Für Martin Bell und
Mary Ellen Mark:
Lasst uns gemeinsam beenden,
was wir gemeinsam begonnen haben.
Außerdem für Minnie Domingo und
Rick Dancel und ihre
Tochter Nicole Dancel,
die mir
die Philippinen zeigten.
Und für meinen Sohn Everett,
der in Mexiko mein Dolmetscher und Übersetzer war,
sowie für Karina Juárez,
unsere Reiseführerin in Oaxaca
– dos abrazos muy fuertes.
Journeys end in lovers meeting.
William Shakespeare, ›Twelfth Night‹
Hin und wieder legte Juan Diego Wert darauf klarzustellen: »Ich bin Mexikaner – ich bin in Mexiko geboren und auch dort aufgewachsen.« In letzter Zeit hatte er sich jedoch angewöhnt zu sagen: »Ich bin Amerikaner – ich lebe seit vierzig Jahren in den USA.« Oder er sagte, um der Nationalitätenfrage aus dem Weg zu gehen: »Ich bin aus dem Mittleren Westen – genauer gesagt: aus Iowa.«
Nie sagte er, er sei mexikanischstämmiger Amerikaner. Was nicht nur daran lag, dass Juan Diego dieses Etikett missfiel, denn dafür hielt er es nämlich, und es missfiel ihm tatsächlich. Juan Diego war vielmehr der Ansicht, dass die Leute ständig nach Gemeinsamkeiten in der mexikanisch-amerikanischen Erfahrungswelt suchten und er in seiner eigenen Erfahrungswelt keinen gemeinsamen Nenner erkannte; genauer gesagt, er suchte gar nicht danach.
Stattdessen sagte Juan Diego, er habe zwei Leben geführt – getrennt voneinander und vollkommen unterschiedlich. Die mexikanische Erfahrungswelt war sein erstes Leben, seine Kindheit und frühe Jugend. Nachdem er Mexiko verlassen hatte – und nie zurückgekehrt war –, hatte er ein zweites Leben begonnen, in einer amerikanischen Erfahrungswelt, einer im Mittleren Westen. (Oder wollte er damit auch sagen, dass sein zweites Leben relativ ereignislos verlaufen war?)
Doch Juan Diego betonte immer, er habe diese beiden Leben in seinem Kopf – oder jedenfalls in seiner Erinnerung, aber auch in seinen Träumen – »doppelgleisig« gelebt und nachgelebt.
Eine gute Freundin Juan Diegos, die auch seine Ärztin war, zog ihn wegen dieser »Doppelgleisigkeit« regelmäßig auf. Sie gab ihm zu verstehen, entweder sei er immerzu ein mexikanischer Junge oder ein Erwachsener aus Iowa. Auch wenn Juan Diego sonst nur wenig unwidersprochen ließ, so hatte er ihr in dieser Frage doch beigepflichtet.
Ehe die Betablocker seine Träume beeinträchtigten, hatte Juan Diego seiner Ärztin erzählt, er sei immer während des »harmlosesten« seiner wiederkehrenden Alpträume aufgewacht. Bei diesem Alptraum handelte es sich eigentlich um eine Erinnerung an den schicksalsträchtigen Morgen, als er zum Krüppel wurde. Und harmlos war auch nur der Anfang dieses Alptraums oder dieser Erinnerung. Es geschah in Oaxaca, Mexiko, auf dem Gelände der städtischen Müllkippe im Jahre 1970 – als Juan Diego vierzehn war.
In Oaxaca war er ein sogenanntes Müllkippenkind gewesen (un niño de la basura) und hatte in einer Hütte in Guerrero gewohnt, der Siedlung für Familien, die auf der Deponie (el basurero) arbeiteten. 1970 lebten nur zehn Familien in Guerrero. Damals hatte die Stadt Oaxaca etwa 100000 Einwohner; viele von ihnen wussten nicht, dass das Sammeln und Sortieren der Gegenstände auf dem basurero hauptsächlich von den Müllkippenkindern erledigt wurde. Sie hatten die Aufgabe, Glas, Aluminium und Kupfer vom übrigen Müll zu trennen.
Wer wusste, was die Kinder dort machten, nannte sie los pepenadores – »die Müllsammler«. Und das war Juan Diego mit vierzehn: ein Müllkippenkind, ein Müllsammler. Doch der Junge war auch ein Leser; es sprach sich herum, dass ein niño de la basura sich selbst das Lesen beigebracht hatte. In der Regel waren Müllkippenkinder nicht die eifrigsten Leser, und junge Leser, egal, welcher Herkunft und welchen Hintergrunds, sind selten Autodidakten. Deshalb sprach es sich herum, und so hörten die Jesuiten, die so großen Wert auf Bildung legen, von dem Jungen aus Guerrero. Die beiden alten Jesuitenpriester im Templo de la Compañia de Jesús (dem Tempel der Gesellschaft Jesu) nannten Juan Diego den »Müllkippenleser«.
»Jemand sollte dem Müllkippenleser ein paar gute Bücher bringen – Gott weiß, was der Junge auf seiner Halde für Lesestoff findet!«, sagte entweder Pater Alfonso oder Pater Octavio. Immer, wenn einer der beiden alten Priester »jemand sollte« sagte, dann war Bruder Pepe derjenige, der es tat. Und Pepe war ein Vielleser.
Denn Bruder Pepe hatte ein Auto – und weil er aus Mexico City kam, fiel ihm das Autofahren in Oaxaca relativ leicht. Pepe war Lehrer an der Jesuitenschule; sie war schon lange eine angesehene Schule – jeder wusste, dass die Gesellschaft Jesu gut darin war, Schulen zu betreiben. Das jesuitische Waisenhaus allerdings war recht neu (das ehemalige Kloster war erst in den sechziger Jahren umgebaut worden), und nicht alle fanden den Namen dieses Waisenhauses gelungen; manche hielten Hogar de los Niños Perdidos für zu lang und für ein wenig streng.
Doch Bruder Pepes Herz gehörte der Schule und dem Waisenhaus; im Laufe der Jahre mussten die meisten zartbesaiteten Seelen, denen der Klang des Namens »Heim der verlorenen Kinder« nicht gefiel, zugeben, dass die Jesuiten auch ein ziemlich gutes Waisenhaus betrieben. Außerdem nannten es die Leute sowieso nur noch »Verlorene Kinder«. Eine der Nonnen, die sich um die Kinder kümmerten, war in dieser Hinsicht direkter; bestimmt bezog sich Schwester Gloria nur auf einige besonders aufsässige Kinder, nicht auf alle Waisen, wenn sie gelegentlich »los perdidos« – die Verlorenen – murmelte.
Glücklicherweise brachte nicht Schwester Gloria dem jungen Müllkippenleser die Bücher auf die Deponie; hätte Gloria die Bücher ausgewählt und zugestellt, wäre Juan Diegos Geschichte vielleicht schon zu Ende gewesen, ehe sie begann. Doch für Bruder Pepe hatte Lesen einen besonderen Stellenwert; er war Jesuit, weil die Jesuiten ihn zu einem Leser gemacht und ihm Jesus nahegebracht hatten, wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Man fragte Pepe besser nicht, ob Lesen oder Jesus ihn gerettet hatten, und was bei seiner Rettung die größere Rolle gespielt hatte.
Mit fünfundvierzig war er zu dick – »eine Figur wie eine Putte, wenn auch kein himmlisches Wesen«, wie Bruder Pepe sich selbst beschrieb.
Pepe war der Inbegriff von Güte; er verkörperte jenes berühmte Mantra der heiligen Teresa von Ávila, das in seinen täglichen Gebeten immer an erster Stelle stand: »O Herr, bewahre uns vor törichter Andacht und sauertöpfischen Heiligen!« Dieses Gebet der Teresa von Ávila gefiel Pepe am allerbesten. Kein Wunder, dass die Kinder ihn mochten.
Bruder Pepe war nie zuvor auf der Müllkippe von Oaxaca gewesen. Damals verbrannte man dort alles Brennbare; überall loderte es. (Bücher waren praktische Feueranzünder.) Als Pepe aus seinem VW Käfer stieg, passten der Gestank der Müllkippe und die Hitze der Feuer zu seiner Vorstellung von der Hölle – nur wäre er nie auf die Idee gekommen, dass in der Hölle Kinder arbeiteten.
Auf dem Rücksitz des Käfers lagen einige sehr gute Bücher; gute Bücher waren der beste Schutz vor dem Bösen, den Pepe je in Händen gehalten hatte; den Glauben an Jesus konnte man nicht in Händen halten, jedenfalls nicht so wie gute Bücher.
»Ich suche den Leser«, sagte Pepe zu den Deponiearbeitern, sowohl den Erwachsenen als auch den Kindern; der Blick, mit dem los pepenadores Pepe bedachten, ließ erkennen, wie gering sie das Lesen schätzten. Eine Erwachsene sprach zuerst – sie war vielleicht in Pepes Alter oder ein wenig jünger, wahrscheinlich die Mutter des einen oder anderen Müllkippenkindes. Sie sagte Pepe, er solle Juan Diego in Guerrero suchen, in der Hütte von el jefe.
Bruder Pepe war verwirrt; vielleicht hatte er sie falsch verstanden. El jefe war der Deponiechef, der Boss der Müllkippe. War der Leser der Sohn des Chefs?, fragte Pepe die Arbeiterin.
Etliche Müllkippenkinder lachten, dann wandten sie sich ab. Die Erwachsenen fanden es weniger lustig, und die Frau sagte nur: »Nicht wirklich.« Sie deutete in Richtung Guerrero, wo die Hütten aus dem errichtet worden waren, was die Arbeiter auf der Müllkippe gefunden hatten. Guerrero war eine Deponiesiedlung; sie schmiegte sich an einen Hügel unter dem basurero, die Hütte des Chefs lag ganz am Rand – in dem Teil, der der Deponie am nächsten war.
Schwarze Rauchsäulen standen über der Müllkippe wie gen Himmel ragende finstere Pfeiler. Hoch oben kreisten Geier, doch Pepe sah, dass es auch unten Aasfresser gab. Überall auf der Kippe waren Hunde, die den Höllenfeuern auswichen, den Männern in Lastwagen aber nur widerwillig Platz machten und sonst fast keinem. Für die Kinder waren diese Hunde bedrohliche Konkurrenz, auch sie durchsuchten den Müll – wenn auch nicht nach den gleichen Dingen. (Die Hunde interessierten sich nicht für Glas, Aluminium oder Kupfer.) Die meisten waren natürlich Streuner, und manche hatten nicht mehr lange zu leben.
Pepe blieb nicht lange genug, um die toten Hunde zu entdecken oder herauszufinden, was mit ihnen geschah; sie wurden verbrannt, doch manchmal erst, nachdem die Geier sie gefunden hatten.
Am Fuß der Halde, in Guerrero, sah Pepe noch mehr Hunde. Die Bewohner hatten sie zu sich genommen, und Pepe fand, sie sähen wohlgenährter aus und zeigten ein ausgeprägteres Revierverhalten. Sie glichen mehr den Hunden, die man in jeder beliebigen Wohngegend antraf; sie waren reizbarer und aggressiver als die Kippenhunde, die eher unterwürfig oder verstohlen herumschlichen, ihr Revier aber auf eine durchtriebene Art verteidigten.
Man sollte sich lieber nicht von einem Hund auf der Müllkippe beißen lassen, auch nicht von einem in Guerrero, da war sich Pepe ziemlich sicher, schließlich kamen die meisten von ihnen ursprünglich auch von der Kippe.
Manchmal brachte Bruder Pepe kranke Kinder zur Untersuchung durch Dr. Vargas ins Rotkreuz-Krankenhaus an der Calle Armenta y López; Vargas gab den Waisenhauskindern und den Müllkippenkindern immer den Vorrang. Er hatte Pepe erzählt, für die Kinder, die auf der Deponie wühlten, ginge von den Hunden und von Spritzen die größte Gefahr aus – auf der Kippe lagen jede Menge weggeworfene Spritzen mit gebrauchten Injektionsnadeln herum. Ein niño de la basura konnte sich leicht an einer schmutzigen Nadel stechen.
»Hepatitis B oder C, Tetanus – von allen sonstigen denkbaren bakteriellen Infektionen ganz zu schweigen«, hatte Dr. Vargas zu Pepe gesagt.
»Und ein Hund auf der Müllkippe, eigentlich jeder Hund in Guerrero, könnte vermutlich Tollwut haben«, hatte Bruder Pepe ergänzt.
»Man muss die Müllkippenkinder schlicht gegen Tollwut impfen, wenn sie von so einem Hund gebissen werden«, sagte Vargas. »Doch sie haben eine Heidenangst vor Spritzen. Sie fürchten sich vor gebrauchten Nadeln, und das ist auch gut so, aber dadurch haben sie auch Angst, sich impfen zu lassen! Werden sie von Hunden gebissen, haben sie mehr Angst vor der Impfung als vor der Tollwut, und das ist schlecht.« Pepe hielt Vargas für einen guten Menschen, auch wenn der ein Wissenschaftler war und nicht gläubig. (Pepe wusste, dass Vargas in geistlichen Dingen anstrengend sein konnte.)
Als Pepe aus seinem Wagen stieg und sich der Hütte des jefe in Guerrero näherte, dachte er an die Tollwutgefahr; die Arme fest um die guten Bücher geschlungen, die er dem Müllkippenleser mitbrachte, nahm er sich vor dem Gebell und den unfreundlich aussehenden Hunden in Acht. »¡Hola!«, rief der füllige Jesuit in Richtung der fliegengitterbewehrten Hüttentür. »Ich habe Bücher für Juan Diego, den Leser, dabei – gute Bücher!«, rief Bruder Pepe. Als er das böse Knurren aus dem Inneren der Hütte hörte, trat er von der Fliegengittertür zurück.
Die Arbeiterin auf der Deponie hatte etwas vom Boss der Müllkippe gesagt – el jefe persönlich. Sie hatte seinen Namen genannt. »Sie werden Rivera problemlos erkennen. Ihm gehört der furchterregendste Hund.«
Doch hinter der Fliegengittertür sah Bruder Pepe den so grimmig knurrenden Hund nicht. Er wich einen weiteren Schritt von der Tür zurück, als sie plötzlich aufging. Es war nicht Rivera oder sonst wer, der einem Deponieboss ähnelte; die kleine, aber finster dreinblickende Person in der Tür von Riveras Hütte war auch nicht Juan Diego, sondern ein dunkeläugiges, wild aussehendes Mädchen – die dreizehnjährige Lupe, die jüngere Schwester des Müllkippenlesers. Lupe sprach vollkommen unverständlich; was sie von sich gab, klang nicht mal annähernd wie Spanisch. Nur Juan Diego wusste, was sie meinte; er fungierte für seine Schwester als Dolmetscher. Doch Lupes seltsame Sprache war nicht das Rätselhafteste an ihr; das Mädchen konnte Gedanken lesen. Lupe wusste, was man gerade dachte – und manchmal wusste sie mehr über einen als das.
»Es ist ein Typ mit einem Stapel Bücher!«, rief Lupe in die Hütte, was zu einer Bellkakophonie des unangenehm klingenden, aber noch immer nicht zu sehenden Hundes führte. »Er ist Jesuit, ein Lehrer, einer von den Gutmenschen aus dem Waisenhaus.« Lupe hielt inne und las Bruder Pepes Gedanken, die leicht verwirrt waren; er hatte kein Wort von dem verstanden, was sie gesagt hatte. »Er hält mich für geistig behindert und befürchtet, dass mich das Waisenhaus nicht aufnimmt – dass die Jesuiten mich für nicht lernfähig halten könnten!«, rief Lupe ihrem Bruder zu.
»Sie ist nicht geistig behindert!«, rief der Junge irgendwo im Hütteninneren. »Sie versteht alles!«
»Vermutlich suche ich deinen Bruder«, sagte der Jesuit zu dem Mädchen. Pepe lächelte sie an, und sie nickte; Lupe sah, dass ihm seine heroischen Bemühungen, die vielen Bücher festzuhalten, den Schweiß auf die Stirn trieben.
»Der Jesuit ist nett, nur ein wenig fett«, rief das Mädchen Juan Diego zu. Sie ging wieder in die Hütte und hielt Bruder Pepe, der vorsichtig eintrat, die Fliegengittertür auf; er sah sich überall nach dem knurrenden, aber weiterhin unsichtbaren Hund um.
Der Junge, der Müllkippenleser persönlich, war kaum besser zu sehen. Die ihn umgebenden Bücherregale waren stabil gebaut – Riveras Arbeit, dachte Pepe. So wie viele jugendliche, aber ernsthafte Leser war Juan Diego ein verträumt aussehender Knabe; er wirkte nicht wie jemand, der gut schreinern konnte. Er sah seiner Schwester sehr ähnlich, und beide erinnerten Pepe an jemanden. Nur kam der schwitzende Jesuit gerade nicht drauf, wer dieser Jemand sein könnte.
»Wir sehen beide unserer Mutter ähnlich«, sagte ihm Lupe. Juan Diego, der auf einem durchgesessenen Sofa lag, ein Buch aufgeschlagen auf der Brust, dolmetschte Lupe diesmal nicht; was die Bemerkungen seiner hellseherischen Schwester anging, wollte er den jesuitischen Lehrer lieber im Dunkeln lassen.
»Was liest du gerade?«, fragte Bruder Pepe den Jungen.
»Heimatgeschichte – Kirchengeschichte, könnte man sagen«, antwortete Juan Diego.
»Es ist langweilig«, sagte Lupe.
»Lupe findet es langweilig – vermutlich ist es ein wenig langweilig«, räumte der Junge ein.
»Lupe liest auch?«, fragte Bruder Pepe. Neben dem Sofa stand ein improvisierter, aber ziemlich stabiler Tisch aus einem Sperrholzbrett und zwei Orangenkisten, auf dem Pepe seine Bücherladung ablegte.
»Ich lese ihr alles laut vor«, sagte Juan Diego dem Lehrer. Der Junge hielt seine aktuelle Lektüre hoch. »In dem Buch steht, dass ihr als Dritte gekommen seid, ihr Jesuiten«, erläuterte Juan Diego. »Sowohl die Augustiner als auch die Dominikaner waren vor euch in Oaxaca – dann erst kamt ihr in die Stadt. Vielleicht sind die Jesuiten deshalb in Oaxaca keine besonders große Nummer«, fuhr der Junge fort. (Für Bruder Pepe hörte sich das erstaunlich vertraut an.)
»Und die Jungfrau Maria stellt Unsere Liebe Frau von Guadalupe in den Schatten; Guadalupe wird von Maria und der Jungfrau der Einsamkeit untergebuttert«, brabbelte Lupe unverständlich los. »La Virgen de la Soledad ist in Oaxaca ein Superstar – die Jungfrau der Einsamkeit und ihre blöde Burro-Geschichte! Nuestra Señora de la Soledad buttert Guadalupe auch unter. Ich bin für Guadalupe!«, sagte Lupe und zeigte auf sich; sie wirkte erbost.
Bruder Pepe sah Juan Diego an, der offenbar vom Krieg der Jungfrauen die Nase voll hatte, aber brav alles dolmetschte.
»Ich kenne das Buch!«, rief Pepe.
»Tja, das überrascht mich nicht, es ist eins von euren«, sagte Juan Diego und reichte Pepe seine Lektüre. Der alte Band roch stark nach Müllkippe, und einige Seiten sahen angekokelt aus. Es war einer dieser akademischen Wälzer – katholische Gelehrsamkeit von der Sorte, die fast keiner liest. Das Buch stammte aus der Bibliothek im ehemaligen Kloster, dem jetzigen Hogar de los Niños Perdidos. Viele der alten und unlesbar gewordenen Bücher hatte man zur Deponie gebracht, als das Kloster umgebaut wurde, um die Waisen aufzunehmen und auch um für die Jesuitenschule mehr Platz in den Regalen zu schaffen.
Bestimmt hatten Pater Alfonso oder Pater Octavio entschieden, welche Bücher in den Müll wanderten und welche es wert waren, aufbewahrt zu werden. Die Geschichte, wie die Jesuiten als Dritte in Oaxaca eintrafen, hatte den beiden alten Priestern vielleicht missfallen, dachte Pepe; außerdem hatte das Buch wahrscheinlich kein Jesuit, sondern ein Augustiner oder ein Dominikaner geschrieben, und das allein mochte dafür gesorgt haben, dass das Buch den Höllenfeuern des basurero überantwortet wurde. (Tatsächlich legten die Jesuiten großen Wert auf Bildung, doch keiner hatte je behauptet, sie wären nicht konkurrenzorientiert.)
»Ich habe dir einige lesbarere Bücher mitgebracht«, sagte Pepe zu Juan Diego. »Ein paar Romane, gut erzählt – Literatur eben«, schloss der Lehrer aufmunternd.
»Keine Ahnung, was ich von Literatur halten soll«, sagte die dreizehnjährige Lupe misstrauisch. »Nicht alle diese Geschichten sind so toll, wie behauptet wird.«
»Fang bloß nicht damit an«, sagte Juan Diego zu ihr. »Die Hundegeschichte war einfach nichts für Kinder.«
»Welche Hundegeschichte?«, wollte Bruder Pepe wissen.
»Fragen Sie lieber nicht«, bat ihn der Junge, doch es war zu spät; Lupe kramte herum, durchstöberte die Regale, in denen vor den Flammen gerettete Bücher standen.
»Dieser Russe«, sagte das auffällige Mädchen.
»Hat sie ›Russe‹ gesagt – du liest doch nicht etwa auch Russisch, oder?«, fragte Pepe Juan Diego.
»Nein, nein, sie meint den Schriftsteller. Der Autor ist Russe«, erklärte der Junge.
»Wie verstehst du sie eigentlich?«, fragte ihn Pepe. »Ist das überhaupt Spanisch, was sie da spricht …«
»Natürlich ist es Spanisch!«, rief die Kleine; sie hatte das Buch gefunden, das ihre Zweifel am Erzählen, an der Literatur geweckt hatte, und reichte es Bruder Pepe.
»Lupes Sprache ist nur ein wenig anders«, sagte Juan Diego. »Ich verstehe sie.«
»Ach, der Russe«, sagte Pepe. Es handelte sich um eine Sammlung von Čechovs Kurzgeschichten, Die Dame mit dem Hündchen und andere Erzählungen.
»Es geht dabei überhaupt nicht um das Hündchen«, beklagte sich Lupe, »sondern um Leute, die nicht miteinander verheiratet sind, aber Sex miteinander haben.«
Juan Diego dolmetschte wieder brav. »Sie hat nur Hunde im Kopf«, erklärte der Junge Pepe. »Ich habe ihr gesagt, die Erzählung ist nichts für sie.«
Pepe hatte Mühe, sich an Die Dame mit dem Hündchen zu erinnern; an das Hündchen selbst erinnerte er sich selbstredend gar nicht. In der Erzählung ging es um eine verbotene Liebe – mehr fiel ihm nicht ein. »Ich bin mir auch nicht sicher, ob das Buch altersgerecht für dich ist«, sagte der Lehrer und Jesuit mit einem verlegenen Lächeln.
In dem Moment merkte Pepe, dass es sich um eine englische Übersetzung von Čechovs Erzählungen handelte beziehungsweise eine amerikanische, in den 1940er Jahren in New York erschienene Ausgabe. »Aber das ist ja Englisch!«, rief Bruder Pepe. »Verstehst du Englisch?«, fragte er das wild aussehende Mädchen. »Kannst etwa auch Englisch lesen?«, fragte der Jesuit den Müllkippenleser. Sowohl der als auch seine jüngere Schwester zuckten die Achseln. Wo habe ich nur dieses Zucken schon mal gesehen?, fragte sich Pepe erneut.
»Bei unserer Mutter«, antwortete Lupe, doch Pepe verstand sie nicht.
»Was ist mit unserer Mutter?«, fragte Juan Diego seine Schwester.
»Er hat überlegt, woher er unser Achselzucken kennt«, antwortete ihm Lupe.
»Du hast dir also auch Englisch beigebracht«, sagte Pepe langsam zu dem Jungen; aus unerfindlichen Gründen bescherte ihm das Mädchen auf einmal eine Gänsehaut.
»Englisch ist auch nur ein bisschen anders – ich versteh’s«, sagte der Junge, als ginge es immer noch darum, dass er die fremden Laute seiner Schwester verstand.
Pepes Gedanken überschlugen sich. Das waren außergewöhnliche Kinder – der Junge konnte alles lesen; womöglich gab es nichts, was er nicht verstand. Und die Kleine – nun, sie war anders. Sie dazu zu bringen, normal zu reden, wäre eine echte Herausforderung. Aber waren diese Müllkippenkinder nicht genau die Sorte begabter Schüler, wie sie die Jesuitenschule suchte? Und hatte nicht die Arbeiterin auf der Kippe gesagt, Rivera, el jefe, sei »nicht wirklich« der Vater des jungen Lesers? Aber wer war denn dann der Vater der beiden, und wo steckte er? Und von einer Mutter war weit und breit nichts zu sehen, jedenfalls nicht in dieser verwahrlosten Hütte, dachte Pepe. Die Tischlerarbeiten waren in Ordnung, doch alles andere war das reinste Chaos.
»Sag ihm, wir sind keine niños perdidos – er hat uns doch gefunden, oder?«, sagte Lupe plötzlich zu ihrem begabten Bruder. »Sag ihm, wir gehören nicht ins Waisenhaus. Ich muss nicht normal reden – du verstehst mich ja gut«, sagte sie zu Juan Diego. »Sag ihm, wir haben eine Mutter, und wahrscheinlich kennt er sie sogar!«, rief Lupe. »Sag ihm, Rivera ist wie ein Vater, nur besser. Sag ihm, el jefe ist besser als jeder Vater!«
»Sprich langsam, Lupe!«, sagte Juan Diego. »Wenn du nicht langsamer redest, kann ich ihm gar nichts sagen.« Es gab eine ganze Menge, was er Bruder Pepe erzählen sollte, angefangen damit, dass Pepe ihre Mutter wahrscheinlich kannte – abends ging sie auf der Calle Zaragoza arbeiten, doch sie arbeitete auch für die Jesuiten; sie war deren beste Putzfrau.
Da die Mutter der beiden nachts auf der Straße arbeitete, war sie vermutlich eine Prostituierte, und Bruder Pepe kannte Esperanza tatsächlich – keine Frage, woher die Kinder ihre dunklen Augen und das unbekümmerte Achselzucken hatten, auch wenn unklar war, wem der Junge seine Lesebegabung verdankte.
Bezeichnenderweise verwendete der Junge nicht die Formulierung »nicht wirklich«, wenn er von Rivera als seinem möglichen Vater sprach. In Juan Diegos Worten war der Deponiechef »wahrscheinlich nicht« sein Vater, doch Rivera könnte des Jungen Vater sein – man müsse sich ein »vielleicht« hinzudenken, so formulierte es Juan Diego. Wenn es nach Lupe ging, so war el jefe »garantiert nicht« ihr Vater. Lupe hatte den Eindruck, sie habe viele Väter, »zu viele, um alle aufzuzählen«, doch der Junge ging über diese biologische Unmöglichkeit stillschweigend hinweg. Er sagte lediglich, Rivera und ihre Mutter seien »nicht mehr auf diese Art zusammen gewesen«, als Esperanza mit Lupe schwanger wurde.
Es war zwar eine recht langatmige, aber unaufgeregte Art des Geschichtenerzählens – wie der Junge seine und Lupes Einschätzung des Deponiechefs als »wie ein Vater, nur besser« zum Besten gab und wie die Müllkippenkinder der Meinung waren, sie hätten hier ein Zuhause. Juan Diego teilte Lupes Meinung, sie seien »kein Waisenhausmaterial«. Etwas geschönt klang es bei Juan Diego etwa so: »Wir sind weder jetzt noch in Zukunft niños perdidos. Wir haben hier in Guerrero ein Zuhause. Und wir haben auf der Müllkippe Arbeit!«
Womit sich jedoch für Bruder Pepe die Frage stellte, warum diese Kinder nicht auf der Deponie neben los pepenadores arbeiteten. Warum waren Lupe und Juan Diego nicht mit den anderen Kindern da draußen beim Mülldurchsuchen? Behandelte man sie besser oder schlechter als die Kinder der anderen Familien, die auf der Kippe arbeiteten und in Guerrero wohnten?
»Besser und schlechter«, antwortete Juan Diego dem Jesuitenlehrer, ohne zu zögern. Bruder Pepe dachte an die Verachtung, die die anderen Müllkippenkinder für das Lesen übrighatten, und Gott allein wusste, was sie von dem wild aussehenden Mädchen hielten, das unverständliches Zeug brabbelte und in dessen Gegenwart es Pepe kalt den Rücken runterlief.
»Rivera lässt uns die Hütte nur mit ihm zusammen verlassen«, erklärte Lupe. Juan Diego übersetzte das nicht nur, er ging für Bruder Pepe auch ins Detail.
Rivera beschütze sie wirklich, sagte der Junge zu Pepe. El jefe sei wie ein Vater und besser als ein Vater, weil er für die Müllkippenkinder sorgte und auf sie achtgab. »Und er schlägt uns nie«, unterbrach ihn Lupe; auch das übersetzte Juan Diego brav.
»Verstehe«, sagte Bruder Pepe. Doch er begriff erst allmählich, in welcher Lage sich die Müllkippenkinder befanden, die zwar einerseits besser war als die der anderen. Andererseits war sie auch schlechter – weil die jungen Müllsucher und deren Familien in Guerrero Lupe und Juan Diego ablehnten. Die beiden Geschwister mochten zwar Riveras Schutz genießen (weswegen man sie ablehnte), doch el jefe war nicht wirklich ihr Vater. Und ihre Mutter, die abends auf dem Straßenstrich arbeitete, war eine Prostituierte, die gar nicht in Guerrero wohnte.
Es gibt überall eine Hackordnung, dachte Bruder Pepe traurig.
»Was ist eine Hackordnung?«, fragte Lupe ihren Bruder. (Jetzt begriff Pepe allmählich, dass das Mädchen seine Gedanken kannte.)
»Eine Hackordnung heißt, dass sich die anderen niños de la basura für was Besseres halten«, antwortete ihr Juan Diego.
»Ganz genau«, bestätigte Pepe ein wenig irritiert. Da war er gekommen, um den Müllkippenleser, den berühmten Knaben aus Guerrero, kennenzulernen und ihm gute Bücher zu bringen, wie es sich für einen guten Lehrer ziemte – und stellte nun fest, dass er, der Jesuit Pepe höchstpersönlich, derjenige war, der noch eine Menge zu lernen hatte.
In diesem Moment zeigte sich der permanent grollende, aber bisher unsichtbare Hund, wenn es denn ein Hund war. Das wieselartige kleine Geschöpf kroch unter dem Sofa hervor – mehr nagetier- als hundeähnlich, war Pepes erster Gedanke.
»Er heißt Schmutzigweiß und ist ein Hund, keine Ratte!«, sagte Lupe entrüstet zu Bruder Pepe.
Juan Diego dolmetschte das für Pepe, ergänzte dann aber: »Schmutzigweiß ist ein dreckiger kleiner Feigling – und undankbar dazu.«
»Ich habe ihm das Leben gerettet!«, rief Lupe. Sogar als der magere, krumme Hund sich den ausgestreckten Armen des Mädchens näherte, zog er unwillkürlich die Lefzen hoch und bleckte die spitzen Zähne.
»Man hätte ihn Vormtodebewahrt nennen sollen statt Schmutzigweiß«, sagte Juan Diego lachend. »Als sie ihn fand, steckte sein Kopf in einem Milchkarton.«
»Er ist noch ein Welpe. Er war am Verhungern«, protestierte Lupe.
»Schmutzigweiß hungert immer noch nach irgendwas«, sagte Juan Diego.
»Hör auf«, befahl ihm seine Schwester; der Welpe zitterte in ihren Armen.
Pepe versuchte, seine Gedanken zu unterdrücken, was aber schwieriger war, als er sich vorgestellt hatte; er zog es vor, aufzubrechen, und sei es auch überstürzt – immer noch besser, als dem übersinnlich begabten Mädchen zu erlauben, weiter seine Gedanken zu lesen. Die unschuldige Dreizehnjährige sollte nicht wissen, was Pepe dachte.
Er ließ den Motor seines VW Käfers an; weder von Rivera noch von dessen »furchterregendstem« Hund war etwas zu sehen, als der Lehrer Guerrero verließ. Die schwarzen Rauchsäulen stiegen überall aus dem basurero empor, so wie die schwärzesten Gedanken des gutherzigen Jesuiten.
Die Mutter der beiden Müllkippenkinder, Esperanza, hieß bei den Patres Alfonso und Octavio nur »die Gefallene«. In den Köpfen der beiden alten Priester gab es keinen tieferen Fall als den, eine Prostituierte zu sein; keine noch so erbärmlichen menschlichen Wesen waren so verloren wie diese bedauernswerten Frauen. Dass Esperanza als Putzfrau für die Jesuiten arbeitete, war ein vermeintlich frommer Versuch, sie zu retten.
Aber müssen diese Müllkippenkinder nicht auch gerettet werden?, fragte sich Pepe. Gehören sie nicht auch zu »den Gefallenen«, oder laufen sie nicht Gefahr, in Zukunft zu fallen? Oder zumindest noch weiter abzustürzen?
Als der Junge aus Guerrero erwachsen war, als sich Juan Diego bei seiner Ärztin über die Betablocker beklagte, hätte Bruder Pepe neben dem ehemaligen Müllkippenkind stehen sollen; Pepe hätte Juan Diegos Kindheitserinnerungen und dessen wüsteste Träume bezeugt. Selbst die Alpträume dieses Müllkippenlesers waren es wert, bewahrt zu werden, wie Bruder Pepe wusste.
Als die beiden Müllkippenkinder knapp über zehn waren, war Juan Diegos häufigster Traum kein Alptraum. Der Junge träumte oft, dass er flog – nun ja, nicht direkt. Eher war es eine unbeholfen aussehende, sonderbare Fortbewegungsart in der Luft, die mit »Fliegen« wenig zu tun hatte. Es war immer derselbe Traum: Die Menschen in einer Menge schauten nach oben und sahen, dass Juan Diego am Himmel entlangspazierte. Von unten, vom Boden aus, schien der Junge ganz vorsichtig kopfüber durch die Luft zu gehen. (Wobei er offenbar vor sich hin zählte.)
Juan Diegos Himmelswanderung hatte nichts Unbeschwertes – weder flog er frei wie ein Vogel noch mit der mächtigen Schubkraft eines Flugzeugs. Und doch wusste er in diesem wiederkehrenden Traum, dass er genau dort hingehörte. Aus seiner umgekehrten himmlischen Perspektive sah er die angespannt nach oben schauenden Gesichter in der Menschenmenge.
Wenn er Lupe den Traum schilderte, fügte der Junge hinzu: »In jedem Leben kommt ein Augenblick, wo man loslassen muss – mit beiden Händen.« Für eine Dreizehnjährige ergab das natürlich keinen Sinn, nicht einmal für eine normale Dreizehnjährige. Lupes Antwort verstand nicht einmal Juan Diego.
Als er Lupe fragte, was sie von seinem Traum halte, fiel ihre Reaktion wie so oft verrätselt aus, doch diesmal verstand Juan Diego sie wenigstens akustisch.
»Es ist ein Traum über die Zukunft«, sagte das Mädchen.
»Wessen Zukunft?«, fragte Juan Diego.
»Hoffentlich nicht deine«, antwortete seine Schwester noch verrätselter.
»Aber ich mag diesen Traum!«, hatte der Junge erwidert.
»Es ist ein Todestraum.« Mehr ließ sich Lupe zu dem Thema nicht entlocken.
Doch jetzt, als älterem Mann und seit er Betablocker nahm, war Juan Diego sein Kindheitstraum, am Himmel spazieren zu gehen, abhandengekommen, so wie er auch den Alptraum jenes längst vergangenen Morgens nicht mehr nacherlebte, als er in Guerrero zum Krüppel wurde. Dem Müllkippenleser fehlten beide Träume.
Er hatte sich bei seiner Ärztin beklagt. »Die Betablocker blockieren meine Erinnerungen!«, rief Juan Diego. »Sie stehlen mir meine Kindheit und rauben mir meine Träume!« Für seine Ärztin bedeutete dieser hysterische Ausbruch nur, dass Juan Diego der Nervenkitzel durch das Adrenalin fehlte. (Bei Betablockern ist es mit Adrenalin nicht mehr weit her.)
Seine Ärztin Rosemary Stein, eine nüchterne Frau, war seit zwanzig Jahren eng mit Juan Diego befreundet; seine in ihren Augen hysterischen Übertreibungen waren ihr vertraut.
Dr. Stein wusste sehr genau, warum sie Juan Diego die Betablocker verschrieben hatte; ihr Freund lief Gefahr, einen Herzinfarkt zu bekommen. Er hatte nicht nur einen sehr hohen Blutdruck (170 zu 100), sondern war sich auch ziemlich sicher, dass seine Mutter und einer seiner möglichen Väter an einem Herzinfarkt gestorben waren – seine Mutter noch dazu in jungen Jahren. An Adrenalin mangelte es Juan Diego nicht – dem Kampf-oder-Flucht-Hormon, das bei Stress, Angst, Schicksalsschlägen, Leistungsdruck und während eines Herzinfarkts freigesetzt wird. Außerdem hält Adrenalin das Blut vom Darm und von den inneren Organen fern – das Blut steht den Muskeln zur Verfügung, damit man angreifen oder weglaufen kann. (Vielleicht braucht ein Müllkippenleser mehr Adrenalin als die meisten anderen Menschen.)
Betablocker können Herzinfarkte nicht verhindern, hatte Dr. Stein Juan Diego erklärt, sondern blockieren nur die Adrenalinrezeptoren im Körper; Betablocker schützen das Herz vor der möglicherweise verheerenden Wirkung des Adrenalins während eines Herzinfarkts.
»Wo sind denn meine verdammten Adrenalinrezeptoren?«, hatte Juan Diego seine Ärztin Dr. Stein gefragt. (»Dr. Rosemary« nannte er sie, um sie aufzuziehen.)
»In der Lunge, den Blutgefäßen, im Herzen – fast überall«, hatte sie geantwortet. »Adrenalin erhöht die Herz- und Atemfrequenz, die Härchen auf den Armen richten sich auf, die Pupillen weiten sich, die Blutgefäße verengen sich – nicht gut, wenn man einen Herzinfarkt hat.«
»Was wäre denn gut, wenn man einen Herzinfarkt hat?«, hatte Juan Diego sie gefragt. (Müllkippenkinder sind hartnäckig, sie lassen nicht locker.)
»Ein ruhiges, entspanntes Herz, eins, das langsam schlägt, nicht schnell und immer schneller«, antwortete Dr. Stein. »Ein Patient auf Betablockern hat einen niedrigen Puls, der sich unter keinen Umständen beschleunigen kann.«
Eine Blutdrucksenkung erfordert allerdings Disziplin; Betablocker und gleichzeitiger Konsum von zu viel Alkohol treiben den Blutdruck wieder in die Höhe; doch Juan Diego trank so gut wie nicht. (Na schön, er trank Bier, aber nur Bier – und zwar in Maßen, wie er fand.) Außerdem konnten Betablocker auch zu Durchblutungsstörungen in den Extremitäten führen, wodurch Hände und Füße sich kalt anfühlten. Über diese Nebenwirkung beklagte sich Juan Diego jedoch nicht – seiner Freundin Rosemary gegenüber hatte er sogar scherzhaft bemerkt, für einen Jungen aus Oaxaca sei frieren ein Luxus.
Manche Patienten, die Betablocker nehmen, beklagen die damit einhergehende Lethargie, die sich sowohl in allgemeiner Erschöpfung als auch in Antriebslosigkeit äußert, doch was kümmerte ihn das in seinem Alter? (Juan Diego war inzwischen vierundfünfzig.) Er war mit vierzehn zum Krüppel geworden; Hinken war seine sportliche Betätigung. Juan Diego hatte vierzig Jahre lang zur Genüge gehinkt; auf noch mehr Sport konnte er gut verzichten!
Er hätte sich allerdings gern lebendiger gefühlt, nicht so »reduziert« – mit diesem Wort hatte er die Wirkung der Medikamente auf sein sexuelles Interesse umschrieben. (Juan Diego sagte nicht, er sei impotent; selbst im Gespräch mit seiner Ärztin beließ er es bei dem eher diffusen Wort »reduziert«.)
»Ich wusste nicht, dass du zurzeit eine sexuelle Beziehung unterhältst«, sagte Dr. Stein zu ihm; tatsächlich wusste sie sehr wohl, dass er in keiner Beziehung war.
»Meine liebe Dr. Rosemary«, erwiderte Juan Diego. »Wäre ich in einer sexuellen Beziehung, würde sich diese Reduziertheit noch schlimmer anfühlen.«
Sie verschrieb ihm Viagra – sechs Tabletten im Monat, 100 Milligramm – und forderte ihn auf, damit zu experimentieren.
»Warte nicht, bis du jemanden kennenlernst«, sagte Rosemary.
Er hatte nicht gewartet; zwar hatte er niemanden kennengelernt, aber experimentiert hatte er dennoch. Dr. Stein hatte sein Rezept Monat für Monat erneuert. »Vielleicht reicht eine halbe Tablette aus«, hatte Juan Diego ihr nach seinen ersten Experimenten erzählt. Die überzähligen Tabletten hortete er. Über die Nebenwirkungen von Viagra hatte er sich nicht beklagt. Die Pillen ermöglichten ihm, eine Erektion zu bekommen; er konnte einen Orgasmus haben. Was war dagegen schon eine verstopfte Nase?
Auch die Schlaflosigkeit war für Juan Diego weder etwas Neues noch übermäßig beunruhigend; es hatte fast etwas Tröstliches, nachts mit seinen inneren Dämonen allein im Dunkeln zu liegen. Viele von Juan Diegos Dämonen begleiteten ihn seit seiner Kindheit – er kannte sie so gut, dass sie ihm so vertraut waren wie Freunde oder Verwandte.
Eine Überdosis Betablocker kann zu Schwindel, gar zu Ohnmachtsanfällen führen, doch Juan Diego machte sich deswegen keine Sorgen. »Krüppel wissen, wie man fällt – hinzufallen ist für uns nichts Besonderes«, sagte er zu Dr. Stein.
Doch mehr noch als die Erektionsstörungen beunruhigten ihn seine zerstückelten Träume; Juan Diego sagte, seinen Erinnerungen und Träumen fehle eine nachvollziehbare Chronologie. Deshalb hasste er Betablocker, weil sie ihn von seiner Kindheit abschnitten, und ihm war seine Kindheit offenbar wichtiger als anderen Leuten die ihrige – den meisten anderen, dachte Juan Diego. Seine Kindheit und die Menschen, denen er damals begegnet war – die sein Leben verändert hatten oder Zeugen dessen wurden, was ihm in dieser entscheidenden Zeit widerfahren war –, waren für Juan Diego eine Art Religionsersatz.
Auch wenn sie eine enge Freundin war, wusste Dr. Rosemary Stein doch nicht alles über Juan Diego; über die Kindheit ihres Freundes wusste sie zum Beispiel nur sehr wenig. Als Juan Diego mit untypischer Schärfe zu ihr sprach, scheinbar über die Betablocker, kam das für Dr. Stein wohl aus heiterem Himmel. »Glaub mir, Rosemary, wenn ich religiös wäre – was ich, wie du weißt, nicht bin – und die Betablocker hätten mir meine Religion genommen, dann würde ich mich darüber nicht bei dir beklagen! Ganz im Gegenteil, ich würde dich bitten, allen deinen Patienten Betablocker zu verschreiben!«
Dabei handelte es sich bestimmt wieder um eine der hysterischen Übertreibungen ihres temperamentvollen Freundes, dachte Dr. Stein. Schließlich hatte er sich die Hände verbrannt, als er Bücher vor den Flammen rettete – selbst Bücher über katholische Geschichte. Doch Rosemary Stein kannte nur Bruchstücke aus Juan Diegos Leben als Müllkippenkind; über seine späteren Jahre wusste sie mehr. Den Jungen aus Guerrero kannte sie eigentlich nicht.