Roland Düringer
Eugen Maria Schulak
Rahim Taghizadegan
ÜBER DIE ERZIEHUNG
Roland Düringer
Eugen Maria Schulak
Rahim Taghizadegan
ÜBER
DIE ERZIEHUNG
Illustriert von
Thomas Wizany
Roland Düringer / Eugen Maria Schulak / Rahim Taghizadegan
Über die Erziehung
1. Auflage
© 2013 Ecowin Verlag, Salzburg
Lektorat: Dr. Arnold Klaffenböck
Illustrationen: Thomas Wizany
Gesamtherstellung: www.theiss.at
ISBN 978-3-7110-5084-7
www.ecowin.at
Zum Geleit
Über die Liebe als Voraussetzung
Danksagung
Über Bildungssysteme und Bildungsreformen
Was Bildung von der „Bildung“ unterscheidet
Über die Schule und die Rolle des Lehrers
Über die Begeisterung, Wissen zu vermitteln
Lehrer, die entbehrlich sind, und Lehrer, die begeistern
Über das Wort „erziehen“ und den Beruf des Erziehers
Kein Ruhmesblatt oder wie man lernt, in Zweierreihen zu gehen
Über den berechnenden Nutzen
Aus meinem Vortrag (1)
Über das Essen und die Bequemlichkeit
Aus meinem Vortrag (2)
Erziehung als Vorleben von lebenswichtigen Verhaltensweisen
Aus meinem Vortrag (3)
Über das bewusste Begleiten zu einer Erfahrung hin
Reifeprüfung
Über die Erziehung zur Unmündigkeit
Gibt es eine Natur des Menschen?
Aus meinem Vortrag (4)
Über Zucht und Züchtung
Erziehung zur Multikulturalität
Kann man sich selbst erziehen? (Teil 1)
Fußwaschung
Kann man sich selbst erziehen? (Teil 2)
Aus meinem Vortrag (5)
Erziehung zur Selbsterziehung
Was Politik von der „Politik“ unterscheidet
Über die Erziehung von Kindern (Teil 1)
Ein Bücherhaushalt und ein endloses Gespräch
Über die Erziehung von Kindern (Teil 2)
Über das schöne Sprechen
Über die Fremderziehung als Folge mangelnder Selbsterziehung
Aus meinem Vortrag (6)
Über die Erziehung von Unerzogenen und Unerziehbaren
Über das Schweigen
Was ist gute Erziehung heute?
Warum die Erziehung ein lebenslanges Thema ist
Kinder lieben eigenständige Erfahrungen
Der Erzieher kann vom Zögling viel lernen
Was das Lernen vom Erzogenwerden unterscheidet
Was Rattenkinder intelligent macht
Über Erziehungsmethoden
Aus meinem Vortrag (7)
Über die Tugend der Achtsamkeit
Wenn jemand um Erziehung bittet
Soll Autofahren verboten werden?
Über die Tugend des Maßhaltens
Pikante Fragen an der Tankstelle
PlayStation ja oder nein?
Schluss
Die Turnstunde, ein Nachspiel
Paläo-Kekse
Getragen wird dieses Buch von drei Menschen, die Freunde geworden sind. Ihre Freundschaft hat einen speziellen Hintergrund: die Freude am Philosophieren. Diese Freude hat die drei zusammengebracht und ohne sie hätte man sich vermutlich niemals kennengelernt.
Was bringt uns auf den Plan, ein Buch über Erziehung zu schreiben? Nun, wir haben es uns zur guten Gewohnheit gemacht, regelmäßig philosophische Gespräche zu führen, über Gott und die Welt sozusagen. Dabei ist uns schon vieles untergekommen, unter anderem auch das, was so landläufig als „Erziehung“ praktiziert wird. Schließlich sind wir ja alle einmal erzogen worden und können uns noch gut erinnern, wie es damals war. Auch haben wir Augen im Kopf und können sehen, was rund um uns geschieht. Jedenfalls hat uns das Thema nicht mehr in Ruhe gelassen, sodass wir unsere Philosophische Küche im Institut für Wertewirtschaft (www.wertewirtschaft.org) für ein paar Tage gar nicht mehr verlassen wollten. Freilich sind wir zwischendurch auch hinüber in unsere Bibliothek gegangen, um ein paar Dinge nachzuschlagen. Doch die meiste Zeit sind wir in der Küche, an unserem Herdfeuer geblieben und haben darüber nachgedacht, was Erziehung im Grunde ist, was sie im Idealfall ist, was sie im Normalfall ist und auch, warum sie gar nicht so wichtig ist, wenn man sie erst einmal überlebt hat und erwachsen geworden ist. Dabei haben wir Kaffee getrunken und Kekse gegessen, weil es schon Winter und draußen ziemlich finster war. Es waren einige beschauliche Nachmittage, die wir uns auf diese Weise um die Ohren geschlagen haben.
Mittlerweile ist aus diesen Nachmittagen ein Buch entstanden, in das wir nachträglich noch allgemeine Gedanken und persönliche Erinnerungen eingefügt haben. Unsere Gespräche jedenfalls sind in weiten Zügen erhalten geblieben und zum Kern des Textes geworden. Das war uns ein Anliegen, weil das Denken ganz grundsätzlich in und aus der Bewegung lebt. Gedanken, und zwar solche, die in der philosophischen Tradition als „Denken“ bezeichnet werden, geben nur dann Sinn, wenn sie auf andere Menschen treffen, die sie aufnehmen und weiterverfolgen können. Die Praxis der Philosophie liegt im Gespräch. Und alle Philosophie hat auch ihren Ursprung im Gespräch, mit Menschen, mit Büchern, mit dem Leben als Ganzes. Sie entsteht durch Konfrontation. Irgendwann einmal beginnen die Gedanken sich auch zu verselbstständigen. Dann hat man das Denken erlernt. Aber ob es auch richtig ist, was man denkt, weiß man erst, wenn es sich in der Praxis bewährt, wenn man das Gedachte wieder über die Lippen bringt und in der Reaktion der anderen neu erfährt, wenn man es in Handlungen umsetzt und erlebt, wie es wirkt, und vor allem: ob es sich so auswirkt, dass es gut und richtig ist, für einen selbst und auch für jene, die einem lieb und teuer sind.
Zum Thema der Erziehung, das unsere Philosophische Küche diesmal beschäftigt hat, vorweg noch Folgendes: Wir wollen uns selbst nicht als Erziehungsberechtigte aufspielen, die anderen Menschen vorschreiben, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Das liegt uns nicht und steht uns nicht zu. Darum haben wir auch kein Anleitungsbuch mit Rezepten verfasst, keine modische „Erziehungsmethode“ erfunden, die wir mit Anglizismen schmücken und lizenzieren lassen. Unsere Aufgabe besteht darin, zum Nachdenken anzuregen. Das gelingt uns am besten, indem wir selbst nachdenken und den Leser beim Nachdenken zusehen lassen.
Wien, April 2013
Roland: Eigentlich wäre die Aufgabe des Erziehenden, dass er der Schutzengel ist, der sichtbare Schutzengel.
Eugen: Schön gesagt!
Roland: Der nie sagt: „He! Mach das jetzt!“, sondern der einfach immer da ist, wenn du stolperst, dir die Hand gibt – und es ist wieder gut. Wenn du ein Gefühl für kleine Kinder hast, ein liebender Elternteil bist, dann machst du das ja automatisch. Wenn du etwa die Stiegen runtergehst, gibst du dem Kind die Hand, weil es deine Hand ja auch will. Da macht das Handgeben Sinn. Aber zu sagen: „Jetzt gib mir die Hand!“, nur damit es schön brav neben dir hergeht und sich nicht irgendwo schmutzig macht, das versteht das Kind nicht. Wenn es die Stiegen runtergeht oder wenn das Kind mit dir in einer Umgebung ist, wo es sich nicht wohlfühlt, gibt es dir ganz automatisch die Hand. Das Erste, was ein Kind macht, ist, dass es nach deiner Hand greift. Es will geführt werden. Also wenn der zu Erziehende Hilfe braucht, meldet er sich normalerweise. Außer es ist ihm gelehrt worden, dass man nicht um Hilfe bittet, weil man dann als schwach oder unfähig gilt. Das wäre schlecht.
Rahim: Ich glaube, die wesentliche Voraussetzung ist Liebe.
Roland: Sowieso. Dazu muss man aber wissen, was Liebe ist. Was ist Liebe? Diese Frage ist ja nicht leicht zu beantworten.
Eugen: Also die Liebe, die alles umfassende Liebe, die man bei den alten Griechen Eros genannt hat, ist für Platon, den vielleicht bedeutendsten Philosophen der Antike, der wichtigste Motor und Beweggrund für alles, das etwas Gutes werden soll. Der pädagogische Eros, von dem Platon ebenso spricht, ist dann ein Spezialfall, eine spezielle Form von Liebe, nämlich eine, die darin besteht, dass man etwas Wichtiges weiterzugeben hat.
Roland: Ohne etwas zurückzubekommen.
Eugen: Unter Umständen auch, ohne etwas zurückzubekommen. Und man tut es deshalb, weil man schon etwas gelernt hat im Leben, etwas Wichtiges zu sagen hat, für etwas brennt, das es wert ist, weitergegeben zu werden.
Rahim: Wirkliche Liebe, im Unterschied zur bloßen Verliebtheit, lässt sich gut auf diesen pädagogischen Eros übertragen. Wirkliche Liebe ist Wertschätzung für eine Person, wie sie gemeint ist. So sagt das der Wiener Psychologe und Therapeut Viktor E. Frankl. Er hat eine schöne Analogie. Er sagt: „Wahre Liebe macht nicht blind, sondern sehend.“ Die falsche Liebe, die Verliebtheit, macht blind. Wahre Liebe macht dich sehend. Du siehst das Potenzial eines Menschen, wie er gemeint ist.
Eugen: Der Punkt ist, dass man den anderen zum Leuchten und zum Wachsen bringt. Darum geht es in der Liebe.
Roland: Also wenn ich probiere, mit meiner Tochter „richtig“ umzugehen, dann frage ich mich immer: Wie habe ich es damals als Kind empfunden, wenn meine Eltern etwas zu mir gesagt haben? Was ist da in mir passiert? Und wenn ich mich erinnere, dass gewisse Sätze sehr unangenehm waren, dann versuche ich tunlichst zu vermeiden, sie auch zu meiner Tochter zu sagen. Ich meine so Blödheiten wie: „Hörst du nicht?“, „Sag, kannst du nicht hören?“ Was ist das für eine Frage? Klar höre ich. Warum soll ich nicht hören? Und die gleichen Blödheiten, die man als Kind eingeimpft bekommen hat, gibt man später weiter. 30 Jahre später macht man dann genau dasselbe, wenn man nicht aufpasst.
von Roland Düringer
Auch ich wurde erzogen, so wie wir alle. Ob gut oder schlecht, kann ich beim besten Willen nicht beantworten. Diese Antwort können nur jene geben, die mit mir zu tun hatten oder haben. Für manche bin ich gut erzogen, für andere vielleicht schlecht. Das hängt davon ab, welche Werte man selbst als Maßstab für gut oder schlecht erzogene Personen anlegt. Diese Bewertungskriterien beruhen wiederum auf der eigenen Erziehung, also auf jenen Daten, die man in seiner Lebensgeschichte bisher einprogrammiert bekommen hat. Und bevor es jetzt kompliziert wird: Meine Erziehung war, wie sie war, ist Vergangenheit und nicht mehr umkehrbar.
Heute bin ich ein zufriedener Mensch, genieße das Leben und all seine Geschenke und nehme nichts allzu wichtig, schon gar nicht mich selbst. Dieses Resultat vor Augen, kann ich nur sagen: Ich wurde gut erzogen. Würde es also in der Zukunft Ereignisse geben, die mich unzufriedener machen, mich mit meinem Schicksal hadern lassen, dann liegt das nicht an meiner Erziehung, sondern nur an mir selbst und möglicherweise an falschen Entscheidungen, die ich als freier Mensch getroffen habe. Meine Erzieher kann ich im 50. Lebensjahr für nichts mehr verantwortlich machen, zumal ich auch nicht mehr sagen kann, wer aller und vor allem wer in welchem Maße Beiträge zu meiner Erziehung geleistet hat. Die Liste meiner Erzieher ist eine sehr, sehr lange. Manche sind in meinem Bewusstsein verankert, andere leisten im Unterbewusstsein nachhaltig ihre guten oder schlechten Dienste: Eltern, Großeltern, Tanten, Onkel, Kindergartentanten, Klosterschwestern, Lehrer, Mitschüler, Gassenjungen, Patres, Kapläne, Fahrlehrer, Ober- und Unteroffiziere, väterliche Freunde, Lebensabschnittspartnerinnen, Haustiere, meine Tochter, meine geliebte Ehefrau, der Fernseher, das Radio, die Zeitungen, Freunde, Feinde, Politiker, Gesetzgeber, Beamte und unzählige Begegnungen mit anderen Menschen haben mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin. Ich denke, dieses Buch ist ein schöner Ort und auch ein guter Zeitpunkt, einmal Danke zu sagen: Danke an alle für meine Erziehung. Und dieser Dank gilt auch den Trotteln und manchmal Arschlöchern, die versucht haben, mich zu erziehen. Von ihnen habe ich gelernt, wie es nicht geht.
Eugen: Wir reden über Erziehung, nicht über Bildung.
Roland: Ja. Aber wir müssen auch über Bildung reden, um sie von der Erziehung abzugrenzen. Wir haben heute ein Bildungssystem, das immer früher, schon im Kindergarten Zugriff hat auf das, was du bist. Wenn du selbst in diesem System drinnen warst, dann weißt du, dass gewisse Dinge absolut nicht funktioniert haben. Ich bin so viele Jahre in einer Schule gesessen. Wenn ich mich frage, was habe ich mir wirklich gemerkt, was ist hängen geblieben, was hat mich in meiner geistigen Entwicklung weitergebracht oder eine Bedeutung in meinem Leben bekommen, fällt mir nicht sonderlich viel ein.
Rahim: Am bedeutsamsten ist wahrscheinlich, dass du in der Schule das Sozialverhalten mit Gleichaltrigen lernst. Diesbezüglich haben wir in der Schule vielleicht am meisten gelernt. Das ist freilich eine sehr künstliche Situation, wenn Gleichaltrige in einem großen Haufen in einer Zwangsanstalt untergebracht sind. Da lernt man in der Tat viel über den Menschen, aber mehr über seine Schattenseiten.
Roland: Genau, man lernt viel, aber wie es falsch läuft. Wenn ich das als Schüler erkennen kann, ist es gut. Wenn ich aber in diesem System gefangen bin und denke, dass dieses Sozialverhalten ein richtiges Verhalten ist, weil es mich in meinem Leben weiterbringt, ist es gefährlich. Ich glaube, dass das viel eher passiert. Aber immerhin hat man ja, wenn man durch seine berufliche Laufbahn einmal die Gelegenheit bekommt, auf der anderen, der lehrenden Seite zu stehen oder jemand wird, der für dieses System Entscheidungen trifft, die Möglichkeit zu sagen: Okay, so hat es für mich nicht funktioniert. Das müssen wir ändern. Das kann man verbessern. Warum tut man das eigentlich nicht?
Rahim: Das tut man die ganze Zeit. Doch das Problem ist: Jeder leitet aus seiner anekdotischen Erfahrung bestimmte Regeln ab und will dann wieder für alle anderen dieselben Regeln einführen. Das Bildungssystem wurde massiv reformiert. Es ist praktisch im Dauerreformzustand. Einmal hat man gesagt: Wir müssen den Unterricht interaktiver machen. Wenn wir die Schüler in Form von Gruppenarbeiten lernen lassen, dann sind wir den Frontalunterricht los, der die Wurzel allen Übels ist. Zur Umsetzung solcher Pläne beginnt man bei der Lehrerausbildung. Das heißt, man verpasst den Studenten noch ein paar Kurse in Didaktik. Die Studenten büffeln das. Dann kommen sie in die Schule. Gleichzeitig wird der Lehrplan umgebaut und die Direktoren werden angewiesen, ihn mit ihren Lehrern umzusetzen. Im Lehrplan wird meist ein bisschen vom Fachlichen weggestrichen, dafür sollen die Kinder lernen, sozial in Gruppen miteinander zu agieren. Sie sollen „Sozialkompetenz“ lernen. Der junge Lehramtskandidat, der womöglich selbst noch eine unsichere Person ist, dem genau diese Sozialkompetenzen fehlen, befindet sich nun in der Situation, Sozialkompetenz vermitteln zu müssen. Engagierte Lehrer haben das Problem ohnehin schon für sich gelöst, weil sie realisiert haben, dass sie im Frontalunterricht nicht sonderlich viel weiterbringen. Jetzt gibt es aber Lehrer, die frontal sehr wohl etwas weiterbringen würden, weil sie fantastische Geschichtenerzähler sind, die es schaffen, dass alle aufmerksam zuhören. So ein Lehrer steckt nun in der Zwickmühle: Soll ich ständig Gruppenarbeiten machen? In der Praxis sind solche Arbeiten oft völlig sinnlos. Die Schüler hassen sie, weil sie merken, dass nur der Trottel in der Gruppe die Arbeit macht. Die anderen tauschen im Bankfach ihre Sticker aus. So läuft das realistischerweise ab.
Dann kommt der nächste Bildungsreformer und sagt: Wir müssen mehr messen und evaluieren. Wenn wir nur evaluieren, wird alles gut. So kommt sozusagen immer eine neue Idee. Du kannst aber nicht, wenn du mit Menschen zu tun hast, die Menschen laufend ändern. Jeden Lehrer müsstest du erziehen, dass er ein guter Lehrer in deinem Sinne wird. Die meisten der engagierten Lehrer sind relativ bald frustriert in diesem System, weil sie sehen, dass es viel zu unflexibel ist. Und sie wissen auch, dass sie die Schüler auf die Matura vorbereiten müssen. Womöglich kommen dann die Eltern anmarschiert und sagen: „Wir haben gehört, sie bereiten unsere Kinder nicht richtig auf die Matura vor. Ihr Kollege, der macht das anders. Der rechnet schon ein Jahr lang Maturaaufgaben. Warum ist das bei Ihnen so?“
Roland: Was mache ich jetzt als Lehrer?
Rahim: Gute Frage. Soll ich für die Eltern da sein? Für die Schüler da sein? Verbaue ich ihnen etwas, wenn ich sie nicht optimal vorbereite auf das, was bei der Matura abgefragt wird? Es könnte ja ein neuer Bildungsreformer kommen und die Matura abschaffen und die Noten gleich dazu. Dann wäre der Stress weg. Doch auch eine solche Reform wird wiederum dieselbe paradoxe Kette auslösen, weil nichts für alle Richtiges kommen kann.
Eugen: Das stimmt. Es gibt immer wieder neue Trends. Ich habe ja selbst in Mittelschulen unterrichtet, Philosophie und Psychologie, und war zuvor auch noch zwei Jahre lang Erzieher im Internat. Die Behörden versuchen, diese Trends den Lehrern ständig aufs Auge zu drücken. Doch zur Ehrenrettung der Lehrer: Gute Lehrer lassen sich nicht beirren. Sie bedienen sich alter und neuer Methoden, ganz wie es ihnen passt. Und sie tun das aus ihrem pädagogischen Instinkt heraus. Niemand wird seines Amtes enthoben, bloß weil er nicht nach gewissen Methoden unterrichten will, gesetzt den Fall, er bringt gute Resultate. Gute Lehrer unterrichten stets so, dass ihnen der Unterricht auch gelingt. Dazu probieren sie, besonders in jüngeren Jahren, verschiedene Methoden aus und nehmen jene, die sich bewähren und die bei der Vermittlung ihres Wissens die besten sind.
Roland: Jetzt sind wir, glaube ich, beim springenden Punkt: In unserem Schulsystem, unserem Bildungssystem geht es in erster Linie darum, Wissen zu vermitteln.
Eugen: So ist es. Erziehung ist etwas anderes. Bei den alten Griechen war der Pädagoge derjenige, der die Buben zum Lehrer bringt, sie nach dem Unterricht wieder abholt und zum Essen und auf den Sportplatz führt. Das ist der Pädagoge, der Erzieher, den es auch heute noch in Internaten gibt. Der Lehrer hingegen vermittelt Wissen. Aber auch der Lehrer hat Erziehungsaufgaben, besonders wenn die Kinder noch kleiner sind.
von Rahim Taghizadegan
Bildung ist ein lebenslanger Prozess des Bildens einer Persönlichkeit, der Entfaltung unseres Potenzials. Gebildet kann man nicht werden, sondern nur eigenständig an sich arbeiten, Erfahrungen machen, den Geist, aber auch Körper und Seele üben, von anderen Menschen lernen, die Welt und sich selbst entdecken. Ein berufener Lehrer vermag hierbei das Feuer zu entfachen. Er kann Hilfestellungen und Orientierung bieten, Wissen zugänglich machen und mit Trost, Ermutigung, Vertrauen zur Seite stehen.
„Bildung“ hingegen, darunter verstehen wir heute Ausbildung – eine falsche Abzweigung der Aufklärung, die Massenbeschulung durch Beamte nach Lehrplänen hervorbrachte. Dahinter stand der Wunsch, möglichst viele zu „bilden“, aber auch die Absicht, Kanonenfutter für die Wehrpflichtigenarmeen der Neuzeit zu formen. Angeblich ist „Bildung“ das Wichtigste und kein Preis für sie zu hoch – bis zur totalen „Bildung“, bei der Kinder ganztägig von der Wiege bis zum Arbeitsplatz mit Gleichaltrigen in Gebäuden verwahrt werden – fern von ihren Familien, der realen Welt und all den Erfahrungen, die ihre Feuer wirklich entzünden könnten. Tatsächlich ertragen die Menschen diesen Wahn nur deshalb, weil Ausbildung letztlich doch nicht so wichtig ist. Bei wirklich wichtigen Dingen würde die Anmaßung offensichtlicher sein. Gäbe es etwa eine allgemeine „Nährpflicht“, also den Zwang, Menschen in staatlichen Monopoleinrichtungen nach für allen gleichen Nährplänen unter Beamtenaufsicht Speisen zu verabreichen, während nur jene Vermögenden, die sich zur steuerbezahlten Kantine noch das Luxusrestaurant leisten könnten, eine Alternative fänden, wäre Widerstand oder schlimmste Mangelernährung die unausweichliche Folge. Zum Glück ist Ausbildung gar nicht so wesentlich für unsere Existenz. Schade ist es nur um all die verlorene Bildung, die stattdessen stattfinden könnte. Kein Plan, keine Massenzucht, kein Geld kann diese hervorbringen, sondern nur vorgelebte Bildungsfreude, Ermutigung und jene Sicherheit bietende Liebe, die sich als Starthilfe vorwiegend im Elternhaus findet und finden sollte. Leider legen viele Eltern aus Bequemlichkeit mehr wert auf Ausbildungs- und Anpassungsdruck.
Eugen: In der Schule, beim Mathematikunterricht habe ich nie wirklich verstanden, wozu man das alles braucht. Das war aber auch nie ein Thema. Es war immer nur ein abstraktes Herumspielen mit Zahlen und wir haben nie erfahren, was man im Leben damit anfangen kann.
Roland: Genau. Mir hat auch keiner den Sinn von Mathematik erklärt. Aber das wäre wichtig.
Rahim: Da gibt es einen Grund dafür. Jene Leute, die sich die Lehrpläne ausdenken, sind in der Regel solche, denen Mathematik am Herzen liegt. Mathematiker neigen dazu, das als eine Sache für sich zu sehen, die keinen Zweck hat. Sie meinen, dass die Mathematik eine Begabung ist, die der Mensch einfach haben sollte. Der Musiklehrer hat ja ein ähnliches Problem. Wozu das Rhythmusgefühl? Wozu soll ich Noten lesen können? Derjenige aber, dem Musik am Herzen liegt, sagt: Das gehört zum Menschen dazu, das alles irgendwie zu wissen und zu können.
Eugen: Beim Musikunterricht verstehe ich das. Da kommt etwas raus dabei, im besten Fall Musik. Aber bei der Mathematik?
Roland: Wenn ich hier kurz unterbrechen dürfte, nur zur Ehrenrettung der oft verschmähten Mathematiklehrer …