cover

julian mars

jetzt sind wir jung

1. Auflage
© 2015 Albino Verlag, Berlin
in der Bruno Gmünder GmbH
Kleiststraße 23-26, D -10787 Berlin

julian mars

jetzt sind
wir jung

image

Für T.

Ohne Dich gäbe es dieses Buch nicht.

Gestern habe ich Martin gesehen. Ohne Vorwarnung, im Supermarkt. Ich stand an Kasse eins, er an der drei. Direkte Sichtlinie. Keine Chance, sich hinter einem Regal zu verstecken. Was tun? Alles auf dem Kassenband liegen lassen und rausrennen? Hatte er mich schon gesehen? Das kannst du nicht machen, dachte ich. Das wäre oberpeinlich.

Ich drehte den Kopf in Richtung Ausgang und schielte so weit nach rechts, dass mir die Augen wehtaten. Aber ich konnte ihn nicht sehen. Deshalb drehte ich mich doch ein kleines bisschen in seine Richtung. Er kramte in seinem Geldbeutel herum. Also hatte er mich nicht bemerkt. Oder zwang er sich auch nur, nicht rüberzuschauen? Er trug seine Haare jetzt länger, was echt dämlich aussah. Aber den Parka hatte er noch. Ich hätte gerne gewusst, ob der Rotweinfleck noch drauf war, aus der Nacht, in der … Plötzlich blickte er auf. Ich drehte mich erschrocken weg. Scheiße, dachte ich. Jetzt hat er dich bestimmt gesehen.

Wenigstens war ich der Nächste in der Schlange. Vor ihm standen noch zwei Leute. Also Kopf runter und dem Drang widerstehen. Nicht rüberschauen, Felix.

Nicht. Rüber. Schauen.

Ruhig atmen. Bezahlen.

Und raus.

Gabriel hat gesagt, ich soll ein Buch schreiben.

Ich saß bei ihm auf seiner roten Sperrmüll-Couch, und im Fernsehen war mal wieder mein Vater zu sehen.

»›Klaus Lipfels, Publizist‹«, las ich die Einblendung vor, während er die erste Frage des Moderators beantwortete. Am Arsch.

Homosexuelle sollen heiraten dürfen und Kinder großziehen und überhaupt die glücklichsten Menschen auf der Erde sein, das ist seit über zwei Jahren eines seiner Lieblingsthemen, mit dem er sich durch die Talkshows und Kommentarspalten der Republik schmarotzt. Ist mir echt egal, was er macht. Aber muss er da jedes Mal mich mit reinziehen? Das Coming-out seines einzigen Sohnes hätte ihn erst so richtig für dieses Thema sensibilisiert. Herzlichen Glückwunsch.

»Noch schöner wäre es gewesen, wenn dich mein Coming-out auch etwas mehr für mich sensibilisiert hätte«, murmelte ich.

»Hast du was gesagt, Prinzessin?« Gabriel blickte von seinem Fachbuch hoch, über dem er schon die ganze Zeit brütete.

»›Klaus Lipfels, Arschloch‹«, sagte ich. »Wenn er wirklich so besorgt um mich gewesen wäre, wie er jetzt behauptet, wär ich vielleicht gar nicht schwul geworden.«

»Da wäre ihm aber ein großes Thema durch die Lappen gegangen«, sagte Gabriel und wandte sich wieder seinem Aufsatz zu.

»Gabriel, du brauchst ’nen Freund«, sagte ich. »Damit du mal was anderes markieren kannst als Textstellen.«

»Mhm«, sagte er ohne aufzublicken. »Sehr witzig. Hab ja bei dir gesehen, wie glücklich so was macht.«

Mein Vater saß zwischen einem Boygroup-Sänger und einem Fernsehmoderator, mit denen er zusammen den bunten Block bildete, der gegen eine fiese Alte von der CDU und einen schmallippigen Priester kämpfte.

»Fühlst du dich von den zwei Schwulen da repräsentiert, Gabriel? Die Leute, die das anschauen, denken doch nachher, wir sind alle so wie die.«

Gabriel zuckte nur mit den Schultern.

»Immer die gleichen Gesichter im Fernsehen, inklusive meines bescheuerten Vaters, die für unsere Rechte kämpfen«, sagte ich. »Sind die mal von uns gewählt worden? Von mir nicht.«

»Der weiße Mann kann nun mal besser mit Minderheiten umgehen, wenn die ein paar telegene Vertreter haben«, antwortete er gleichmütig.

»Zu einer Minderheit zu gehören, ist doch Scheißdreck!«

»Kannst ja jederzeit kündigen. Musst nur aufhören, Schwänze zu lutschen.«

Ich resignierte. Seit Gabriel über Heraklit’sche Semiotik promovierte, konnte man über nichts mehr ernsthaft mit ihm diskutieren. Alles fließt. Alles vergeht. Also ist im Endeffekt auch alles egal. Na ja, geht so.

Ich schaltete um, weil ich mir das nicht mehr anschauen konnte. Dabei bemerkte ich, wie Gabriel mich angestrengt beobachtete. Wie die meisten Hochbegabten leidet er an einer leichten Form von Asperger. Zumindest sage ich das gern, um ihn zu ärgern, weil er manchmal sehr schwer von Begriff ist, wenn es darum geht, menschliche Emotionen zu deuten. Offensichtlich war er nun nach reiflicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass er mich irgendwie beschwichtigen sollte.

»Na, sei doch froh«, sagte er. »Wir sind die Könige der Minderheiten. Weil wir Kaufkraft haben. Nicht auszudenken, wenn wir Zigeuner wären.«

»Die haben wenigstens ’nen Zentralrat, den sie wählen können. Und Zigeuner soll man nicht mehr sagen.«

»Schwule Sau soll man auch nicht mehr sagen. Hat mir aber heute Mittag einer hinterhergebrüllt, als ich im Park in die Büsche wollte.«

Ich verschluckte mich fast an meiner Cola vor Lachen. Aber dann ärgerte ich mich über mich selbst.

»Siehst du, das ist das Problem!«, sagte ich. »Die beschimpfen uns, und wir finden das noch lustig!«

»Ich fand’s ja gar nicht lustig«, sagte Gabriel.

»Ist auch besser so.«

Er hob den Zeigefinger: »Heraklit sagt: – «

Ich warf die Fernbedienung nach ihm, und weil Gabriel nicht nur über das Gefühlsleben, sondern auch über die körperlichen Reflexe eines Großintellektuellen verfügt, traf sie ihn an der Stirn, und er schaute mich empört an. »Na vielen Dank! Waren bestimmt tausend Gehirnzellen jetzt.«

»Ich kann noch ein paar Sachen hinterherschmeißen, dann bist du vielleicht irgendwann normal.«

»Und was muss man mit dir machen, damit du lustig wirst?«

Er hatte recht.

»Tut mir leid«, sagte ich. »Ich bin heute komisch drauf.«

»Ist ja was ganz Neues«, seufzte er und warf mir die Fernbedienung zurück. Sie kam einen halben Meter zu hoch und fast genauso weit zu links angeflogen. Ich fing sie problemlos.

Im Fernsehen lief nur Schrott. Ich zappte ein paar Minuten herum und landete dann doch wieder bei der Talkshow. Dort wurde gerade eine Einspielung vom ersten schwulen Weihnachtsmarkt in Köln gezeigt, auf dem halb nackte Kerle mit Nikolausbart einen Tanz aufführten. Danach fragte der Moderator, ob schwule Männer wirklich Kinder großziehen sollten.

»Komisch, dass die keine Bilder von randalierenden Hooligans zeigen und fragen, ob heterosexuelle Männer wirklich Kinder großziehen sollten«, sagte ich und verschränkte die Arme.

Mein Vater antwortete, dass er keinen Grund sieht, warum sein homosexueller Sohn als Vater ungeeigneter sein solle als er selbst. Ich sah sogar tausend Gründe, weshalb ich dazu deutlich geeigneter wäre als er.

»Ich kenne massenhaft Schwule, die niemals Eltern werden sollten«, sagte ich. »Aber ich kenne doppelt so viele Heteros, auf die das genauso zutrifft.«

Gabriel schaute auf, und wahrscheinlich wollte er mich nur irgendwie ruhigstellen: »Vielleicht solltest du ein Buch schreiben, Prinzessin.«

»Ein Buch? Und was soll ich da reinschreiben?«

»Na alles, was du mir gerade erzählst. Dann kann ich’s bei Bedarf noch mal nachlesen.«

»Mhm, ich lach mich tot«, antwortete ich.

Die Sendung war zu Ende. Ich machte den Fernseher aus.

»Wieso bist du überhaupt plötzlich wieder so politisch?«, fragte Gabriel.

»Nur so.«

»Nur so. Soso.«

Eigentlich wollte ich es ihm gar nicht erzählen, weil ich erst versuchen wollte, mir selbst einen Reim auf die Sache zu machen. Es rutschte mir einfach so heraus: »Ich hab Martin gesehen, gestern im Supermarkt. Aber ich will nicht drüber reden.«

»Seit wann ist der denn wieder – «

»Ich will nicht drüber reden!«

Ich sah im Augenwinkel, wie er mich beobachtete und dabei wahrscheinlich überlegte, ob ich das ernst meinte oder mich nur zierte.

»Ich will wirklich nicht drüber reden.«

»Ist ja gut.«

Es beunruhigte mich, wie sehr mich die Begegnung mit Martin aus der Bahn warf. Aber was hatte ich erwartet? Dass ich ihm zuwinken und fröhlich nach Hause schlendern würde, nach allem, was passiert ist?

»Ich verstehe nicht, warum er plötzlich wieder in Hamburg ist und Toastbrot kauft!«, sagte ich. »Denkst du, er wohnt jetzt wieder hier?«

Armer Gabriel. Jetzt war er ganz verwirrt. »Also willst du doch darüber sprechen?«

»Nein! Ich will nur sagen, dass ich nicht verstehe, warum er wieder da ist. Und was das bedeuten soll.«

»Hast du seine Nummer noch? Frag ihn halt.«

In gewisser Hinsicht ist Gabriel rein wie ein Kind, dem der menschliche Jahrmarkt der Eitelkeiten völlig fremd ist. Wenn man eine Information über eine Person haben möchte, was liegt dann näher, als sie anzurufen und nachzufragen?

Das ging schon deshalb nicht, weil ich oft genug mitten in der Nacht Martins alte Nummer gewählt hatte, um zu wissen, dass sie nicht mehr existierte. Ich schüttelte den Kopf.

»Wann ist diese Party von Tamara?«, fragte Gabriel.

»In zwei Wochen. Warum?«

»Na, wenn Martin dann noch in Hamburg ist, wird er bestimmt kommen, oder?«

Mir wurde flau. Ich kramte die Einladungskarte aus meinem Rucksack, die Emilie mir vor ein paar Tagen feierlich überreicht hatte. Es war ein schmaler Flyer mit einem Bild von Tamara auf der Vorderseite, die von schräg hinten fotografiert auf einer Schaukel saß und sehnsüchtig den bananengelben Vollmond anstarrte, der links über ihr hing. Darunter stand in blutroter Schrift:

MISS TAMARA TESTICLES SAYS GOODNIGHT

Tamara Testicles, bürgerlich Benedetto Dingsbums, kommt eigentlich aus Italien und ist meiner Meinung nach die hässlichste Transe der Welt. Sie ist so etwas wie die Busenfreundin von Emilie, die wiederum so etwas wie meine Busenfreundin ist, und zwar schon seit ich denken kann.

Ich drehte den Flyer um. Auf der Rückseite stand:

FOR ONE VERY LAST TIME

AUGUST 22nd

2 A.M.

THE USUAL PLACE

THE USUAL RULES

»Ihre Geburtstagseinladungen werden auch immer dramatischer«, sagte Gabriel. »Und wer fängt überhaupt nachts um zwei ’ne Party an?«

»Transen«, sagte ich.

Ich holte mein Handy aus der Tasche und schrieb Emilie eine Nachricht: ›Em, weißt du, ob Tamara Martin zu ihrem Geburtstag eingeladen hat?‹

Die Antwort kam wie immer innerhalb von Sekunden: ›Das ist keine Geburtstagsparty!! Das ist eine Trauerfeier!‹

Ich las es Gabriel vor, und selbst der verdrehte die Augen.

Ich tippte mit zittrigen Fingern: ›Sag jetzt, ob Martin auch kommt!‹

›Keine Ahnung. Ist der wieder in Hamburg??‹

›Das versuche ich gerade herauszufinden. Ich hab ihn gestern gesehen. Aber nur von Weitem.‹

Sie schickte ein sehr erschrockenes Emoji. ›Und wie geht’s dir jetzt??‹

›Weiß ich noch nicht‹, antwortete ich.

›Also ich weiß da nichts davon. Aber ich kann morgen Tamara fragen.‹

›Aber sag nicht, dass du von mir fragen sollst!‹

Emilie war wirklich nicht sehr gut darin, Dinge für sich zu behalten. Ich bekam wieder dieses ungute Gefühl im Bauch, wie wenn man in der Achterbahn über eine Kuppe fährt und der Magen zwanzig Zentimeter nach oben hüpft.

»Gabriel, meinst du, wenn ich ein Buch schreibe, kann ich da die ganze Sache mit Martin erzählen? Und von Sebastian?«

»Klar kannst du. Wird bestimmt ein Bestseller, weil’s ein besseres schlechtes Beispiel als dich schon lang nicht mehr gegeben hat. Und am besten fängste ganz von vorne an, damit man auch versteht, wie das mit dir so weit kommen konnte.«

Ich schaute ihn böse an, und anscheinend war selbst ihm jetzt klar, dass er sich besser vorsichtig ausdrückte. Denn er sprach sehr langsam und mit angestrengt zugekniffenen Augen weiter: »Muss ja kein Roman werden, Prinzessin. Aber ich denke … dass es dir vielleicht guttun könnte, mal alles aufzuschreiben.«

»Inwiefern?« Ich wusste natürlich, worauf er hinauswollte. Es war nur einfach zu süß mitanzusehen, wie er sich abquälte, um mir nicht auf den Schlips zu treten.

»Na, du warst ja in letzter Zeit nicht wirklich ... glücklich. Und vielleicht würde dir das helfen, ein paar Dinge … abzuschließen. Weißt du?«

»Wie soll ich mit Martin abschließen, wenn ich mich die ganze Zeit frage, ob ich ihn in zwei Wochen auf dieser blöden Party treffe?«

»Na siehste, hat dein Buch schon einen Bösewicht. Und ein großes Finale, auf das die ganze Sache zusteuert. Das ist fast schon mehr, als man verlangen kann.«

Martin als Bösewicht? Ich schaute aus dem Fenster und dachte nach. So konnte man ihn nicht unbedingt bezeichnen. Er hat sich zwar bescheuert verhalten, aber wenn einer die Sache verbockt hat, dann war ich das.

»Und was mach ich, wenn er nachher doch nicht aufkreuzt? Dann fällt das Finale flach.«

Gabriel zuckte mit den Schultern. »Ist dein Buch halt postmodern.«

Ich stand auf. »Dann geh ich jetzt nach Hause und schreib ein Buch.«

»Mhm«, sagte er. »Mach du mal. Aber mich hältst du da raus.«

Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich – mich. Felix Aleksandr Lipfels.

Eigentlich bin ich ganz gut geraten, auf den ersten Blick zumindest. Der Kerl, der müde aus dem Spiegel zurückschaut, ist vierundzwanzig Jahre alt, blond, schlank – also eigentlich alles bestens so weit. Seit ein paar Jahren habe ich nicht mal mehr Pickel, obwohl ich immer noch aussehe wie mitten in der Pubertät. Ich bin die Art von Kerl, die kaum ein Barthaar hat und die in meinem Alter mit etwas gutem Willen immer noch als vierzehn durchgeht.

Martin gehört zu den Typen, die mit dem Alter immer attraktiver werden. Bis Anfang oder sogar Mitte fünfzig können die sich darauf verlassen, dass es immer besser wird – oder zumindest nicht schlechter. Bei mir wird es eher nicht so kommen. Ich kann schon froh sein, wenn ich mit Ende dreißig nicht aussehe wie ein altes Kind. Da nutzt man die Zeit, die man in seiner Blüte steht, besser gut aus.

Es ist drei Uhr nachts, und seit ich vor ein paar Stunden von Gabriel nach Hause gekommen bin, sitze ich mit dem Laptop an meinem Küchentisch, trinke Gin und mache mir tiefschürfende Gedanken.

Ich bin ein Kind reicher Eltern. Ich bin in einer Villa in Winterhude aufgewachsen, deren Terrasse größer war als die Wohnungen der meisten meiner Mitschüler. Ich lebe im einundzwanzigsten Jahrhundert in einem freien Land, in dem mir alle Türen offenstehen, und im Prinzip ist nicht mal die Tatsache, dass ich schwul bin, heute noch ein wirkliches Problem. Hier in Hamburg zumindest. Oder andersrum gedacht: Wenn schon schwul sein, dann doch lieber jetzt als vor hundert Jahren. Oder heute in Russland.

Im Prinzip schlage ich mich nur mit Dingen rum, die Gabriel als First World Problems bezeichnet. Und er hat ja recht. Aber es wäre auch ein bisschen zu leicht, wenn wir alle automatisch fröhlich wären, nur weil wir jeden Tag genug zu beißen haben.

Wahrscheinlich ist es einfach Veranlagung, dass ich so zum Grübeln neige. Wenn ja, dann hab ich das definitiv von meiner Mutter, deren russische Schwermut früher manchmal tagelang über dem Haus hing wie eine dicke, fette Regenwolke. Auch wenn meine Schwester Anna meint, dass die Sache mit der Schwermut nichts weiter als ein Euphemismus für eine handfeste Depression ist. Und Anna hat immerhin Psychologie studiert.

Genau dieser Schwermut (oder wie man das jetzt nennen möchte) verdankt meine Schwester auch ihren Namen. Richtig, wegen Anna Karenina, dem Lieblingsbuch unserer Mutter. Deswegen sollte ich eigentlich auch Leo heißen. Aber da ist mein Vater dazwischen gegangen, weil er darauf bestand, dass dieses Kind einen etwas glückverheißenderen Namen bekommen sollte. Daraus wurde dann – buchstäblich – Felix.

Das passt auch deshalb, weil wahrscheinlich meine ganze Existenz nichts als Glück ist, sozusagen ein Nebeneffekt der Weltgeschichte.

Ich bin am 1. Juli 1991 geboren. Jahrelang habe ich da nicht weiter drüber nachgedacht, bis Anna irgendwann beiläufig meinte, ich sei bestimmt in der Nacht der Wiedervereinigung gezeugt worden. Wahrscheinlich hat sie das im Spaß gesagt. Aber es spricht tatsächlich alles dafür. Irgendein feierlicher Anlass muss es auf jeden Fall gewesen sein, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass meine Eltern damals noch freiwillig in einem Bett geschlafen haben, zumindest nicht nüchtern. Und mein Vater ist immerhin der Sohn von Republikflüchtlingen. An dem Tag gab es bei uns zu Hause bestimmt kein Halten mehr. Man lacht, man trinkt, man tanzt auf dem Tisch. Und dann tut man etwas, das man seit Ewigkeiten nicht mehr gemacht hat. Man treibt es miteinander. Und denkt keine Sekunde drüber nach, dass da fast zehn Jahre nach der Geburt der einzigen Tochter noch was passieren könnte. Aber so sind die Erwachsenen. Die meinen, sie hätten alles erlebt und alles im Griff und es könnte ihnen nichts mehr passieren. Und dann werden sie schwanger.

Als ich mit sechzehn das erste Mal meine Schwester in Berlin besucht habe und wir vor der East Side Gallery standen, habe ich Anna gefragt, ob sie das ernst gemeint hatte mit mir und der Wiedervereinigung. Sie wusste erst gar nicht, was ich meinte, und hat dann nur gelacht.

»Hat dich das so schwer beschäftigt?«

»Glaubst du, es stimmt?«, fragte ich mit flauem Magen.

»Keine Ahnung, könnte sein. Sei doch froh drüber.« Sie wuschelte mir durchs Haar. »Ich bin jedenfalls froh.«

Meine Schwester ist also der Meinung, dass Mama nichts anderes hat als eine handfeste Depression. Obwohl meine Mutter das sicherlich anders sähe. Vielleicht ist sie auch überhaupt nicht depressiv, sondern einfach nur exzentrisch, und es macht ihr Spaß, sich wie die tragische Heldin in einem Roman von Tolstoi zu benehmen.

Einmal, als ich ungefähr acht war, habe ich sie gefragt, ob sie krank ist, weil sie tagelang kaum aus dem Schlafzimmer rauskam.

»Ich bin nicht krank, Sladkij«, hat sie gesagt. »Ich bin geknickt, weil mein Mann mich nicht liebt.«

Sie war schon immer skrupellos, wenn es darum ging, ihren privaten Müll bei mir abzuladen. Ich weiß nur immer noch nicht, ob sie das aus Unachtsamkeit macht oder aus Berechnung.

Ich will es jetzt aber auch nicht so hinstellen, als ob Mama schuld daran wäre, dass es mir zurzeit so geht, wie es mir eben geht. Oder mein Vater oder Martin oder Gayromeo oder die Gesellschaft. Oder die Fernsehserien, die wir alle Abend für Abend anschauen. Wenn, dann haben die Fernsehserien Schuld. Früher hat man immer gesagt, es ist schlecht, wenn Jugendliche Pornos gucken, weil ihnen da völlig verzerrte Vorstellungen von Sex vermittelt werden. Dabei ist das Quatsch, inzwischen zumindest. Der echte Sex hat den in den meisten Pornos längst eingeholt. Wir sind doch schon alle zu Hochleistungsfickern geworden, die dabei jeden Muskel anspannen und den Bauch einziehen und mittendrin die Haare richten und sich heimlich selbst im Spiegel beobachten, um sicherzugehen, dass man auch ja nicht scheiße aussieht. Könnte ja jeden Moment einer eine Kamera draufhalten.

Was uns wirklich versaut, sind die Fernsehserien, die uns völlig überzogene Ideale von Freundschaft vermitteln und uns auf gut aussehende, gut verdienende, gutmütige Traumprinzen hoffen lassen, die wir im echten Leben niemals treffen werden. Die sollten alle mindestens ab achtzehn sein.

Wir können schon gar nicht mehr zufrieden sein mit dem, was wir haben, weil wir immer überlegen, ob es nicht noch ein bisschen besser geht. Und eben das macht uns unzufrieden. Und sorgt dafür, dass wir Dinge tun und sagen, die uns richtig in die Scheiße reiten. Wenn man jung ist, macht das nichts. Oder nicht so viel zumindest. Da wird einem noch viel mehr verziehen. Aber so jung bin ich jetzt nicht mehr. Ich bin so gut wie erwachsen und an dem Punkt angekommen, an dem man sich entscheiden muss, ob man diese ganze Scheiße namens Leben in einigermaßen gute Bahnen lenken möchte, oder ob man sie frontal an die Wand setzt.

Das ist das Problem, wenn man mit der Schule durch ist und zu Hause auszieht und das Leben plötzlich Fahrt aufnimmt. Man ist so begeistert davon, den Wind zu spüren, dass man fast nicht merkt, wie schwierig es plötzlich wird, heil aus den Kurven zu kommen. Wobei ich im Rückblick zugeben muss, dass man meinen könnte, ich sei im letzten Jahr mit voller Absicht geradeaus gefahren, immer weiter in Richtung Wand.

Ich bin seit Ewigkeiten nicht mehr an der Uni gewesen, dafür aber fast jeden Abend in irgendwelchen Bumsschuppen. Liebeskummer nennt man das wohl. Klingt romantischer als Burnout. (Und ehrlich gesagt habe ich eh noch nie in meinem Leben richtig gearbeitet.) Ich war ekelhaft zu meinen Freunden, obwohl ich im Prinzip nur zwei davon habe. Und zu meiner Mutter sowieso, aber die hat es wenigstens verdient.

Immerhin hab ich inzwischen kapiert, dass das größte Arschloch in meinem Leben immer noch ich selbst bin. War. Und dass ich das auch nur selbst ändern kann. Wahrscheinlich wäre es ein ganz guter Anfang, mich bei Martin dafür zu entschuldigen, dass ich ihm das Herz gebrochen habe, nachdem wir zwei Jahre lang echt verdammt glücklich waren. Allerdings sollte er sich dann vielleicht auch bei mir entschuldigen, dass er einfach kommentarlos weggezogen ist und mir seither kein einziges Lebenszeichen geschickt hat.

Neben meinem Laptop, auf dem ich das hier gerade tippe, liegt der Flyer für Tamaras Party. Ich würde sie am liebsten sofort anrufen und fragen, ob sie weiß, dass Martin wieder in der Stadt ist. Und warum. Und wie lange. Und ob er zu ihrer Party kommt. Die beiden haben sich über mich kennengelernt, als Martin und ich schon ein paar Monate zusammen waren, aber sie waren sofort ein Herz und eine Seele, worauf ich immer ein bisschen eifersüchtig gewesen bin. Und obwohl sie mir im letzten Jahr hundertmal geschworen hat, dass sie nicht wüsste, wohin er verschwunden ist, habe ich ihr das nie so richtig geglaubt.

Wie lange braucht man, um über eine Trennung hinwegzukommen? Wovon ist das abhängig? Und wie kann Martin sich nur so bescheuerte lange Haare wachsen lassen?

Ich stelle mein Handy auf Rufnummer unterdrücken und wähle zum tausendsten Mal seine alte Nummer, von der ich längst weiß, dass es sie nicht mehr gibt.

»Der Teilnehmer ist uns nicht bekannt.«

Eh klar.

Manchmal muss ich mich zwingen, ins Bett zu gehen, um mich davon abzuhalten, noch größeres Unheil anzurichten. Ich will nur noch kurz sagen, dass mein Leben eigentlich gar nicht so schlimm ist, wie das jetzt vielleicht geklungen hat, meistens zumindest. Wahrscheinlich war es bisher eher so eine Art Tragikomödie. Wobei man das ja immer erst mit Sicherheit sagen kann, wenn man weiß, wie es ausgeht.

Aber will ich das überhaupt wissen?

Noch dreizehn Tage bis zu Tamaras Party.

Ich bin mir sicher, dass sich jeder Schwule schon mal gefragt hat, warum es ausgerechnet ihn treffen musste. Zumindest ganz am Anfang, als ihm zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, dass er niemals eine Ehefrau haben wird, keine Kinder, nie eine normale Familie. Und dass ihm diese nervenzerfetzende Scheiße namens Coming-out blüht, wenn er sich nicht für den Rest seines Lebens verstecken will.

Die Antwort ist: Man weiß nicht so richtig, woran es liegt. Wenn man mal versucht zu googeln, warum manche Männer schwul sind und andere nicht, stößt man auf ein ganzes Universum an Theorien, von denen die meisten gequirlte Kacke sind.

Was ich immerhin mit Sicherheit sagen kann, ist: Wenn dieser klassische Klischee-Erklärungsansatz mit dem abweisenden Vater und der überdramatischen Mutter auch nur halbwegs zutrifft, dann gehe ich sicherlich als Paradebeispiel dafür durch. Denn während meine Mutter bis auf ihre jährliche Sommerreise nach Petersburg immer, also wirklich immer, zu Hause war und dort ihre russische Tragödie aufführte, war mein Vater so gut wie nie da, weil er zwischen den Hauptstädten der Welt hin und her pendelte und nur zu besonderen Anlässen heimkam. Und wenn er da war, hat er das Haus so derartig mit seiner Arschlochhaftigkeit vollgepestet und Mama, den Angestellten und mir bei jeder Gelegenheit einen blöden Spruch reingedrückt, dass alle froh waren, wenn er endlich wieder auf dem Weg zum Flughafen war. Meine Schwester hat mal gesagt, dass es in ihrem Leben nie einen Vater gab, sondern nur einen bösen Mann, der sich ab und zu in ihrem Zuhause breitmachte. Das trifft es leider ziemlich gut, muss man sagen.

Ich habe relativ früh angefangen, nachts von Männern zu träumen, bestimmt schon mit sieben oder acht. Ich glaube, der erste war der Vater meiner Freundin Emilie, den ich auch heute noch verdammt sexy finde. Das kann aber auch daran liegen, dass der sich im Gegensatz zu meinem eigenen Vater ernsthaft für mich interessiert hat. Daddy Issues halt.

Trotzdem habe ich lange gehofft, dass das nur eine Phase wäre, die sich irgendwann auswächst. Zumindest stand in der BRAVO, dass das gut möglich wäre. War dann aber nicht so. Na gut.

Ich will mich gar nicht mehr auf Diskussionen einlassen, ob ein Leben als Homosexueller grundsätzlich gut oder schlecht oder erstrebenswert ist oder nicht (die hatte ich mit Martins Freunden zur Genüge). Aber ich glaube, keiner würde wirklich abstreiten, dass heterosexuell sein einfach praktischer ist, aus ganz vielen Gründen. Schon allein, weil man sich nicht ständig erklären muss. Und in der Regel keine Angst zu haben braucht, deswegen aufs Maul zu kriegen. Und natürlich, weil man die größere Auswahl hat und es viel leichter ist, überhaupt jemanden kennenzulernen, der so tickt wie man selbst.

Das war am Anfang mein Hauptproblem. Ich wollte Jungs kennenlernen, mit denen ich mich austauschen konnte, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Natürlich wusste ich, dass es so etwas wie die Szene gab, aber alles, was ich damals darüber wusste, fand ich echt abschreckend (und im Prinzip geht’s mir heute noch so). Ich weiß noch, dass ich oft spätabends im Bett lag und mir zum Heulen zumute war, weil ich Angst hatte, dass der größte Teil der Schwulen aussah und sich benahm wie die gepuderten Halbnackten beim CSD, über die sich in der Schule alle lustig machten.

Als ich mit fünfzehn meinen ersten Laptop bekam, fing ich an, rumzusurfen. Ich habe mich bei dbna angemeldet und ganze Nächte lang mit anderen gechattet, was damals noch wahnsinnig verkrampft war, weil sich keiner getraut hat, ein Bild von sich zu verschicken. Das war auch der Grund, weshalb ich mich lange nicht mit einem Jungen treffen wollte. Weil ich Angst hatte, mit dem in der Stadt jemandem aus meiner Klasse oder dem Ruderverein zu begegnen. Oder am besten noch meiner Mutter.

Wer ist denn dein Freund, Felix? Den kenne ich ja gar nicht.

Und man konnte ja auch nicht wissen, ob der andere ein totaler Psycho war, der einem nachher bis nach Hause hinterherlief und vor dem Küchenfenster eine Szene machte. Schwulen war schließlich alles zuzutrauen.

Und dann war der Allererste, den ich getroffen habe, natürlich der totale Schuss in den Ofen. Das war kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag, und er hatte mir ein Bild von sich geschickt, auf dem er ziemlich gut ausgesehen hatte. Das habe ich heute noch auf dem Computer. Gleichzeitig hatte er kein Problem damit, dass ich ihm lieber kein Bild von mir schicken wollte, was ich ziemlich sympathisch fand. Er war Anfang zwanzig und studierte irgendwas Naturwissenschaftliches, und ich glaube, er hieß Milan.

Wir waren mittags um halb zwei vor den Alsterarkaden verabredet, und ich hatte die letzte Stunde geschwänzt, um vorher schnell meinen Rucksack zu Hause abzuladen. Ich weiß noch, wie meine Knie zitterten, als ich vor dem Eingang auf ihn wartete. Später sagte er, er habe mich daran erkannt, dass ich ausgesehen hätte, als ob ich gleich losheulen würde.

Im Prinzip lief es ganz gut, am Anfang zumindest. Aber es stellte sich schnell heraus, dass er so ziemlich jeden Schwulen unter fünfundzwanzig in ganz Hamburg kannte und ungefähr acht Ex-Freunde hatte. Und teilweise waren da auch Leute darunter, mit denen ich selbst schon gechattet hatte. Die Tatsache, dass alle Schwulen sich untereinander zu kennen scheinen und jeder schon mal was mit jedem hatte und jeder hinterrücks über jeden lästert, war mir damals genauso unheimlich und zuwider wie heute.

Milan schlug vor, zu ihm nach Hause zu gehen, und ich stimmte zu, weil ich nicht wusste, was ich sonst hätte sagen sollen. Zu meinem Entsetzen stellte sich aber heraus, dass er nur zwei Straßen von mir entfernt wohnte. Bei seinen Eltern. Die beide zu Hause waren und mich freudig begrüßten und mir ein Stück Kuchen anboten.

Als wir endlich alleine in seinem Zimmer waren, fragte ich ihn, was er seinen Eltern über mich erzählt hatte.

»Och, nicht so viel. Ich weiß ja fast nix über dich. Aber die freuen sich immer, wenn ich ein Date habe.«

Langsam wurde ich panisch. Ich hätte mich dafür schlagen können, dass ich mich auf so ein Abenteuer eingelassen hatte, von dem ich nicht wusste, wie ich da wieder rauskommen sollte. Zumal Milan auf seinem Sofa immer näher an mich ranrückte und davon redete, auf welche Partys er mich mal mitnehmen wollte und wem er mich dort alles vorstellen würde. Ich hatte überhaupt keine Lust, mit ihm rumzumachen, und das lag auch daran, dass ich nicht aufhören konnte, mir vorzustellen, dass seine Eltern jetzt unten Kuchen aßen und ihren Sohn innerlich anfeuerten.

»Wie sieht’s aus bei dir?«, fragte er mich. »Hast du schon mal Sex gehabt?«

»Äh, nein«, sagte ich. »Und damit will ich auch noch warten, wenn’s möglich wäre.«

Brauchte er ja nicht zu wissen, dass ich schon anderthalb Jahre vorher nach einem Bericht, den ich heimlich nachts im Fernsehen gesehen hatte, die Klappe am Hauptbahnhof entdeckt hatte, also das dortige Herrenklo, in dem sich Schwule und andere Unbefriedigte trafen, um sich mal schnell gegenseitig an die Nudel zu gehen.

Bedeutungslosen Sex zu bekommen, ist nämlich ganz sicher nicht das Problem, wenn man schwul ist – und wenn man vierzehn ist und blond und ein bisschen aussieht wie gerade aus einem Kinderporno rübergebeamt, erst recht nicht.

Egal ob man das auf irgendwelchen Bahnhofsklos macht oder in Parks oder am Strand oder in Pornokinos oder in Bars oder natürlich übers Internet. Manche meinen ja, das sei ein Beweis dafür, dass Schwule einfach irgendwie falsch verdrahtet wären. So triebhaft zu sein und mal kurz auf dem Weg zum Bäcker drei anderen die Palme zu wedeln – da könne man ja nicht ganz richtig ticken. Dabei kann mir keiner erzählen, dass der größte Teil der Heteromänner es ablehnen würde, sich nach Feierabend mal irgendwo einen lutschen zu lassen, wenn er ähnlich unkomplizierte Möglichkeiten dazu hätte. Nicht die Schwulen sind die Drecksäue. Männer sind es. Und die Heteros haben nur das Problem, dass Frauen da nicht so Bock drauf haben. Zumindest die anständigen nicht. Es gibt nämlich auch für Heteros solche Orte. Nur dass die Puff heißen und Geld kosten. Und trotzdem sind die immer voll, sonst hätte Emilies Vater nicht gleich vier davon.

Und man sollte auch nicht vergessen, dass die Homos jahrhundertelang gezwungen wurden, sich an solchen unheiligen Plätzen auszuleben, weil man ruckzuck ins Zuchthaus oder an noch schlimmere Orte wanderte, wenn man zu laut aussprach, dass man den Mann fürs Leben suchte. Das ist heute zwar nicht mehr so, aber mit dem Cruisen ist es wahrscheinlich wie mit allen schlechten Angewohnheiten. Die kriegt man dann ganz schwer wieder los.

Als Vierzehnjähriger wusste ich das natürlich alles noch nicht. Da fand ich es einfach nur krass zu erfahren, dass es Orte gab, an die man als Schwuler hingehen konnte, um Sex zu haben. Krass und verlockend. Ich weiß schon, dass ich mit vierzehn etwas früh dran war. Und dass es definitiv romantischere Umgebungen gegeben hätte als das Klo am Hauptbahnhof, um das erste Mal einen anderen Schwanz in die Hand zu nehmen. Inzwischen denke ich ja selbst, dass das nicht unbedingt ein sanfter Einstieg war. Aber versuch mal, einem geilen Vierzehnjährigen zu erklären, dass es besser für sein Seelenheil wäre, noch ein paar Jahre zu warten, bis die große Liebe vor der Tür steht. Da malt der dir mit seinem Vorsaft einen Stinkefinger auf die Fensterscheibe.

Ich hab auch leider nie mit irgendwelchen Kumpels Kekswichsen oder so was gemacht. Das kann natürlich daran liegen, dass ich nie irgendwelche Kumpels hatte. Im Ruderverein war ich immer der Öko, weil ich als Einziger auf der Waldorfschule war. Und in der Schule war ich immer der Bonze, weil ich als Einziger reiche Eltern hatte. Und natürlich war ich schwul. Das hat man mir zwar nicht angemerkt, aber ich glaube, als Schwuler in einem Haufen Jungs, die permanent über Mädchen reden und sich nackte Weiber auf ihren Handys zeigen, verhält man sich ganz automatisch irgendwie … nicht dazugehörend. Zumindest wenn man nicht die Energie aufbringen will, jeden Tag auf seiner Brust rumzutrommeln und mitzubrüllen.

Zurück zu Milan. Ich saß also unter einem Poster von Star Wars: Episode III auf seiner Couch und beobachtete skeptisch, wie er mir immer näher kam.

»Sag mal, bist du denn aktiv oder passiv? Also, beim Analverkehr.«

»Ich glaube, beides«, antwortete ich möglichst unverfänglich und fragte mich, woher ich das denn wissen sollte. Obwohl die Frage grundsätzlich nicht unberechtigt ist, weil es bei Schwulen ja nicht schon durch die Natur vorgegeben ist, wer nachher wen besteigt. Drum klärt man das besser frühzeitig, damit es nachher keine langen Gesichter gibt.

Milan sah wirklich nicht schlecht aus. Definitiv besser als die allermeisten auf dem Bahnhofsklo. Daran lag es nicht. Aber mir war die ganze Situation unheimlich. Sex bei einem Jungen zu Hause, auf einem Bett und mit allem Drum und Dran, wirkte auf mich viel intimer als ein schneller Blowjob im Stehen. Ich weiß, dass das vielleicht absurd klingt, aber ich habe mich immer noch irgendwie als Jungfrau gesehen, und ich war noch nicht bereit für ein richtiges erstes Mal mit Küssen und Köperkontakt und Eltern, die schon mit dem Streichholz in der Hand vor dem Tischfeuerwerk sitzen und warten, dass man wieder runterkommt und ihnen zuwinkt.

Also zog ich mich ziemlich ungalant aus der Affäre, indem mir plötzlich einfiel, dass ich noch Hausaufgaben machen musste, gab ihm zum Abschied die Hand und verließ das Haus, ohne mich von seinen Eltern zu verabschieden.

Obwohl es keine fünf Minuten gedauert hätte, nach Hause zu laufen, ging ich zur Bahnstation und fuhr erst mal wieder in die Stadt, weil ich solche Angst hatte, dass er mir folgen könnte. Ich ignorierte seine Kontaktversuche im Chat, die noch ein paar Wochen andauerten. Und man kann sich vorstellen, was für eine Angst ich die nächsten paar Jahre hatte, ihn zufällig mit meiner Mutter auf der Straße zu treffen.

An diesem Abend lag ich im Bett und fragte mich, warum es so kompliziert sein musste, schwul zu sein. Und warum Jungs wie ich gezwungen wurden, Dinge in größter Heimlichkeit durchzuziehen, die für andere in unserem Alter selbstverständlich waren. Auch wenn mich die Situation am Nachmittag völlig überfordert hatte, beneidete ich Milan um seine Eltern, die so offen mit der Homosexualität ihres Sohnes umgingen und ihn so unterstützten. Als ob sie aktiv beschlossen hätten zu sagen: Unser Sohn ist schwul, okay, aber wir tun einfach gemeinsam so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Und zwar so lange, bis es irgendwann auch stimmt.

Für mich war das Schlimmste am Schwulsein schon immer, dass man früher oder später gezwungen wird, seine Mitmenschen darüber zu informieren. Genau, dieser schreckliche Moment, in dem man seine Schlafzimmertür aufreißen und die anderen wissen lassen muss, was man da drin am liebsten macht. Nämlich Schwänze lutschen. Zumindest bin ich mir ziemlich sicher, dass jeder normale Heterosexuelle sofort diese Assoziation hat, wenn man ausspricht, dass man schwul ist. Und das nervt. Geht doch keinen was an eigentlich, oder?

Gabriel hat mal erzählt, dass er in der U-Bahn einem Prediger zugehört hat, der den Leuten weismachen wollte, der beste Beweis dafür, dass Gott die Schwulen hasst, wäre die Tatsache, dass sie das selbe Loch zum Ficken benutzen müssen, aus dem die Kacke rauskommt.

Es ist natürlich nicht falsch, dass das durchaus manchmal Unwägbarkeiten mit sich bringt. Dabei ist meiner Meinung nach die Sache mit dem Coming-out noch viel schlimmer. Allein dieses Wort. Damit man direkt Bescheid weiß, dass sich die deutsche Sprache schon zu fein dazu ist, sich überhaupt Gedanken darüber zu machen, wie man diese Folter nennen könnte. Wenn es also einen Gott gibt und wenn er uns tatsächlich hasst, dann zeigt sich das daran, dass er uns zwingt, auszusprechen, was für abnormale Wesen wir sind. Wie bei den Anonymen Alkis. Als ob man sich zwingen müsste, es einmal laut zu sagen, um dann vielleicht irgendwann davon geheilt zu werden.

Hallo, ich bin Felix und ich … ich bin schwul.

Hi, Felix.

Als ich noch mit Martin zusammen war, war die Sache verhältnismäßig einfach. Zumindest bei Leuten, die ich neu kennengelernt habe, an der Uni oder so. Da konnte man noch versuchen, irgendwann möglichst beiläufig so was zu sagen wie: »Gestern bin ich mit meinem Freund im Kino gewesen«, oder: »Als ich neulich mit meinem Freund an die Nordsee gefahren bin …«

Die einfachste Übung auf der Welt, sollte man meinen. Trotzdem hatte ich jedes Mal einen Puls wie ein Sprinter nach dem Zieleinlauf, auch wenn ich nicht erklären kann, warum eigentlich. Das waren ja alles Leute, bei denen man jetzt nicht erwarten musste, deswegen im nächsten Moment aufs Maul zu kriegen. Und trotzdem war jedes Mal wieder die Angst da, abgelehnt oder ausgelacht oder einfach nur plötzlich als ein ganz anderer Mensch betrachtet zu werden. Nicht mehr als Felix, der zufällig schwul ist. Sondern als Schwuler, der zufällig Felix heißt.

Wenn man Single ist und nicht mehr die Möglichkeit hat, die Info mit dem Freund scheinbar beiläufig fallen zu lassen, wird es eh schon wieder viel komplizierter. Weil es größer wird. Weil man es nicht mehr wie nebenbei erledigen kann, sondern weil es dann mindestens einen Hauptsatz kostet, sich vor den anderen völlig nackt zu machen, und das Fiese ist, dass es umso schwieriger wird, je länger man es vor sich herschiebt. Weil man sich dann auch noch dafür rechtfertigen muss, dass man es nicht schon viel früher gesagt hat. Als ob es da einen Anspruch darauf gäbe, dass man das schleunigst zu erfahren hat.

Der allererste Mensch, bei dem ich mich geoutet habe, war meine Schwester. Das war so nicht geplant, und es kam auch nur aufgrund einer ziemlichen Ausnahmesituation dazu.

Eigentlich wäre Emilie die naheliegendste Wahl gewesen. Emilie war seit der ersten Klasse meine Schicksalsgenossin. Mein Fluch und mein Segen. Wir waren die einzigen Kinder auf der Waldorfschule, die sich nicht schon aus dem Waldorfkindergarten kannten, und unsere Mütter waren die einzigen beiden, die bei der Schulanmeldung Pelzmäntel trugen. Beides schweißt echt enorm zusammen. So kamen die beiden Frauen ins Gespräch und begannen eine lebhafte und für alle deutlich hörbare Unterhaltung darüber, dass ja ihre Männer die treibenden Kräfte hinter diesem ganzen Waldorfschul-Zauber waren.

Emilie und ich hatten uns scheu hinter den Beinen unserer Mütter versteckt und lugten gleichzeitig vorsichtig hervor. Und so kam es, dass mir dieses absonderliche Mädchen mit dem Gesicht einer Porzellanpuppe, den Haaren von Schneewittchen und dem Mundwerk einer alten Hafennutte zum ersten Mal ein zahnlückiges Lächeln schenkte. Wir wurden sofort Freunde, obwohl sie inzwischen längst zu einer Art Schwester für mich geworden ist, viel mehr noch als meine echte Schwester Anna, die ja viel älter ist als ich.

Ich liebe Anna. Und ich bin schon deshalb froh, dass ich sie habe, weil sie der einzige Mensch ist, der versteht, wie es ist, meine Eltern als Eltern zu haben. Aber wegen unseres Altersunterschieds war sie für mich eigentlich nie eine richtige Schwester, sondern eher ein Mittelding aus cooler Tante und mütterlicher Freundin. Bis vor ein paar Jahren hab ich sie sowieso kaum gekannt, weil sie zu Hause ausgezogen ist, sobald sie volljährig geworden war. In den nächsten Jahren habe ich sie nur alle paar Wochen mal gesehen, und als sie dann mit zwanzig zum Studieren nach Berlin gegangen ist, eigentlich so gut wie gar nicht mehr. Sie war für mich immer ein Vorbild gewesen, weil sie sich schon so früh von meinen kranken Alten losgesagt und ihr Glück selbst in die Hand genommen hatte. Aber sie war sehr lange viel zu weit weg.

Das Wort Schwester passt schon deshalb besser zu Emilie, weil es klarstellt, dass man sich keinesfalls immer leiden können muss, um zu wissen, dass man für immer verbunden sein wird. Eine Freundschaft kann man aufkündigen. Blutsverwandtschaft nicht. Hatte Emilie zumindest gesagt, als wir uns in den Sommerferien nach der vierten Klasse mit einem Perlenohrstecker meiner Mutter in die Zeigefinger piekten und sie feierlich aneinanderdrückten. (Heute würde sie sich das sicher nicht mehr trauen, wegen allem, was sie sich von mir einfangen könnte.)

Die Freundschaft unserer Mütter hatte nur so lange angedauert, bis die Sprache darauf kam, was Emilies Vater beruflich macht. Darauf entschied meine Mutter, dass es sich nicht schickte, Kontakte mit der Frau eines Puffbesitzers zu pflegen, und beäugte von da an auch meine Verbindung mit Emilie mit äußerstem Argwohn. Das hatte allerdings wiederum meinen Vater nur angestachelt, Emilies Vater zu einem seiner besten Freunde zu machen. (In gewissen intellektuellen Kreisen gilt es sowieso als schick, sich mit Vertretern der Halbwelt zu umgeben.) Und natürlich konnte es der Kumpanei zwischen mir und Emilie nichts anhaben, die ich gegenüber meiner Mutter und allen anderen umso leidenschaftlicher verteidigte und die mit den Jahren immer stärker wurde.

Ich war derjenige, den Emilie anrief, wenn sie mal wieder erkannt hatte, dass ihr aktueller Typ ein mieses Arschloch war. Und Emilie war diejenige, die ich anrief, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, weil ich meine Mutter zwei Zimmer weiter weinen hörte.

Warum war sie nicht diejenige, die ich anrief, als ich mir immer sicherer wurde, schwul zu sein? Ehrlich gesagt hatte ich lange ein bisschen das Gefühl, sie könnte vielleicht verliebt in mich sein. Und deshalb hatte ich Hemmungen, weil ich ihr das nicht antun wollte. Wobei es natürlich genau deshalb fairer gewesen wäre, frühzeitig reinen Tisch zu machen. Aber das sagt sich Jahre später deutlich leichter, als es sich damals mit fünfzehn angefühlt hat.

Schon seit ich denken kann, verbringt meine Mutter jeden Sommer sechs Wochen in Sankt Petersburg. Wenn ich als Kind geweint habe, weil ich nicht wollte, dass sie so lange wegfährt, hat sie mir immer erzählt, dass sie dort ein wichtiges Mitglied der Gesellschaft wäre und dass ihre Ankunft Jahr für Jahr sehnsüchtig erwartet würde, und ich zog etwas Trost aus der kindlichen Vorstellung, Mama wäre eine Art Superheldin, die mit ihrem Witz und ihrem Charme der Petersburger Hautevolee die Sommerfrische rettet. Und sich deshalb den gesamten Rest des Jahres bei zugezogenen Vorhängen davon erholen muss.

Zumindest glaubte ich das so lange, bis ich zufällig mitbekam, wie mein besoffener Vater auf unserer Terrasse vor ein paar seiner Kollegen herumposaunte, dass Madamski in Russland keine Sau kennt und sie ihre komplette Zeit alleine vor ein und demselben Bild in der Eremitage oder heulend in ihrer Hotelsuite verbringt.

Ich hatte keine Ahnung, woher mein Vater das gewusst haben will und ob er das überhaupt ernst meinte, oder ob er nur irgendeinen Scheiß über Mama erzählen wollte. Aber ich konnte mir sehr gut vorstellen, wie meine schöne, elegante Mutter tagelang auf einem Bänkchen vor demselben Bild sitzt und sich dabei gedankenverloren in einer ihrer blonden Haarsträhnen spielt wie die Heldin im ersten Kapitel eines großen Romans. Ich habe mir auch vorgestellt, was das für ein Bild sein könnte, das sie so fasziniert. Und wie das Buch dann weitergehen würde. Meistens wurde sie irgendwann von einem gut aussehenden Mann angesprochen und in ein gefährliches Spiel zwischen Spionen verwickelt, aus dem sie am Ende gestärkt und mit neuem Lebensmut hervorging. Zumindest hätte ich ihr das gewünscht. Aber inzwischen denke ich mir auch, dass jeder selbst dafür verantwortlich ist, wie sein Buch zu Ende geht.

»Meine Fresse, Felix! Du bist aber hübsch geworden«, sagte Anna und nahm mich fest in den Arm.

»Ich war schon immer hübsch«, antwortete ich und fragte mich, warum sie das erste Mal seit Ewigkeiten bei uns in Hamburg vor der Tür stand. Das war noch ein paar Wochen, bevor ich Milan kennenlernte. Mama war zwei oder drei Tage zuvor nach Petersburg aufgebrochen, und ich war gerade aufgestanden und wollte mir Frühstück machen, als es an der Haustür geklingelt hatte.

»Was machst du hier?«, fragte ich Anna. Ich freute mich, meine Schwester zu sehen, aber die ganze Sache kam mir auch irgendwie komisch vor.

»Ist Klaus da?«, fragte sie.

»Papa ist in England oder so. Bis Freitag.«

»Und dann sitzt du hier ganz alleine rum, statt ’ne riesige Party zu feiern?«, lachte sie laut und stellte ihren Rollkoffer am Treppenabsatz ab. Sie schob ihre Sonnenbrille in ihre roten Haare und schaute sich in der Eingangshalle um.

»Wie früher«, sagte sie leise.

Ich betrachtete sie und stellte fest, dass sie unserer Mutter noch ähnlicher sah, als ich es in Erinnerung hatte. Sie wäre genauso hübsch gewesen, wenn sie nicht ausgerechnet Papas Kartoffelnase geerbt hätte.

»Felix, weißt du, wo dein russischer Pass liegt?«

Damals hatten wir beide noch die deutsche und die russische Staatsbürgerschaft.

»Klar, oben in ’nem Ordner.«

»Okay, pass auf, dann holst du den jetzt und packst ein paar Sachen. Und in ’ner halben Stunde fahren wir zum Flughafen.«

»Hä?«

»Wir überraschen Mama. Die fällt bestimmt vom Stuhl, wenn wir beide plötzlich in ihrem Hotelzimmer stehen, was meinst du? Wir haben noch nie zu dritt was gemacht, oder? Das wird lustig! Los, hoch mit dir. Soll ich dir beim Packen helfen?«

Ich weiß nicht, ob meine Schwester dachte, dass Sechzehnjährige geistig noch auf dem Stand von Erstklässlern wären. Natürlich wusste ich sofort, dass an dieser Sache irgendwas faul war. Aber ich hatte auch das Gefühl, dass für lange Nachfragen keine Zeit blieb.

Während des Fluges plapperte Anna pausenlos auf mich ein und fragte mich allerhand belangloses Zeug. Erst auf der Taxifahrt vom Flughafen wurde sie still und schaute immer unruhiger zum Fenster hinaus. Sie stellte dem Taxifahrer einige Fragen, doch ich verstand nur »Ja«, »Bahnhof«, »Frau« und »Nein«, weil ich im Gegensatz zu Anna nie Russisch gelernt hatte.

Ich war längst ebenfalls besorgt und malte mir die schlimmsten Dinge aus, die mit Mama passiert sein könnten. War sie wirklich zwischen die Fronten verschiedener Geheimdienste geraten, wie ich es mir ausgemalt hatte? War sie am Ende eine russische Spionin, die auf meinen Vater angesetzt worden war? Ich schaute meine Schwester vorwurfsvoll und fragend an, und zwar so lange, bis sie es nicht mehr ignorieren konnte.

»Wir müssen Mama finden. Ich … weiß nicht, ob sie sich was antun will.«

»Wie kommst du darauf?« Ich hatte plötzlich das Gefühl, ich müsste kotzen.

»Sie hat mir ein Päckchen geschickt, ich hab es gestern Abend aufgemacht. Ihre Erstausgabe von Anna Karenina, mit einer Karte. Ich soll es mal an meine Tochter weitergeben … Du weißt, wie das Buch ausgeht, oder?«

»Ups«, sagte ich, weil ich natürlich ganz genau wusste, wie das Buch ausgeht. Mama hatte mir die Geschichte ja tausendmal zum Einschlafen erzählt.

»Ja, ups«, sagte meine Schwester.

Anna hatte schon morgens auf dem Weg nach Hamburg in Mamas Hotel angerufen, um mit ihr zu sprechen, aber sie war nicht in ihrem Zimmer gewesen, und ihr Handy war ausgeschaltet.

»Die Stadt ist riesig«, sagte ich. »Wie sollen wir sie hier finden?«

Meine Schwester rief noch mal im Hotel an, aber Mama war immer noch nicht zurück. Sie fragte den Taxifahrer, wie viele Bahnhöfe es in der Stadt gab, aber es waren zu viele. Bis wir zum erstbesten gefahren wären, hätte sie längst an einem anderen vor den Zug springen können.

»Wir fahren in die Eremitage«, sagte ich. »Sag das dem Fahrer.«

»Warum?«, fragte Anna irritiert.

»Lass es uns versuchen. Papa hat vor ein paar Jahren mal so ’nen dummen Spruch gebracht.«

»Und wenn sie da nicht ist?«

»Wenn sie dort nicht ist und im Hotel auch nicht, finden wir sie sowieso nie.«

Wir machten uns in verschiedene Richtungen auf den Weg, und ich rannte so schnell durch die Säle, dass mir zweimal Wärter irgendwas auf Russisch hinterherriefen.

Ich fand sie in der Abteilung mit englischer Kunst, wo sie auf einem Bänkchen saß und das Porträt einer Frau betrachtete, die ein Ungetüm von Frisur auf dem Kopf trug und mit leichtem Silberblick entrückt in die Ferne schaute. Mama saß mit dem Rücken zu mir, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich blieb im Türrahmen stehen, bis ich wieder zu Atem gekommen war, und schrieb Anna eine SMS: ›Hab sie. Saal 298.‹

Dann setzte ich mich neben sie auf die Bank und schaute sie an. Sie wirkte so in die Betrachtung der Frau versunken, dass ich nicht sicher war, ob sie mich bemerkte.

»Hallo, Mama«, sagte ich nach einer Weile.

Ohne mich anzuschauen, griff sie nach meiner Hand. »Du bist gekommen, Sladkij. Wo ist deine Schwester?«

»Sie ist auch gleich da. Wir haben dich gesucht.«

»Und du hast mich gefunden.«

»Geht’s dir gut, Mama?«

»Weißt du, was für ein Tag heute ist?«

»Nein.«