Alles
beginnt
mit der
Sehnsucht
IMPULSE FÜR SINGLES IM ADVENT
stell dir vor, du nimmst dir im Advent jeden Tag ein paar Minuten Zeit, um innezuhalten. Du lässt das Umtriebige einen Moment ruhen und richtest den Blick auf das, was für dich persönlich wesentlich ist. Du setzt in die Tat um, wonach du dich sehnst: etwas zur Ruhe zu kommen. Dieses Buch begleitet dich mit seinen 24 Impulsen. Es bahnt einen Weg in die Tiefe und regt zu kleinen Experimenten an.
Ein Thema, das ich dabei immer wieder aufgreifen und entfalten möchte, ist die Sehnsucht, die jeder Mensch kennt. Ich meine damit die Sehnsucht nach Zufriedenheit, nach einem Leben, das nicht oberflächlich ist, welches ich gestalten darf und das hoffentlich auch für andere eine Bedeutung hat.
Der Hintergrund, auf dem meine Gedanken und Einsichten entstanden, sind Gedichte, die Kunst und die kontinuierliche Auseinandersetzung mit mir selber. Es sind zudem der Reichtum der christlichen Tradition und die Bibel. Viele meiner eigenen Fragen haben – nicht zuletzt aufgrund des Weihnachtsfestes – Antwort gefunden. Ein unverlierbarer Schatz ist daraus entstanden. Diesen teile ich gerne.
Vielleicht ist es ein Stuhl in meiner Wohnung, der in dieser Adventszeit den Namen »Sehnsucht« bekommt. Vielleicht entdecke ich in einer Kirche einen Platz, wo ich gerne verweile und die Fühler zu meiner Tiefe ausstrecke. Vielleicht finde ich einen vertrauten Menschen, mit dem ich mit diesem Buch durch den Advent gehen möchte.
Ich habe mich während des Schreibens an diesem Buch mit verschiedenen Allein-Stehenden oder Singles getroffen und bat sie um Austausch. Wir erzählten einander, wie wir Advent gestalten, Weihnachten erleben und was sich im Lauf der Jahre verändert hat. Das waren wunderbare Abende. Mit anderen hatte ich Mailkontakt und bekam wertvolle Hinweise.
Eine besonders große Arbeit machte Winfried für mich. Er las und kommentierte das Manuskript sorgfältig und kritisch. Ich danke ihm, Madeleine, Gabi, Ruth, Barbara, Lea, Sabine, Philipp und Stephanie für die Offenheit. Uns verbindet die gemeinsame Freude, für Singles etwas beitragen zu dürfen. Diese Begegnungen und Gespräche verstärkten die Empfindung der Solidarität und der Nähe zu den Singles. Ich entschied mich deshalb, das Buch in der Du-Form zu schreiben.
Dieses Buch widme ich D., einer allein-stehenden Frau, für die die Advents- und die weihnachtlichen Festtage jedes Jahr eine enorme Herausforderung bedeuten.
Hildegard Aepli
1. Tag |
Alles beginnt mit der Sehnsucht – diesen Satz von Nelly Sachs entdeckte ich vor Jahren. Er brannte sich mir ein und gehört seither zu meinen »Lebensmitteln«. Worte können Nahrung sein wie Brot. Sie können das Überleben sichern. Die Dichterin schreibt, dass jeder Anfang mit Sehnsucht zu tun hat. Ihre Aussage ist nicht vage oder als Möglichkeit formuliert. Sie sagt: alles! Ihr Satz beansprucht Absolutheit. Wo jemand neu, ganz und wesentlich werden möchte, ist Sehnsucht im Spiel. Was wirklich beginnt, neu beginnt, wieder beginnt, ist mit der Sehnsucht nach mehr Leben, nach größerer Fülle verbunden.
Lies das ganze Gedicht, das jemand Unbekanntes, ausgehend von der Zeile von Nelly Sachs, geschrieben hat, in Ruhe. Vielleicht ist ein Satz dabei, der dir heute zum »Lebensmittel« wird.
Alles beginnt mit der Sehnsucht,
immer ist im Herzen Raum für mehr,
für Schöneres, für Größeres.
Das ist des Menschen Größe und Not:
Sehnsucht nach Stille, nach Freundschaft und Liebe.
Und wo Sehnsucht sich erfüllt,
dort bricht sie noch stärker auf.
Fing nicht auch deine Menschwerdung, Gott,
mit dieser Sehnsucht nach dem Menschen an?
So lass nun unsere Sehnsucht damit anfangen,
dich zu suchen,
und lass sie damit enden,
dich gefunden zu haben.
Die Sehnsucht ist eine Grundkraft im Menschen wie Hunger und Durst oder das Verlangen nach etwas, nicht nur im leiblichen, sondern im ganz existentiellen Sinn: Hunger und Durst nach erfüllter Beziehung, gelingendem Leben, Stille, Einfachheit, Ordnung, Gott ... Menschen sind Wesen der Sehnsucht. Die schmerzliche Erfahrung, dass sich unser Glück nie ganz verwirklicht, begleitet unser Leben. Wo die Sehnsucht sich erfüllt, bricht sie noch stärker auf. Jedes Mal trägt sie einen neuen Wunsch in sich. Wir wünschen uns, ganz anzukommen, ganz eins zu sein – für immer aufgehoben, geborgen, geliebt. Sehnsucht ist der Boden jeder Menschwerdung. Gott selbst sehnte sich nach dem Menschen. Er selbst sehnte sich danach, Mensch zu werden.
Die Tage des Advents bieten sich mit Blick auf Weihnachten an, die Sehnsucht nach dem eigenen Wesen, der eigenen Wesentlichkeit wahrzunehmen und wahrzuhaben.
Macht der Umstand der unerfüllten Sehnsucht für Singles den Advent zur größeren Herausforderung?
Bricht in diesen Tagen der Schmerz des Allein-Seins mehr auf?
Wird mir in dieser Zeit das Fehlen eines Du besonders bewusst?
Oder ist es eher das Weihnachtsfest, bei dem ich so empfinde?
Es ist für Singles fatal, die Sehnsucht mit Zudecken, Wegarbeiten oder Verdrängen zu beantworten. Das würde aktives Unterbinden der eigenen Lebendigkeit, Sich-Abschneiden vom Größeren, Schöneren, von der eigenen Menschwerdung bedeuten.
Ich schaffe mir in meinen vier Wänden einen Platz, der den Namen Sehnsucht erhält. Hier gestalte, schreibe, sammle, hänge ich auf … Vielleicht ist es auch ein bequemer Stuhl, der während der Zeit des Advents den Namen »Meine Sehnsucht« erhält. Ich schaue, welche Geschichte mir erwächst, wenn ich mich bis Weihnachten täglich ein paar Minuten auf ihn setze und meiner Sehnsucht erlaube, zu mir zu gehören.
2. Tag |
Gedichte haben für mein Leben eine wichtige Bedeutung bekommen. Es begann damit, dass ich entdeckte, wie einzelne Verse oder Worte meine innere Welt ansprachen. Ich fühlte mich erkannt und verstanden. Einer dieser Sätze taucht immer wieder auf. Interessanterweise findet er sich am Anfang der Adventsgedichte von Rainer M. Rilke:
sehnsuchtgeweiht
durch alle Tage
schweifen …
Das Wort »sehnsuchtgeweiht« packte mich. Es gefällt mir noch immer. Ich spüre es geradezu auf meiner Zunge zergehen: mich meiner Sehnsucht hingeben, meiner Sehnsucht geweiht sein, mit ihr umherschweifen, von meiner Sehnsucht aus das Nächste, die Dinge, die Menschen, die Natur betrachten. Ich stelle fest, wie sich die Beziehung zu allem dadurch veränderte und noch verändert – wie verwandelt, intensiver, weiter, beglückender ich mein Leben aus diesem Blickwinkel wahrnehme.
»das Offensichtliche zu ignorieren und an etwas Größeres und unendlich Schöneres als das real Sichtbare zu glauben«