Die Wallace-Affäre
Am 20. November 1900 brachte die New York Times eine kurze, kleingedruckte Notiz in ihrer Spalte über örtliche Gerichtsentscheidungen. Es waren drei Urteile gefällt worden, die mit William Wallace zu tun hatten. Alle drei waren das Ergebnis rechtlicher Schritte seitens der Booth Brothers und ihrer Firma, der Hurricane Isle Granite Company. Zwei der Urteile über Beträge von 1122 $ bzw. 958 $ waren gemeinschaftlich gegen William Wallace und einen gewissen George A. Twele ergangen, das dritte über 395 $ betraf William Wallace allein.
Jemand bemerkte die Notiz und ließ ein Exemplar der Zeitung, aufgeschlagen auf Seite 15 und mit einer Kennzeichnung des kleinen Artikels versehen, auf dem Schreibtisch von Professor Albert Bickmore im Museum liegen. Bickmore schnitt die Zeilen aus und brachte sie sofort seinem Kollegen Henry Osborn, der sie Morris Jesup übergab. Jesup war beunruhigt. Er bat Bickmore, mit Wallace zusammenzukommen und herauszufinden, ob diese Nachricht den Tatsachen entsprach.
Wenige Tage später suchte Wallace Bickmore in seinem Privathaus auf, wo der Professor ihm den Zeitungsausschnitt vorlegte und ihn fragte, ob der Inhalt zutreffe. Die Begegnung fand in freundschaftlicher Atmosphäre zwischen zwei Kollegen statt. Wallace und Bickmore hatten im Museum mehr als zwölf Jahre lang zusammengearbeitet. Wallace gab zu, daß er und Twele Schulden in Höhe der aufgeführten Summen gemacht hatten. Er sagte Bickmore, daß er die Verschuldung wegen seiner Farm in Lawyersville auf sich genommen habe.
Das Milchgeschäft sei in der letzten Zeit nicht so gut gegangen. Er habe von den Booth Brothers Geld geliehen, um weitermachen zu können. Er fügte hinzu, daß er vor kurzem 600 $ von seinem Lohn zurückgezahlt habe und in Kürze den Rest durch die Beleihung einer Lebensversicherung begleichen werde. Wallace versicherte Bickmore, daß er bald aus seinen finanziellen Schwierigkeiten heraus wäre. Bickmore fragte ihn, ob er noch weitere Schulden habe. Wallace verneinte das.
Bickmore war jedoch nicht ganz zufriedengestellt; er fühlte sich, wie er sagte, »leicht beunruhigt« wegen Wallace’ Finanzproblemen. Er erinnerte sich daran, daß er Wallace im Museum oft im Gespräch mit einem Bauunternehmer namens Cockerell gesehen hatte, und arrangierte ein Treffen mit letzterem, um herauszufinden, ob er weitere Einzelheiten kannte. Die beiden trafen am 3. Dezember zusammen. Als Bickmore Cockerell den Bericht über die Urteile gegen Wallace in Gesamthöhe von 2475 $ aus der Times vorlas, erwiderte dieser, er befürchte, daß die Gesamtschulden von Wallace eher bei 25.000 $ lägen. Bickmore war überrascht. Cockerell sagte weiterhin, er habe gehört, daß Wallace einem anderen Bauunternehmer, einem gewissen J.B. Smith, eine erhebliche Summe schulde. Als Bickmore fragte, ob Wallace Cockerell persönlich ebenfalls Geld schulde, wich dieser aus. Jede Transaktion, die es zwischen ihnen gegeben haben könnte, erwiderte er, sei vor langer Zeit erfolgt, und er betrachte die Angelegenheit jetzt als erledigt.
Wenige Tage darauf sprach Cockerell bei Bickmore vor. Er brachte weitere Informationen mit. Vor einigen Monaten, so erzählte er Bickmore, habe George Chesley, dessen Tischlerei für das Museum arbeitete, einen Teil eines Auftrags abgeschlossen und brauchte Geld. Cockerell habe Wallace einen Scheck über 3850 $ gegeben, den dieser an Chesley weiterleiten sollte. Einige Zeit später habe Chesley Cockerell angesprochen. Er hatte sein Geld nicht bekommen und drohte, juristische Maßnahmen gegen Wallace zu ergreifen. Cockerell habe Chesley dann sofort einen zweiten Scheck über 3850 $ ausgestellt. Wallace habe ihm den Betrag des ersten Schecks aber niemals zurückerstattet. Und Cockerell hatte noch mehr zu berichten. Er sagte, daß es gewöhnlich sehr lange dauere, bis die Rechnungen aus dem Büro von Wallace an den Rechnungsprüfer weitergeleitet würden. Es sei nun noch nicht lange her, daß die Stadt ihm ungefähr 30.000 $ geschuldet habe, die er dringend benötigte, so daß er Wallace 1000 $ gegeben habe, damit die Rechnungen sofort weitergegeben würden. Diese wurden dann auch prompt zur Zahlung angewiesen. Cockerell fügte hinzu, er habe erfahren, daß Wallace J.B. Smith 8000 $ schulde.
Professor Albert Bickmore in seinem Arbeitszimmer im Museum
(Bildquelle: American Museum of Natural History, New York)
War Bickmore zuvor noch eher erstaunt gewesen, so war er jetzt sprachlos. Am 8. Dezember verfaßte er einen ausführlichen Bericht, in dem er ausführte, was er über die finanziellen Verstrickungen »unseres Freundes Mr. Wallace« in Erfahrung gebracht hatte. Morris Jesup würde sicher alles über diese Angelegenheit wissen wollen. Es war eine Sache, wenn Wallace mit seinem eigenen Vermögen ein gewagtes Spiel trieb; falls er aber Mittel des Museums für private Zwecke veruntreut und Bestechungsgelder für die schnelle Bearbeitung von Rechnungen angenommen hatte, stellte sich der Fall völlig anders dar.
Jesup hatte zwischenzeitlich eigene Nachforschungen angestellt und bereits etwas mehr über Wallace’ finanzielle Verhältnisse erfahren. Am 26. November hatte J.C. Cady vom Architekturbüro Cady, Berg & See, das für das Museum arbeitete, Jesup in einem kurzen Schreiben mitgeteilt, daß Wallace »groß im Milchgeschäft tätig ist. Ein gewisser George A. Twele hat sich daran beteiligt und ihn durch seine Unehrlichkeit in ziemlich große Schwierigkeiten gebracht.«
Jesup verlangte von Wallace einen vollständigen Bericht über seine Aktivitäten und seinen Umgang mit den Konten des Museums. Als ihm der Bericht vorlag, teilte Jesup Wallace mit: »Ich habe soeben Ihren Bericht gelesen. … Ihre Erklärungen sind nicht zufriedenstellend und entsprechen nicht den in meinem Schreiben formulierten Wünschen.« Er fügte hinzu: »Das, was Sie getan haben, betrübt mich sehr.«
Am 11. Januar 1901 kündigte William Wallace seine Stellung im American Museum of Natural History; seine Kündigung wurde ohne weitere Fragen akzeptiert.
Damit waren seine Probleme jedoch noch längst nicht vorbei. Als George Chesley von Wallace’ Kündigung erfuhr, begann er, sich Sorgen zu machen. Er hatte seit einigen Jahren für das Museum gearbeitet und hauptsächlich Schaukästen gebaut. Zwischen 1896 und Anfang 1901 hatte sich Wallace 9965 $ von Chesley geborgt. Chesley behauptete, daß Wallace das Geld unter dem Vorwand geliehen habe, daß es für die Fortführung der Arbeit des Museums verwendet werde.
Chesley sagte, Wallace habe 6995 $ zurückgezahlt, zum Zeitpunkt der Kündigung hätten also noch 2970 $ ausgestanden. Er klagte auf Zahlung dieses Betrages. Das Gericht fällte ein Versäumnisurteil gegen Wallace über 3168,79 $. Im März beantragte Wallace die Wiederaufnahme des Verfahrens und stritt ab, daß er je behauptet habe, das Geld sei für das Museum. Er betonte, daß er alles zurückgezahlt habe. Chesley und er seien alte Freunde und hätten über Jahre hinweg immer wieder Schuldscheine und Schecks ausgetauscht. Auf diese Art habe er auch zwischen 1896 und 1901 Geld von Chesley geborgt.
Die Anwälte des Museums waren mit Informationen über die Klage Chesleys der Presse gegenüber zurückhaltend. Ein Anwalt bemerkte lediglich: »Ich kann nichts darüber sagen, ob Mr. Wallace sich von Bauunternehmern Geld geliehen hat oder nicht, ich kann aber sagen, daß weder er noch irgendein anderer Angestellter des Museums berechtigt ist, von einem Bauunternehmer Geld zu leihen. Die Arbeiten im Museum sind Arbeiten der Öffentlichen Hand, und die Stadt bezahlt keine Rechnungen ohne Zustimmung der Museumsleitung.«
Das Museum hatte unterdessen mit einer eigenen ausführlichen Untersuchung von Wallace’ Verwaltung der Museumsgelder begonnen. Es wurde der Vorwurf erhoben, daß einige der Rechnungen, welche die Auftragnehmer für erledigte Arbeiten und geliefertes Material vorgelegt hatten, überhöht seien und daß zudem eine Reihe von Aufträgen vergeben worden sei, die »von den Angestellten des Museums zu keinem Zeitpunkt geplant waren«.
Zusätzlich zur Überprüfung der von Wallace vergebenen Aufträge für Arbeiten im Museum schickte man auch einen Ermittler nach Cobleskill und Lawyersville, um Wallace’ dortige Aktivitäten zu untersuchen und herauszufinden, ob Gelder des Museums für Wallace’ Geschäfte eingesetzt worden waren. Wallace hatte angegeben, für seine persönlichen Unternehmungen keine Mittel des Museums verwendet zu haben, bei den Nachforschungen stellte sich jedoch das Gegenteil heraus. Der Tischler Chesley hatte im Sommer 1900 vier Monate lang in Cobleskill gearbeitet. Das Museum hatte ihn für drei Monate bezahlt. Nun ergab sich aber, daß er lediglich einen Monat lang für das Museum tätig gewesen war; die übrigen drei Monate hatte er für Wallace persönlich gearbeitet. Ein weiterer Angestellter des Museums hatte einen Monat in Cobleskill verbracht und war dafür vom Museum bezahlt worden. Bei den Nachforschungen wurde festgestellt, daß er während des gesamten Monats nicht für das Museum, sondern auf dem privaten Anwesen von Wallace gearbeitet hatte. Einer der Befragten gab an, sechs oder sieben Tage lang auf Kosten des Museums für Wallace Heu eingebracht zu haben.
Aber welches Interesse konnte das Museum überhaupt daran haben, daß seine Angestellten Zeit auf Wallace’ Farm im Schoharie County verbrachten? Die Antwort klingt bizarr – und ist zugleich ein weiteres Anzeichen dafür, daß Morris Jesup Vertrauen in Wallace gesetzt und ihm Aufgaben übertragen hatte, die nicht unbedingt zu den üblichen Obliegenheiten eines Leiters der Bauabteilung gehören.
Auf der Cold Spring Farm im ländlichen Lawyersville befindet sich hinter dem Haus eine steile Böschung mit einer Quelle. Auf Vorschlag von Wallace hatte das Museum dort eine Anlage eingerichtet, die wechselweise als »Einweichfabrik« oder »Knochenbleichfabrik« bezeichnet wurde. Dort wurden Tierkörper hingebracht, von deren Knochen das Fleisch abgelöst werden sollte. Der natürliche Fluß des Quellwassers machte es möglich, dieses Verfahren billig und sauber durchzuführen. Das Museum hatte eine Dampfpumpe gekauft und in der Anlage installiert. Die Einrichtung war ein offizielles Unternehmen, der Betrieb erfolgte in voller Kenntnis der Entscheidungsträger des Museums.
Das Wohnhaus der Cold Spring Farm – dahinter befand sich die »Knochenbleichfabrik«, in der die Tierpräparate für das Museum vorbereitet wurden
(Bildquelle: Kenn Harper, Iqaluit)
Die Museumsangestellten hatten sich in dieser Anlage betätigen sollen. Statt dessen hatten sie jedoch einen großen Teil ihrer Zeit damit zugebracht, für Wallace’ Zwecke zu arbeiten. Außerdem war Material des Museums veruntreut worden. So war ein kleines Aggregat aus dem Museum eigentlich für die Anlage bestimmt gewesen. Es stellte sich aber heraus, daß es statt dessen in Wallace’ Molkerei aufgebaut worden war.
Während des Betriebs der Anlage im Sommer 1900 suchte Wallace verzweifelt nach Geld, um seine Unternehmungen weiter betreiben zu können. Die Leute in Lawyersville erinnern sich daran, daß er in jenem Sommer einen toten Elefanten auf die Cold Spring Farm brachte, der entbeint werden sollte, um seine Knochen zu einem Skelett für das Museum zu montieren. Erst also eine verlorengegangene Boa Constrictor, dann in Pelze gekleidete kranke Eskimos, die dort starben, und jetzt ein toter Elefant! Dieser Wallace, so dachten sie, war wohl wirklich in merkwürdige Geschäfte verwickelt. Er hatte behauptet, der Elefant sei ein Junges, das er für das Museum in Philadelphia erworben habe. Selbst dieser tote Elefant spielte nun in den Nachforschungen des Museums eine Rolle. Es stellte sich nämlich heraus, daß er weder aus Philadelphia stammte noch ein Elefantenjunges war. Man befragte einen ehemaligen Angestellten, den man nach Lawyersville geschickt hatte, um sich um das Tier zu kümmern. Das Elefantenbaby war in Wirklichkeit ein alter Zirkuselefant! Wallace hatte für den Aufwand des »überlangen Einweichprozesses« eine deftige Rechnung geschrieben, doch fand das Museum heraus, daß der Elefant zusammen mit anderen Tieren, die in diesem Zeitraum für das Museum präpariert wurden, bearbeitet worden war. Es gäbe, so hieß es in dem Bericht, keine Anzeichen dafür, daß der ehemalige Angestellte sich Wallace gegenüber für Gefälligkeiten habe erkenntlich zeigen wollen.
Die Nachforschungen des Museums wiesen auf grobes Mißmanagement der finanziellen Angelegenheiten hin. Jesup ging sofort zum Leiter des Gartenbauamts, zum Rechnungsprüfer der Stadt und zum Bürgermeister, um sie von diesem Stand der Dinge zu unterrichten. Er informierte auch die Geschäftsführung des Museums. Dieser gegenüber bezeichnete er William Wallace, den er sonst immer als engagierten und pflichtbewußten Mitarbeiter gelobt hatte, als jemanden, der lediglich für das Museumsgebäude zuständig sei. Seine Stellung entspräche im wesentlichen der eines leitenden Hausmeisters. Die Buchhalter und Rechtsanwälte des Museums wurden zusammengerufen, und es wurde eine umfassende Untersuchung durchgeführt. Als diese im Hochsommer 1901 abgeschlossen war, sandte Morris Jesup einen langen Brief, der die Aufschrift »Persönlich« trug, an die Professoren Henry Osborn, seinen ehemaligen Assistenten, und Hermon Bumpus, der kurz zuvor zum Leiter des Museums ernannt worden war. In diesem Brief beschrieb er das Fiasko als die Krise »einer großen Institution und Sache«.