{7}Gras, in einer blauen Teekanne,
ausgesondert zwischen das wachsende,
verblühende, weiterlebende Gras gestellt.
Judith Herzberg
Aus: Beemdgras en zachte dravik
(Auengras und weiche Trespe)
»Hab keine Angst, es ist alles gut, ich bin bei dir.«
Die Hand, die sich auf meine Wange legte, war die meiner Mutter. Ihr Gesicht war nah bei meinem. Ich konnte sie kaum sehen. Sie flüsterte und streichelte mir über den Kopf. Es war dunkel. Die Wände waren aus Holz. Es roch fremd. Es klang, als wären noch mehr Leute da. Mutter hob meinen Kopf und schob ihren Arm darunter. Sie drückte mich an sich und gab mir einen Kuss auf die Wange.
Ich fragte, wo mein Vater sei.
»Es ist ein Irrtum passiert, aber alles wird wieder gut. Wir sind ein paar Tage unterwegs mit vielen anderen Leuten. Aber bald fahren wir wieder nach Hause, und Papa ist dann auch da. Sie haben sich geirrt, darum müssen wir jetzt ein paar Tage hier zu Besuch bleiben, geradeso, wie wir neulich bei Trude zu Besuch waren. Erinnerst du dich? Trude hatte Blumenkohl gekocht. Aber als das Essen auf deinem Teller lag, hast du nichts gegessen, {12}weil du ja keinen Blumenkohl magst. Sie wollte dir weismachen, dass die Kinder aus dem Blumenkohl kämen. Aber du weißt, dass sie aus dem Bauch ihrer Mutter kommen. Du bist aus meinem Bauch gekommen. Du weißt doch, die Fotos zu Hause, wie du als Baby aus meinem Bauch gekommen bist und wie du Milch an meiner Brust getrunken hast und wie du gebadet wurdest. Erinnerst du dich?
Papa musste gestern früh ins Büro. Dann kamen sie uns holen, aber du warst sehr müde. Weißt du noch? Wir sind ein ganzes Stück gelaufen. Ich habe einen Zettel für Papa dagelassen, denn es ist ihnen ein Irrtum unterlaufen, wir brauchten eigentlich gar nicht mit. Sie werden Papa den Zettel geben, und in ein paar Tagen fahren wir wieder nach Hause. Hier sind viele Leute mit Kindern, so dass du dich nicht langweilen wirst. Wir haben nicht viel Spielzeug mit, weil wir so schnell losmussten. Ich konnte nicht einmal der Nachbarin Bescheid sagen. Zum Glück haben wir später ein paar Leute getroffen, die wir kannten. Weißt du noch? Der nette Herr L. hat noch Spaß mit dir gemacht. Er wollte auch Papa Bescheid sagen. Das hat er jetzt längst getan. Vielleicht bekommen wir morgen, wenn es hell wird, schon einen Brief von Papa.
Es sind noch mehr Leute hier, darum müssen wir flüstern. Sonst werden die wach. Die Leute {13}sind hier alle müde. Wie du. Im Zug hast du immer geschlafen. Erinnerst du dich an den Zug? Nein, mein Engel, vielleicht nicht. Du warst so schläfrig.
Es ist schon dumm, dass sie sich geirrt haben, aber in ein paar Tagen sind wir wieder zu Hause.«
Jemand rief Ssscht. Mutter flüsterte so nahe an meinem Ohr, dass es kitzelte. »Schlaf jetzt schön ein. Ich bleibe bei dir. Morgen schauen wir uns das Lager an, und in ein paar Tagen fahren wir wieder nach Hause, zu Papa.«
Sie gab mir einen Kuss. Die Luft in meiner Nase war kalt. Unter der Decke war es auch kalt. Ich kuschelte mich an meine Mutter, und ihr warmer Atem stieg mir in die Nase.
Am zweiten Tag kam ein Brief von meinem Vater und am vierten ein Päckchen. Ich fragte jeden Tag, ob wir schon nach Hause könnten. Aber sie sagte, noch ein paar Tage.
Nach einer Woche kehrten wir heim. Noch ein paar andere Leute kamen mit uns, aber die meisten blieben.
Mein Vater wartete auf uns. Er küsste meine Mutter und mich, und sie weinten.
»Du schaffst es, deine Augen schön zuzuhalten«, sagte meine Mutter. »Mach sie mal ganz fest zu. Ich trage dich hinein, und du darfst sie erst wieder aufmachen, wenn ich es sage. Abgemacht?«
Ich presste die Augen zu. Durch die geschlossenen Lider konnte ich das Licht in meinem Zimmer sehen. Ich hörte meinen Vater. »Dürfen wir kommen?«, rief Mutter. Sie nahm mich auf den Arm. Ich guckte ganz kurz, was los war. »Nein, Schatz, zuhalten, das hast du doch versprochen.« Sie lief mit mir durchs Haus. Weil meine Augen immer aufgehen wollten, legte ich die Hand darüber. Ich merkte, dass wir dorthin kamen, wo mein Vater war. »Jetzt darfst du sie aufmachen.« Im selben Augenblick begannen Vater und Mutter, »Hoch soll er leben« zu singen. Vater und Mutter küssten mich auf die Wangen, und ich gab Küsschen zurück. Vater nahm mich aus Mutters Armen in seine. Meine Mutter schaute mich an. In ihren dunklen Augen sah ich {15}die Lampe sich widerspiegeln. An meiner Wange fühlte ich die raue Wange meines Vaters und seine kitzelnden Haare. Sein Haar war schwarz. Mutters Haar war rot. Wir hatten unsere Morgenmäntel an. Der von Vater war hellbraun. Meiner und Mutters waren hellblau. Auf dem Tisch lagen allerlei bunte Sachen.
»Willst du deine Geschenke nicht auspacken?«
Ich schaute Vater an. Die Farben auf dem Tisch spiegelten sich in seinen Augen. Ich gab ihm einen Kuss auf die Nase. Er musste lachen.
»Willst du deine Geschenke nicht anschauen?« Er wollte mich auf den Boden stellen, aber ich saß gerade so gemütlich. Ich hatte einen Arm um seinen Hals gelegt und hielt ihn fest.
»Das ist alles für dich.« Mutter nickte mir zu, zeigte auf den Tisch und gab mir noch einen Kuss. Sie nahm ein rotes Päckchen vom Tisch, begann es auszuwickeln und fragte mich, ob ich ihr helfen wolle. Während sie das Päckchen festhielt, versuchte ich, mit einer Hand das Papier abzumachen. Es zerriss.
»Nicht schlimm, es ist nur das Papier.« Vater stellte mich auf den Boden. Mit beiden Händen zog ich das Papier herunter. Heraus kam eine flache hölzerne Puppe mit Schnüren. Ihr Leib war braun, rot und gelb. Ihr Gesicht lachte. Mutter {16}griff nach einer Schnur und hielt sie hoch. »Zieh mal hier dran.« Mit einer Hand hielt ich Vaters Morgenmantel fest, mit der anderen zog ich an der Schnur. Meine Mutter half mit, und der Hampelmann spreizte die Arme und Beine seitlich weg und ließ sie wieder fallen, so, wie ich zog und wieder losließ.
»Wir werden den Hampelmann über deinem Bett aufhängen. Hier, Schatz, fass mal mit beiden Händen an.« Ich nahm ihn, ich freute mich über mein Spielzeug. Vaters Arm lag um Mutters Schultern, und zusammen sahen wir dem tanzenden Hampelmann zu. Ich musste jedes Mal lachen, wenn er seine Beine seitlich ausstreckte. Sie lachten auch.
»Da sind noch viel mehr Geschenke. Schau.« Ich blickte auf den Hampelmann in meiner Hand.
»Es ist zu viel auf einmal. Wir wollen sie ihm später geben«, sagte mein Vater. Er nahm mich mit seinen beiden großen Händen um die Mitte, hob mich hoch, und ich flog lachend durch die Luft. Er setzte mich auf seine Schultern, beugte sich bei den Türen ganz tief vor und ließ mich auf das große Bett meiner Eltern plumpsen. Ich kroch unter die hellblauen Decken. Vater und Mutter tranken Tee im Bett. Wir lachten über meinen Hampelmann.
Später bekam ich auch die anderen Geschenke.
Hinter meinem Rücken war der Eingang zum Laden. Die Tür stand offen. Meine Mutter war drin. Ich hörte sie mit dem Krämer reden. Regen prasselte auf meine Kapuze. Meine Hände unter dem Cape blieben trocken. Ich steckte eine Hand durch den Schlitz. Ich sah die Regentropfen auf meine Hand fallen. Immer an einer anderen Stelle gaben mir die Tropfen einen kleinen, kalten Stupser.
Überall um mich herum war Sand. Ich nahm einen hellgelben Backstein und stellte ihn hochkant in den dunkelgelben Sand. Ich ließ los. Er fiel um. Ich klopfte den Sand mit dem Stein ein bisschen glatt. Da blieb er stehen.
Meine Mutter kam und stellte sich neben mich. »Findest du es schön im Regen? Willst du dein Eimerchen und Schäufelchen haben? Ich hol es dir schnell.« Ich schaute mich um. Es war niemand sonst da. Ich sah nur den Laden: ein nasses Fenster und ein dunkles Loch. Mutter rief zum {18}Krämer hinein, dass ich zum Spielen vor der Tür bliebe. Der Krämer rief zurück: »Gut.«
»Gleich siehst du mich da oben am Fenster.« Sie zeigte zu unserem Fenster. Mutter lief zu unserem Haus. Ich schaute ihr nach. Der Krämer stellte sich in die Türöffnung. »Feiner Regen, was?« Ich zeigte auf meine Mutter. »Sie kommt gleich wieder«, sagte er. Meine Mutter klopfte an unser Fenster und winkte mir zu. Ich lachte und winkte zurück. Ich nahm noch einen Backstein und stellte den ebenfalls hochkant hin. Er fiel immer um, wenn ich losließ. Auf einmal stand Mutter neben mir. Sie stieß die Schaufel in den Boden und tat Sand in den Eimer. »Siehst du? So«, sagte sie. Das wusste ich aber schon. Ich griff nach der Schaufel und begann zu schaufeln. »Ich geh wieder hinauf«, sagte sie und küsste mich auf die nasse Stirn. Ich gab ihr einen Kuss auf ihr nasses Kinn.
Mit meiner Schaufel klopfte ich den Sand glatt. Die Steine blieben darauf stehen. Meine Mutter hatte mir auch ein Förmchen mitgebracht. Ich füllte es mit Sand und setzte lauter Sandtörtchen nebeneinander.
Die Backsteine fielen um. Ich sah zwei Füße. Ich stand auf. Ein Junge schaute mich an. Er hob ein Bein und hielt den Fuß über eine Torte. Ich blickte auf meine Törtchen. Pflatsch. Das größte war {19}kaputt. Er trampelte auf allen herum. Das Förmchen verschwand im Sand. »Hahaha«, rief er und lief weg. Auch ich musste lachen. Mit meiner Schaufel grub ich das Förmchen aus dem Sand. Ich setzte neue Törtchen auf ein glattes Stück Sand. Ich schaufelte den Eimer voll, um einen großen Kuchen zu machen. Mit der Hand strich ich eine Stelle schön glatt. Da traten mir die Füße fast auf die Hände. Ich zog sie rasch fort und schaute zu dem Jungen auf. Er zertrat alle Törtchen. Er besah seine Fußstapfen. »Haha« und »so« und »da hast du’s«, rief er. Ich schaute zu unserem Fenster. Meine Mutter war nicht zu sehen. Die Ladentür war zu. Meine Kapuze wurde mir vom Kopf gezerrt. »Haha, was für ein Judenmantel.« Eine Menge Sand kam auf meinen Kopf herab. Ich fing an zu weinen. Der Eimer fiel neben mir zu Boden. Ich stand auf. Ich rannte zu unserem Haus. Ich rannte die Treppe hinauf. Ich trommelte an die Tür. Meine Mutter machte auf. Sie nahm mich hoch. Sie sagte: »Mein Schatz, was ist denn los?« Sie drückte mich an sich. Mit einem Waschlappen wischte sie mir vorsichtig den Sand aus dem Gesicht. Sie gab mir einen Kuss und strich mir den Sand vom Kopf. Ich hörte auf zu weinen. »Ach, was für ein tiefer Seufzer«, sagte sie. Sie nahm mich mit ans Fenster. »Hast du deine Schaufel und dein Eimerchen nicht mitgebracht?«
{20}Sie ging sie holen. Ich wollte nicht mit. Ich schaute aus dem Fenster. Sie kam zurück. Ich lief zur Tür, auf sie zu. Ich fragte, ob sie auch das Förmchen habe. Sie ging zurück. Das Förmchen war nicht mehr zu finden.
Später kam mein Vater nach Hause. Wir erzählten ihm, was geschehen war. Vater fragte, ob es der Junge vom Krämer gewesen sei. Ich nickte. Vater ging hinaus. Ich schaute aus dem Fenster und sah ihn in den Laden gehen. Nach einer Weile kam er wieder zurück. Er nahm mich auf den Schoß und gab mir einen Kuss. Der Krämer hatte gesagt, dass es bestimmt nicht sein Sohn gewesen sei; dass er uns doch immer alles wie sonst verkauft habe; dass ihm das schon genügend Schwierigkeiten eingebracht habe; dass mich Mutter aber auch allein vor seinem Laden zurückgelassen habe. Vater sagte, Mutter solle das nicht wieder tun.
Am nächsten Mittag weinte meine Mutter, als sie nach Hause kam. Vater tröstete sie. »Er will mir nichts mehr verkaufen«, sagte sie. »Ich hab gefragt, warum nicht, wir haben doch immer gut bezahlt. Er sagte, es sei verboten.« Vater sagte, Mutter könne ja im Laden eines Bekannten einkaufen, der werde uns gewiss helfen. Mutter fand es zwar etwas weit zu laufen, aber na gut.
{21}Ich kletterte auf Mutters Schoß. Ich legte den Arm um ihren Hals. Sie drückte mich an sich. Vater kam zu uns.
»Wir machen einen Kreis aus Köpfen«, sagte er. »So können wir uns alle drei gleichzeitig einen Kuss geben.«
Und das taten wir.
»Der Fensterputzer ist da.« Meine Mutter weckte mich sanft aus meinem Mittagsschlaf. »Willst du zusehen?«
Ich stand im Bett und schlang meine Arme um ihren Hals. Sie nahm mich auf den Arm und trug mich ins große Zimmer. Der Kachelofen brannte, und die Lampe war an. Ich hörte Musik.
Ich kletterte auf die Bank gegenüber dem Bücherregal. Der Fensterputzer winkte mir durch die Scheibe zu. Ich winkte zurück. Mutter brachte mir einen Becher warme Milch. Draußen war es dunkel. Der Fensterputzer hatte weiße Sachen an. Mit dem Schwamm machte er die Fenster nass. Er wischte von oben nach unten, von links nach rechts nach links. Manchmal kratzte er etwas mit dem Fingernagel fort. Dann machte er dasselbe noch mal mit einem anderen Schwamm, den er in einen anderen Eimer tauchte. Er drückte den nassen Schwamm ganz platt gegen die Scheibe. Wasserbäche schlängelten sich das Fenster herunter. Er {23}zog das meiste Wasser mit dem schwarzen Wischer weg: links, rechts, links, rechts, in großen Bögen. Aus dem weißen Eimer nahm er das Fensterleder, wrang es aus und faltete es. Links, rechts, genau wie mit dem Wischer, aber diesmal ging es schwerer. Ich hörte es auf der Scheibe quietschen. Mutter schaute vom Bügelbrett auf. Sie stellte die Musik lauter. »Findest du die Musik schön?« Ich nickte. Sie fing an zu singen. »Das ist Mozart. So hieß der Komponist, merk dir das mal, Mozart.«