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Gesamtgestaltung: sans serif, Berlin
ISBN 978-3-88423-461-7 (ebook)
Roman
Herausgeber Stadt Heidelberg / Kulturamt
Mit einem Vorwort von Hans-Martin Mumm
und einem Nachwort des Autors
Vorwort
Kapitel I
Kapitel II
Kapitel III
Kapitel IV
Kapitel V
Kapitel VI
Kapitel VII
Kapitel VIII
Kapitel IX
Kapitel X
Kapitel XI
Kapitel XII
Spätes Nachwort
Michael Buselmeier
Michael Buselmeier mobilisierte mehr als zwei Jahrzehnte lang das literarischen Gedächtnis Heidelbergs. Seit 1992 gibt es wieder ein eigenes städtisches Kulturamt. Im Juni 1993 führte er ein Gespräch mit Heinrich Weitlauff, der als Sohn der Haushälterin Alfred Momberts einer der letzten Zeitzeugen für das Leben dieses Heidelberger Schriftstellers war. Marlise Hoff, meine Vorgängerin im Amt, formte aus diesem Impuls die Reihe Erlebte Geschichte – erzählt, die 1994 mit Raymond Klibansky als erstem Gast begann und 2010 mit Jan Assmann als letztem Gast endete. Von 2000 bis 2011 erschienen in vier Bänden die aufgezeichneten und redigierten Gespräche: ein großes Panorama der Heidelberger – tatsächlich weltumspannenden – Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Als ich 1998 ins Kulturamt kam, wurde die Zusammenarbeit intensiver. 1998 und 1999 erprobten wir ein neues Format: gemeinsame Führungen zu den Orten der Erinnerung an Karl Nadler, Gottfried Keller und Goethe. Außer der Verständigung über die Route und über die Aufteilung der Redebeiträge galten keine weiteren Regeln: Wechselseitige Zwischenrufe waren erlaubt und Streit erwünscht. Ab 2000 dehnten wir dieses neue Format auf Buselmeiers bis dahin allein vorgetragenen Literarischen Führungen durch Heidelberg aus. Der bisherige Untertitel Stadtgeschichte im Gehen entwickelte sich zu dem heutigen Markenzeichen: Die Rundgänge durch die Altstadt wurden in Epochen gegliedert und auf neu konzipierte Besuche in Bergheim, Handschuhsheim, Neuenheim, Rohrbach, der Weststadt und Ziegelhausen ausgedehnt. 2007 enthielt die dritte Auflage seines Führungsbuchs 17 Führungen. Inzwischen umfasst unser aktueller Zyklus 24 Führungen, verteilt auf sechs Jahre.
Michael Buselmeier war in all den Jahren ein unverwechselbarer Partner. Kenntnisreich in der Recherche, meisterhaft als Erzähler auch auf der Straße und ein Polemiker von Rang. Er war und ist ein Rebell gegen alles, was modisch ist oder ihm modisch vorkommt, zunehmend rebellisch auch gegen die Traditionen der Rebellion. Bei manchen Attacken – besonders denen gegen das neue Theater – bin ich ihm ins Wort gefallen. Unsere Freundschaft hat darunter nicht gelitten. Buselmeiers Ziel ist stets herauszuarbeiten, was bleibt: die Kunst, der kluge Gedanke, die Sprache.
Dem Stadtjubiläum widmete Michael Buselmeier 1996 das 70 Seiten lange Gedicht Ich rühm dich Heidelberg:
»Soll ich preisen die dröhnenden Autobahnen am Neckar
Von hausbreiten Lastern versperrt
das übernatürliche Licht im Parkhaus
bevor der Mörder erscheint
den Dampf der Abgase am Bismarckplatz
in der Anlage die längst keine mehr ist
den Glanz der Schaftstiefel des Verkehrspolizisten
den Flitter der Fußgängerzone
den Schnellfraß Übelkeit
Kot im Pißbecken der Stadtbücherei
die Intrigen der kleinen Politiker
die keine Gedichte lesen
Phrasen am Gürtel Lügengebrüll
und Irrsinn jeder Couleur
All die heillos zerstörten Dinge
schauen mich an: durcheinander
eine Stadt die sich brüstet
Kunst und Wissenschaft
in den Geldsack zu stecken …«
Die erste Auflage des Untergang von Heidelberg erschien 1981. Fast genau in der zeitlichen Mitte zu dieser Neuausgabe liegt das zitierte Heidelberg-Gedicht von 1996. Ein Blick auf Ich rühm dich Heidelberg kann lehren, wie wenig gerechtfertigt es wäre, einem frühen Buselmeier einen späteren, grundsätzlich anderen entgegenstellen zu wollen.
Michael Buselmeier feiert am 25. Oktober 2013 seinen 75. Geburtstag. Ihm widmet das Kulturamt der Stadt Heidelberg in Dankbarkeit für die langjährige Zusammenarbeit und in ehrender Anerkennung seines schriftlichen und mündlichen Werks diese Neuausgabe des Romans Der Untergang von Heidelberg.
Im Juli 2013
Hans-Martin Mumm
Wenn ich so die freundlichsten, geweihtesten Stunden darauf verwenden würde, so würde es sich zusammenfinden, einfach, klar, durchsichtig und ein Labsal wie die Luft. Die Leser würden in dem Buchefortgehen zwischen allbekannten, geliebten Dingen und sachte gebannt und eingezirkelt werden, so wie man im Frühlinge in warmer Luft, in allseitigem Keimen, in glänzender Sonne geht und glückselig wird, ohne sagen zu können, wodurch man es geworden.
Adalbert Stifter
Hand in Hand mit einer Frau gehe ich in der Morgensonne einen weichen Waldweg entlang, an glänzenden Wiesen vorbei, sehr lautes Bachrauschen. In einer leichten Rechtskurve, vor einem hellen Holzgatter stolpert die Frau, ich fange sie auf. Ihr Körper hängt sekundenlang mit eingeknickten Beinen schlaff und schwer an mir herunter, dann bäumt er sich auf, und ein gelbgraues, zahnloses Gesicht, das Gesicht meiner Mutter, bleckt mich an, es schnappt nach mir. Ich will ihren Kopf zur Erde drücken, wie bei einem bissigen Hund. Warum hast du mein Gebiß in den Müllschlucker geworfen? Ihre Stirn ist wie Metall.
Ich erwache mit kaltem Schweiß auf der Haut, der Schwanz steht störend herauf, Nierenschmerz, gürtelförmig. Liege einige Minuten lang starr auf dem Rücken, höre meinen Atem, meinen rasenden Herzschlag. Langsam löst sich mein Bewußtsein von meinem Körper, es fällt aus ihm heraus. Das Licht unterm Türspalt erscheint mir ungleichmäßig, als stünde jemand dahinter. Es knackt in der Zimmerecke, wie wenn ein Gelenk sich streckt. Der Gedanke: mein Kind ist tot, ich hab es totgemacht. Dann höre ich von draußen seine Stimme: putz mir den Popo! Ich komme nicht auf die Beine. Was ist der Faschismus gegen meine Schmerzen. Lines helle Stimme: ich hab gar nicht gekackt, nur gefurzt; ich begrüß jetzt mal den alten Hund. Und ich möchte sie mit einem Schlag stumm machen, wälze mich stöhnend hin und her. Gegen halb fünf, die Helligkeit täuscht. Erste Autos; eine Straßenbahn quietscht in den Schienen. Bald werden die Mülltonnen durch die Toreinfahrt rollen, sie werden an den Müllwagen gehängt, gekippt, die Sauganlage wird eingeschaltet werden, erneutes Kippen und Schmatzen, die leere Tonne wird auf das Pflaster knallen und durch die Einfahrt des Nachbarn an ihren Platz zurückrollen, im Schlitz des Rolladens werden für einen Augenblick die dicken orangenen Handschuhe des Müllarbeiters aufleuchten.
Auf den Knien langsam zum Telefon kriechen. Umsonst. Befreundete Ärzte, die um diese Zeit mit einer Spritze zu mir kämen, sind alle im Urlaub. Ich stehe mit krummem Rücken im Flur, lasse das Telefon lange tuten. Mir ist übel. Über die Kloschüssel gebeugt, die Hände an der kühlen, gekachelten Wand, speie ich etwas bittere Flüssigkeit, Schleim in das Becken. Ich versuche zu pissen, ein paar Tropfen rollen über den braunen, schrumpeligen Sack und trielen die Beine hinunter. Stumm, ohne es zu anzusehen, weise ich das Kind in sein Zimmer, ringle mich in die Bettdecke, tief durchatmen, ich stöhne im Rhythmus des Schmerzes, ganz tief, ich schlage mit den Beinen aus, Schweiß läuft mir hinter den Ohren runter, ein heftiges Stechen im Schwanz, die Fingerspitzen kribbeln. Bis ich im Zimmer des Kindes, das mault, weil ich das Licht anknipse, in der Arzneischublade eine Schachtel mit Dragées gegen krampfartige Menstruationsschmerzen finde. Ich schlucke vier Tabletten. Schlafe sofort ein.
Ich sehe mich durchs Lederhosenbein an einen Holzzaun pissen, ich spritze ihn ausdauernd ab, bis in die Ritzen hinein, mein Wasser fließt in kleinen, schaumigen Bächen über das heiße Trottoir, es ist die Straße, in der ich aufgewachsen bin, weicher Asphalt, in dem sich das Wellenprofil meiner Turnschuhe abzeichnet, Duft von Jasmin, ein alter Mann öffnet ein Parterrefenster, er schüttelt die Faust, ich verstehe die Wörter nicht, ich lache. Da ist der Schmerz wieder. Line läßt die Türklinke nach oben knallen, sie hockt sich auf die Bettkante, den Kopf auf meine Brust gelegt. Mir solln aufstehn, Pappel. Grunzend krieche ich tiefer unter mein Tuch. Sie tapst in die Küche, händeklatschend weckt sie den Dackel auf, der piensend angekrochen kommt, wedelt, sich streckt und windet, der in mein Bett springt, sich auf die Seite fallen läßt, sich quiekend auf den Rücken strampelt. Alter Dacksschniefer, die Hinterbeine knicken dir ein. Aufstehn, aufstehn! – Ruhe!, ich will noch schlafen. Line schleppt als Gegenargument den Wecker herbei, halb acht, knipst dann eine Zeitlang die Nachttischlampe an und aus, verschwindet schließlich im Klo. Nach einer Pause: Popo putzen!, aber mit dem weichen Papier. Jean Paul hat seinen Pudel gekämmt; ob er seinen Kindern den Arsch gewischt hat? Ich nehme das harte Papier; Geschrei. Wir haben früher Zeitungspapier benutzt. Oder Blätter. Ich ziehe den Rolladen im Klo hoch.
Ich drücke den steifen Schwanz mühsam nach unten, beuge mich vor, endlich kommt was. Die Pisse schießt am Klosett vorbei auf den Boden, ich dirigiere den Strahl in die Schüssel. Wie ertappt. Meine Füße sind naß. Penicillinbrühe. Ich hole die Lupe: kleine Blutfetzen schwimmen drin rum. Im verspritzten Spiegel mein graues Gesicht. Line pfetzt mich in den Arsch: warum haste keine Hose an? Zieh dich erst mal selber an. Frühstück gibts jetzt noch nicht. Ich lasse mich wieder aufs Bett fallen, tauche ins Dunkel zurück.
Nur leichtes Stechen im Schwanz, brennende Schweinsaugen, steife Gelenke. Bilder einsamer Häuser ziehen vorbei, regennasse Wege drumrum. Lehrer Emmlein greift mir im Kartenzimmer an den Sack. Die Gummiwärmeflasche stinkt, mein ganzer Körper juckt, die Hände: kribbelig, halbtaub. Zweige des erfrorenen Pfirsichbaums scharren am Fensterladen. Durch den Spalt tanzen Sonnenflecken herein, spielen über die Wand: die frühesten Bilder. Wäre ich nie aufgetaucht aus meinen ersten Träumen. Hätten mich die Krankenschwestern im Badewasser ersäuft. In der Wanne treiben Luftblasen auf. Traumsplitter fliehen zurück im Zoom, ich kann sie nicht festhalten, aufschreiben, die ANGST AUFSCHREIBEN, wenn ich es schaffte, jetzt rüber zum Schreibtisch zu kriechen. Ein Wagen mit gelb leuchtendem Schild parkt vor der Tür. Neinnein, ich will keinen Notarzt sehen. Er würde verletzend in meine Nacktheit eindringen, mein staubiges Zimmer, beugen Sie sich ganz weit nach vorn, und schon bohrt mir sein Zeigefinger im After herum. Ich müßte mich waschen, frische Wäsche anziehen, mich kämmen, Zähne putzen, die verstreuten Kleidungsstücke, Bücher, Zeitungen und Flugblätter vom Boden aufsammeln. Der Opa von nebenan schiebt etwas Helles, Spiegelndes durch die Einfahrt, wahrscheinlich sein neues Fahrrad, er pfeift, falsch und grölend wie jeden Morgen, »Teure Heimat, wann seh ich dich wieder«, knallt die Tür zu, weg ist er. Meine Hände sind schwer wie Kartoffelsäcke. Die Wärmeflasche drückt mich im Kreuz. Ich will in Zukunft alle Menschen mit ihren Titeln und Amtsbezeichnungen anreden. Zugeschnürt wehre ich mich mit kleinen Stöhnern gegen das Ersticken.
Vor ein paar Tagen die erste Nierenkolik. Ich lag in der Mittagshitze bei geschlossenen Läden auf einem kühlen Leintuch und las in einer Literaturzeitschrift eine Erzählung von Herbert Achternbusch. Sie handelte von Kuschwarda, dem Indianer, der beim Spazierengehen einen Schoßhund einfängt, absticht und roh verzehrt, sich dann den Mund an einem Felsen abwischt und zufrieden im Schein der Abendsonne auf zwei Skalpierte blickt: ein Polizist, ein Fichteforscher. Und während ich weiterlas, nahm ich plötzlich diese Schmerzen wahr. Kein Zweifel, daß Achternbuschs Sprache sie in mir freigesetzt hat. Ein Schmerz, der mich summen und singen läßt, ich werfe den Kopf hin und her, mache Hasenpfoten, reibe die Eisfüße aneinander. Ich stinke. Fichtes »Wissenschaftslehre«!, skandiere ich laut; ich werde dein Buch lesen, Fichte, nur hilf mir gegen diese Schweinerei, die mich so närrisch macht, daß ich meinen ungeborenen Sohn im Traum gleich dreimal verkauft habe per Zeitungsannonce. Der Schmerz muß abgeschafft werden!
Ich kotze etwas gelben Schleim, mit Haferflocken durchsetzt, in die Schüssel neben dem Bett. Das Kind hockt mitten im Zimmer, es malt, ganz auf sich konzentriert. Wie es mein Anderssein übersieht. Vor dem Fenster plappern zwei Frauen. Die Zungen abschneiden. Nichts mehr hören und sehen. Die roten Plüschmöbel in unserem alten Wohnzimmer, Böcklins »Insel der Seligen« über der Couch, Bürgerträume. Mich einkuscheln. Die knarrenden Stufen zum Speicher, wo es nach Äpfeln und Knoblauch roch. Studenten tragen meine Bücher weg, schmeißen sie über das Brückengeländer in den Fluß. Die Ärztin lauert mit einer riesigen Spritze am Hinterausgang auf mich. Es gelingt mir noch, eine kleine, blau-rote Fahne unter der Jacke hervorzuziehen und sie heftig zu schwenken. Dann jagt mir die Ärztin die Spritze ins Gesäß und trifft den Ischiasnerv. Elektromagnetische Kunstobjekte beginnen zu klirren, zu surren, zu singen, während wir an ihnen vorbei über dicke Teppiche gehen. Um dir zu helfen, habe ich Medizin studiert, sagt sie streng. Noch siehst du einem Menschen ähnlich, aber du hast ein poröses Skelett, mit fünfundvierzig wirst du im Rollstuhl sitzen. Ich male mir aus, wie ich, den Hund auf meinem Schoß, in einem verkratzten hölzernen Rollstuhl herumfahren werde, mit Baskenmütze und dunkler Brille, auf Parkwegen im Nieselregen über knirschenden Kies, endlich allein, zwei Kinder bleiben stehen und schauen mir nach. Dann liege ich gelbhäutig, leicht grinsend im Kasten mit hochgebundenem Kinn, meine nackten Füße ragen zwischen Blumensträußen hervor. Ich atme nicht mehr, meine Haut stirbt ab, während draußen vor dem mit Fliegendraht gesicherten Fenster der Leichenhalle die Birkenblätter im Wind flirren. Line, schon reisefertig, steht lange dicht neben mir in der Enge des Kühlraums, sie möchte mir noch einmal über die Stirn, die der ihren so ähnlich ist, streichen, aber die Hand zuckt immer wieder zurück. Das bin gar nicht ich, das ist eine Puppe, ja, ein Stück Eisen. Totmann!, Totmann!, riefen die Mädchen und hopsten auf meinem Körper herum. Papst Gregor IX. drehte sich wortlos zur Wand und starb. Grub sich ein, die Welt im Rücken. Ist da ein Weg? Bevor jemand stirbt, rauscht es im Laub; hast du den schrillen Vogelschrei nicht gehört, das Flüstern von Stimmen um drei Uhr nachts heute? Hilfe!, es kommt keiner, die Ärzte haben die Klingeln abgestellt. Du stehst mit wild klopfendem Herzen neben dem Toten, du siehst dir seine Fotos an, Postkarten (einige hast du ihm selber geschrieben), geheime Briefe, und erschrickst von Zeit zu Zeit über die dort unter der Lampe am Kopfteil des Bettes sich verhärtenden Züge.
Ich spiele mit Line im Bett, wir kitzeln uns gegenseitig. Glücklischsoin!, lallt der Opa vor sich hin, der mit frischen Brötchen wieder zurück ist und pfeifend, türenknallend die Treppe hochstapft. Krebsrotes Gesicht. Sein Tod wäre ein Lichtblick heute. Im gleichförmigen Rauschen des Verkehrs kreischen hier und da Rolläden hoch. Immer mehr Sonnenflecken auf meinem Bett. Du siehst blöd aus beim Schlafen. Ich mal jetzt eine Sonne mit schwarzen Strahlen. Vorhin beim Aufwachen das Gefühl, als würde mein Gesicht vom Strahl einer Taschenlampe abgetastet. Alles Licht sammelte sich in den Augenhöhlen. Zwei Wachskerzen, flackernd im Muff einer Krypta. Totenleuchten auf Gräbern im Winter. Halbschlafbilder, sie ziehen mich an und stoßen mich ab. Ein Fremder setzt sich an meinen Tisch unter die Lampe, wirft Gläser, Teller, Besteck in die Ecke, ohne mich anzusehen. Auch eine Frau sitzt da, den Rücken mir zugewandt. Panische Angst. Einmal in ihr dickes Haar fassen, ihr den Schwanz reinrammen! Jetzt bin ich unter Wasser. Abgetrieben. Halt die Luft an! Ein sich langsam abrollendes weißes Tau. Blut tropft aus meinen Ohren. Ein Riß. Kleine Würmer schlüpfen, bevor ich sie zerquetschen kann, zwischen meinen Fingern hindurch, unter die Kopfhaut des Kindes. Ich renne aus dem Traum heraus. Stemme mich vorsichtig am Bettrand hoch und schwanke auf die Tür zu. Line malt, auf dem Boden kauernd, Katzen. Die sieht wie ein Ochs aus, Pappel, die kannst du haben.
Das da im Spiegel soll mein Gesicht sein, fremd vor Angst? Tränende Augen, verklebt, mit Fliegen drumrum, blinzeln mich an. Die Schmerzen sind weg. Uralter Fußpilz, juckender Käs zwischen den Zehen. Schuppige Haut. Platanenrinde. Wie abgeschält. Mit befeuchteten Fingern die Augen ausreiben. Tiefe Abneigung gegen Wasser. Der Badezwang in der Kinderklinik, wo ich darmkrank mein erstes Lebensjahr zubrachte, wo ich auch später noch häufig eingeliefert wurde, weil sich zu Hause niemand um mich kümmern konnte. Morgens um halb sechs wurden wir wachgerüttelt. Ich blieb noch etwas liegen mit geschlossenen Augen, hörte Anweisungen der Schwestern, Geräusche von Gläsern, Schläuchen, Scheren. Das rohe, schmerzhafte Eindringen des Fieberthermometers in den After. Schrie auf. Stolperte, noch warm vom Schlaf, ohne Frühstück durch verwinkelte Gänge in den Baderaum, wo lauwarmes Wasser schon in die rostigen Wannen klatschte. Halbdunkel. Überall Chlor, ein Geruch, der mir noch in der Erinnerung eine Gänsehaut macht. Ich wasche mich selten, liebe meine Ausdünstungen, gierig schnüffelnd, graue Unterwäsche, das fröhliche Plätschern der Pisse, ein klebriger Beckenrand, Rotz und Haare im Abguß.
Wie ich dastehe, an die Wand gelehnt. Körperloses Wesen? Diese Kälte, die manchmal von mir ausgeht, meine verletzende Distanz. Die Eigenschaft, abwesend zu sein, wenn Frauen mit spitzen toten Gesichtern mich anreden oder wie dicke Kinder einfach dahocken. Wegsehen, weghören, mich ganz in mich zurückziehen und den andern nur noch böse beobachten. Kopfschmerz vortäuschen und dabei wirklich Kopfweh bekommen. Kindhaft unzuständig sein. Braucht das eine Erklärung? Muß ich mich entschuldigen? Ich wollte es lange nicht wahrhaben, erst jetzt, schreibend, wird es mir hell: meine Mutter, in ihrer bürgerlichen Bequemlichkeit von mir gestört, wußte mit dem kranken Säugling nichts anzufangen, schob den unehelichen Sohn in ein Kinderheim ab, dann in die Klinik, lieferte ihn während der ersten Lebensmonate der Routine von Krankenschwestern aus, später wechselnden Kindermädchen, die ihn quälten. Damals wie heute: ein Gefühl absoluter Verlassenheit, Hilflosigkeit, Leere. Die Liebe meiner Mutter zu mir, in krankhaft egoistischer, mich fast zerstörender Ausschließlichkeit, setzte erst ein, als ihre eigene Mutter tot im Klo lag. Sie drückte mich heftig an sich und weinte. Jetzt hab ich nur noch dich.
Acht Uhr. Ich ziehe sämtliche Rolläden hoch und blicke auf die Straße. Die Angestellten eilen aus ihren Haustüren mit vom heißen Kaffee verbrühten Hälsen, jeder in sein Auto rein und ab ins Gefängnis. Gestern habe ich nach Jahren Alfger wiedergetroffen, vor seinem Haus über den Kofferraum eines roten Ford gebeugt, eine breite, bunte Krawatte um den sehr langen Hals gebunden, flottes Jackett, unmögliche rotbraune Hose. Ein Gesicht wie lange Zeit hinter Gittern. Er könne nicht länger zwei Haushalte finanzieren, darum sei er jetzt von seiner Freundin weggezogen und wohne wieder bei seiner Frau. In stilisiertem Pfälzisch: heute ist Feiertag, ich gehe mit meiner Freundin in die »Meistersinger« nach Mannheim. Während wir sprachen, sah ich durch den Vorhang zwischen den Kinderzeichnungen hindurch, die an den Fensterscheiben klebten, seine Alte. Sie blickte mich böse an, während Alfger, Walther von Stolzings Preislied pfeifend, in seinen Ford stieg und sehr langsam, wie um sie zu quälen, davonfuhr.
Zur Schulzeit sind wir, zwei Außenseiter, fast täglich beisammen gesessen und haben uns Stücke von Sartre vorgelesen, kein Lehrer war vor uns sicher. Morgens vor der Schule haben wir Zeitungen ausgetragen. Die farbigen Fliesen der Hauseingänge, der muffige Geruch schlafender Treppenhäuser um Fünf, plötzlich setzt das Ticken des Stromzählers ein. Winters die Finger zwischen die warmen, streng riechenden Zeitungen gesteckt. Die Zeitung mit Schwung unter der Tür durch, ein schleifendes Geräusch. Es schnarcht aus offenen Fenstern, durch geschlossene Wohnungstüren und aus den Verschlägen der Hinterhöfe, wo es nach Abfällen, verfaultem Essen stinkt. Ich eile mit angehaltenem Atem vorbei, in frühlingshaft warme Luftschichten, die Vögel schreien, ich schreie Gedichte, die Sonne geht auf. Im Schutz der Dämmerung allein vor mich hingehend, sah ich eine andere Welt, eine andere Lebensform, nicht die des bürokratisch geordneten Tagewerks der Schulen, Büros und Fabriken. Bevor die lebenden Toten ihre Häuser verließen, gehörte die Weststadt mir. Die Leinentasche mit den letzten Zeitungen leicht über der Schulter, kaufte ich mir frische Brötchen und ging mit ihnen und der Zeitung statt zur Schule ins Bett, wo ich bis in den Nachmittag hinein vor mich hindöste. Wieviel Zeit du zu verlieren hattest, ein ganz unbestimmtes Warten, worauf? Am nächsten Morgen hörte ich Alfger einige Straßen entfernt, lange bevor ich ihn sah, den Radetzky-Marsch pfeifen. Mit surrendem Dynamo und von der Last der Samstagsausgaben fast platten Hinterreifen schlingerten unsere Räder aufeinander zu. Wir schulterten unsere Taschen und gingen in verschiedene Richtungen auseinander, überzeugt, daß bald ein heißes Leben beginne, »voll Seligkeit und Unruhe« (Stifter).
Meine Jugendfreunde, wie sie, Rücken krumm, an mir vorbeiblicken und das abgeschnittene Gras zusammenrechen, als gäbe es nichts Wichtigeres. Noch vor zehn Jahren: dieser leichte, rhythmische Gang durch die Straßen, voller Begeisterung, zusammen mit vielen anderen, die mir einen Augenblick lang weniger fremd vorkamen. Was ist mit uns geschehen, wie sehen wir aus? Fettansatz, graue Bartstoppel. Eine Familie, ein Auto, ein Beruf, eine Ferienreise. Der Sportteil der Zeitung. Das, was wir abschaffen wollten, das zerstückelte Leben. Damals. Vorbei. Ich suche unterm Bett nach den Pantoffeln, sammle Staubflusen auf. Heulen? Weiterwurschteln. War unser Haß zu schmal? Sei doch vernünftig. Artaud SCHRIE ohne Erbarmen mit sich selbst, als er erkannte, daß das normale Bewußtsein KRANK ist. Er mußte dafür bezahlen mit Elektroschocks; neun Jahre Irrenhaus. Als sie ihn rausholten, war sein Leib voller Geschwüre. Darmkrebs. Die herrschenden Gauner nicht aus dem Blick lassen, sage ich langsam am Fenster.
Keine Freunde mehr. Viele Leute, die mit mir telefonieren, weil sie mich für ihre Projekte brauchen (ich sie für die meinen). Zweckbündnisse, ohne die es weder die Stadtzeitung noch den Verlag gäbe. Mein Interesse an eigenen Institutionen, seien sie auch noch so klein. Aber wohin, wenn ich sprechen muß? Von wem Geld borgen, ohne mich gedemütigt zu fühlen? Wo unterkriechen im Alter? Mit Klaus etwa (ein Blutstropfen fällt aus meiner Nase aufs Papier, direkt auf deinen Namen) habe ich längst aufgehört zu reden, wir schieben nur noch Phrasen hin und her, unsere Kinder auf dem Schoß, hinter denen wir uns verbergen. Vor ein paar Jahren war er noch unzufrieden mit sich und allem, reizbar, heute erscheint er mir manchmal wie sediert. Juristenberuf, Konsumalltag, im Garten kratzen, Farbfernsehen. Die ungelesenen Zeitungen stapeln sich. Früher hat er die Gesten seines Vaters selbstquälerisch nachgeäfft: so wie der werde ich auch einmal glatzköpfig und stumm zwischen den Blumen stehen, vom Büro kommend sogleich in den Garten flüchten vor meiner Frau; ich werde in sämtlichen Winkeln des Gartens gleichzeitig Beete anlegen, wovon keines je fertig wird. Als Klaus mir vor ein paar Tagen verlegen mitteilte, ich könne nicht in sein neues Haus einziehen, seine Frau habe leider anders disponiert, hat mich das so betroffen gemacht, daß ich ihm sofort das Wort abschnitt. Obwohl ja die emotionale Nähe der Kinder- und Jugendzeit einer unverbindlichen Freundlichkeit gewichen ist, linkischen Höflichkeitsgesten, aus denen ich ihn durch keine Provokation mehr zu befreien versuche. Ich habe dich aufgegeben, weil du unfähig bist, mit dir selbst etwas Sinnvolles anzufangen. Und er fühlt sich von mir beobachtet, ahnt, was ich denke, während er eins wird mit seinem Klischee. Als meine Mutter gestorben war, früh morgens rief ich ihn an, niemand sonst ist mir eingefallen, er kam sofort. Unsere Kunstreisen, Theaterbesuche, lange Gespräche, Sommernächte unterm Kirschbaum im Garten, auf Parkbänken, ich rezitierte Villon und Shakespeare in Kinskis Manier bis zum Morgen, wir wollten nicht werden wie unsere Alten, du warst in der undankbaren Rolle des stillen Vertrauten und Helfers, einfühlsam, selbstironisch, ein Zauderer, während ich mit großen Gesten Unruhe in dein Leben brachte, das damals zu einem Teil aus der Freundschaft zu mir bestand.
»Nun will ich sein / ein Bräutigam dem Tod…« (Shakespeare) War deine Mutter deine Frau?, fragt mich das Kind. Sie hatte schöne, klare Gesichtszüge, dunkelbraunes, halblanges, leicht gewelltes Haar, eine sanfte, dunkle Stimme. Ich sehe sie immer dasitzen in ihrem Biedermeiersessel, gepudert, geschminkt, in einem hellgrauen Flanellkostüm, eine goldene Krawattennadel am Seidenhemd, die Beine übereinandergeschlagen, während sie eine Patience legt. Sehr schlank, scheu, mädchenhaft noch im Alter, ungläubig darüber, daß das Leben schon an ihr vorbei sein sollte, unwiderruflich. Ihr plötzliches Einschlafen abends beim Zeitunglesen auf der Couch mit zurückgeneigtem Kopf, noch in Kleidern, das Licht brannte, die »Abendpost« war ihr aus den Händen gerutscht, ich näherte mich ihr auf Zehenspitzen mit angehaltenem Atem, bis ich ihren Atem hörte, ihre Brust sich heben sah.
Langes Kacken unter Stöhnen und Grunzen. Eine Wurst weicher als die andere klatscht in die Schüssel. Was für spitze, weiße Knie ich hab. Die Hämorrhoiden. Reißen auf. Scheiße und Blut. Aber erleichtert. Gleich wegspülen, Fenster auf, mit der Bürste nachschrubben, Arsch wischen, wegspülen, Hände waschen, uff. Ein Schweißfilm auf der Haut. Eingefallene Wangen, verkniffener Mund, Haare strähnig. Jetzt könnte ich mich erdrosseln, sofort. Die Schlafanzugjacke klafft auf, paar kümmerliche Haare zu sehen. Wieso schwimmen rosa Gummihandschuhe in der Badwanne? Ein senkrechter Roststreifen. Das zerknüllte Handtuch auf der Heizung, die Schweißspuren meiner Finger auf dem Zahnglas, JACUTIN speziell gegen Läuse. Hat nichts zu bedeuten. Ich staune über Leute, die im Klo lesen können. Einigermaßen lustvoll kann ich nur zu Hause kacken, wenn ich sicher bin, daß niemand zuhört oder plötzlich an der Tür rüttelt oder unmittelbar nach mir in den Gestank reinläuft. Peinlich, jemandem vor öffentlichen Scheißhäusern zu begegnen. Geräusche aus der Nebenzelle machen mich panisch. Ich stelle mich tot, bemühe mich, mit dem Papier nicht zu rascheln, und ziehe die Hosen langsam rauf, drücke dann heftig die Spülung und eile nach draußen.
Nackt vorm Spiegel. Altmännerkörper, ledern, sehnig. Das Bild vom sterbenden Cato; grauweißer Leib, Arme und Hals braun, langgezogener Hodensack, ein Ei baumelt etwas tiefer. Haarbüschel wachsen aus meinen Nasenlöchern hervor. Die Kopfhaut juckt bis zum Nacken. Doch Läuse? Nach heftigem Kratzen: Schuppen unter den Fingernägeln, Uringeruch (meiner; fremde Gerüche im Klo ekeln mich an). Eine feine Spur Scheiße in der Unterhose. Ich könnte mal wieder die Wäsche wechseln. Nein, nicht rasieren. Vorsichtig waschen. Der Lappen ist an seinem Haken eingetrocknet, er knackt beim Anfassen. Line taucht ihn ins Wasser. Jetzt wunderst du dich, Lappen, ruft sie ihm nach.
Ab in die Küche. Riecht gut: frische Wäsche. Dem Nägele seine Eier sind soo groß (Line zeigt etwa 50 Zentimeter), ich mag nicht soo große Eier essen. Babbel nicht soviel, ich hab soo´n Kopp. Will jemand Kuchen? Milch, Papli, Milch! Der Hund schreit im Garten, hol ihn rein. Willste warme oder kalte Milch? Lieber Saft. Langer, strafender Blick auf das Kind. Dann wird Müsli gegessen, was Nahrhaftes. Zum Brötchenholen bin ich zu krank. Ich setze Kaffeewasser auf, ziehe einen Topf für die Eier aus dem Abwaschberg, schrubbe ihn notdürftig sauber und stelle ihn auf den Herd. Ich wische die Krümel vom Tisch, lege die verhutzelten Äpfel und die schwarzen Bananen beiseite. Es stinkt angebrannt. Der Haferflockenbrei, den ich mir morgens vor der Schule aufwärmen mußte, auf einem vom häufigen Überlaufen der Speisen schwarzen Elektrokocher, war steif wie Pudding, mit ekelhaften Klumpen drin und meistens angebrannt. Ich würgte ein paar Löffel herunter, so hielt er tagelang vor. Du hasts gut, Line. Wo ist mein gelber Löffel? Kannste nich mal n roten nehmen? »Wie der Teufel es will, ich bin so verliebt, Maria Magdalena…« Der schwule Gott aus Prag. Hier ist der Sender Frieden und Fortschritt. Jetzt Sigi und Waldemar, die jeden Morgen um diese Zeit tränenerstickte Muttis aus dem Schwäbischen an der Strippe zappeln lassen. In klitzekleine Stücke zerhacken! »Mädchen mit den heimlichen Träumen: ich mach sie wahr…« Diese Mischung aus Schauder und Lust, während Line die Sender verstellt. Immer von neuem erschreckt über die Schamlosigkeit des Apparats und derer, die ihn bedienen, mich eingeschlossen, das kulturkritische Geschwätz. Der Autor sollte bedenken. Alles Gute für Ihr Kind: Alete. Damit grüße ich die hübschen Mädchen im Radioland draußen, tschüß und bye bye bis morgen, Ihr Mike. Nach dem Wetterbericht erwartet Sie Sally mit volkstümlicher Musik. Hallo!
Blick aus dem Küchenfenster: der Briefträger war schon da. Im Kasten Werbezettel von fünf Supermärkten. Die Rechnungen und eine Mitteilung des Finanzamts lege ich ungeöffnet auf Karins Schreibtisch. Raoul schickt eine Postkarte mit Blick auf das schöne Oberhausen, in his flying highness, lauter Traumtypen hier bei den Kurzfilmtagen, brühwarme greetings. Ein Heldenleben. Der Kanzler der Universität weist mich »ausdrücklich« darauf hin, daß ich mit meinen Lehrveranstaltungen nicht anfangen darf, bevor meine Verfassungstreue erwiesen sei; dabei sei es unerheblich, ob ich mit oder ohne Vergütung lehre. Achtungachtung, hier betreten Sie die grundrechtsfreie Bananenrepublik Heidelberg! Mich »sogenannten Autor« »barfuß aus der Gemarkung jagen«. Meine Heimatstadt, Pflasterstein, Pflasterstrand. Oh, meine Nieren, sehr geehrte Herren, mein Haß.
Wäff! Der Hund jault unterm Tisch hervor. Ich füttere ihn mit süßlich riechender Truthahnwurst. Die Eier tanzen im Topf, weiße Schaumberge auf dem sprudelnden Wasser. Wer kriegt das geplatzte Ei? Du natürlich, Papli. Heute ist Vatertag. Die Milch fällt klumpenförmig aus ihrem Behälter in den Kaffee. Ich schütte alles ins Klo, spüle runter, wische mit der Bürste nach. Sind auch Sie von ARIEL so begeistert? Das Kind mag nichts mehr essen. Noch drei Löffel, sonst verhungerst du. Zum Frühstück gibts kein Eis. Infantile, mich ausschließende Laute: is bin ein Hama. Die Sprache der Schlümpfe erforschen. Wo hast du deinen Sonnenhut hingeschlampt? Schmale, pfriemlige Augen; sollte eigentlich Mittagsschlaf machen. Ja, du Kanonenarsch, Saft! Ich taste die rechte Nierenpartie mit den Fingerspitzen ab. Mir tut das Aufstehen weh, hol dir selbst deinen Saft. Wann kommt die Mammel? Vielleicht heute abend. Guck mal, was ich gemalt hab. Du bist ja n großer Künstler, heuchle ich. »Komm mit in mein Wigwam, Wigwam, ruh dich bei mir aus…« Dafür haben sie dem geschminkten Leichnam eine Platinschallplatte verliehen. Ein Albino, hat garantiert rote Augen hinter den schwarzen Gläsern. Könnte ich sie ihm abnehmen, käme ein staubiger Bäckergeselle hervor. Nein, ich mal jetzt keine Hasen.
Vor mir eine große Schüssel voller Sauerkirschen, von Karin im Handschuhsheimer Feld gehamstert. Ich und auf Bäume klettern. Da ist der neue Entkerner. Mach dir Musik an, sprach Karin, bevor sie verschwand, und arbeite, in der Fabrik hättest dus schlechter. Saubermachen könntest du auch mal wieder. Einlegen – durchstoßen – ablegen. Guck mal, ein kleiner weißer Wurm zappelt im Fruchtfleisch. Wollen wir die Babies grillen? Schmecken auch roh nicht schlecht, ähnlich wie Maikäferköpfe. Heiko, der heute für die CDU im Stadtrat sitzt, fraß sogar ganze Maikäfer für nur zehn Pfennige. Und Regenwürmer. Ich schlitzte lebendigen Kröten den Bauch auf mit ner Nagelfeile. Du lügst. Einlegen – durchstoßen – ablegen. Saftspritzer auf meinen nackten Oberschenkeln und der frischen Unterhose. Oh, diese Oldies. Aber bei Hindemith im zweiten Programm klappt der Rhythmus nicht. »Es wuchsen über Nacht drei rote Rosen…« Sieht aus wie Blut aufm Tisch, kleine Seen, es tropft die Guillotine herunter. Machen Sie mit bei unserem Streichel- und Schnuppertest. Was isn das? Der Hajo hatn schönen Körper, gestern im Feld beim Grillen gemerkt, als er lange ganz ruhig überm Feuer stand und eine Schnake zerquetschte. Sicher zehn Zentimeter größer als ich und längst nicht so dürr. Kann gut kochen und mit den Kindern basteln. Der erste, der sich auf die Frage nach seinem Beruf Hausmann nannte. Wär nix für mich, obwohl ich ja auch nichts anderes bin: einer, der tagsüber im Haus herumlungert. Nur fehlts mir an Demut, ich hab nicht zu schweigen gelernt, will immer noch Mittelpunkt sein.
Wieder Stiche im Schwanz, heftiger werdend im Rhythmus des Atems. Ohgott, mach, daß es eine Erkältung ist! »Der Nierenstein und der Stein, den du in die Kommandozentrale des Kapitals wirfst, sind identisch« (Sozialistisches Patientenkollektiv). Das mag ja, was die gemeinsame Ursache von Krankheit und Militanz angeht, zutreffen. Aber wer leidet, sammelt gewöhnlich keine Steine auf, schmiedet keine Waffen, ist einsam, hat Angst, starrt in sich hinein, betet, schreibt. Vertraut den Ärzten, fügt sich ein in die Gemeinschaft der Kranken. »Gehn sie aus vom Stadtpark die Laternen, bleibt uns zwei der Sternenschein.« Ich schütte die entkernten Kirschen in einen großen Topf, lasse Gelierzucker drüberrieseln, und weiter: einlegen – durchstoßen – ablegen. Schau mal. Line preßt zermampftes Brot in Wurstform aus dem Mund. Was schreibst du denn da rein in dein Buch, was über mich? »Einmal verliebt, immer verliebt, weil es im Leben doch nichts Schöneres gibt…« Peggy March in hohen Stiefeln und kurzem, weißem Spitzenkleid. Langes Blondhaar, aufdringliche Stimme und Gestik, ihr großer Mund, der Rhythmus zum Mitklatschen, meine Knie zucken. Zitrusduft breitet sich in der Küche aus. Die Schmusewolle mit dem Weichpfleger. Blaublühender Lippenblüter: Lavendel. Hol mir mal n Lappen, Himmelarsch!, du kannst auch mal was für deinen Vater tun. Heb die Kirschsteine auf. Spiel nicht Sterbender Schwan. Es ist fünf Minuten vor Zehn bei Südwest International. Heiß heute, was?
Bissel den Küchenboden kehren und aufwischen. Unter meinen Füßen verschmierter, angetrockneter Kirschsaft. Ich höre Karin heimkommend sagen: tu dies tu jenes steh nicht so rum frag nicht so blöd ihr Kopfwesen mach doch dem Kind sein Müsli Line mußt du den Stuhl umwerfen los aufessen noch fünf Löffel ich brauch jetzt drei Minuten meine Ruhe guck mich nicht so vorwurfsvoll an die Kakerlaken müssen weg ich habe alles Eßbare fortgeschmissen so ein Saustall da krabbeln die Mücken in den Obstflecken rum und du stehst daneben und kommentierst dein dummes Geschwätz jetzt kann ich Xanthippe verstehen du Besserwisser wenn alles schon passiert ist eine Putzfrau muß her was heißt da ideologische Sperre es ist nur Geiz hast du meine Brille gesehen Mummel hau ab der Köter hängt überall seine Nase rein wo sind jetzt wieder die Schlüssel ich will einen ganzen Tag lang meine Ruhe haben statt dessen werde ich in deinem Buch verewigt als Drache ich laß mich scheiden dann machs doch gleich richtig daß du nicht selber aufräumen kannst wir sind nicht deine Ärsche genau wie ihr Alter überleg doch mal wo die Stifte liegen ja wo fliegt denn dein Zeug immer rum heiß heißer wird wieder kalt die hat es ja längst schon gesehen scheinheiliges Ding nein nicht reinkommen weil ich grad kacke was kann denn ich dafür wenn mir das Vieh hinterherläuft jetzt keine Lust zu reden will auch keine Gedichte hören also wo ist die Verschraubung der Flasche da liegt sie ich schlag dir die Hos um die Ohren alles zwanzigmal babbeln gib deinen Rüssel her rotz runner los müssen wir uns immer so streiten.
Bloß weil Karin nicht einfach dasitzen kann und in die Sonne blinzeln (es als Kind nie durfte), werden Kind, Haus und ich, sobald sie hier ist, zu einer Menge wichtiger Hausarbeiten organisiert, bei deren Bewältigung sie selbst nicht selten zuerst versagt. Sobald ihr nämlich ein unbedeutender Fehler unterläuft und sie sich dabei von mir ertappt fühlt, macht sie sogleich einen weiteren Fehler, und so fort. Ich koste das aus, weiß sowieso hintennach immer alles besser. Dieser seltsame Hamstertrieb aus der Nachkriegszeit, wenn eine bestimmte Ware einmalig und massenhaft zugeteilt wurde und die ganze Familie nun das Zeug bearbeiten und in verschiedenen Erscheinungsformen wochenlang bis zum Erbrechen aufessen mußte, »damit nichts verkommt«. Hier kleben jetzt Boden, Tisch, Stühle, Herd, Töpfe, unsere Körper und Kleider, das Hundefell, Fensterscheiben und Türklinken vom Saft der Sauerkirschen, wir haben uns angebrüllt, Türen zugeknallt und etwa zwanzig Marmeladengläser gefüllt, aus denen wir jahrelang frühstücken können. Ich wische mit einem Geschirrtuch pedantisch den Boden auf. Der Hund blickt mich unterm Tisch erstaunt an, schnopert mit feuchter Nase mein Bein ab. Packs! Leids nit! Das Krabbelzeug am Boden: er beachtet es nicht.