Geschichten
Marlene Schwarz, geboren 1940, lebt in München. Im Kyrene.Literaturverlag ist bisher ihr Roman „Catania“ erschienen. Ihr Bruder Herbert Rosendorfer schrieb dazu in seinem Vorwort: „Sie ist nämlich die Begabtere von uns, immer gewesen.“
1. Auflage 2013
Kyrene Verlag Innsbruck-Wien
Alle Rechte vorbehalten
Satz & Korrektur: Joe Rabl
Umschlag: Carina Haberl
Printed in the EU
ISBN: 978-3-902873-34-7
www.kyrene-verlag.com
Blauer Rauch
Die Villa Berger
Tante Mitzi
Eine kurze Ehe
Reisender in Sachen Kunst
Meine Großeltern Ennsfellner
Omama und Opapa
Die Heiratsannonce
Umsiedlung nach München
Ein heiterer Gärtner
Das Arbeitsbuch
Schöne Kinderzeit in Steinerbach
Die Steinerbacher
Beim spanischen Doktor
Opapas Freunde
Das siebzehnte Kind
Die Schweiger’schen Großonkel und Großtanten
Oberzeiring
Tante Carla und die Erbtruhe
Constantia
Ein mühsames Leben
Wege nach Kitzbühel
Noch ein paar von Omamas Abenteuern
Aufgetrennt, gewendet, gestückelt
Die keltischen Vorfahren im Vinschgau
Stilfs
Die Stilfser Verwandtschaft
Rosendorfers in Bozen
Der „Hoferbe“
„Heim ins Reich“
Tante Anna, das „Stiefkind“ der Familie
Onkel Rudl
Die beiden jüngsten Kinder
Atata, der „gute Vater“
Kaufhaus Rosendorfer
Mama, der Mittelpunkt
Die Wohnung in der Ohlmüllerstraße 2
Hausball
Auer Originale
Franz Winters Seekiste
Noch ein paar Anekdoten von Mama
Eine Onkelehe
Lurchi
Alte Briefe
In Südtirol, in „Gottes eigenem Land“, wurzelt einer der Zweige unserer ausgedehnten Familie, die Sippe der Tschenett aus Stilfs im oberen Vinschgau. Ob man nun an Gott glaubt oder nicht: Die Vorstellung, dass er sich bei der Erschaffung der Welt mit dem Land an Etsch und Eisack besondere Mühe gegeben habe, trifft schon recht genau den Kern der Sache. Die anderen Zweige der Familie wurzeln zwar woanders – im Salzkammergut, in der Steiermark, in Niederösterreich, weiter zurückliegend sogar in Frankreich –, aber das Schicksal oder der Zufall oder einfach eine plötzliche Eingebung haben im Zeitraum von nur wenigen Jahren alle diese Zweige veranlasst, einen kleinen Ableger nach Südtirol kriechen zu lassen, dort eigene Wurzeln ins karge, aber auch fruchtbare Erdreich zu senken und einige Jahrzehnte lang zu verweilen.
Im Spätherbst 1994 kam ich bei einem Besuch zum Törggelen in Bozen wieder einmal an der Villa Berger vorbei. Ich bemühe mich eigentlich immer, bei diesem alten Haus an der Moritzinger Straße zwischen den Ortsteilen Gries und Moritzing vorbeizuschauen. Schließlich sind dort meine Mutter und meine Tante aufgewachsen, und meine Großmutter hat mir viel darüber erzählt, so dass ich schon, als ich noch lange nicht selbst dort gewesen war, in Gedanken in den Weinbergen und Gärten hinter dem Haus unter den roten Porphyrfelsen des Tschögglbergs herumstreifen konnte.
Von meiner Tante Mitzi war ich bereits vorgewarnt. Sie kam gerade von einem ihrer zahlreichen Besuche in der „alten Heimat“ zurück und vertraute mir gleich eine große Neuigkeit an: In der Villa Berger werde umgebaut, ausgebaut, gemalert. Es sei eine einzige Baustelle. Als ich dann kurze Zeit später vorbeikam, war das Gerüst schon wieder weg. Die Wände leuchteten frisch gestrichen, heller als das vorherige „Dunkelgelb“, das sehr stark dem Schönbrunner Gelb kaiserlich-königlicher Prachtvillen ähnelte. Aber die mildernde Patina wird sich schneller wieder einstellen, als man denkt, bei den vielen Autos, die hier tagtäglich vorbeifahren und deren Abgase sich auf dem neuen Anstrich niederschlagen.
Der Schriftzug „Villa-Berger“ – mit dem unnötigen und rätselhaften Bindestrich – war wieder angebracht worden: in einem kräftigen Grün, von einem ebenfalls grünen Rahmen umgeben, ganz wie vorher. Noch fehlten die Fensterstöcke und Fenster, und rundherum lagen oder standen Haufen von Bausand, kleinere Schutthalden vom Auskernen des alten Hauses und die verschiedensten Werkzeuge und Maschinen. Aber ich war sehr glücklich zu sehen, dass die Familie Berger, die seit vor dem Ersten Weltkrieg auf dem Anwesen sitzt, das Haus nicht einfach abgerissen, sondern zumindest die Außenfassade gerettet und wiederhergestellt hatte. Es hätte ja leicht sein können, dass ich eines Tages nach Moritzing hinausspaziere und mich wundere, warum ich die Villa Berger nicht mehr finde!
Dass sie noch immer steht, nehme ich jetzt zum Anlass aufzuschreiben, was ich noch von meiner Familie weiß. Das wird in etwa auch so geschehen wie mit der Villa Berger: Die Außenmauern, also die groben Umrisse, werden dem entsprechen, woran sich wohl alle Familienmitglieder erinnern. Aber innen im Haus wird vielleicht das eine oder andere entstehen, das nur ich kenne oder an das ich mich zu erinnern glaube. Aber ich verspreche: Ich schwindle nicht bewusst, höchstens indem ich selber die Anekdoten, die ich überliefere, für wahr halte oder mich an etwas zu erinnern glaube, das ganz genau so oder zu ganz genau diesem Zeitpunkt nicht unbedingt geschehen ist. Es ist nun einmal so, dass der Mensch eine Geschichte, die ihm Dutzende Male erzählt worden ist, zuletzt für etwas selbst Erlebtes hält.
Tante Mitzi war eigentlich auf den Namen Maria getauft, da man zu dieser Zeit – sie wurde am 13. September 1915 mitten im Ersten Weltkrieg geboren – Kinder gern auf den Namen taufte, der am Tag der Geburt im Kalender stand, und das war in dem Fall, wenn auch einen Tag vorher, nämlich am 12. September, Mariä Namensfest; am 13. September, dem wirklichen Geburtstag, standen nur zwei männliche Heilige, die hll. Jodokus und Johannes Chrysostomus (Goldmund), und die hl. Notburga von Rattenberg zur Auswahl. Johanna wäre auch in Frage gekommen, nach dem Vater Johann, aber dieser Name war schon an die ältere Schwester vergeben.
Sei es nun, dass das Kind, wie das meistens der Fall ist, mitten in der Nacht zur Welt kam und die Hebamme und die Mutter der irrigen Meinung waren, es sei noch der 12. September, sei es, dass im Heiligenkalender der Hebamme nur die beiden heiligen Männer, nicht aber das nette heilige Bauernmädchen Notburga mit den Brotlaiben aufgeführt war: Meine Tante hätte Maria mit Sicherheit einer Notburga vorgezogen, hätte sie als Neugeborenes schon ein Mitspracherecht gehabt und es auch äußern können.
Übrigens hat sie auch einen zweiten Vornamen: In unserer Familie herrscht die Sitte oder Unsitte, Kinder mit mindestens zwei, oft aber mit einer langen Reihe von Vornamen auszustatten. Einzig mein Sohn Florian heißt einfach nur Florian und nichts weiter als Florian. Er hat sich nie darüber beklagt, und ich hoffe, es erleichtert ihm zumindest auf Behörden und beim Unterschreiben mit vollem Namen (Rufnamen unterstreichen!) ein wenig das Leben. Tante Mitzi jedoch hat einen zweiten und recht ungewöhnlichen Namen, nämlich Jacoba nach dem Großvater mütterlicherseits, Jacob Schweiger aus Oberzeiring in der Steiermark.
Mitzi war – im Gegensatz zu ihrer körperlich und seelisch wesentlich robusteren Schwester Johanna – ein zartes, empfindliches Kind, das sich nur schwer unter den Rabauken der Nachbarschaft behaupten konnte. Das ging die ganze Schulzeit so, wo sie immer nur mit heraushängender Zunge hinter allem und jedem herlief. Und obwohl sie – wiederum sehr im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester – ein sehr braves, fügsames Kind war, scheint die Schule für sie keine glückliche Zeit gewesen zu sein. Noch dazu, wo sie lauter Klosterfrauen als Lehrerinnen hatte – „Himmelhennen“, wie meine Mutter respektlos sagte – und in der Schule aufgrund der politischen Situation damals Italienisch als Unterrichtssprache eingeführt worden war.
Für so ein kleines Mädchen, das nur Deutsch sprach und verstand, war das sicher eine große Erschwernis, zumindest in den ersten Jahren. Später erwies es sich als Vorteil, zweisprachig aufgewachsen zu sein, und heute ist es in Südtirol schon bei Windelträgern die Regel, dass sie beide Sprachen beherrschen. Meine Cousine Renate beispielsweise mischte sie schon im zarten Alter von zwei Jahren innerhalb eines Satzes, wobei dann so Sachen wie „Jetzt geh ich ins letto“, will heißen: ins Bett, herauskamen.
Nach der Schule machte Tante Mitzi eine Lehre als Modistin, als Hutmacherin also. Sie übte diesen Beruf aber nur so lange aus, wie sie in Bozen lebte. Sie liebte ihn wohl nicht besonders, wahrscheinlich weil sie bei ihrer Lehrherrin auch nur ausgenutzt wurde. Sie bewahrte aber noch lange Zeit ihr Handwerkszeug auf: merkwürdige Holzköpfe ohne Gesicht und auf kurzen Hälsen, über die sie beispielsweise durch Regen ramponierte Hüte stülpte und mittels eines Bügeleisens und eines feuchten Tuches wieder in Fasson brachte. Außerdem bestand sie, möglicherweise aus einer Art Berufsstolz heraus, darauf, dass ich am Sonntag in der Kirche einen Hut aufsetzen musste, was ich wiederum einfach grässlich fand.
Eine ehemalige Kollegin, Fräulein Maria Zettel, die im Wallachhaus in der Dienerstraße in München, nahe dem neopompejanischen Hauptpostamt und dem berühmten Feinkosthaus Dallmayr, wohnte, wurde daher in regelmäßigen Abständen von meiner Mutter und mir aufgesucht, das heißt immer dann, wenn ich aus dem aktuellen Hut herausgewachsen war. Sie fertigte abwechselnd einen roten und einen dunkelblauen Filzhut in der Form eines Tropenhelms für mich an. Ich hasste diese Hüte wie die Pest. Erstens fand ich mich mit Hut einfach schrecklich, zweitens flogen sie beim geringsten Wind davon, wenn man sie nicht mittels eines dünnen Gummibandes unter dem Kinn festzurrte, was nicht nur hässlich aussah, sondern auch schmerzhaft ins Goderl (das ist die Stelle am Hals, wo ein Hund besonders gern gekrault wird) einschnitt.
In München arbeitete Tante Mitzi dann seit Kriegsbeginn als Kassiererin beim Optiker Rodenstock am Stachus. Ihren ersten Mann, Sepp Liberi, lernte sie in der Südtirolergemeinschaft kennen, die sich in München gleich nach der Auswanderung gebildet hatte. Diese Gruppe hielt sich erstaunlich lange, war sehr aktiv und trug viel zum Zusammenhalt der entwurzelten Optanten bei. Berühmt waren die rauschenden Faschingsfeste im Wagnerbräu in der Lilienstraße. Sie fanden auch noch statt, als ich schon ein Teenager war und sie auch besuchen durfte.
Onkel Sepp kenne ich nur vom Erzählen. Er stammte aus Meran und war von Beruf Fotofachverkäufer. Da er extrem kurzsichtig war – 17 Dioptrien waren damals, als es noch keine Kontaktlinsen gab, mit denen man diese Sehschwäche besser hätte ausgleichen können, eine starke Behinderung – und da er außerdem Querflöte spielte, kam er als Soldat erst einmal zum Musikzug in die Etappe nach Moosburg an der Isar. Im Mai 1941 heirateten die beiden. Sie hatten nicht viel Gelegenheit, einander recht gut kennenzulernen. Tante Mitzi arbeitete in München, Onkel Sepp war in der Kaserne.
Im Herbst 1942, als der Russlandfeldzug begann und alles eingezogen wurde, was notdürftig auf zwei Beinen laufen und ein Gewehr halten konnte, erwischte es auch den Onkel Sepp. Er kam in den Nordkaukasus, wo ausgerechnet er, der Halbblinde, auf einen Erkundungsgang ausgeschickt wurde. Es war für den Gegner nicht schwer, ihn mit einem gezielten Kopfschuss in eine hoffentlich bessere Welt zu befördern. Das ist das einzig Tröstliche an dieser wirklich todtraurigen Geschichte: dass der Onkel Sepp wahrscheinlich gar nichts von seinem schrecklichen Tod bemerkt hat.
Tante Mitzi erhielt den üblichen Brief von seinem Kompanieführer:
Sehr geehrte Frau Liberi!
Bei den Abwehrkämpfen am Fluss Pschisch (Kaukasus) fiel am 14.12.42 Ihr Mann durch Kopfschuss in soldatischer Pflichterfüllung, getreu seinem Fahneneid für das Vaterland. Ich habe mit ihm einen meiner besten Soldaten verloren, einen prachtvollen Kameraden, der allen ein leuchtendes Vorbild war. Ich spreche Ihnen, zugleich im Namen seiner Kameraden, meine wärmste Anteilnahme aus. Die Kompanie wird ihm stets ein ehrendes Andenken bewahren. Möge die Gewissheit, dass Ihr Mann sein Leben für die Größe und den Bestand von Volk, Führer und Reich hingegeben hat, Ihnen ein Trost in dem schweren Leid sein, das Sie betroffen hat.
Ich grüße Sie in aufrichtigem Mitgefühl
gez. Hampp, Leutnant u. Kp.Fhr.
Von diesem Brief existiert noch eine vom Polizeipräsidium München beglaubigte Abschrift, die mit einem eindrucksvollen Stempel mit Pleitegeier und Hakenkreuz versehen ist. Sie datiert vom 4. Februar 1943, während der Brief am 18. Dezember 1942 abgefasst wurde. Ich fürchte, dass Tante Mitzi daraus nicht, wie der Leutnant hoffte, Trost schöpfen konnte. Übrigens habe ich im großen Atlas von Rand McNally den kaukasischen Fluss gesucht – und tatsächlich gefunden! Er entspringt ziemlich genau 44,5 Grad Nord und 40,1 Grad Ost im nordwestlichen Kaukasus, wo das Gebirge bis fast 3.000 Meter aufragt, fließt nach Norden und mündet in einen See östlich von Krasnodar.
Tante Mitzi war also nach ein und einem halben Jahr schon wieder Witwe. Nach dem Krieg lernte sie aber bald Eduard Wiesenberger kennen, der beim Kunstverlag Hanfstaengl arbeitete. Die Firma Hanfstaengl teilte sich zu dieser Zeit ein großes Geschäftslokal mit der Firma Rodenstock, bei der, wie schon gesagt, Tante Mitzi an der Kasse saß. Onkel Edi, obwohl sieben Jahre jünger, war auch schon im Krieg gewesen, war fast noch ein Kind, als er eingezogen wurde und unter anderem als Gebirgsjäger in Norwegen diente.
Die beiden heirateten Anfang 1950. Ich kann mich gut an die Hochzeit erinnern, die in unserer Wohnung in der Ohlmüllerstraße gefeiert wurde, wo sie auch ihre erste Bleibe fanden. Sie bewohnten das spätere „Bubenzimmer“ meiner Brüder und richteten sich im sogenannten Kammerl, das uns vorher und nachher als eine Art Badezimmer, leider jedoch ohne Badewanne und Dusche, diente, eine Küche ein. Nach einiger Zeit, als sich die Baulücken in den Straßen wieder langsam zu füllen begannen, konnten sie sich als Doppelverdiener eine kleine Eigentumswohnung ebenfalls in der Ohlmüllerstraße kaufen.
Dort war sogar ein winziges echtes Bad mit einer sogenannten Sitzbadewanne installiert, wo wir manchmal richtig baden durften. Die Zeiten waren aber auch da noch so schlecht, dass wir die Briketts für das Anheizen des Badewassers in Zeitungspapier eingewickelt mitbringen mussten. Es war aber immer noch bequemer und billiger, als ins Müller’sche Volksbad zu pilgern, wo man vor allem nicht wusste, wer da vor einem in der Badewanne seine Baumhackl von den Füßen heruntergekratzt hatte.
Onkel Edis Vater, Eduard Wiesenberger senior, seines Zeichens Hausmeister im pompösen Wohnhaus der Familie Hanfstaengl an der Isar, machte uns großen Eindruck, weil er schon früh ein eigenes Auto besaß. Ich glaube, es war ein DKW. Sehr viele Automarken gab es damals ja nicht. Manchmal durfte ich mitfahren. Als wir eines Tages den Gebsattelberg in der Au hinunterfuhren, der mit großen Kopfsteinen aus Granit gepflastert und daher ziemlich holprig war, rief Onkel Edi plötzlich ganz erstaunt: „Schau, da vorn rollt ein Autoreifen!“ Wir bemerkten dann aber schnell, dass es sich um unser linkes Vorderrad handelte und das Auto deswegen und nicht wegen des schlechten Straßenbelags so eierte.
Doch zurück zur Kinderzeit: Die kleine Mitzi war das zweite und letzte Kind ihrer Eltern. Ihre Schwester Johanna Helene, meine Mutter, war ziemlich genau zwei Jahre älter; sie wurde am 4. September 1913 geboren, ist sozusagen noch „Friedensware“. Johanna wurde sie nach dem Vater getauft – eine damals auch sehr beliebte Variante der Namensgebung, vor allem für Erstgeborene. Johann Ennsfellner aus St. Pölten bei Wien, der Vater der beiden kleinen Mädchen, legte übrigens großen Wert darauf, dass er nicht ein so gewöhnlicher Johann sei wie Johannes der Täufer oder der schon erwähnte Johannes Chrysostomus, sondern ein sehr viel seltenerer Johann von Gott. Er hätte sich sicher riesig gefreut, wenn er erlebt hätte, dass eine seiner Urenkelinnen auch auf seinen schönen Namen hört.
Mit weiteren Kindern war die Ehe meiner Großeltern nicht gesegnet. In ihrem Fall wäre aber das Wort „gesegnet“ auch mit Sicherheit unpassend gewesen. Sie waren so arm, dass sie nur mit größter Mühe die zwei Mädchen aufziehen konnten.
Wir Kinder hatten das Glück, alle vier Großeltern zu haben, bis wir längst erwachsen waren. Um sie voneinander zu unterscheiden, nannten wir die Großeltern väterlicherseits Amama und Atata, die mütterlichen hießen Omama und Opapa. Und so will ich sie auch im weiteren Fortgang dieser Aufzeichnungen nennen.
Also: Opapa hätte sich noch so sehr mindestens einen Sohn gewünscht, aber sein Eheweib hat da wohl rigoros einen Riegel vorgeschoben, vermutlich im Wortsinn, nämlich an der Schlafzimmertür. Opapa musste, wenn man Gerüchten glauben darf, häufig nicht gerade auf dem Dach, aber doch auf dem Balkon schlafen. Ihre Ehe war kaum glücklich zu nennen, wenn wir unsere heutigen Maßstäbe anlegen. Angeblich wollte sich Omama auch sehr bald nach der Hochzeit wieder auf eigene Füße stellen. Aber da war die kleine Hanni schon unterwegs, und dann haben sie halt ein Leben lang zusammenhalten müssen, die beiden. Da sie aber höchst bescheiden waren und sich über ein in lila Packpapier gewickeltes Päckchen Tabak („Krüllschnitt“) für die Pfeife respektive eine kleine Tüte gemischte Zuckerlen vom Bäcker Ulrich mindestens so freuen konnten wie wir uns heute über ein Essen im Hotel Königshof, waren sie zufrieden mit ihrem Leben. Jedenfalls habe ich nie einen der beiden klagen gehört.
Wer meine Großeltern Ennsfellner, die Eltern meiner Mutter, kannte, wird die Geschichte, wie sie zusammengefunden haben, ins Reich der Märchen verweisen. Diese Geschichte wurde auch sehr lange Zeit verschwiegen – versteckt wie ein Wechselbalg. Erst als die Beteiligten schon seit Jahrzehnten tot waren, hat mir Tante Mitzi einmal eher beiläufig erzählt, dass sich die beiden über eine Heiratsannonce kennengelernt haben.
Für damalige Zeiten, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, ist das schon sehr erstaunlich, dass so einfache Leute wie meine Großeltern diesen ungewöhnlichen Schritt wagten. Wir wissen nicht mehr, welcher von den beiden die Annonce mutig aufgab und welcher sie dann ebenso mutig beantwortete. Jedenfalls scheint es geklappt zu haben. Ich glaube, dass eher meine Großmutter sich nach einer kompletten Familie mit Kindern gesehnt hat. Kein Wunder, stammte sie doch selbst aus einer sehr kinderreichen Familie.
Meine Großmutter war für damalige Begriffe nicht mehr die Jüngste. Sie war am 8. Januar 1882 geboren und also gut zwei Wochen älter als der Großvater, der am 23. Januar 1882 das Licht der Welt, besser gesagt: das Licht von St. Pölten, erblickt hatte. Sie war dreißig und damit längst im „kanonischen Alter“, in dem man als Katholikin notfalls auch einen Protestanten, wenn nicht gar einen Heiden heiraten darf, ohne vom Bannstrahl der Kirche getroffen zu werden. Das wäre für meine Großmutter jedoch überhaupt nicht in Frage gekommen, da wäre sie lieber ledig geblieben oder ins Kloster gegangen. Für letztere Alternative fehlte ihr allerdings die entsprechend üppige Aussteuer. Gott sei Dank war mein Großvater aber auch katholisch, wenn auch nicht so aus vollem Herzen wie die fromme Großmutter.
Geheiratet haben die beiden dann am 23. November 1912. Sie bezogen eine kleine Wohnung in der Villa Erika in Gries bei Bozen. Wenig später sind sie jedoch in die Villa Laska am Grieser Platz direkt gegenüber der Stiftskirche des Benediktinerklosters Muri gezogen. Auch dieses Haus steht heute noch und ist sogar sehr schön renoviert. Seit ich es das erste Mal gesehen habe, imponiert mir immer wieder die buntbemalte gemauerte Kehlung unter der Dachrinne.