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Elias Schneitter

Zirl.Innweg 8

Erzählung

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Elias Schneitter, geboren 1953 in Zirl, lebt ebendort. Im Kyrene.Literaturverlag von ihm erschienen: „What’s nude?“, Gedichte; „Venedig“, Roman; „Zu guter Letzt“, Erzählungen.

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung

1. Auflage 2013

Für Marlene & Klaus

Inhalt

Inhalt

Wir hatten auch eine sehr unbeschwerte Kindheit. Ich bin am Innweg, Hausnummer 8 aufgewachsen. Der Innweg – gut einen halben Kilometer lang – verläuft parallel zum Ehnbach, ebenso wie der Sportplatzweg auf dessen anderer Seite. Das gesamte Gebiet wird auch das Äuele genannt. Früher war das ein ungenutztes Gebiet, wo Erlen, Weiden und Föhren wuchsen und gediehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in den Fünfzigerjahren, wurde diese Gegend aufgrund eines Gemeinderatsbeschlusses beiderseits des Ehnbachs gerodet und zum Siedlungsgebiet umgewidmet. So konnten Bauwillige, zumeist junge Familien, zu günstigen Bedingungen hier ihre Einfamilienhäuser errichten. Das Ganze hatte aus der Sicht der Gemeindeväter den Vorteil, dass einerseits kein wertvoller Kulturgrund für eine Siedlung verwendet werden musste und andererseits den Häuslbauern günstiger Baugrund zur Verfügung gestellt werden konnte. In der Folge siedelten sich im Äuele einfache Leute mit ihren Familien an. Maurer, Tapezierer, Post- und Bahnangestellte, Bauhilfsarbeiter, Elektriker et cetera. Ja sogar mein Großvater, ein einfacher Krippen- und Kruzifixschnitzer, erwarb einen Baugrund und begann mit einem Hausbau.

Den größten Teil meiner Kindheit habe ich bei meiner Großmutter verbracht, wodurch mir das große Glück beschieden war, neben dem Ehnbach, einem zwar etwas eingedämmten, nichtsdestotrotz rauschenden Wildbach aufwachsen zu dürfen. Ein ganz großes Geschenk, allein wenn ich heute – so viele Jahrzehnte später – an die Melodie des Wildbachs denke, die wir jeden Abend im Bett genießen konnten. Ich erinnere mich noch gern an dieses Rauschen, dieses Plätschern, wenn ich wach im Bett neben Oma lag. Im Zimmer war es still, nur der Ehnbach erzählte ohne Unterlass seine Geschichten: im Sommer nach heftigen Gewittern dieses gewaltvolle Donnern und Wüten; im Winter, wenn er zugefroren war und wir das Knacken des Eises vernahmen; im Herbst, wenn er gemächlich vorbeiplätscherte und an die Erzählweise eines besonnenen alten Menschen erinnerte; oder im Frühjahr, wenn das frische kühle Bachwasser die Düfte und Gerüche der erwachenden und wachsenden Natur verstärkte und diese zu uns ins Schlafzimmer drangen. Denn Oma und ich schliefen, wenn es nicht zu kalt war, bei offenem Fenster, und das nicht nur wegen der frischen befreienden Luft, sondern vor allem wegen der wohltuenden, beruhigenden Kraft des Ehnbachs, diesem wunderbaren Mysterium. Ja, der Ehnbach war für uns eine Quelle des Wohlbefindens und viele, viele Jahre später, als mein Onkel Albert und seine Frau Theresa das Haus bewohnten und mein Onkel gesundheitlich bereits schwer angeschlagen war, ließ er es sich doch nicht nehmen, einen kleinen überdachten Zubau anfertigen zu lassen, wo er Stunden und Tage auf einer Couch liegend verbrachte, um das Rauschen des Bachs in sich aufzunehmen und darin regelrecht aufzugehen.

Wie bereits erwähnt, war auf der anderen Seite des Ehnbachs der Sportplatzweg, der diesen Namen logischerweise deshalb verpasst bekam, weil am unteren Ende, neben einem kleinen Föhrenwald, der Fußballplatz lag. Natürlich war das noch ein anderer Fußballplatz als jene, die man heute landauf, landab findet. Im Grunde war er nur eine bessere Schotterhalde mit einer notdürftigen Umkleidekabine aus Bauholz, ohne Fließwasser, weil sich damals die Mannschaften noch im Ehnbach wuschen, sofern ein Spieler das Bedürfnis danach hatte. Die Tore bestanden aus einfachen Vierkanthölzern, ursprünglich weiß angestrichen, bald aber schon grau und schmutzig. Die Tornetze waren aus Hanf und die Linien des Spielfelds wurden mit Sägemehl gezogen. Trotzdem war dieser Sportplatz unser Paradies, wo alle Kinder der Umgebung dem Fußballspiel frönen konnten oder im Winter dem Eislaufen, denn der Eislaufplatz befand sich auch auf dem Fußballplatz. Sogar mit richtigen Holzbanden, denn in Zirl gab es eine hervorragende Eishockeymannschaft, die unter der Führung von Fritz Waldegger stand, dessen Söhne begnadete Hockeyspieler waren.

Jedenfalls stürmten ich und meine Freunde fast täglich zum Sportplatz, um dem Ball nachzujagen: der Kremser Hans-Peter und sein Bruder Robert, der Schafferer Werner, der Friedl und der Many Knoll, der Gottfried und der Hansjörg Kirchebner, die Mentha Brothers, wie sie genannt wurden, der Schnaiter Tommy, der Geiger Siggl und wie sie alle hießen. Am Nachmittag traf man sich am Sportplatz und der Fußball stand im Mittelpunkt, verschwitzt, mit hochroten Köpfen wurde bis zum Umfallen gekämpft, als ob es um den Weltmeistertitel gegangen wäre, und eigentlich ging es auch jeden Tag um den Weltmeistertitel. Wenn ich von zu Hause zum Sportplatz eilte, dann musste ich den Ehnbach überqueren, von Stein zu Stein hüpfend, denn eine Brücke gab es nur am oberen und unteren Ende der Straße, und das hätte einen Umweg bedeutet.

Unser Spiel wurde regelmäßig von Erwachsenen gestört, nach dem einen oder anderen wurde gerufen, weil er nach Hause zu kommen hatte. Das waren ärgerliche Störungen, wenn einer der Buben das Spiel verlassen musste, um die Schulaufgaben zu machen, zum Essen gerufen wurde, oder es zu dämmern begann und die Nacht langsam hereinbrach. Die Großmutter der Mentha Brothers wohnte nicht weit vom Fußballplatz entfernt und die beiden Jungs standen unter ihrer Obhut. Sie holte die Brüder häufig mit lauten Rufen nach Hause, beziehungsweise wollte die beiden nach Hause holen, nur gehörten sie nicht zu den Folgsamsten. Wenn sie zwei-, dreimal nicht auf ihre lautstarken Aufforderungen reagierten, wurde ihre Stimme noch intensiver und es kam immer wieder vor, dass sie sich keinen anderen Rat mehr wusste, als zum Äußersten zu greifen, da die bisherigen Versuche keinen Erfolg gebracht hatten: „Gottfried, Hansjörg, wenn ihr nicht sofort nach Hause kommt, dann sterbe ich.“ Das war die ultimative Drohung und sollte den beiden endlich Beine machen, was auch meistens funktionierte. Einmal war es wieder so weit, die beiden reagierten wieder nicht auf die Rufe, bis die Großmutter wieder mit dem Sterben drohte, aber an diesem Tag stand das Spiel derart auf Messers Schneide, dass eine Heimkehr zu diesem Zeitpunkt undenkbar war, sodass Gottfried zu seinem jüngeren Bruder Hansjörg ganz trocken meinte: „Hansjörg, heute lassen wir die Großmutter sterben.“

Wir hatten auch eine bittere Kindheit. Aufgrund des wirtschaftlichen Debakels meines Vaters – er ging mit seiner Tischlerwerkstätte in Konkurs – war ich zu meiner Großmutter gekommen. Meine Eltern und meine ältere Schwester bezogen notdürftig im Haus eines Verwandten ein Zimmer, da unser Haus versteigert wurde. Vater und Mutter mussten untertags in die Arbeit, meine ältere Schwester verbrachte die Tage bei der Großmutter väterlicherseits, während ich im Äuele bei der anderen Großmutter, am Innweg Nummer 8, landete.

Mein Großvater war Künstler. Obwohl seine künstlerischen Fähigkeiten schon früh zutage traten, wollten seine Eltern nicht, dass er sich in diese Richtung entwickelte. Sie wollten keinen „Plattner-Spinner“, wie der Vater die künstlerischen Ambitionen meines Großvaters verurteilte. Franz Plattner war ein einheimischer Künstler, der im Stile der Nazarener arbeitete und in dieser Art auch unsere Pfarrkirche ausmalte. Er trug langes prachtvolles Haar und sein etwas freizügiger Lebensstil passte nicht in ein Bauerndorf, das Zirl zu jenen Zeiten war.

Mein Großvater musste den Beruf eines Tischlers erlernen, eine Wahl, die ihn zeitlebens nicht glücklich machte. Vielmehr begeisterten ihn das Zeichnen und die Holzschnitzerei. Als er damals als junger Erwachsener in der schlechten Zeit arbeitslos war, marschierte er täglich zu Fuß die zwölf Kilometer von Zirl nach Innsbruck ins Ferdinandeum, um dort seine Zeichenstudien zu betreiben. Dies musste er vor seinen Eltern verheimlichen, die kein Verständnis für seine Passion hatten. Im Ferdinandeum wurde man auch auf ihn aufmerksam und er lernte dort einen Kunstprofessor kennen, der ihm zu einer akademischen Ausbildung verholfen hätte. Er sprach deswegen auch mit dem Vater meines Großvaters, aber da führte kein Weg hin. Stattdessen verbrannte der Vater alle Zeichnungen, die der Großvater in einer Holzkiste auf dem Dachboden versteckt hielt, und die sein Vater dort zufällig entdeckte.

Wegen seiner Geschicklichkeit wurde der Großvater bei der Arbeit oft dafür eingesetzt, Schnitzarbeiten an Möbeln und auch an Dachstühlen anzufertigen. Auch freundete er sich mit anderen Krippenschnitzern an und machte sich einen Namen als solcher, ebenso wie er als Kruzifixschnitzer bekannt wurde. Damit brachte er sich und seine Familie mit fünf Kindern in all den düsteren Jahren mehr schlecht als recht durch. Als er Mitte der Fünfzigerjahre gemeinsam mit seinen Söhnen Stefan und Albert im Äuele mit dem Hausbau begann, war er bereits gesundheitlich so schwer angeschlagen, dass er wenige Monate später, nachdem sie in ihr halbfertiges Haus eingezogen waren, verstarb.

Damals wurden die Verstorbenen noch zu Hause aufgebahrt und auch am offenen Grab verabschiedet. Eine Eigenheit der Zirler Krippe ist es, dass darin Moos ausgelegt wird, um die Krippe möglichst naturnah zu gestalten. Es war auch üblich, dass die Krippenkünstler in den Sommermonaten überall in Tirol unterwegs waren, um schönes Moos für die Krippe aufzutreiben. So manche gelangten dabei bis nach Fieberbrunn, um das entsprechende Grünzeug zu bekommen, was natürlich auch seine heitere Seite für die Krippenkünstler hatte, wenn sie zwei, drei Tage unterwegs waren, zumal bei ihnen der Schnaps keine unbedeutende Rolle spielte. Großvater trank gern Schnaps, aber nicht unmäßig, außerdem erleichterte ihm dieser etwas die Atmung. Er hatte seit vielen Jahren mit der Luft, mit Asthma, zu kämpfen.

Großvater starb an Lungenkrebs und einer seiner letzten Wünsche war, dass man seinen Sarg mit Moos auslegen sollte. Das wünschte er sich als alter Krippenkünstler, und ich erinnere mich noch sehr gut, wie der Sarg im Hausgang stand, seine Söhne seinem Wunsch nachkamen und ich völlig verschreckt das alles miterlebte und hysterisch schrie, weil ich nicht wollte, dass man meinen Großvater in diese moosbelegte Kiste legte. Ich war dermaßen außer mir, dass man mich wegbrachte, und ich auch nicht zum Begräbnis gehen musste.