Verlag C.H.Beck
Von der Erfindung des Buchdrucks und der Entdeckung Amerikas schlägt Thomas Maissen den Bogen bis zur Industriellen und Französischen Revolution. In jeweils wechselnden Perspektiven erläutert er die entscheidenden Entwicklungen wie Humanismus, Reformation, das spanische Weltreich Karls V. und Philipps II., den Dreißigjährigen Krieg und die höfische Gesellschaft Ludwigs XIV., schließlich die Aufklärung und den Aufstieg Großbritanniens und Preußens im europäischen Mächtegleichgewicht. In der spannenden Überblicksdarstellung wird der politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Wandel dieser Epoche in den wechselseitigen Bedingtheiten deutlich.
Thomas Maissen ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Heidelberg, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften sowie Direktor des Exzellenzclusters «Asia and Europe in a Global Context». Seit September 2013 wirkt er als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Paris.
Einleitung
1. Europa um 1500:
Renaissance, Entdeckungen, Reformation
2. Das Jahrhundert der Habsburger:
Imperium und konfessionelle Einheit
3. Das französische Jahrhundert:
Souveränität und Hegemonie
4. Das britische Jahrhundert:
Gewaltenteilung und Mächtegleichgewicht
5. Umbruch: Industrialisierung und politische Revolutionen
Zeittafel
Bibliographische Hinweise
Personenregister
Meinen Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern und
Studierenden in Heidelberg
Frühe Neuzeit bezeichnet grob die drei Jahrhunderte, die von der Entdeckung Amerikas 1492 bis zum Sturm auf die Bastille 1789 reichen. In dieser Zeit führte eine Reihe von historischen Prozessen dazu, dass das Ideal eines einheitlichen christlichen Abendlands Platz machte für eine allmählich als legitim anerkannte Vielfalt von Staaten, religiösen Bekenntnissen, Formen des Wirtschaftens. Der moderne Staat entstand in einem doppelten Wettbewerb der Fürsten: außenpolitisch in Kriegen gegen andere Dynastien, innenpolitisch in Kämpfen gegen den hohen Adel, der es gewohnt war, aus eigener Entscheidung Herrschaft und Gewalt auszuüben. In diesen Auseinandersetzungen erzeugten die verschiedenen Konfessionen, die seit der Reformation entstanden, Zusammenhalt über Standesgrenzen hinweg. Sie erlaubten es den Obrigkeiten zudem, als Schützer des jeweils wahren Glaubens auf die Ressourcen ihrer Kirchen zurückzugreifen. Die allgemeinverbindliche Religion und eine intensivierte Gesetzgebung erleichterten die Zentralisierung der Macht innerhalb eines klar definierten Territorialstaats, der allmählich die zusammengesetzten Monarchien ablöste, in denen allein die Person des Königs verschiedene Reiche zusammengehalten hatte.
Der Dauernotstand im Krieg gegen Glaubens- und Landesfeinde rechtfertigte schnell wachsende Steuerforderungen an Untertanen, denen dafür Schutz versprochen wurde. Dank den zunehmenden Erträgen und vermehrten Eingriffen in viele Lebensbereiche konnte ein Fürst auch seine Machtmittel im Inneren ausbauen und so zusehends effizienter Abgaben eintreiben. Damit finanzierte der expansive Steuerstaat vor allem die steigenden Kosten für stehende Heere und Flotten. Diese wurden immer wichtiger, um Handelswege auf den Weltmeeren und in den Kolonien gegen vielfältige Konkurrenten zu sichern. Fernhandel und Marktorientierung veränderten eine Gesellschaft, in der zuvor Bauern meist nur sich selbst und eine kleine Gruppe adliger Landbesitzer leidlich ernähren konnten. Landwirtschaftliche Reformen, die Ausbreitung der Heimarbeit und die einsetzende Industrialisierung banden die einzelnen Haushaltungen zunehmend in eine Volkswirtschaft ein, die nationale Märkte hervorbrachte und Gegenstand politischer Planung wurde. Die Vorstellung individueller Marktteilnehmer, die das eigene ökonomische Interesse verfolgten, untergrub allmählich ein Denken, das den Einzelnen als Teil eines ständischen Kollektivs betrachtet hatte: Adel, Zunft, Gilde oder Dorfgemeinde.
Die Aufklärung berief sich auf die Gesetze der Vernunft und der Natur, um solche wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen in Frage zu stellen, die bis dahin durch ihre lange Tradition und den Willen Gottes legitimiert schienen. Die aufklärerische Überzeugung, dass menschliche, säkulare Wissenschaft eine zunehmend dynamische Welt nicht nur besser erklären, sondern auch zum Guten hin verändern könne, machte vor der Politik nicht halt. Seit 1776 in Nordamerika, dann in Frankreich stellten Revolutionäre einem jeden wirtschaftlich selbständigen Bürger das Recht in Aussicht, in naturgegebener Gleichheit bei politischen Entscheidungen mitwirken zu können. Der Staat forderte immer mehr finanzielle und militärische Opferbereitschaft seiner Bürger; dafür musste er ihnen Mitsprache bei den Grundsatzbeschlüssen über die Verwendung dieser Ressourcen gewähren.
Die Dynamik bei diesen Prozessen ging anfangs von Italien und dann vor allem von den Nationalmonarchien am Atlantik aus. Nach langen spätmittelalterlichen Krisen innerlich gefestigt, traten sie in einen stetigen, oft kriegerischen Wettbewerb miteinander. Nach einem Blick auf die Ausgangslage um 1500 greifen die folgenden Kapitel deshalb nacheinander die Perspektive dieser Akteure auf: Spanien, Frankreich, Großbritannien. Dazu kommen die Regionen, mit denen sie kulturell, wirtschaftlich und politisch schon seit dem Mittelalter eng vernetzt waren: außer Italien vor allem Portugal und später die Niederlande, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation sowie Polen und Skandinavien. Zunehmend band die Dynamik von wirtschaftlicher Vernetzung, Staatsbildung und Krieg weitere Gebiete im entstehenden «Europa» ein, namentlich Russland, das Osmanische Reich und über die Meere hinweg neben Siedlungen im eroberten Amerika und Stützpunkten an den Küsten Afrikas immer bedeutendere Kontore in Asien, wo europäische Handelsgesellschaften zu politischen Schiedsrichtern und um 1800 auch zu Herrschern aufstiegen.
Die Frühe Neuzeit brachte erstmals überhaupt alle Erdteile in direkte Austauschbeziehungen miteinander. Dennoch ergibt «Frühe Neuzeit» bei aller Problematik, die Epochenbezeichnungen ohnehin eigen ist, allein für das Abendland Sinn. Nur hier entstanden in den Jahrhunderten zwischen Kolumbus und Napoleon die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für ein unwahrscheinliches und weltgeschichtlich einmaliges Phänomen: Von der Peripherie Eurasiens her entwickelten äußerst gewaltbereite Seefahrernationen Wissensbestände, Technologien, Regeln und Institutionen, die es ihnen nicht nur in der Heimat, sondern auch in Übersee ermöglichten, langfristig stabile Herrschaftsstrukturen zu errichten; selbst dort, wo um 1500 noch überlegene Hochkulturen das Sagen hatten. Gerade das, was diese Reiche als zersetzende Schwäche politisch bewältigen wollten, war Voraussetzung für die europäische Eroberung der Welt: Uneinheitlichkeit, Konkurrenz, Zwietracht und Gewalt. Ein Schiedsrichter fehlte in Europa, die Meinungsdifferenzen kosteten unzählige Menschenleben, doch die vielfältigen territorialen und politischen Strukturen gewährten genügend Refugien, damit ein Wettbewerb entstand, in dem von seinen Gegenspielern Neues lernen musste, wer bestehen wollte.
Die vielfältigen Verbindungen von politischer Organisation, wirtschaftlicher Produktion und kulturellen Lernprozessen können auf den folgenden Seiten nicht umfassend dargelegt werden. Im Vordergrund stehen daher die exemplarischen Perspektiven von Spanien, Frankreich und Großbritannien auf den Wandel der jeweils nationalen und europäischen Strukturen und Ereignisse. Eine solche Erzählung nimmt Lücken in Kauf, so räumlich Nord- und Osteuropa, für die spätere Zeit auch den Mittelmeerraum. Wer Veränderungsprozesse hin zur Moderne hervorhebt, riskiert zudem, historischen Phänomenen in ihrer eigenen Zeit nicht gerecht zu werden. Der Blick von oben vernachlässigt bei knapper Seitenzahl viele Themen – so den Lebensalltag der Menschen, die Geschichte von Minderheiten oder die Geschlechtergeschichte. Die getroffene Auswahl vermeidet dafür die additive und repetitive Parallelbeschreibung verschiedener Länder ebenso wie einen einseitigen, nationalgeschichtlichen Blick auf eine Epoche, die mit den universalen Postulaten der Revolutionszeit und dem globalen Veränderungsdruck der Industrialisierung endete. Wie bei jedem historischen Narrativ mag und soll über die hier dargelegten Entwicklungslinien und Deutungsmuster diskutiert werden. Sie haben aber den Vorteil, dass sie eine strukturierte Einführung in eine unüberschaubar reiche Überlieferung geben, zu der die weiterführende Detailforschung dank den bibliographischen Hinweisen leicht zugänglich ist.
Um 1500 erreichte die Bevölkerung Europas mit gut 80 Millionen Menschen ungefähr wieder den Stand, den sie bei Ausbruch der ersten Pestwelle von 1348/49 gehabt hatte. Rund ein Drittel der Menschen war damals gestorben, in den beengten Verhältnissen der Städte oft deutlich mehr. Im 16. Jahrhundert wuchs die Zahl auf etwa 110 Millionen Einwohner, um dann lange zu stagnieren, weil von 1560 bis 1715 die «Kleine Eiszeit» mit kalten Wintern und feuchten Sommern die Ernteerträge bedrohte und regelmäßig Seuchen die Bevölkerung reduzierten. Statisch war auch die Selbstdeutung der abendländischen Christenheit als Ständegesellschaft. Den ersten Stand bildete der Klerus, den zweiten der Adel, den dritten die Arbeitenden, also Bürger und Bauern. Obwohl die starre Dreiständelehre der gesellschaftlichen Vielfalt immer weniger entsprach, unterschied sich das vormoderne Selbstverständnis grundlegend von dem liberal-individualistischen des 19. und 20. Jahrhunderts. Standeszugehörigkeit war im Prinzip von Geburt gegeben und machte den Einzelnen sein Leben lang zum Mitglied eines Kollektivs. Der Sohn eines Bauern wurde Bauer, und dessen Sohn blieb dies. Daran änderte wenig, dass ein Mann durch ein geistliches Amt oder ein Gelübde in den ersten Stand gelangen konnte oder dass Nobilitierungen einzelne Bürgerliche zu Adligen machten. Rechtliche Ungleichheit von hierarchisch geordneten Gruppen und der ihnen angehörigen Personen war eine Selbstverständlichkeit in vormodernen Gesellschaften. Dies zeigte sich auf engem Raum in der Stadt: Patriziat und gewöhnliche Bürger, Niedergelassene ohne Bürgerrecht, Kaufmannsgilden und Zünfte, unehrliche Berufe wie Henker und Totengräber, Weltgeistliche und Angehörige von Orden oder Universitäten, Christen und Juden bildeten unterschiedliche (Rechts-)Gemeinschaften mit je eigenen Regeln, Loyalitätspflichten und Aufgaben. Die Zünfte etwa hatten einerseits die Versorgung der Stadt mit den notwendigen Waren zu gewährleisten, andererseits für ein standesgemäßes Auskommen ihrer Mitglieder zu sorgen, weshalb sie die Märkte zu deren Schutz stark regulierten.
Frauen konnten, etwa als Nonnen, ebenfalls Kollektive bilden, gehörten aber in der Regel dem Familienverband des Vaters oder Gatten an. Die ihm unterstellte Haushaltung aus Kernfamilie, eventuell mit Verwandten und Gesinde, bildete die Grundeinheit des sozialen, wirtschaftlichen und auch politischen Zusammenlebens: adliger Gutshof, Handwerksbetrieb, Bauernhof, Kloster, aber auch Haus oder Hütte von Tagelöhnern und anderen Angehörigen der Unterschichten. Ohne Land und zünftischen Beruf fielen Letztere aus der ständischen Ordnung heraus. Ihre Armut machte sie oft zu Bettlern und Vagabunden. Besonders gefährdet waren Witwen und Waisen, Alte und Behinderte. Das verdeutlicht, dass bestenfalls die erwähnten Personenverbände, auch (Dorf-)Gemeinden oder städtische Nachbarschaften, das erbrachten, was heute als soziale Fürsorge oft Aufgabe des Staates ist. Dies rechtfertigte für die Betroffenen die vielfältigen Hierarchien und Abhängigkeitsverhältnisse, denn sie bedeuteten auch Fürsorgepflichten der Bessergestellten.
In Form von «Schutz und Schirm» bestand diese Verpflichtung auch über Standesgrenzen hinweg, namentlich in der Beziehung zwischen adligem Grundherrn und bäuerlichem Grundholden oder Hörigem. Der Bauer schuldete Ernteerträge oder Geld, Frondienste und generell Gehorsam, denn sein Herr übte viele Aufgaben aus, die heute staatlich sind. Er wahrte als Gerichtsherr die öffentliche Ordnung und regelte über das Kirchenpatronat die Seelsorge und, soweit vorhanden, das Schulwesen. Der Adlige sollte dank der Arbeit seiner Bauern autark sein und damit abkömmlich für seine politischen Aufgaben als Krieger, Standesvertreter oder Berater von Fürsten. Analog hing die Mitwirkung in einem städtischen Rat von der Selbständigkeit des Handwerksmeisters oder Kaufmanns ab. Bürgerliche Erwerbstätigkeit, die auf städtische Märkte ausgerichtet war, konnte somit Quelle von Freiheiten und politischen Rechten werden. Arbeitsteilung und Einbindung in immer weiter reichende Handels- und Marktbeziehungen nahmen in der Frühen Neuzeit allmählich, aber stetig zu, in urbanisierten Regionen schneller als auf dem Land. Kaufleute mussten den Zahlungsverkehr in unterschiedlichen Währungen für Waren vornehmen, deren Kauf oder Verkauf manchmal wochenlange Transporte durch vieler Herren Länder erforderten. Neue Techniken, insbesondere der Wechsel als Vorform des Papiergelds, reduzierten die riskanten Transporte von Edelmetallen stark. Gleichwohl blieben Handelsgesellschaften als Familienunternehmen aufgebaut, von denen die Medici in Florenz, die Welser und Fugger in Augsburg die berühmtesten Beispiele sind. Brüder, Cousins und Schwager verteilten sich auf wichtige Handelsplätze und blieben vertrauenswürdige Geschäftspartner, selbst wenn die Kommunikation schwierig war. Um 1500 dauerte eine normale Reise von Augsburg nach Hamburg 30 Tage. Die erste obrigkeitliche Post entstand 1490: Die Familie Taxis verband habsburgische Gebiete mit festen Stationen (Posten), die in regelmäßigen Abständen Pferdewechsel ermöglichten.
Die hohen Gewinnmargen im Handel mit luxuriösen Importwaren aus Asien (Rohseide, Baumwolle, Pfeffer, Farbstoffe) eröffneten bislang ungeahnte Reichtumsquellen. Die Versorgung damit erfolgte bis ins 16. Jahrhundert vorwiegend über die italienischen Seestädte, insbesondere Venedig, das die Einfuhr aus dem östlichen Mittelmeerraum kontrollierte und seinerseits Wollstoffe und Metallwaren dorthin exportierte. Dass sich eine politisch-ökonomische Wettbewerbsgemeinschaft zuerst in Italien ausbildete, hatte verschiedene Ursachen. Seit dem Ende der Stauferherrschaft im 13. Jahrhundert konnten sich viele (klein-) städtische Zentren autonom entwickeln. Diese Kommunen unterwarfen sich ihr Umland und banden den dortigen Adel in die städtischen Strukturen ein. Damit verbanden sich merkantiles Bürgerethos und adliges Kriegertum in einem Patriziat, das über Stadtstaaten mit teils beträchtlichen Territorien herrschte, so im 15. Jahrhundert in Venedig und Florenz. Die regelmäßigen Kriege untereinander und die oft heftigen innerstädtischen Konflikte ließen jedoch viele Kommunen Zuflucht bei Einzelherrschern suchen, zuvorderst Mailand, seit 1395 ein erbliches Herzogtum. Das Papsttum war von jeher eine Wahlmonarchie, und südlich des Kirchenstaats vereinte das Haus Aragon seit 1442 die beiden Königreiche Neapel und Sizilien. Diese fünf Mächte («Pentarchie») Venedig, Florenz, Mailand, Neapel und der Kirchenstaat bildeten seit dem Frieden von Lodi (1454) ein Gleichgewicht und lösten Konflikte friedlich. Drohte ein Staat zur Vormacht zu werden, verbündeten sich die anderen, um ihn auch mit militärischem Druck zurückzubinden. Die neuartige Institution der residierenden und akkreditierten Botschafter sorgte für einen kontinuierlichen Informationsfluss und eine gewisse Berechenbarkeit innerhalb dieses italienischen Staatensystems, das gleichsam ein Laboratorium des europäischen wurde.
Insofern war es auch kein Zufall, dass nun das Wort stato, lateinisch status, also (Zu-)Stand, in einer neuen Bedeutung üblich wurde. Wenn Niccolò Machiavelli, der Begründer der modernen, säkularen und empirischen politischen Theorie, den Staatserhalt lehrte, meinte er nicht den Status des Herrschers, sondern sowohl die Regierung mit ihren Herrschaftsmitteln als auch das Objekt dieser Herrschaft, nämlich Land und Bevölkerung. Mittelalterliche Herrschaft war personal gedacht, als unmittelbare Beziehung des Lehnsherrn zum Vasallen. Mit dem Staat entstand dagegen ein institutioneller Verwaltungsapparat zur Machtwahrung und politischen Gestaltung. Der stato wurde so zusehends ein Rechtsträger mit eigenem (Beamten-)Personal und eigener Würde, unabhängig von der Person des jeweiligen Fürsten. Die «Staatsraison», wie sie in den polemischen Debatten um Machiavelli später konzipiert wurde, folgte denn auch einer Logik, die sich weder aus dem christlichen Sittengesetz noch aus dem individuellen Herrscherwillen ergab. Vielmehr gehorchte sie dem übergeordneten Ziel, den Staat als politische Ordnung stets neu zu befestigen, wenn menschliche Laster diese gefährdeten. Die politische Gemeinschaft bemaß sich immer weniger nach ihrem Verhältnis zum ewigen göttlichen Gesetz, sondern wurde zu einer dauernden menschlichen Gestaltungsaufgabe im diesseitigen Reich des Wandels.
Die allmählich entstehenden städtischen und dann staatlichen Verwaltungen brauchten allgemeingültige Verfahrensregeln, die nicht von der Willkür einzelner Machthaber oder Beamter abhingen. Dies lieferte das Römische Recht durch das spätantike, unter Kaiser Justinian zusammengestellte Corpus iuris civilis (CIC), das seit der Wiederentdeckung im 12. Jahrhundert in einem intensiven Austauschverhältnis zusammen mit dem kirchlichen, Kanonischen Recht studiert und entwickelt wurde. Neben der Theologie und im Anspruch unabhängig von ihr entstand so eine Wissenschaft mit antik-heidnisch geprägter, innerweltlicher Logik. Wichtiger als die materiellen Inhalte des Römischen Rechts waren seine Homogenität und Systematik, die Methodik und die Rechtsverfahren, etwa das Prozessrecht. Zudem entstand eine Rechtskultur, in der Auslegungsdifferenzen durch wissenschaftliche Argumentationen in Streitgesprächen und Glossen geklärt werden sollten. Obwohl das Römische Recht Privatrecht ist, eröffnete es als kaiserliches Recht auch Diskussionen über die politische Ordnung. Hatte der fürstliche Wille tatsächlich automatisch Gesetzeskraft? Verfügte der König im eigenen Territorium über die umfassenden Kompetenzen des Kaisers, wie vor allem französische Juristen regelmäßig verkündeten?
An Universitäten, wie sie im Gefolge von Bologna (1088) im Abendland gegründet wurden, bildete sich so ein schrift- und rechtskundiger Stand von gelehrten Laien, die das – da römischkaiserlich – universell gedachte «gemeine Recht» pflegten. Nur England ging mit seinem common law einen eigenen Weg und begründete Urteile in Präzedenzfällen statt in kodifizierten Gesetzen. Doch auch dort eröffnete die Jurisprudenz den Zugang in die königlichen Räte oder hohen Gerichte. Solche Aufstiegschancen boten sich auch Bürgerlichen, zumal sie in Stadt und Handel mit vielen Rechtsfällen zu tun bekamen. Notare und Stadt- oder Kanzleischreiber benötigten ebenfalls juristisches Wissen, wenn auch nicht unbedingt ein Rechtsstudium. Schriftliche Aufzeichnungen prägten zunehmend den wirtschaftlichen Alltag (Rechnungsbücher, doppelte Buchführung), wobei der Übergang zu autobiographischen Memoiren oder Familien- und Stadtchroniken fließend war. Private, kommunale und herrschaftliche Archive sammelten die rasch wachsende Menge wichtiger Schriftstücke. Auch unter Laien breitete sich der Besitz von handgeschriebenen Büchern aus, die zunehmend in der Volkssprache verfasst waren.
In diesem Umfeld entstand die neue Bildungselite der Humanisten. Sie wollten durch eine «Renaissance» die alten Sprachen und die untergegangene Kultur der Antike zu neuem Leben erwecken. Sie deuteten die Jahrhunderte zwischen ihrem Unterfangen und dem Untergang des antiken Rom als barbarisches, germanisch geprägtes «Mittelalter». Indem sie die Vergangenheit als einen menschengemachten kulturellen Niedergang und Wiederaufstieg deuteten, entwickelten sie ein anderes Zeitverständnis als die vorherrschende heilsgeschichtliche Vierreichelehre. Danach bildete das Römische Imperium, in dem der Messias unter Kaiser Augustus geboren worden war, das letzte Reich der Weltgeschichte, das im Jüngsten Gericht enden würde. Wie erklärt sich das Bedürfnis, die gängige Gelehrtensprache Latein von ihren mittelalterlichen Fehlern und Überladungen stilistisch zu bereinigen, wie erklärt sich das Interesse christlicher und oft tiefgläubiger Humanisten für die heidnischen Autoren der Antike? Letztere standen nicht, wie noch Vergil in Dantes Divina Commedia (1320), auf einer heilsgeschichtlichen Vorstufe, sondern konnten gerade in ihrer Andersartigkeit den Humanisten auf Augenhöhe Grundsätzliches zur Erforschung des Menschlichen, zu den studia humanitatis mitteilen.
Die Bemühungen der Humanisten um die ursprünglichen, reinen Quellen galten nicht den Buchstaben, sondern den konkreten Menschen, die über den Text in ihrer historischen Bedingtheit greifbar wurden. Im Dialog mit ihnen sollten die innerweltliche Dynamik und die widersprüchliche Vielfalt einer immer urbaner geprägten Welt erfasst werden, die mit der christlichen Überlieferung allein nicht zu verstehen war, sich allerdings auch von der antiken Realität unterschied. Was konnte ein stolzer Rechtstitel wie civis romanus, römischer Bürger, den Cicero ebenso wie Paulus reklamiert hatten, in einer Gegenwart bedeuten, in der das römische Universalreich weiterhin als fiktive Ordnung erschien – ein Imperium, dessen historische Vergänglichkeit offenbar wurde, gerade wenn die in Italien allgegenwärtigen Ruinen mit humanistischer Bewunderung neu entdeckt wurden? Wer die Unterschiede von idealisierter Vergangenheit und gestaltbarer Gegenwart analysierte, dem eröffnete ein historischer Sinn neue Spielräume für die Planung und Gestaltung der Zukunft. Dabei traten die Humanisten in Konkurrenz zu ihren scholastisch ausgebildeten Zeitgenossen, denen sie einen barbarischen und unverständlichen Stil vorwarfen. Ihnen selbst sollte ein rhetorisch geschliffenes Latein städtische Ämter oder fürstliche Patronage eintragen. Philologie und richtiger Sprachgebrauch wurden zur Voraussetzung des humanistischen Reformprogramms: die pädagogische Erziehung der Jungen, die moralische Ausbildung des Einzelnen, die politische Lenkung der Massen, den Freundschaftskult im gelehrten Briefwechsel.
Die Familie Medici repräsentierte die neuen Chancen und Herausforderungen der Renaissance wie keine andere. Von bescheidenen Anfängen gelangten sie im 15. Jahrhundert durch ihre international und vor allem für die päpstliche Kurie tätige Bank zu größtem Reichtum. Sie beherrschten Florenz zuerst informell, dann offiziell und schließlich als Großherzöge, die mit immer vornehmeren Familien Ehen eingingen, bis hin zur Tochter Kaiser Karls V. und zu den französischen Königen Heinrich II. und Heinrich IV. Andere Familienangehörige wurden Papst: Leo X. und Clemens VII., die in Rom Künstler wie Raffael und Michelangelo beauftragten. Damit befanden sie sich in einer Familientradition, für die vor allem Lorenzo de’ Medici berühmt war. Zu den Mitteln, um sich unter den eifersüchtig konkurrierenden Patrizierfamilien in Florenz durchzusetzen, gehörte die Patronage, die Finanzierung von Kirchenbauten, Bibliotheken, städtischen Feiern, von Dichtern und Gelehrten, die in ihren Werken den Ruhm ihrer Gönner mehrten. Nach der Wiederentdeckung lateinischer Autoren in teils abgelegenen Klosterbibliotheken führte vor allem die osmanische Eroberung von Byzanz 1453 dazu, dass gerade die Florentiner Humanisten sich nun stark den antiken griechischen Texten zuwandten, die mit gelehrten Flüchtlingen in den Westen gelangten.
Außerhalb Italiens, wo die antik-römische Tradition weniger präsent war, schlossen sich die Humanisten erst recht zu städtisch-regionalen Freundesgruppen zusammen; diese bildeten sich freiwillig auf kultureller, nicht familiärer oder beruflicher Basis. Das eigentliche Medium der humanistischen Kommunikation war allerdings der Brief: Er vereinte die internationale Gelehrtenrepublik um zentrale Figuren wie Erasmus von Rotterdam zu Netzwerken von Freunden und Informanten, aber auch Neidern und Konkurrenten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die nationale Polemik: Die Wiedergeburt der römischen, also italienischen Kultur richtete sich gegen die «germanischen» Barbaren in Frankreich und Deutschland. Wie sonst niemand verstanden es die Humanisten, die entstehende Staatenwelt als Abstammungs- und Ehrgemeinschaften zu fassen, die vom Fürsten, seinen adligen Kampfgefährten und, standesübergreifend, den humanistischen Gebildeten repräsentiert würden. Diese beanspruchten, an wahrer Tugend und Verdiensten dem Geburtsadel nicht nachzustehen, und sie benutzten die antiken Völkernamen der «Galli», «Germani» oder «Britanni», um den entstehenden Staaten eine weit zurückreichende, historisch begründete kollektive Identität zu verschaffen. Mit Spott verwarfen sie die mittelalterlichen Wandersagen, welche die zeitgenössischen Völker und Dynastien auf Flüchtlinge vor allem aus Troja zurückgeführt hatten. Die humanistischen nationes waren dagegen indigen, hatten ihre antiken Wurzeln im jeweiligen Territorium.
Auch die geistige Ausrichtung auf Jerusalem, auf mittelalterlichen Karten das Zentrum der Welt, verschwand mit dem endgültigen Ende der Kreuzzüge. Derselbe humanistische Papst Pius II., der 1460 mit seinem Aufruf zum Glaubenskrieg scheiterte, trug entscheidend dazu bei, dass sich die geographische Selbstbezeichnung «Europa» ausbreitete: Sie erfasste über das herkömmliche Abendland hinaus die Gemeinsamkeiten der Christen, die sich gegenüber den türkischen Osmanen in der militärischen Defensive sahen. «Europa» erfasste eine Konkurrenzgemeinschaft mit gemeinsamen Werten und Regeln, die unterschiedlich kombinierbar waren und zugleich die Europäer fundamental von den Bewohnern anderer Kontinente abgrenzten.