Rainer Maria Rilke
Briefe an einen jungen Dichter, vierter Brief

Meine Hütte hat an der Südseite drei große Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen. Im Zwielicht der Winterabende sitze ich gern in meinem braunen Ledersessel und beobachte die Vögel an der langgestreckten Futterstelle draußen. Die Fenster hat mir mein Mann bei seinem letzten Besuch geschenkt. Er war schon mehrmals gekommen und wieder gegangen, und wir wussten nicht, ob dies das letzte Mal sein würde, doch ich ahnte es bereits.

Ich lebe jetzt seit zwölf Jahren in den Ozark Mountains im südlichen Missouri, die meiste Zeit allein. Ich habe gelernt, den Betrieb zu führen, den wir gemeinsam aufgebaut haben, eine Imkerei. Es ist ein unsicheres, wenig einträgliches Geschäft, das mich nie von Geldsorgen befreit, mir aber die Möglichkeit gibt, in diesen Hügeln zu leben, die ich so liebe.

Mein Stück Land in den Ozarks ist ein höchst eindrucksvolles Fleckchen Erde. Meine Farm liegt knapp achtzig Meter oberhalb eines prächtigen schnellfließenden Flusses im Norden und eines von Wasserfällen unterbrochenen Baches im Süden. Bach und Fluss vereinigen sich nahebei im Osten, so dass ich praktisch auf einer Halbinsel wohne. Der fünfzig Meter breite Geländestreifen hinter der Hütte ist von Sekundärwald bedeckt, und ich hole dort mein

In den vergangenen zwölf Jahren habe ich gelernt, dass ein Baum Platz zum Wachsen braucht, dass im Januar unten am Bach Kojoten singen, dass ich nur dann einen Nagel in eine Eiche schlagen darf, wenn sie belaubt ist, dass Bienen mehr vom Honigmachen verstehen als ich, dass Liebe zu Traurigkeit werden kann und dass es mehr Fragen als Antworten gibt.

Das Stück Land hier ist so schön, dass mir fast die Tränen kamen, als ich es vor zwölf Jahren zum ersten Mal sah, und noch heute geht es mir so. Deshalb hat es mich nie groß interessiert, wie viel Hektar es umfasst, wo die Grenzen verlaufen und wem genau was gehört. Doch was es für mich so schön und begehrenswert macht, hat wohl auch andere davon überzeugt, dass es sich um erstklassiges Land handelt, und sie betrachten sich ebenfalls als seine Eigentümer. Im Augenblick beispielsweise fühle ich mich hier ein bisschen wie ein Eindringling, denn ich habe festgestellt, dass ich mitten in einer Indigofinken-Enklave wohne. Wie Enklaven es so an sich haben, lebt es sich darin recht

Indigofinken sind kleine, aber energische Vögel. Sie wiegen sich in dem Glauben, alles ringsum gehöre ihnen, und es ist kaum möglich, diesen Besitzanspruch einfach zu ignorieren. Die Männchen – von leuchtendem, schimmerndem Blau – sitzen auf den Zaunpfosten oder den Wacholderbäumen, die das Weideland vereinnahmt haben, überblicken von dort aus ihren Besitz und schmettern ihre Lieder. Verschlungene Melodien, die mich morgens aus dem Schlaf wecken. Sie singen den ganzen Tag, sogar mittags, wenn die anderen Vögel verstummt sind, denn sie haben uns Wichtiges mitzuteilen, vor allem, wer hier das Sagen hat. Die mattbraunen spatzenähnlichen Weibchen und Jungvögel dagegen interessieren sich mehr fürs Fressen; sie halten sich eher in Bodennähe auf und suchen niedrige Sträucher und Gräser nach Samen und der einen oder anderen Raupe ab, aber auch sie wissen, was Sache ist. Als ich einmal am Rand der Wiese entlang nach Hause ging, stieß ich auf einen in seine Gesangsübungen vertieften jungen Indigofinken. Er hatte sich noch nicht so sichtbar zu postieren gewagt, wie sein Vater es getan hätte, aber er trällerte auf seinem kahlen Zweig unverdrossen seine Strophen, machte alles falsch und fing wieder von vorn an, so leise, dass ich ihn gar nicht gehört hätte, wenn ich nicht so nahe bei ihm gestanden hätte.

An einem anderen Tag entdeckte ich, dass der Wind die Hintertür meines Honighauses aufgeweht hatte und alle möglichen geflügelten Geschöpfe darin umherschwirrten, größtenteils Insekten. Doch auch ein halbwüchsiger

Ja, sie halten sich für die Herren hier, und ich habe ihrer Selbstgewissheit nichts entgegenzusetzen als ein Stück Papier in meinen Unterlagen. Aber auch andere erheben Besitzansprüche, und vielleicht sollte ich erst eine Volkszählung durchführen, ehe ich irgendwelche Ansprüche anerkenne: Bussarde, die die Aufwinde über Fluss und Bach nutzen, Goldzeisige, wilde Truthähne, Schnäppertyrannen und Schwarzkehlnachtschwalben. Das Filetstück aber – die Gegend um die Vogelfutterstelle – hat sich ein Kardinalpärchen gesichert. Ich habe Kassetten mit Vogelstimmen, und wenn ich sie abspiele, versuche ich den Kardinal zu überspringen, denn der derzeitige Bewohner bricht in frenetischen Reviergesang aus, wenn er seinen Rivalen hört, und sein bis dahin so schöner Tag ist ihm vergällt.

Und die Kojotin? Eine Zeitlang hat sie die Farm als ihren Besitz betrachtet, speziell den Hühnerhof. Sie war sich ihrer

Vor langer Zeit, ehe ich in die Ozarks zog, arbeitete ich einmal einen Frühling lang auf einem Forschungsgelände der Universität. Ich war jung und verliebt, und die meisten Tätigkeiten dort machten mir Spaß, aber das Projekt interessierte mich ohnehin. Drei ganz verschiedene Lebensräume waren zu untersuchen: ein Bergwald, eine Flussniederung und ein Stück Ödland. Meine Aufgabe bestand darin, einmal wöchentlich an jedem dieser Orte eine würfelförmige Erdprobe zu entnehmen, sie durchzusieben und ihre mit bloßem Auge sichtbaren Bewohner zu zählen und grob systematisch einzuordnen. Das Populationswachstum wurde in einer Graphik festgehalten. Die so entstehende Kurve, Sinnbild der fröhlichen, ständigen Erneuerung des Lebens, passte zum Wetter und zu meinem eigenen Pulsschlag.

Die Liebe von damals ist verstummt, und hier habe ich keine Erdproben entnommen, aber ich weiß, was sich dort unten abspielt: Millionen kleiner Wesen stoffwechseln munter drauf‌los und nutzen das Land. Ich wage gar nicht daran zu denken, was für Zahlen zusammenkämen, wenn ich mein Volkszählungsinstrumentarium durch eine Taschenlupe oder ein Mikroskop ergänzen würde. Dagegen kann ich andere Bewohner mit einem ernstzunehmenden

Nun sind da aber auch noch die Kupferkopfschlangen und ihre ganze Schlangenverwandtschaft, deretwegen man tunlichst in Stiefeln über die Wiesen geht. Wie soll ich sie zählen und ihre Ansprüche prüfen? Und dann die Schildkröten, die die Erdbeeren im Garten fressen, die Laubfrösche, denen der Teich gehört. Und was ist mit den Rechten von Waschbär, Stinktier und Hirsch? Was ist mit dem Rotluchsweibchen, das unter den Felsen am Fluss haust und meine Farm als einen winzigen Bruchteil seines Reviers betrachtet?

Mir wird ganz schwindlig, wenn ich mir auch nur vorzustellen versuche, ich müsste alle Lebewesen zählen, die hier zu Hause sind. Alle haben ja gewisse Ansprüche auf das Land, kaum weniger berechtigte, vielleicht sogar berechtigtere als ich.

Ein Stück die Straße hinauf ist ein menschlicher Streit um ein weniger glücklich gelegenes Stück Land im Gange. Es wird nicht wie meine Farm von zwei staatlich und damit umweltfreundlich verwalteten Arealen begrenzt und befindet sich mit allem, was es umgibt, in Privatbesitz. Einer der Eigentümer will es planieren und erschließen, und damit wird die Grenzfrage zu einer heiklen Angelegenheit. Es ist von einem teuren Gutachten die Rede, das Aufschluss darüber geben soll, wem was gehört. Dann werden

Die Indigofinken wird das nicht kümmern.

Ich machte das Übliche durch: Ich konnte weder schlafen noch essen, ich redete fieberhaft mit Freunden und stürzte mich Hals über Kopf in eine zerstörerische Affäre mit einem Mann, der noch mehr Probleme hatte als ich. Er traf eine Reihe unsinniger Entscheidungen bezüglich meiner Imkerei und verpfuschte mir über einige Jahre mehr oder weniger mein Leben. Und sehr lange Zeit funktionierte auch mein Verstand nicht mehr. Wenn ich im Radio Nachrichten hörte, drang nichts davon zu mir durch. Meine Aufmerksamkeit ließ nach, sobald ich etwas anderes las als seichteste Unterhaltungsliteratur. Mein Gehirn drehte endlose, schmerzhafte Schleifen, und ich konnte mich weder

Ich grübelte über Struktur, Gerüst, Schema, System, Klassifikation und Ordnung nach und stieß auf eine Klassifikation, die sich Jorge Luis Borges ausgedacht hat:

Eine chinesische Enzyklopädie teilt die Tiere ein in:

  1. dem Kaiser gehörige

  2. einbalsamierte

  3. gezähmte

  4. Spanferkel

  5. Sirenen

  6. Fabeltiere

  7. streunende Hunde

  8. in diese Einteilung aufgenommene

  9. die sich wie toll gebärden

  10. unzählbare

  11. mit feinstem Kamelhaarpinsel gezeichnete

  12. und so weiter

  13. die den Wasserkrug zerbrochen haben

  14. die von weitem wie Fliegen aussehen.

Meine Freunde und ich lachten über die Liste, und das sagte mehr über uns und unser westlich-europäisches Denken aus, fanden wir, als über eine mutmaßliche orientalische Weltsicht. Wir glauben eine angemessenere Vorstellung davon zu haben, wie die Natur zu klassifizieren sei, und wenn Borges diese Vorstellung zerzaust, finden wir das

Mein Vater war Botaniker. In meiner Kindheit hielt er sich die Samstagnachmittage für mich frei, und oft wanderten wir dann durch den Wald und über Stock und Stein. Er nannte die Pflanzen, die wir fanden, bei ihren zweiteiligen lateinischen Namen und erklärte mir ihre Eigenarten. Die Namen waren zu schwierig für mich, aber ich begriff, dass Pflanzen Namen haben, die ihre verwandtschaftlichen Beziehungen beschreiben, und das fand ich schon mit sechs Jahren schön und interessant.

Nachdem ich also Borges’ Liste gelesen hatte, wandte ich mich Linné zu. Welche Defizite der Mann als Wissenschaftler auch gehabt haben mag – er hat uns ein wunderbares Instrument zur Erfassung der Vielfalt in der Welt an die Hand gegeben. Das erste Wort in der von ihm geschaffenen binären Nomenklatur bezeichnet jeweils die Gattung und fasst verschiedene Pflanzen zusammen, die eine Reihe von Merkmalen gemeinsam haben; das zweite Wort definiert die Art oder Spezies, also Pflanzen, die einander so ähnlich sind, dass sie regelmäßig miteinander Nachkommen zeugen, die so aussehen wie sie selbst. Diese Struktur hilf‌t uns verstehen und macht deutlich, wie sich Teile der Welt ineinanderfügen.

Ich kann kein Latein, doch als ich anfing zu botanisieren und die Pflanzen um mich herum bei ihren lateinischen Namen zu nennen, lenkte mich dieses geistreiche System von meiner eigenen Geistesarmut ab.

Der wunderbare Linnaeus, der stets einen Scherz auf den Lippen hatte, nannte die Tagblumen nach den Brüdern Commelyn, drei niederländischen Botanikern, von denen zwei – die auf‌fälligen blauen Blütenblätter – ihre Arbeiten veröffentlichten, während der dritte aus Mangel an Fleiß und Ehrgeiz so unscheinbar blieb wie das weißliche dritte Blütenblatt.

In den Wäldern wächst ein Baum mit glänzenden ovalen Blättern, die sich im Herbst, manchmal auch schon gegen Ende des Sommers, leuchtend rot färben. Im Juni trägt er kleine Dolden weißer Blüten, die bei Bienen sehr beliebt sind, später dann blaue Früchte, an denen sich Hüttensänger und Wanderdrosseln laben. Es ist ein Tupelobaum, hier in der Gegend auch black-gum oder sour-gum genannt. Aus meiner Kindheit in Michigan kenne ich ihn unter dem Namen pepperidge, sein botanischer Name lautet Nyssa sylvatica. Die Tupelobäume sind also in der Gattung Nyssa zusammengefasst, deren Name sich von den Nyseiden herleitet, den Nymphen des Berges Nysa, die das Kind

Ich botanisierte wie wild in dieser schwierigen Zeit. Täglich lernte ich neue Pflanzen mit ihren lateinischen Namen kennen. Ich wanderte im Winter durch die Wälder – zu viel mehr war ich nicht zu gebrauchen – und untersuchte die Rinde kahler Bäume. Als im Frühling die Blumen aufblühten, nahm ich meine Pflanzenführer mit hinaus und trug Standort, Gestalt und Blütezeit der Pflanzen in ein dickes Notizbuch ein. Mein Gehirn war aus der Übung und völlig überlastet, so musste ich alles aufschreiben.

Eines Frühlingsnachmittags holte ich die Post aus dem Kasten, und als ich wieder in meiner Hütte war, hatte ich zwei schöne neue Blumen nachzuschlagen. Der Zug der Waldsänger hatte begonnen, und auf dem Rückweg beobachtete ich sie durch das Fernglas und entdeckte einen, den ich noch nie gesehen hatte. Die Sonne schien schräg durch das junge Laub, und die Luft duftete nach Später Traubenkirsche (Prunus serotina: Prunus – Pflaume, serotina – spät blühend), in deren Blüten meine Bienen emsig

Im Haus tat ich dann all die Dinge, die man tut, wenn man wieder bei sich ist. Ich räumte meinen Schreibtisch auf und beantwortete die Nachrichten, die andere mir hinterlassen hatten. Ich war lange Zeit fort gewesen, und so hatte ich einiges zu erledigen, ehe ich mich an die Arbeit machen konnte, die den Nachmittag meines Lebens bestimmen würde: Ich musste eine neue Ordnung schaffen, eine Struktur, mit der eine Frau von fünfzig ihr Leben allein meistern kann, im Frieden mit sich selbst und der Welt um sie herum.

Es waren Hunderte: zollgroße Fröschchen mit hauchdünnen Schwimmhäuten und fingerartigen Zehen, mit deren Saugnäpfen sie an den glatten Flächen hafteten. Nach der Form ihrer Zehen, ihrer Größe und den hellen Bäuchen zu schließen, mussten es Wasserpfeifer sein. Hyla crucifer. Ich ging hinaus, um sie näher in Augenschein zu nehmen, musste aber aufpassen, wohin ich die Füße setzte, denn im Gras vor den Fenstern wimmelte es nur so von Fröschen, die geduldig darauf warteten, die erleuchteten Fenster zu erklimmen. Tatsächlich hatte jedes der braunrosa Tiere die dunkle Kreuzzeichnung auf dem Rücken, der die Spezies ihren wissenschaftlichen Namen verdankt. Dass sie vom Licht angelockt werden, war mir neu.

Ich ließ meine Zeitung Zeitung sein und brachte den Abend damit zu, die Gesellschaft zu beobachten. Sie kletterten kaum über die Fensterrahmen hinaus und saßen an Scheiben und Profilen, als könnten sie sich nicht

Es waren stumme Fensterkletterer; Wasserpfeifer bemerkt man gewöhnlich nur gegen Ende des Winters, im Februar, wenn ihre schrillen, einem Pfeifen ähnlichen Paarungsrufe von dem Teich oben in der Wiese herabtönen. Die Männchen erzeugen diese Rufe, indem sie Maul und Nasenöffnungen schließen und Luft aus der Lunge über die Stimmbänder ins Maul und anschließend über die Stimmbänder wieder zurück in die Lunge pressen. Der Laut lockt die Weibchen an den Weiher, und sobald sie im Wasser sind, umklammern die Männchen sie und platzieren ihre Kloake genau über derjenigen der Weibchen. Die Weibchen setzen dann den Laich ab, und die Männchen befruchten ihn.

Sie ist eine gesellige Angelegenheit, diese Froschpaarung, und die Frösche sind so zahlreich und ihre Rufe so schrill und durchdringend, dass ich abends gern zum Teich hinaufgehe und diesem für den Menschen so erheiternden und zugleich seltsam aufwühlenden Chor lausche. Eines Abends war ich mit einem Freund dort oben, und wir saßen lange am Ufer. Jede Unterhaltung wäre unpassend und ohnehin unmöglich gewesen. Das Froschkonzert hüllte uns ganz ein, füllte uns aus, hallte mit hysterisch-schriller Eindringlichkeit wider, vertrieb jeden konzentrierten Gedanken aus unseren Köpfen und zwang uns, Laute nicht nur zu hören, sondern auch zu fühlen.

Als wir uns auf dem Rückweg zu meiner Hütte darüber unterhielten, stellten wir verblüfft fest, dass wir uns

Ein etwas größerer Verwandter des Wasserpfeifers aus derselben Gattung ist der Graue Laubfrosch, der sich über die Sommermonate oft in meinen Bienenstöcken einnistet. Die Frösche hängen unter der Wetterschutzabdeckung des Stockes, und wenn ich die Abdeckung hochhebe, lassen sie sich ganz ohne Eile auf den inneren Deckel plumpsen und sehen mich ruhig an.

Sie sind von einem angenehm weichen Graugrün mit dunkleren moosgrünen Flecken, und wenn sie in einem Baum sitzen, sehen sie aus wie ein Stück flechtenüberzogener Rinde. Mit dieser im Zuge der Evolution entstandenen wunderbar erfolgreichen Tarnfärbung ist der Graue Laubfrosch in brenzligen Situationen am sichersten, wenn er stillhält und so tut, als sei er tatsächlich ein Stück Rinde. Auf dem weißen inneren Deckel des Bienenstocks nützt ihm seine Tarnung allerdings herzlich wenig, aber das weiß er natürlich nicht, und da er nicht gelernt hat, dass es von Nutzen sein kann, weithin sichtbar davonzuhüpfen, bleibt er sitzen und beäugt mich, so kommt es mir vor, mit einer Mischung aus Eitelkeit und trotziger Rechthaberei.

Als ich gestern Abend im Bett lag und las, spürte ich ein kaum vernehmbares leichtes Plopp neben mir. Ich spähte über meine Brille hinweg und erblickte einen stattlichen dicken Grauen Laubfrosch, der mich prüfend ansah. Wir musterten einander eine ganze Weile, der Frosch sichtlich gelassen, dann nahm ich ihn auf, trug ihn zur Hintertür hinaus und setzte ihn in den Hickorybaum. Selbst in meinen

Die Fensterbänke in meinem Schlafzimmer sind verrottet, und er hatte vermutlich ein Loch gefunden, durch das er hereingeschlüpf‌t war. Ich fragte mich, ob nicht noch Freunde von ihm dabei gewesen waren, schaute unters Bett und entdeckte dort drei weitere Graue Laubfrösche, jeder womöglich ein verwunschener Prinz. Dessen ungeachtet beförderte ich sie alle in den Hickorybaum.

Ich erinnerte mich vage, dass ich als Kind in der Sonntagsschule einmal etwas von einer Froschplage gehört hatte, und so nahm ich meine Bibel aus dem Regal und machte es mir wieder im Bett bequem. Ich fand die Geschichte im Exodus. Es handelte sich um eine der Plagen, die Gott dem Pharao sandte, auf dass er die Juden aus Ägypten ausziehen lasse.

Da sprach der Herr zu Mose: Geh hin zum Pharao und sage zu ihm: So spricht der Herr: Lass mein Volk ziehen, dass es mir diene! Wenn du dich aber weigerst, siehe, so will ich dein ganzes Gebiet mit Fröschen plagen, dass der Nil von Fröschen wimmeln soll. Die sollen heraufkriechen und in dein Haus kommen, in deine Schlafkammer, auf dein Bett …

Wie aufregend: Mein Abend hatte eine ausgesprochen biblische Färbung angenommen. Ich las von einer Froschplage, und ich hatte mit den Wasserpfeifern an meinen Wohnzimmerfenstern selbst eine erlebt. Beide Plagen

Bittet den Herrn für mich, dass er die Frösche von mir und von meinem Volk nehme, so will ich das Volk ziehen lassen, dass es dem Herrn opfere.

Ein pingeliger Mensch, dieser Pharao, und einer mit ziemlich schwachen Nerven.

Ich kannte einmal einen Sumpf‌frosch, Rana palustris, der hätte den Pharao eines anderen belehren können. Er war ein reizendes Geschöpf, sehr hübsch, gräulich mit rechteckigen dunklen Flecken, die Innenseiten der Beine leuchtend gelb. Er wohnte einen ganzen Sommer lang in meiner Scheune. Ich fand ihn eines Morgens, als er sich den Aufmerksamkeiten des Katers und der Hunde zu entziehen suchte. Sein rechter Vorderfuß fehlte; der Stumpf war zwar vollständig verheilt, aber der Frosch konnte nur schief und unbeholfen hüpfen. In der Annahme, er sei besser dran, wenn er sein Glück in freier Wildbahn versuchte, trug ich ihn zum Weiher hinaus und setzte ihn dort unter das schützende Brombeerdickicht. Am nächsten Tag aber fand ich ihn wieder in der Scheune – er war die ganze Strecke von der Länge eines Fußballfelds zurückgehüpft. Da ließ ich ihn bleiben, gab ihm Wasser und fing ihm ein paar Fliegen.

Den ganzen Sommer über versorgte ich ihn mit frischem Wasser, jagte Fliegen für ihn und passte auf, dass ihm nichts zustieß. Sumpffrösche leben manchmal in Höhlen, und ich fragte mich, ob das gedämpf‌te Licht in der Scheune und der

Eines Tages aber kam der Mann von der Lebensmittelkontrolle zu seiner jährlichen Inspektion. Er ist wie der Pharao ein pingeliger Mann. Einmal hat er mir Schwierigkeiten gemacht, weil er im Schleuderraum ein paar verirrte Honigbienen fand. Bienen, so erklärte er mir geduldig, seien Insekten, und laut Vorschrift seien Insekten in einem lebensmittelverarbeitenden Betrieb unzulässig. Ich wies ihn – nicht ganz so geduldig vielleicht – darauf hin, dass diese Insekten das Lebensmittel selbst erzeugten und sich bis zu dem Moment, da ich es ihnen wegnähme, in ständigem engem Kontakt damit befänden. Schließlich gab er, sichtlich widerstrebend, klein bei. Ich wusste nun nicht, wie er auf den Sumpf‌frosch reagieren würde, der bei seinem Wasserschälchen und einem Schraubdeckel voller toter Fliegen vor dem Honighaus hockte. Doch der Kontrolleur ist ein dynamischer Mann, er ging dynamisch an dem Frosch vorbei und bemerkte ihn gar nicht.

Vor Jahren habe ich in einem Biologie-Einführungskurs einen Frosch seziert, habe sorgfältig die Muskeln beiseitegelegt, die Nervenstränge verfolgt und die Organe bestimmt. Ich erinnere mich noch, wie zufrieden ich mit mir war, als ich den Kadaver wegwarf. Ich wusste nun alles über Frösche und konnte mich daranmachen, meine restlichen

In den Jahren danach, ehe ich in die Ozarks zog, führte auch ich ein dynamisches Leben. Ich hatte zwar keinen Grund, daran zu zweifeln, dass ich nach wie vor alles über Frösche wusste, aber ich verschwendete wohl auch nie einen Gedanken an sie, denn wie der Kontrolleur sah ich keine.

Heute gibt es in meinem Leben Frösche in Hülle und Fülle, und das beglückt mich, aber so eingenommen von mir bin ich heute nicht. Zum einen ist mein Leben nicht so verlaufen, wie ich es mir vorgestellt hatte, zum anderen bilde ich mir nicht mehr ein, über irgendetwas alles zu wissen. Von Fröschen beispielsweise habe ich keine Ahnung, und besonders klar wird mir das, wenn sie meine Fenster besetzen, in mein Bett springen oder meinen Schutz benötigen.

Ich seziere keine Frösche mehr, und ich lese mehr Lyrik als mit zwanzig. Vor kurzem stieß ich auf ein Haiku über die Natur, der von einem unbekannten Japaner stammt. Gerade habe ich ihn abgeschrieben und über meinem Schreibtisch an die Wand gehängt:

Fremd ist mir, was hier wohnt

Tränen fließen vor Dankbarkeit und Demut.

Bienen fliegen auf der Suche nach Nektar drei Kilometer weit, zum Teil noch weiter. Ich habe einmal ausgerechnet, dass die achtzehn Millionen Bienen aus meinen Stöcken zweieinhalbtausend Quadratkilometer des Ozarkplateaus überfliegen. Im Frühjahr bin ich fast ausschließlich damit beschäftigt, zu den Trachtgebieten zu fahren, die Bienenvölker zu kontrollieren und sie für die großen Nektarströme vorzubereiten, aus denen sie den Honig machen.

Den Honig bringe ich dann mit einem Kleinlaster zu den Abnehmern, für diese Arbeit benutze ich einen wackeren roten 1954er Chevy-Halfton-Pick-up. Er heißt »Augen zu und durch«, weil er auf vieles von dem, was gemeinhin als automobile Notwendigkeit gilt, verzichtet und trotzdem läuf‌t und läuf‌t. Der Pick-up und ich haben einiges an Widrigkeiten überstanden, wir haben Matsch und schwere Zeiten durchgemacht, und ich hege und pflege ihn sorgfältig.

Während ich also auf dem Rollbrett lag und Albinoni durch mein Gehirn wogte, entdeckte ich, dass ich den Stoßdämpfer hinten rechts vernachlässigt hatte. Er war gebrochen, und auch seine Halterung hatte sich gelöst. Ich füllte gut vier Liter frisches Öl in das Kurbelgehäuse, wendete den Wagen, prüf‌te den Ölstand der Hinterachse und bockte ihn dann auf, um die hinteren Federn zu schmieren. Dann wechselte ich den Startknopf über der Anlassereinheit aus. Der Fußstarter hatte sich in letzter Zeit störrisch gezeigt, und mein Nachbar Ermon, ein Mechaniker, der auf der anderen Seite der Talmulde wohnt, hatte mir gesagt, er müsse ausgetauscht werden. Er hatte mir erklärt, wie man das macht, und der alte Startknopf ließ sich auch mühelos herausnehmen. Doch den neuen hineinzuschrauben, über

Als ich fertig war, zog ich meinen verschmierten Overall aus, wie immer erfreut und auch ein wenig überrascht, so sauber daraus aufzutauchen, dass ich in einem Wohnzimmer Gäste hätte empfangen können.

Das Wetter war inzwischen noch immer nicht gut genug für die Bienenarbeit, und so fuhr ich in die Stadt, um Besorgungen zu machen. Im Autoersatzteilladen kauf‌te ich neue Stoßdämpfer und ging dann zu meinem Lieblingsschrottplatz hinüber, weil ich ein Kardangelenk brauchte. Die Strecken, die ich fahre, setzen Kardangelenken schwer zu, und als das letzte Mal eines brach, baute mir mein Mechanikernachbar das einzige ein, das er noch hatte, und meinte, ich solle mir noch ein zweites besorgen und es als Reserve ins Handschuhfach legen.

Der Schrotthändler ist ein Freund von mir, und ich wusste, dass der Kauf einige Zeit in Anspruch nehmen würde, was uns beiden an einem solchen Regentag aber nur recht sein konnte. Als ich kam, war er gerade dabei, einen Schrott-Pontiac mit dem Schneidbrenner in verwertbare Einzelteile zu zerlegen. An seine Werkbank gelehnt wartete ich, bis er mit einem Schnitt zu Ende war. Schließlich schob er seine Schutzbrille zurück und nickte mir zu. Er schenkte erst mir, dann sich selbst eine Tasse Kaffee ein, und wir redeten über das Wetter, das Für und Wider des

1934