KinderStärken
Herausgegeben von Petra Büker
Band 4
Die Reihe im Überblick
Band 1: | Petra Büker (Hrsg.): Kinderstärken – Kinder stärken. Erziehung und Bildung ressourcenorientiert gestalten |
Band 2: | Petra Völkel: Entwicklung, Lernen und Förderung der Jüngsten |
Band 3: | Renate Niesel & Wilfried Griebel: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Familie in die KiTa |
Band 4: | Dagmar Kasüschke: Kinderstärkende Pädagogik und Didaktik in der KiTa |
Band 5: | Melanie Eckerth & Petra Hanke: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der KiTa in die Grundschule |
Band 6: | Susanne Miller & Katrin Velten: Kinderstärkende Pädagogik in der Grundschule |
Band 7: | Julia Höke & Petra Büker: Bildungsdokumentation stärkenorientiert gestalten |
Band 8: | Birgit Hüpping & Petra Büker: Kulturelle Vielfalt. Kinderstärkende Pädagogik |
Band 9: | Charlotte Röhner & Kathrin König: Kinder stärken in Sprache(n) und Kommunikation |
Band 10: | Katja Koch: Übergänge ressourcenorientiert gestalten: Von der Grundschule in die weiterführende Schule |
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1. Auflage 2016
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-024287-6
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-024288-3
epub: ISBN 978-3-17-024289-0
mobi: ISBN 978-3-17-024290-6
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Das Kind als Gestalter und als kompetenter Akteur seiner Lebens- und Bildungsbiografie: Diese im Sozial-Konstruktivismus verankerte Sicht auf das Kind steht aktuell im Fokus pädagogischer, psychologischer und soziologischer Diskurse sowie in Bildungsplänen für Kinder im Elementar- und Grundschulbereich. Kinder verfügen für die Gestaltung ihrer pluralen, komplexen Lebenswelten über enorme Stärken, die es durch Familie, Peers sowie pädagogische Fach- und Lehrkräfte als kompetente Mit-Akteure zu erkennen und zu stärken gilt: Diese Grundidee wird in der neuen Fachbuch-Reihe KinderStärken aufgegriffen und entlang der Lebensspanne von der Geburt bis zum Übergang in die weiterführende Schule in zehn Bänden kritisch und differenziert beleuchtet. Ein interdisziplinäres Autorenteam, bestehend aus Expertinnen und Experten aus dem Bereich der Früh-, Elementar- und Grundschulpädagogik sowie der Entwicklungspsychologie, widmet sich in jeweils einem Band ausführlich einer spezifischen Lebensspanne, wissenschaftlich fundiert und nah an der pädagogischen Praxis.
Der vorliegende vierte Band der Reihe thematisiert die Frage einer zeitgemäßen Pädagogik und Didaktik der Kindertageseinrichtung. Diese erlebt derzeit nicht allein einen starken gesellschaftlichen Bedeutungszuwachs, sondern erfährt große konzeptionelle Veränderungen und ein erweitertes Aufgabenspektrum. Dagmar Kasüschke beleuchtet im vorliegenden Band das Spannungsfeld, welches sich im Zusammenhang der neuen Bildungs- und Betreuungsansprüche an die Kindertageseinrichtung ergibt. So beschreibt sie diese als »Lebenswelt« für das Kind und seine individuelle Persönlichkeitsentfaltung und zugleich als gesellschaftliche Sozialisationsinstanz im Zusammenhang einer zunehmend institutionalisierten Kindheit. Prägnant und zugleich sehr anschaulich gibt die Autorin interessante Einblicke in ausgewählte Konzepte, Modelle, Entwürfe und Methoden der Elementarpädagogik und fragt danach, welche Relevanz diese für die Entwicklung einer noch ausstehenden Theorie der Kindertageseinrichtung sowie für eine Neuakzentuierung einer kinderstärkenden Praxis besitzen können. Auf diese Weise verbindet Dagmar Kasüschke in ihrem Band eine aktuelle »Bestandsaufnahme« elementarpädagogischer und -didaktischer Konzepte mit wichtigen Reflexionsimpulsen, deren grundlegende Diskussion sowohl für wissenschaftlich Interessierte als auch für pädagogische Fach- und Lehrkräfte äußerst gewinnbringend sein dürfte.
Petra Büker
Der Band »Kinderstärkende Pädagogik und Didaktik in der KiTa« identifiziert ausgewählte wichtige Schnittstellen, die sich für Disziplin und Profession der Pädagogik der frühen Kindheit als Herausforderungen aus der Veränderung der institutionellen Kinderbetreuungslandschaft ergeben. Er orientiert sich dabei an zwei Polen eines Spannungsfeldes. Auf der einen Seite steht das Kind als Teil einer Familie mit dem Recht sich als freies Individuum entfalten zu dürfen, auf der anderen Seite steht die Kindertageseinrichtung als Sozialisationsagentur, deren Aufgabe die Erziehung der Kinder zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten ist. Dieser Band argumentiert entlang zweier frühpädagogischer Paradigmen, die dieses Spannungsfeld erzeugen: Kindertageseinrichtung als ›Lebenswelt für Kinder‹ und als ›Ort pädagogischer Inszenierungen‹ (vgl. auch Kasüschke, 2015).
Mit den veränderten gesellschaftlichen Erwartungen müssen viele Fragen neu beantwortet werden, die insbesondere die Trias von Betreuung, Erziehung und Bildung im institutionellen Selbstverständnis von Kindertageseinrichtungen berühren (vgl. dazu auch Büker, 2015, im Basisband dieser Buchreihe). Dazu zählen insbesondere:
Welche Veränderungen zeichnen sich im Aufgabenspektrum von Kindertageseinrichtungen ab?
Welche Konsequenzen hat dies für das Verständnis des Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsauftrages von Kindertageseinrichtungen?
Welche pädagogischen Konzepte können unter den veränderten Rahmenbedingungen handlungsleitend sein, um Kinder auf ihrem Lebensweg zu stärken?
Inwieweit ermöglicht eine Ganztagsbetreuung Kindern, ihre Stärken zu entwickeln?
In welcher Form sind kindliche Freiräume und autonomes Handeln von Kindern in einer Institutionenkindheit noch möglich?
Welches didaktische Verständnis zur Begleitung kindlicher (Selbst-)Bildungsprozesse wird für die frühe Kindheit handlungsleitend sein?
Welche beruflichen Qualifikationen benötigen die pädagogischen Fachkräfte für die Erziehungsarbeit mit Kindern in einem Altersspektrum von eins bis sechs Jahren?
Kindertageseinrichtungen sind im Ringen um einen eigenständigen Bildungsauftrag immer wieder dem Wandel gesellschaftlicher Herausforderungen und sozialpolitischer Entscheidungen unterworfen. Dieses Buch versteht sich hier als eine aktuelle Bestandsaufnahme theoretischer, empirischer und praktischer Fragestellungen und Modelle elementarpädagogischer und didaktischer Konzepte.
Im ersten Kapitel wird auf der einen Seite der gesellschaftliche Wandel von Familie, Kindheit und dem Aufwachsen von Kindern und auf der anderen Seite die Weiterentwicklungen von Kindertageseinrichtungen als gesellschaftliche Antwort dargestellt. Insgesamt werden die Herausforderungen eines gewachsenen Aufgabenspektrums aufgezeigt.
Das zweite Kapitel behandelt ausgewählte klassische elementarpädagogische und -didaktische Konzepte und ihre Bedeutung für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs über eine Pädagogik der Kindertageseinrichtungen und ihre Didaktik.
Im dritten Kapitel werden didaktischer Modelle und Methoden elementarpädagogischer Praxis und ihre historischen Wurzeln beschrieben. Gleichzeitig werden sie hinsichtlich ihrer Relevanz für eine moderne Elementarpädagogik in den Blick genommen.
Im letzten Kapitel werden die Desiderata für eine erziehungswissenschaftlich fundierte Elementarpädagogik und ihre Didaktik zusammengeführt und relevante didaktische Spannungsfelder aufgezeigt, an deren Lösungen auf dem Weg zu einer Theorie der Kindertageseinrichtung empirisch gearbeitet werden muss.
Obwohl mittlerweile ein Drittel der Kinder unter drei Jahren sich in einer außerfamilialen Kinderbetreuung in Kindertageseinrichtungen und Tagespflege befinden, kann diese Altersstufe aus Platzgründen in diesem Band nur bedingt berücksichtigt werden. Die Diskussion um eine eigenständige Kleinstkindpädagogik in Kindertageseinrichtungen steckt im wahrsten Sinne des Wortes in der Bundesrepublik Deutschland noch in den Kinderschuhen, da »ein integriertes, theoretisch fundiertes didaktisches Konzept für die Bildung der jüngsten Kinder, das die Mehrdimensionalität des Bildungsbegriffs für die früheste Kindheit systematisch aufgreift und die Besonderheiten früher Lernprozesse berücksichtigt, bislang noch nicht (existiert)« (Viernickel & Stenger, 2010, S. 75). Wo es möglich ist, werden in diesem Band Bezüge zu (Forschungs-)Desideraten zu einer institutionellen Pädagogik für Kinder unter drei Jahren gemacht.
Vielfältige Entwicklungen im Bildungs- und Sozialwesen der Bundesrepublik Deutschland haben die Landschaft der institutionellen Kinderbetreuung in den letzten 15 Jahren maßgeblich verändert. Im Zuge der Europäisierung des deutschen Bildungs- und Sozialwesens wurden bestimmte Entwicklungen im Bereich der Familien- und Kinderpolitik und in den Bereichen des (berufs-)schulischen und hochschulischen Bildungswesens begünstigt, die rückblickend zu einem neuen gesellschaftlichen Verständnis der Institution Kindertageseinrichtung geführt haben (vgl. Thole, Roßbach, Fölling-Albers & Tippelt, 2008).
Da wären zunächst Veränderungen durch eine neue Familienpolitik zu nennen, die den quantitativen Ausbau von institutionellen Betreuungsangeboten von Geburt bis zum Schulkindalter vorangetrieben haben. Eine flächendeckende Versorgung mit institutionellen (Ganztags-)Angeboten gehört dabei zu einem Katalog an Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die einem Rückgang der Kinderzahlen in Deutschland und den gesellschaftlichen Auswirkungen des demographischen Wandels entgegenwirken sollen. Durch diese Maßnahmen verändert sich aber nachhaltig das Verhältnis von der Privatheit einer Familienkindheit und einer wohlfahrtsstaatlichen Institutionenkindheit, deren Auswirkungen auf das System Familie und auf das Aufwachsen von Kindern noch nicht einzuschätzen sind. So belegen nach Lange internationale Studien, »dass der Diskurs um Globalisierung, Standortwettbewerb und Bildung als unerlässliche Grundbedingung für das Bestehen im Wettbewerb um die Lebenschancen nachhaltige Wirkung in den Familien hinterlässt« (Lange, 2008, S. 71).
Aber nicht nur die Zuständigkeit für die Betreuung von Kindern hat sich auf den öffentlichen Sektor verschoben, sondern auch der traditionelle Bildungs- und Erziehungsauftrag von Kindertageseinrichtungen ist mit den ersten PISA-Vergleichsstudien in die Diskussion geraten (vgl. Fthenakis, 2006, vgl. Büker, 2015, im Basisband dieser Buchreihe).
Bildung wird hier unter marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten zum Synonym für internationale Wettbewerbsfähigkeit. So ist auf der Website des Bundesministeriums nachzulesen, dass »in einer zunehmend globalisierten Welt (…) der Wettbewerb um die Zukunftschancen für Deutschland auch ein internationaler Wettbewerb um die Qualität von Bildungssystemen geworden« ist (http://www.bmbf.de/de/6549.php, Zugriff am 26.4.2014). Unter bildungsökonomischen Gesichtspunkten und unter dem Druck einer neurowissenschaftlich geprägten Diskussion wurde die Bildungsqualität von Kindertageseinrichtungen zum Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Im Mittelpunkt stand die Frage, was Kinder im Kindergarten lernen (Elschenbroich, 2001, Tietze, Roßbach & Grenner, 2008).
In der Folge wurden bundesweit bildungspolitische Weichenstellungen vollzogen, die die Einführung von länderspezifischen Bildungsplänen für Kindertageseinrichtungen, die Etablierung von kindheitspädagogischen Studiengängen an Hochschulen, die Entwicklung von kompetenzorientierten Curricula und eine stärkere Einführung von Screenings zur Erfassung sog. Risikokinder mit sich brachten. Diese Entwicklungen führten zu kontroversen Diskussionen im erziehungswissenschaftlichen Kontext, wobei gerade die Debatte um die Bildungsinhalte der pädagogischen Arbeit als erneute Versuche gesehen werden, die Institution Kindertageseinrichtung zu verschulen. »Gegenwärtig ist mit der Einführung neuer Bildungs-, Erziehungs- und Förderpläne für die Kindergärten ein weiterer Prozess der ›Scholarsierung‹ festzustellen und zwar die systematische Vermittlung schulbezogener Inhalte im Kindergarten« (Fölling-Albers, 2008, S. 36). Das gesellschaftliche Interesse nach einer effektiveren Förderung der Kinder im Vorschulalter ist dabei nicht neu. Vielmehr wurde bereits in den 1970er Jahren eine ähnliche bildungspolitische Diskussion in Deutschland geführt, in deren Folge empirische Studien belegen konnten, dass eine Verschulung des Elementarbereichs eher weniger langfristige Effekte hervorbringt als eine entwicklungsangemessene Elementarpädagogik (vgl. Aden-Grossmann, 2011, S. 158ff.).
Die bisher skizzierten Entwicklungen zeigen, dass die Anforderungen an die Institution Kindertageseinrichtung sich strukturell und inhaltlich gewandelt haben, so dass es angebracht scheint, die damit verbundenen Herausforderungen näher zu betrachten, um das Arbeitsfeld Kindertageseinrichtung mit seinen vielfältigen Aufgaben abzustecken. Dabei kann es nicht darum gehen, diese Aufgaben und Herausforderungen einfach unkritisch als gegeben hinzunehmen, sondern vielmehr danach zu fragen, inwieweit diese aus erziehungswissenschaftlicher Sicht gesellschaftlich verantwortbar sind. Aus diesem Grund sollen im Folgenden zentrale Veränderungen im Aufwachsen von Kindern thematisiert werden, von denen angenommen wird, dass sie nachhaltig Auswirkungen auf die Kontexte Familie und Kindertageseinrichtung haben.
Die Familie stellt nach Liegle »zeitlich (nicht nur) die erste Instanz der Erziehung und Bildung im Lebenslauf der Kinder«, sondern – »mehr als jede andere Instanz – die überdauernde Umwelt des Kindes dar« (ebd., 2013, S. 100). Sie ist als verwandtschaftliches intimes Beziehungssystem die wichtigste Ressource kindlichen Aufwachsens und über Kulturen und Epochen hinweg die primäre Erziehungsinstanz. Nach Liegle zeigen verschiedenen Studien zur Familienerziehung, dass die Familie einen stärkeren Einfluss auf die Bildung und Entwicklung eines Kindes hat als andere Sozialisationsorte (ebd., S. 102).
Aber nicht nur unter anthropologischen Gesichtspunkten stellt die Familie die primäre Instanz für die Sorge von Kindern dar, sondern in der bürgerlichen Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts wurde Kindheit zunehmend unter dem normativen Muster der bürgerlichen Kleinfamilie organisiert. »Es ist eine Struktur entstanden, in der sich individuelle Kindheiten, also die Lebensphase Kindheit vollziehen kann und die es Kindern ermöglicht, Kind zu sein: im Sinne von Kindheit als Entwicklungs- und Bildungsmoratorium (Freisetzung aus Erwerbsarbeit, im Idealfall Freisetzung aus Arbeit in der Familie, vollständige Freisetzung für institutionalisierte Bildungs- und Lernprozesse)« (Mierendorff, 2013, S. 62). Sowohl Schule als auch der Kindergarten waren zunächst als Halbtagseinrichtungen organisiert. Nur für Kinder benachteiligter Familien wurden sozialstaatliche Angebote in Form von Krippen, Kindertagesstätten und Horten bereitgestellt (ebd.).
Dieses normative Muster von Familienkindheit erodiert nun seit den 1990er Jahren mit der sukzessiven Einführung eines flächendeckenden Angebotes an (Ganztages-)Betreuungsplätzen in Institutionen der Kindheit. Die zeitliche Ausdehnung institutionell verbrachter Lebenszeit für Kinder im Alter vom ersten bis zum 14. Lebensjahr ist seitdem exponentiell angestiegen. Nimmt man Donata Elschenbroichs Berechnung zur Grundlage der durchschnittlich verbrachten Lebenszeit von Kindern im Vorschulalter in einem Kindergarten, so verbrachte ein Kind im Alter von 3 bis 6 Jahren 1996 im Schnitt ca. 5400 Stunden im Kindergarten (Elschenbroich, 2001). Auf der Grundlage einer derzeitigen Ganztagsbetreuung mit Ausweitung auf die Kinder unter drei Jahren würde die in einer KiTa verbrachte Lebenszeit eines Kindes vom ersten Lebensjahr an ca. 17.2801 Stunden bis zum Eintritt in die Schule betragen. Das entspricht einer höheren Anwesenheitszeit als eine pädagogische Fachkraft an Arbeitszeit in der Einrichtung in demselben Zeitraum ableistet.
Aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive muss davon ausgegangen werden, dass diese wohlfahrtsstaatlichen Maßnahmen weitreichende Konsequenzen für die frühe Kindheit haben werden. Johanna Mierendorf vertritt die These, dass die »familiale Sorge, Sorgezeit, Erziehungszeit für Kinder in den ersten Lebensjahren, der Bildungsort Familie (…) in ihrem Wesen zur Disposition (stehen); denn alle Bezugsparameter sind gleichermaßen in Bewegung« (Mierendorf, 2013, S. 67). Bildung, Erziehung und Sorge für Kinder als Privatsache der Familie wird in öffentlichen Diskursen um »überforderte Elternschaft«, »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« und »Bildungsgerechtigkeit von Anfang an« zunehmend in Frage gestellt. Kindheit als Lebensphase, so die These, verlagert sich von der Familienerziehung als einem persönlichen Beziehungsgeflecht hin zu einer institutionellen Erziehung als gesellschaftlich organisiertes System mit strukturell unpersönlichen Beziehungen. Ludwig Liegle macht darauf aufmerksam, dass in der Institutionalisierung von Erziehung prinzipiell die Gefahr der »Kolonialisierung« von Kindheit stecken kann und zwar immer dann, »wenn Kinder und Kindheiten für Zwecke des Staates oder gesellschaftlicher Interessensgruppen instrumentalisiert werden; dann zum Beispiel, wenn sie im gesellschaftlichen Diskurs nur noch in der Perspektive des künftigen ›Humankapitals‹ der Gesellschaft behandelt werden, … oder auch dann, wenn im pädagogischen Beziehungsgeschehen in der frühen Kindheit das ›spielende Lernen‹ durch formalisierte oder erwachsenenzentrierte Formen des Lehrens und Lernens verdrängt oder ersetzt werden« (Liegle, 2013, S. 23).
Nach Burkhart Fuhs wird es eine der größten erziehungswissenschaftlichen Herausforderungen sein, »Kinder auch in pädagogischen Kontexten wie Schule, Heim, Kindergarten oder Freizeitangeboten als Akteure und Gestalter ihrer eigenen Kindheit wahrzunehmen« (Bock, 2010, S. 17).
Jenseits einer Akzeptanz einer immer stärkeren staatlichen Eingriffspolitik unter dem Mandat eines öffentlich garantierten Bildungsmoratorium muss die Frage erlaubt sein, ob eine flächendeckende Ganztagsbetreuung tatsächlich das System Familie nachhaltig stützt und für nachwachsende Generationen attraktiv macht. So zeigen Studien zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf, dass der Bedarf an flexiblen Kinderbetreuungsangeboten eine größere Rolle für Familien mit Kindern spielt als eine Ganztagsbetreuung. So weist die Studie von Alt, Berngruber & Riedel unterschiedliche Nachfragenutzungsmuster von Kinderbetreuung nach, die nach Ost-West, Erwerbstätigkeit, Bildung, Einkommen, Migrationshintergrund und Anzahl der Kinder im Haushalt differieren. Demnach besteht ein höherer Bedarf an Ganztagsbetreuung in östlichen Bundesländern, bei Vollzeitbeschäftigung beider Eltern, hohem Bildungsabschluss, hohem Einkommen und eher Ein-Kind-Haushalten (vgl. ebd., 2012). Eine Studie von Keddi und Zerle-Elsäßer belegt, dass der Großteil der Eltern sich ein Familienmodell wünschen, in dem ein Elternteil Vollzeit und ein Elternteil Teilzeit arbeitet, um Zeitressourcen für die Familie zu haben. Gleichzeitig wird deutlich, dass eben diese genannten Ressourcen im Schwinden begriffen sind. So konzentriert sich der Familienalltag auf die Abendstunden und den Sonntag als Familientag. Der Großteil dieser Familienzeit geht auf in Haushalts- und Pflegeaufgaben (Sorgeleistungen) (ebd., 2012, S. 227), so dass berufstätige Eltern ein deutlich höheres Stresserleben bei gleichzeitigem hohem Maß an beruflichem und familiären Engagement zeigen. »Beide Elternteile, Mütter und Väter, kompensieren die Anforderungen im Familienalltag durch individuelle und familiale Praktiken und organisatorische Lösungen, um Zeit für ihre Familien zu erhalten und Familie herzustellen … Zeit gespart wird vor allem an der persönlichen Freizeit sowie der Zeit für Freunde und Partnerschaft, am wenigsten an der Zeit für die Kinder« (ebd., 2012, S. 230). Beide Studien zeigen, dass Entscheidungen für Familiengründungen nur bedingt mit einem institutionellen Kinderbetreuungsangebot zusammenhängen. Vielmehr scheinen flexiblere Arbeits-(zeit)-modelle und finanzielle Entlastungen für Familien eine größere Rolle zu spielen, wenn der Ort Familie in seiner emotionalen Bedeutung für das Aufwachsen von Kindern nicht erodieren soll.
Zahlreiche Studien der Kindheitsforschung belegen, dass sich die Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern in den letzten achtzig Jahren radikal verändert haben, die als Verlust von Erfahrungsfeldern (Straßenkindheit, verinselte Kindheit), als Verschwinden (Medienkindheit) oder als zunehmende Pädagogisierung (Verhäuslichung, Institutionenkindheit) von Kindheit beschrieben werden (Muchow & Muchow, 1935, Zeiher & Zeiher, 1994, Zeiher, Büchner & Zinnecker, 1996, Rolff & Zimmermann, 2001, Bucher, 2001).
Bereits 1984 problematisierte Jürgen Zimmer die bestehende pädagogische Praxis von Ganztageseinrichtungen, die er als Vermauerte Kindheit bezeichnete. Seine Kritik galt insbesondere der zeitlichen Vereinnahmung des Kindes und der Kindheit als Lebensphase durch die Institutionen, die zu einer Segregation von anderen lebensweltlichen Handlungfeldern führt, in denen Kinder selbstbestimmt und aktiv ihr Leben gestalten können. Der Alltag von Kindern wäre nur noch durch pädagogische Settings bestimmt, die die Lebenswirklichkeit des Wohnumfeldes und des Stadtteils außen vor ließen. Insbesondere die pädagogische Durchdringung des Institutionenalltags, die Kinder als Verschulung, Verregelung und Überwachung erleben würden, ließen ihnen keine Freiräume selbstbestimmten Lebens und würden eine Entwicklung zu selbständigen und gemeinschaftsfähigen Individuen verhindern (vgl. Zimmer, 1984, S. 217f.).
In den Jahren 1986 bis 1989 wurde ein großes Modellprojekt in Hessen unter der Leitung des Deutschen Jugendinstituts zum Thema »Lebensraum Kindergarten – zur Gestaltung des pädagogischen Alltags in Ganztagseinrichtungen« durchgeführt, mit dem Ziel, »von der alltäglichen Lebenswelt der Kinder, Eltern und Erzieherinnen auszugehen, um auf diese Weise mehr über die Entwicklungsprozesse von Kindertagesstätten und Kindern zu erfahren« (Amend, Haberkorn, Hagemann & Seehausen, 1992, S. 12). Es stellte sich heraus, dass die Entwicklung der Kinder in der Ganztagsbetreuung von unterschiedlichen Spannungsfeldern zwischen Familie und Kindertageseinrichtung beeinflusst wurden wie z. B. einer mangelnden Passung der Öffnungszeiten der Einrichtungen an die Arbeitswelt der Eltern, fehlende soziale Kontakte der Kinder im Wohnumfeld und gestiegene wechselseitige Erwartungen zwischen Fachkräften und Eltern hinsichtlich der Aufgabenverteilung in Fragen der Ernährung, Schlafenszeiten, Schulvorbereitung und Hausaufgabenbetreuung.
In der Folge wurden bundesweit unterschiedliche Konzepte der Kinderbetreuung erprobt, die die Lebenswirklichkeit von Kindern und ihren Familien in den Blick nahmen und die Landschaft der Kindertagesbetreuung konzeptionell nachhaltig veränderten (Deutsches Jugendinstitut, 1994). Im Kontext der Vereinbarkeit von Familie und Beruf flexibilisierten Einrichtungen ihre Öffnungszeiten und ihre Gruppenformen. So wurden Krippen, Kindergarten, Kindertagesstätten und Horte unter einem Dach zum Kinderhaus zusammengefasst (vgl. Erath & Amberger, 2000). Es entstanden neue Gruppenformen altersgemischter Gruppen, so dass Kinder länger in einer Einrichtung bei Geschwistern und Freunden verweilen konnten. In der pädagogischen Arbeit wurden unterschiedliche Konzepte der Öffnung nach innen und außen praktiziert. So wurden bewusst Freiräume für die Kinder in der zeitlichen und räumlichen Organisation des Alltags geschaffen und Möglichkeiten der Beteiligung an Entscheidungen den Alltag betreffend eingeräumt. Gleichzeitig öffneten sich die Einrichtungen nach außen zum Wohnumfeld, indem sie Erfahrungsfelder für die Kinder in die Einrichtung hineinholten (z. B. Besuch der Feuerwehr) und gleichzeitig bewusst mit den Kindern den Stadtteil aufsuchten, um beispielsweise auf dem Wochenmarkt, beim Bäcker oder Metzger einzukaufen (vgl. zusammenfassend Kasüschke & Jares, 2010).