würde im Winter nicht Arbeit für zwei bieten, er ernährte nur eine Familie.

Luis Strumpflohner hatte einmal eine Ente ersaufen gesehen, drei Erpel bedrängten sie und saßen auf ihr und drückten sie unter Wasser, bis deren Kraft sie brach und sie unterging wie ein flacher Stein, von einem Wanderer achtlos ins Wasser geworfen.

Luis Frau bemerkte erst jetzt, dass die Kälber schon seit Tagen zurück waren von der Alm, sie drängten sich an den Zaun und rupften das Gras, und das Ziehen an den Wurzeln wurde zu einem Geräusch, das nach Monaten ihr Gemüt unmerklich wärmte.

Sie sagte nichts mehr darauf. Zu Hause, er hatte Recht, zu Hause gab es nur mehr den Friedhof und des kleinen Luis frisches Grab, zu Hause gab es zu viele Erinnerungen, die sich wie ein Nebel über den Mann gelegt hatten, wie der Rauch, der das Zimmer grau macht und den Atem lähmt, wenn das Wetter drückt und das Holz noch feucht ist, das im Ofen brennt, Erinnerungen, die ihren Mann mitunter trinken ließen und toben und die Hand gegen die Kinder erheben. Bitte, hör auf damit, flüsterte sie leise, lass es vergehen, erheb die Hand gegen mich, es ist meine Schuld, nicht die der Kinder.

Zuerst der Brand und dann Luis. Sie hatten das wenige, das sie mitgebracht hatten, unter Dach gestellt und haben wenig gesprochen und angepackt, wo es ging. An einem der schönsten Tage des Sommers war Luis ertrunken, am Ufer des Sees, die Frauen hatten Wäsche gewaschen und waren am Steg gekniet und hatten sich hinabgebeugt, um die Wäsche zu spülen, die Kinder hatten geholfen und hatten Kies geschmissen und niemand hatte bemerkt, dass Luis ins Wasser gegangen war, da rief das kleine Mariale Luis!, und Luis schrie Mama, dass sie es nie mehr wieder würde vergessen können, und sie sahen nur mehr ein Strampeln unter Wasser und sahen wieder seinen Kopf und hörten ihn noch einmal rufen und sahen dann seine Hände, die wie aus einem lebendigen Spiegel schauten, und die Mutter eilte hinein, obschon sie nicht schwimmen konnte, und Magdalena kam hinter ihr her und tauchte unter und erhaschte eine Hand noch und ergriff sie und griff nach der Hand der Mutter, die noch Grund hatte unter den Füßen, und die eine zog die andre und die andre zog das Kind und sie schafften ihn hinaus, den kleinen Körper, reglos. Viel zu viel Wasser, so sagte der Arzt später, viel zu viel Wasser hatte er geatmet, sie konnten nichts mehr tun.

Mein Junge, ich hatte die Augen auf die Wäsche gesenkt und hatte mich in Gedanken verloren, als ich das weiße Leinen in Kreisen durch das Blau fließen sah, hatte dich vergessen für den Augenblick. Bei der Taufe hattest du das Kleid der Familie getragen, verziert war es mit blassrosa Spitzen. Du warst nicht der erste Junge, der es getragen hatte, aber lange hatten nur die Mädchen es benutzt, nur bei dir hatte der Vater gemeint, die alte Tradition wieder zu pflegen, dich im Kleid zu taufen, das auch er getragen hatte an jenem besonderen Tage und vor ihm sein Vater. Du hast dich oft beklagt deshalb, verzeih mir, dass ich so schlecht auf dich schaute, schon am Tage deiner Taufe, der der Tag deiner Geburt war, und am Tage deines Todes. Kleiner Luis, jede Nacht werde ich von dir träumen, verzeih mir, Luis, was bin ich für eine Mutter, hätte nur ich sterben können für dich, das Band wird nie reißen, kleiner Luis, und ich werde zurückkehren, wenn die Zeiten es erlauben, ich lass dich nicht allein, ich bin in Gedanken bei dir. Und beschütz du uns, der du uns voraus bist, du bist unser Engel, kleiner Luis, begleite uns, dass wir ein Zuhause finden, begleite uns, dass wir irgendwo bleiben können.

Es ist noch nicht gut, Mann, ich möchte noch einen Bildstock aufstellen am Ufer des brüllenden Sees, sagte Mariales Mutter am Abend vor dem Zubettgehen. Ich möchte noch ein kleines Marterle aufstellen für unseren Luis, kein Holzkreuz, eines das hält, das auch bei Unwetter und Regen nicht verdirbt, eine gemauerte Betsäule mit einem Bänkchen zum Knien davor, mit einer Nische, wo Platz ist für eine Kerze und Blumen, für eine Malerei und seinen Namen, damit die Menschen innehalten, wenn sie vorbeigehen, damit sie an ihn denken und von ihm lesen, wenigstens er soll seine Heimat haben. Das werden wir angehen, gute Frau, sagte Luis Strumpflohner, wir werden uns Ziegel beschaffen und weiße Farbe und wir werden seinen Namen in die Nische schreiben und Johann wird uns helfen und er wird darauf schauen, dass der Verputz nicht bröselt und die Schrift geputzt wird und das Gitter entstaubt, das werden wir tun, auch wenn wir unser letztes Geld dafür geben.

Nunc et in hora mortis nostrae, murmelte da seine Frau und nickte und schluckte ihr Weinen.

Ich habe meiner Schwester geschrieben, sie hat gekündigt bei den Herrschaften im Süden und wird mit uns fahren, sie wird nicht mehr dienen da unten, sie wird bei uns bleiben und uns helfen, sie wird bald da sein, in wenigen Tagen, und wenn sie erst da ist, dann steigen wir in den Zug.

Und wieder nickte sie nur und schlüpfte in das kalte Bett und dachte, wie Luis wohl frieren musste in der groben Erde, und wieder schluckte sie ein Weinen. Du wirst sehen, es wird alles gut, sagte er, als er sich zu ihr in die enge Bettstatt drückte, und spürte, dass sie weich war, erstmals seit Luis’ Tod, und dass sie ihn nicht abweisen würde und ihn umfangen, so wie sie es vermochte, es wird alles gut.

1. Mai 1940

Als Seppl und Rosina Strumpflohner in den Wolken lasen

Die Blätter der Birken schlugen noch heftig aufeinander, das Wasser hing an ihnen und hielt sich fest, bis die Schwerkraft es brach, das Gras, die Ähren lagen flach, als hätten sie sich zum Schlafen gelegt. Das erste Sommergewitter war vorüber, die Wolkendecke brach auf. Der Wind hatte sich beruhigt, es dampfte nach Feuchtigkeit und es duftete nach Nadeln und Erde und Holz, es duftete nach Leben und Moder und Sauerteig, es war, als hätten sich die Sabbat haltenden Hexen verzogen.

So dunkel war der Himmel zuvor geworden und so schwer die Wolken, dass Kreszenz glühende Kohle aus dem Ofen genommen hatte, ins Rauchfass gebettet, etwas Olibanum darüber gebröselt und damit hinaus war, ihr Land in heiligenden Duft und Nebel zu legen, Weihrauch gegen die Wetterfront.

Jetzt waren die Berggipfel klar und nah und aus jedem Tal, aus jedem Krater kroch Nebel und löste sich im Pastell. Seppl lag mit seiner jüngsten Schwester Rosina am Abhang, sie hatten Sauerampfer zwischen den Zähnen und betrachteten die Wolken, es war nach den alten Kalendern der Beginn der warmen Jahreszeit, der Stichtag zwischen der Tag- und Nachtgleiche des Frühlings und der Sommersonnenwende. Weiß waren die Wolken wie der Rauch aus Großmutters Pfeife. Das Nass, das durch die Hosen, den Kittel, durch den Loden hindurch aus der Erde bis zur Haut sich saugte, merkten sie nicht.

Ich möchte fliegen, ich möchte mich nicht mehr spüren, ich will fliegen können und nicht fallen, wie Wolken schweben. Wie wird die Welt da oben aussehen, was ist jenseits des Nebels. Hügel, Türme, Schlösser, Luftschlösser. Träume. Ich will fliegen, kleine Rosina, kommst du mit mir, ich werde fliegen, auch wenn es der Krieg ist, der mir das Fliegen schenkt.

Schau ein Hund, sagte da Rosina und deutete hoch hinauf. Ein wolliger Hund, bejahte Seppl und begann zu suchen. Da ein Monster, ein Ungeheuer mit einem großen Maul, ein Schaf, ein Fisch. Sag Wolke, sagte er zu Rosina. Wolte sagte sie: Rosina kannte schon viele Worte, aber das g und das k konnte sie nicht. Sag Kuh, sagte Seppl, Tuh sagte Rosina.

Woltenballen, Woltentürme, Woltenhäuser, Woltenstraßen, Woltenflüsse, Woltenseen, Woltentreuze, Woltentotentöpfe, Woltenterzen, Woltentnödel, Woltenmus, Woltenhühner, Woltenvötel, Woltenhunde, Woltentermteit, Woltenschleier, Schleiertanz, Hexenleich, Engelsfedern.

Da muss es schön sein, da oben, dachte Rosina.

Es war das erste Mal während des Krieges gewesen, dass sie ein Flugzeug gesehen hatte.

Ein Ozeandampfer wie auf der Postkarte in Großmutters Zimmer, ein Feuerdrache mit großem Maul, ein zum Ausnehmen aufgehängtes Reh, ein Schwan. In Windeseile, gleich verweht.