Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.
Schelling rühmte den Görlitzer Schuster Jakob Böhme und seine mystisch-theosophischen Schriften als „Eine Wundererscheinung in der Geschichte des deutschen Geistes“. Philosophen wie Leibniz und Hegel, Feuerbach und Ernst Bloch haben ihn ebenso intensiv studiert wie spirituell suchende Menschen jeder Couleur. Es hat ein neues Fragen begonnen, wie Böhme Gott, Natur und Mensch einer Gesamtschau unterzieht und wie der innere Weg aussieht, den er beschreibt. Der Böhme-Interpret Gerhard Wehr hat exemplarische Texte des Naturphilosophen und des kundigen Seelenführers ausgewählt. Sie stammen aus der berühmten Aurora oder Morgenröte im Aufgang, aus Böhmes Dialogen und Briefen:
„So man will von Gott reden, was Gott sei, so muss man fleißig erwägen, die Kräfte in der Natur.“
Obwohl selbst von niedrigem Bildungsstand, übt der zunächst als Schumacher tätige Mystiker, Philosoph und Theosoph Jakob Böhme (1575-1624) seit mehr als vier Jahrhunderten auf Philosophen, Theologen, Psychologen und Dichter eine bis heute ungebrochene Wirkung aus. Dem Drängen seiner Freunde ist es zu verdanken, dass er seine mystischen Erfahrungen überhaupt verschriftlichte – ein Ansinnen, das für Böhme jedoch zeitweise mit erheblichen Gefahren verbunden war, da er von seinen Gegnern der Häresie bezichtigt und mit Publikationsverbot belegt wurde.
Zu den maßgeblichsten Schriften seines umfangreichen Werkes zählen die hier in Auswahl versammelten Texte Aurora, Von der neuen Wiedergeburt, Vom dreifachen Leben des Menschen, Vom übersinnlichen Leben, Gespräch einer erleuchteten und unerleuchteten Seele sowie die Theosophischen Sendbriefe.
Jakob Böhme
Textauswahl und Kommentar
von Gerhard Wehr
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Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2012
Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH
Bildnachweis: Der Baum als Symbol für die Naturphilosophie
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0268-0
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I. Einleitung
1. Jakob Böhme und sein Erkenntnisdurchbruch
2. Probleme mit Kirche und Magistrat
3. Zum Fortgang des Werks
II. Die Texte
1. Aurora oder Morgenröte im Aufgang
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
19. Kapitel
25. Kapitel
2. Von der neuen Wiedergeburt
1. Kapitel
4. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
3. Vom dreifachen Leben des Menschen
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Vom übersinnlichen Leben
Im Gespräch eines Meisters mit seinem Jünger
5. Gespräch einer erleuchteten und unerleuchteten Seele
6. Theosophische Sendbriefe
Erster Brief: An Carl von Ender
Vierter Brief: An Christian Bernhard
Zehnter Brief: An Abraham von Sommerfeld
Zwölfter Brief: An Caspar Lindner
III. Stimmen und Zeugnisse zu Jakob Böhme
Angelus Silesius
Quirinus Kuhlmann
Friedrich Christoph Oetinger
Georg Christoph Lichtenberg
Louis-Claude de Saint-Martin
Franz von Baader
G.W.F. Hegel
Novalis
Friedrich Schlegel
F.W.J. Schelling
Ludwig Feuerbach
Karl Marx
Rudolf Steiner
Paul Tillich
Emanuel Hirsch
Werner Elert
Ernst Benz
Ernst Bloch
Ernst-Heinz Lemper
Eberhard E. Pältz
Sibylle Rusterholz
José Sanchez de Murillo
Literatur
Warum ist so viel Ungerechtigkeit in der Welt? Woher kommt das Böse? – So und ähnlich lauteten die elementaren Fragen, die den jungen Jakob Böhme umtrieben, ehe ihm das Licht aufging, das nicht nur sein Leben erhellte. Es handelte sich vielmehr um eine Erleuchtung, die ihn, den schlichten Handwerker, zu dem bedeutenden nachreformatorischen Mystiker und Theosophen werden ließ. Als Autor umfangreicher religiös-spiritueller Schriften übt er seit mehr als vier Jahrhunderten auf spirituell suchende Menschen eine inspirierende Wirkung aus, und zwar unabhängig von Bildungsstand oder religiös-weltanschaulicher Orientierung.
Unter ihnen befinden sich Philosophen wie Leibniz und Hegel, Schelling und Ernst Bloch, Dichter wie Ludwig Tieck und Friedrich von Hardenberg (Novalis), ferner Theologen und Psychologen, denen die innere Erfahrung unverzichtbar geworden ist. Es ist im Übrigen aufschlussreich, wenn man sich einen Einblick in die Wirkungsgeschichte dieses unscheinbaren und doch geistesmächtigen Mannes verschafft, dessen Schrifttum weltweite, bis nach Asien reichende Verbreitung gefunden hat.1 Die „Morgenröte“, deren Anbruch Jakob Böhme auf eigentümliche Weise selbst erlebt hat, machte er seit mehr als vier Jahrhunderten auf diese Weise Ungezählten zugänglich.
Jakob Böhme wurde 1575 in dem Dorf Alt-Seidenberg an der deutsch-tschechischen Grenze geboren. Er entstammt einer angesehenen alteingesessenen Bauernfamilie, die über einigen Grundbesitz verfügt haben soll. Seiner der schweren Feldarbeit nicht gewachsenen körperlichen Verfassung wegen gaben die Eltern ihren Sohn einem Schuhmacher in die Lehre. Im Blick auf seine reiche literarische Hinterlassenschaft wäre es aufschlussreich zu wissen, wohin der junge Schuster nach Abschluss der Lehre als wandernder Handwerksgeselle gekommen ist und welche ersten Einflüsse er dabei empfangen haben mag. Immerhin lassen sich aus seinen Aufzeichnungen und nicht zuletzt aus seinen zahlreichen erhaltenen Briefen entsprechende Eindrücke gewinnen.
Über die ersten beiden Jahrzehnte seiner Biografie ist nicht viel bekannt. Man kann sich aber mit einigen wenigen äußeren Lebensdaten begnügen – zum einen, weil es in der Hauptsache innere Erlebnisse und geistig-geistliche Impressionen sind, die seine Bedeutung begründen; zum anderen geben seine Niederschriften über die Beschaffenheit seiner Wesensschau hinreichenden Aufschluss. Als Mystiker kann er dank seiner anrührenden spirituellen Erfahrungen gelten2; als Theosoph ist er dadurch qualifiziert, dass sich ihm auf der Basis der Gottesweisheit (sophia tou theou) ein universelles Bild von Gott, Welt und Mensch erschloss. Seine zahlreichen Schriften und an Gleichgesinnte gerichteten Sendschreiben belegen dies. Ihnen sind auch Erläuterungen zu seinem Werk zu entnehmen.
Nach abgeschlossener Berufsausbildung lässt sich Jakob Böhme 1599 in Görlitz nieder. Der junge Handwerksmeister erwirbt das Bürgerrecht in der durch Handel und Handwerk bestimmten Stadt an der Neiße. Er heiratet Katharina Kuntschmann, die Tochter eines Metzgers, begründet eine Familie und richtet eine „Schuhbank“ ein. In den Tagen, als dem 25-jährigen Schuhmacher der erste Sohn geboren wird, den er ebenfalls auf den Namen Jakob taufen lässt, geschieht es: Während die auf seine Lebensfragen erwarteten Antworten ausfallen, erlebt er etwas, das letztlich viel tiefer greift als die üblichen Fragen nach dem Warum und Weshalb menschlicher Existenz. Es handelt sich um eine Wahrnehmung, die ihm zwar mitten im Alltag widerfährt, die aber doch auch darüber hinausweist: eine innere Schau, in der ihm etwas vom Geheimnis und der Vielgestalt der Schöpfung aufgeht. Von außen betrachtet scheint diese Schau durch den Widerschein eines Zinngefäßes ausgelöst worden zu sein. So heißt es in einem ersten Bericht. Aber nicht etwa der bloße Abglanz, nicht das optisch Gesehene ist es, was ihn zu seiner großen Überraschung im Innersten anrührt. Was ihn ergreift, das ist eine Ahnung von der Tiefendimension der Wirklichkeit. Von daher wird er angeregt, über die Mysterien alles dessen, was ist, nachzudenken.
Bezeichnenderweise ist mit diesem schauenden Initialerlebnis das Verlangen verbunden, das Wahrgenommene nicht allein für sich zu behalten, sondern davon Zeugnis abzulegen. Doch das erweist sich für ihn, den schulisch ungebildeten Handwerker, als ungemein schwierig. Es entspricht im Übrigen der Eigenart spirituell-mystischer Erlebnisse, dass sie ihres nichtsinnlichen Charakters wegen kaum in Worte der Alltagssprache zu fassen sind. Über Andeutungen kommt man meist nicht hinaus. Und doch versucht Böhme, seinen Freunden hin und wieder davon zu erzählen. Einer von ihnen ist der Jurist und schlesische Landedelmann Abraham von Franckenberg (1593 – 1656). Auf diese Weise wurde dieser zu seinem ersten Biografen. In seinem Bericht heißt es:
„Unterdessen und nachdem er sich als ein getreuer Arbeiter seiner eigenen Hand im Schweiße seines Angesichts genähret, wird er mit dem 17. Saeculi Anfang, nämlich anno 1600, als im 25. Jahr seines Alters, zum andern Mal vom göttlichen Lichte ergriffen und mit seinem gestirnten Seelengeiste durch einen gählichen [jähen, plötzlichen] Anblick eines zinnern Gefäßes … zu dem innersten Grund oder Centro der geheimen Natur geführet.“
Damit ist zum Ausdruck gebracht, dass Böhme offensichtlich zum wiederholten Mal eine innere Schau empfangen habe, die ihn ins Innere, das heißt in den Geheimnisgrund der Natur, sehen ließ. Der kulturgeschichtliche Zeitpunkt, in dem das geschah, ist zu beachten. Böhmes Erlebnis hat sich auf der Schwelle zum 17. Jahrhundert zugetragen, in einem Augenblick also, in dem in nachreformatorischer Zeit ein neues Naturerkennen in Erscheinung tritt. Das bisherige Weltbild, nach dem die Erde im Mittelpunkt des kosmischen Geschehens stehe, wird durch die Entdeckungen des Nikolaus Kopernikus und der Astronomen revolutioniert. Die Weltverhältnisse erfahren eine totale Umkehrung. Die damit verbundenen Folgerungen für Glauben und Bewusstsein der Menschen haben ein neues Fragen in Gang gebracht. Zweifel und Unsicherheit beschleicht viele, zumal auch Aussagen der Bibel mit dem kopernikanischen Weltbild nicht in Übereinstimmung zu bringen zu sein scheinen. Böhme fragt sich beispielsweise: Wo ist jetzt eigentlich „der rechte Himmel“, nachdem der äußere Himmel mit Sonne, Sternen und Planeten messbar geworden ist? Wo ist dann die menschliche Seele daheim?
In seiner Schilderung versäumt Franckenberg nicht darauf hinzuweisen, dass Böhme sich der Wirklichkeit des Erlebten zu vergewissern suchte, dass er aus seiner dämmrigen Schusterstube hinausgestürzt sei, um „im Grünen“ zu prüfen, ob sein Schauen auch da anhalte, oder ob es sich etwa um eine bloße Sinnestäuschung, um eine Halluzination gehandelt habe. Darin äußert sich Böhmes Bedürfnis, sich über die Art seiner Wahrnehmung klar zu werden. Was sich ihm aber als eine Gewissheit bekundet hat, sei – so Franckenberg – der Art gewesen, dass er gleichsam „ins Herz und die innere Natur“ habe blicken können. Also ein nichtsinnliches Gewahr- und Gewisswerden dessen, was sich normalerweise dem menschlichen Zugriff und der Beschreibung entzieht. Es versteht sich, dass damit keine räumliche, sondern eine spirituelle Tiefe gemeint ist. Wie aus Böhmes eigenen Aufzeichnungen ersichtlich, war ihm selbst daran gelegen, geistig strebenden Menschen seiner Umgebung das Erlebte – sofern irgend möglich – in Worte zu fassen und zur Anschauung zu bringen. Auch scheute er in späteren Jahren die Auseinandersetzung mit kritischen Betrachtern seiner Darstellungen und Deutungen nicht.
Was sein schriftstellerisches Schaffen anlangt, so ist es bemerkenswert, dass diese sein weiteres Leben bestimmende Schau den Schuster und Familienvater, den Görlitzer Bürger und das Glied der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde nicht etwa aus seinem Tagewerk herausriss. Er blieb vielmehr „geerdet“, er blieb zunächst buchstäblich bei seinem Leisten. Erst später sah er sich veranlasst, zusammen mit seiner Ehefrau einen Garnhandel zu betreiben. Als ein reisender Kaufmann nutzte er so die Gelegenheit, Gesinnungsfreunde und Leser zu den von ihnen gewünschten Aussprachen besuchen zu können.
Bezeichnend ist andererseits, dass es eines über zwölf Jahre sich erstreckenden Zuwartens bedurfte, bis es ihm möglich war, das innerlich Empfangene zu fassen und schließlich zu Papier zu bringen. In seinem Erstlingswerk Die Morgenröte im Aufgang – später Aurora betitelt – hat Böhme zum ersten Mal die Fülle seiner Gesichte ausgebreitet. Vertieft man sich in die Wortlaute seiner Schilderungen, dann nimmt man an seinem Ringen mit der Sprache unmittelbar Anteil. Es ist anrührend zu beobachten, wie er dies mühevoll und einigermaßen unbeholfen unternimmt! Wie soll auch ein ungebildeter Mensch, der keine der hohen Schulen seiner Zeit von innen gesehen hat, den aber „der Geist treibt“, zu Werke gehen, um das Unsägliche sagbar zu machen? In seinem literarischen Erstling, der in vieler Hinsicht rätselhaften „Morgenröte“, legt er – im
19. Kapitel – von seinem einzigartigen geistigen Durchbruchserlebnis Rechenschaft ab. Offensichtlich ist er durch dieses Erleben zu dem durch inneren Antrieb bewegten spirituellen Schriftsteller geworden. Kein Geringerer als der Philosoph F.W.J. Schelling (1775 – 1854) hat ihn mit Recht eine „Wundererscheinung in der Geschichte der Menschheit“ genannt und das in seinen Büchern Niedergelegte als einen „Schatz von natürlicher Geistes- und Herzenstiefe“ bezeichnet.3
In der Tat: Selten hat ein Werk der mitteleuropäischen Geistesgeschichte eine so tiefgehende und nachhaltige Wirkung ausgeübt wie diese „Aurora“ Jakob Böhmes. Darin erweist er sich, was seinen sprachlichen Gestus und Wortschatz anlangt, als ein kenntnisreicher Bibelleser. Als Protestant versteht es sich für ihn, dass er sich der Sprache der Luther-Bibel bedient. Das beweisen die zahlreichen Anspielungen, Bilder und Gleichnisse, die der alt- wie der neutestamentlichen Überlieferung entnommen sind. Luthers Bibelsprache ist zugleich Böhmes Bildungssprache. Es ist aber auch daran zu denken, dass er nach eigenem Geständnis „viel hoher Meister Schriften“ zur Kenntnis genommen habe, beispielsweise solche des Arztphilosophen Paracelsus und seiner Schüler. Es ist nachgewiesen, dass gerade auch in Schlesien paracelsische Studien getrieben wurden. Einem seiner Freunde, dem weitgereisten naturphilosophisch gebildeten Arzt Dr. Balthasar Walther, verdankt er den Ehrentitel „Philosophus teutonicus“, deutscher Philosoph, etwa wörtlich zu verstehen als ein „Freund der Weisheit“. Denn sie, die göttliche Sophia, ist es schließlich, der sich Böhme innerlich verbunden fühlt. Diese göttliche Weisheit, so ist er überzeugt, habe ihm in dem entscheidenden Augenblick seiner Erleuchtung „eine Rose verehrt“. Das heißt, ihr verdanke er eine neue Sicht der Dinge, insbesondere die Art zu schreiben. Und im Grunde folge er einem „feurigen Trieb“. Er könne gar nicht anders. Davon berichtet er in seinem zehnten und zwölften Brief.
1Zur Wirkungsgeschichte Böhmes im deutschen Geistesleben vgl. Gerhard Wehr: Jakob Böhme. Ursprung, Wirkung. Textauswahl. Wiesbaden 2010.
2Eine der zahlreichen immer nur annähernden Definitionen bezeichnet die christliche Mystik als eine auf Erfahrung gegründete Gotteserkenntnis (cognitio Dei experimentalis et non doctrinalis). – Gerhard Wehr: Christliche Mystiker. Von Paulus und Johannes bis Simone Weil und Dag Hammarskjöld. Regensburg 2008.
3Schelling: Philosophie der Offenbarung (1858), 7. Vorlesung.
Im Laufe von etwa fünf Monaten – zwischen Januar und Pfingsten des Jahres 1612 – schreibt der Görlitzer Schuhmachermeister das nieder, was seit seinem mystischen Erlebnis im Laufe der vergangenen zwölf Jahre in ihm gereift ist. Über das erste Manuskript setzt er die vielsagenden Worte: „Morgenröte im Aufgang, das ist die Wurzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae4 aus rechtem Grunde oder Beschreibung der Natur, wie alles gewesen und im Anfang worden ist …“ Auswärtigen Freunden verrät er, was neben seiner Berufsarbeit, etwa auch in den Nachtstunden, entstand. Die Urschrift und erste heimlich kopierte Abschriften machen alsbald die Runde im nach und nach sich formierenden Kreis der Böhme-Freunde. Das geschieht, noch ehe das Buch seinen Abschluss gefunden hat. Dazu sollte es auch gar nicht kommen, weil sich die städtische Obrigkeit, die kirchliche und die weltliche, eingeschaltet und ihr Zensurrecht rigoros ausgeübt hat.
Dem zuständigen Görlitzer Oberpfarrer (Primarius) Gregorius Richter (gestorben 1624) ist das Tun des Schusters nicht verborgen geblieben. Als ein an Schrift und Bekenntnis gebundener lutherischer Theologe sieht er sich berufen, die von gegenreformatorischen Kräften angegriffene „reine Lehre“ zu schützen. Und dies angesichts des als „Glaubenskrieg“ ausgegebenen Dreißigjährigen Kriegs (1618 – 1648). Die Reformation Martin Luthers hat sich frühzeitig in Schlesien und in der Lausitz ausgebreitet. Dabei kam es auch zur Bildung von kleinen Gemeinschaften und Konventikeln, die beispielsweise der spirituellen Lehrweise eines Kaspar von Schwenckfeld (1489 – 1561)5 gefolgt sind, die jedoch nicht mit der Billigung der Lutheraner rechnen konnten.6 Überzeugt, dass es nicht die Sache eines ungebildeten Handwerkers sein könne, spirituelle Aufzeichnungen zu machen und anderen Einblick zu gewähren, fordert er den Görlitzer Stadtrat auf, die Sache zu unterbinden und die bis dahin entstandene Niederschrift der „Morgenröte im Aufgang“ zu kassieren. Eine Eintragung im Tagebuch von Bürgermeister Scultetus besagt denn auch, man habe das umfängliche Manuskript aufs Rathaus gebracht und den unbescholtenen Autor kurze Zeit in den Karzer geworfen. Böhme hat sein Buch nie mehr gesehen. Er konnte es daher auch nicht abschließen.7
Über Nacht ist der ehrbare Bürger als ein gefährlicher „Enthusiast“ gebrandmarkt. Und von der Kanzel der Görlitzer Hauptkirche herab muss sich der erschreckte Mann in einer Droh- und Strafpredigt seines Seelsorgers als ein gefährlicher Irrlehrer diffamieren lassen. In einem zusätzlichen Glaubensverhör auf dem Pfarramt gebietet Gregor Richter dem harmlosen Delinquenten, dergleichen nicht mehr zu schreiben, da er als unstudierter Laie dazu nicht befugt sei – eine Behauptung, die übrigens im strikten Gegensatz zu Luthers These von der „Freiheit eines Christenmenschen“ in Bezug auf den Glaubens steht!
Für Jakob Böhme beginnt damit eine sich über einige Jahre erstreckende Prüfungszeit. Er sieht sich einem doppelten Druck ausgesetzt. Einerseits empfängt er weitere Inspirationen, andererseits ist er gewillt, sich der Forderung des Oberpfarrers gehorsam zu unterwerfen. Doch der „geistliche“ Herr hält sich nicht an die getroffene Übereinkunft, seine grundlosen Anschuldigungen zu beenden. Darüber beklagt sich Böhme in einem Brief. „[Der Oberpfarrer] hat mich die ganze Zeit schmählich gelästert und mir öfters Dinge zugemessen, derer ich gar nicht schuldig bin und also die ganze Stadt lästernd und irre gemacht, dass ich samt meinem Weibe und Kinder habe müssen ein Schauspiel, Eule und Narr unter ihnen sein. Ich habe ferner all mein Schreiben und Reden von solcher Hoheit und Erkenntnis göttlicher Dinge auf sein Verbot viele Jahr bleiben lassen und gehoffet, es wird des Schmähens einmal ein Ende sein, welches aber nicht geschehen, sondern immerdar ärger worden ist.“8
4Böhme spricht hier zwar von Theologie, aber es ist nicht die kirchlichakademische Disziplin gemeint, sondern die oben erwähnte Theosophie im Sinne einer intuitiv erfassten Gottesweisheit.
5Paul Gerhard Eberlein: Caspar von Schwenckfeld, der schlesische Reformator und seine Botschaft. Metzingen 1999.
6Horst Weigelt: Spiritualistische Tradition im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien. Berlin 1973.
7Abgesehen davon, dass vor der Konfiszierung eine Reihe von Abschriften entstanden war, hat sich die Urschrift der „Aurora“ erhalten. Sie wird zusammen mit weiteren Werken Böhmes in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel verwahrt.
8Jakob Böhme: Theosophische Sendbriefe 54, 6 f.
Dem Drängen seiner Freunde, er dürfe das ihm anvertraute Charisma nicht länger verborgen halten, ist es letztlich zu verdanken, dass Böhme einsieht, man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen, auch wenn es sich um das Diktat eines Amtsträgers der Kirche handle. So entstehen während der ihm verbleibenden Jahre neben seiner Berufsarbeit, teils als Schuhmacher, teils als fahrender Händler, zahlreiche Schriften, die allesamt als Handschriften und deren Kopien kursieren. Als er 1619, wenn nicht schon ein Jahr vorher, abermals zur Feder greift, beginnt für den Görlitzer Schuster ein „mächtiger Aufgesang neuen Schaffens“ (H. Grunsky).
Im Mittelpunkt dieser Aufzeichnungen stehen zunächst Vorstellungen, die sich auf die gemäß seiner Schau nach drei Prinzipien strukturierten Wirklichkeit darstellen. In dem gleichnamigen Werk erklärt er sie. Diese Beschreibung der drei Prinzipien göttlichen Wesens (1619) handelt von der „ewigen Geburt der Heiligen Dreifaltigkeit Gottes, und wie durch und aus derselben sind geschaffen worden die Engel; sowohl die Himmel, auch die Sterne und Elementa samt allen kreatürlichen Wesen und alles, was da lebet und schwebet; fürnehmlich von dem Menschen, woraus er geschaffen worden und zu welchem Ende; und dann, wie er aus seiner ersten pardiesischen Herrlichkeit gefallen in die zornige Grimmigkeit und in seinem ersten Anfang zum Tode erstorben, und wie dem wieder geholfen worden; und dann auch, was der Zorn Gottes (Sünde, Tod, Teufel und Hölle) sei; wie derselbe in ewiger Ruhe und in großer Freude gestanden, auch wie alles in dieser Zeit seinen Anfang genommen und wie es sich jetzt treibet und endlich wieder werden wird“. So lautet der Text des Titelblattes von Böhmes zweitem Buch in der Gesamtausgabe von 1730. Mit diesem Aufriss ist zugleich seine theosophische Thematik angegeben. Es handelt sich um den Ausgang von Mensch und Welt aus der Schöpferhand Gottes, um den Fall des Menschen in die Vergänglichkeit und schließlich um die Heimholung des Menschen in seinen Urstand im Licht. All das sollte in immer neuen Entfaltungen sein Denken und Sinnen bis zu seinem frühen Lebensende (1624) beschäftigen: Es handelt sich um Alpha und Omega, Ursprung und Zielpunkt von Gottheit, Kosmos und Menschheit.