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Ich danke Luna und E −

© Querverlag GmbH, Berlin 2003

Erste Auflage Februar 2003

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und grafische Realisierung von Sergio Vitale unter Verwendung eines Fotos von The Image Bank.

ISBN 3-89656-086-7

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Querverlag GmbH, Akazienstraße 25, D-10823 Berlin

www.querverlag.de

Für Maria und Peter

einst

luna jacob

einst vergeb ich

meinem lieben

gebührt nur schlaf

in deinem blick

erwachen wir

in eichenwäldern

singst du

flieder macht

mich weinend

ein tag kommt

ich geh

ihn zu suchen

in meiner

höhnenden sonne

pflanz ich

doch jetzt

mein blau

den flieder

neu in den gärten

der hoffnung

und liebe

Auf der Flucht

Der Zug ist voll.

Ich sitze am Fenster und beobachte unauffällig die Mitreisenden. Vor allem die, die Zeitung lesen. Die Frau schräg gegenüber blättert in der Tageszeitung, seit ich zugestiegen bin. Wenn sie die Seiten umschlägt, klacken ihre Metallarmreifen gegeneinander. Es klingt wie Handschellen.

*

Als ich aufstehe, um aufs Klo zu gehen, trete ich fest auf und mache große Schritte. Sieht mich jemand auffällig lange an? Merkt jemand, daß ich die ganze Nacht geweint habe?

Ich fühle mich verletzbar ohne Make-up, ohne meinen brombeerroten Mund, ohne mein russisches Parfum. Ich bin nackt ohne tiefausgeschnittene Bluse und hochgeschlitzten Rock, der immer einen weißen Fetzen Schenkel den Blicken preisgab.

Ich trage Achselshirt und Jeans. Auch die Schnürstiefel sind nicht meine. Meine Füße fühlen sich darin an, als wären sie einige Kilo zu schwer. Ich gehe unsicher durch die Reihen, achte auf jeden Schritt und sehe ängstlich in die Gesichter der Fahrgäste.

Schauen sie mir nach? Erkennen sie mich?

*

Es gibt keinen Namen für mein Verbrechen.

Ich habe geliebt.

Ich werde den Namen erfinden müssen, und ich werde es schnell tun müssen, weil ich einen Namen brauche, wenn sie mich finden und abführen.

*

Heute morgen, gleich nachdem ich das Hotel verlassen hatte, habe ich mir das Haar schneiden und färben lassen.

Antonia hat mein Haar geliebt. Und Isabelle auch.

Antonia hatte es manchmal um ihre Hand gewickelt, bis sie mit der Handkante gegen den Nacken stieß. Dann hat sie meinen Kopf daran zurückgezogen und sich über mich gebeugt. „Ich verbiete dir, es abzuschneiden“, hatte sie sanft gesagt.

Wenn ich Isabelle küßte, griff sie mit beiden Händen in mein Haar und verteilte es über ihrem Körper, bis sie ganz davon bedeckt war. „So weich“, hatte sie geflüstert. „So schwarz. Richtiges Nachthaar.“ Ich ließ das Haar über ihre Haut fallen – über den Hals, die Brüste und den Bauch von Isabelle. „Bitte laß es niemals schneiden“, hatte sie gesagt.

Jetzt ist es weißblond, raspelkurz und im Nacken ausrasiert.

Die Friseurin hatte es mit einer Hand angehoben, und die Langsamkeit, mit der sie hindurchfuhr, verriet, wie sehr es ihr gefiel: seine Schwere, seine Dichte.

„Wollen Sie es mitnehmen?“ hatte sie gefragt.

Die Schere war kalt im Nacken.

„Nein“, hatte ich leise gesagt, „nein, ich will es nicht.“

Als sie das Haar dann in einem einzigen Schnitt vom Kopf trennte, erinnerte ich mich jäh an eine andere Klinge, hörte ein leises Röcheln und zuckte entsetzt zusammen. Da sah die Friseurin in den Spiegel und direkt in meine Augen. Sie runzelte die Brauen, als ob sie sich etwas ins Gedächtnis rufen wollte.

Als sie später meinen Nacken rasierte, fragte sie: „Sind Sie Schauspielerin? Ihr Gesicht … ich bin sicher, ich hab Ihr Gesicht schon mal irgendwo gesehen.“

„Nein, nein“, murmelte ich und betete, wieder aus dem Laden zu sein, bevor ihr einfiel, woher sie mich kannte.

*

Ich habe die Nacht im Hotel verbracht. Ich habe kein Zuhause mehr. Im Grunde weiß ich nicht mal, wo ich hinfahren soll. Ins Ausland zu flüchten ist unmöglich.

Mein Gesicht prangt auf den Titelblättern aller Zeitungen.

Ich habe meinen Namen jetzt so oft gehört und gelesen, daß er ganz leer für mich klingt.

Gestern nacht, als ich weinend zu meiner Wohnung gelaufen bin, habe ich die Blaulichter vor meiner Haustür schon von weitem gesehen. Ich habe sofort kehrtgemacht.

*

Nichts habe ich bei mir. Keinen Koffer, keine Erinnerungsstücke, nichts. Nur fremde Sachen auf dem Leib und meine Handtasche.

Nachts stand ich in meiner eigenen Stadt vor dem Hotel Mercure und habe nach einem Zimmer gefragt. Vielleicht war es unvernünftig, nicht sofort zu fliehen. Doch ich konnte es nicht glauben. Ich dachte noch immer, es wäre nur ein Irrtum.

Gleich nach dem Aufstehen habe ich den Fernseher angeschaltet. Es kam schon in den Morgennachrichten.

Ich habe das Frühstück ausfallen lassen. An der Rezeption zahlte ich bar.

Was habe ich nur getan?

*

Irgendwann kommt ein Punkt, wo man an dem Leben mit dem Menschen, mit dem man lebt, plötzlich etwas vermißt.

Vielleicht hätte ich es ohne Isabelle nie bemerkt. Aber ich weiß nicht, ob ich damit glücklicher gewesen wäre. Vielleicht hätte ich mein ganzes Leben lang ein vages Gefühl von Unvollständigkeit gehabt und hätte angefangen, Antonia dafür verantwortlich zu machen.

Manchmal frage ich mich, ob ich wirklich immer wieder ähnlichen Menschen begegnet bin. Denn bis zu dem Abend, an dem ich Isabelle traf, habe ich mich immer ähnlich verhalten.

Als ich Isabelle begegnete, passierte etwas Sonderbares. Allein ihr Anblick löste etwas aus mir heraus, das jahrelang ganz nah an der Oberfläche gelegen haben mußte. Isabelle stand an der Bar, ganz Butch, mit einem Bier in der Hand, den Blick fest auf die Tanzenden gerichtet. Sie war einen Kopf größer als ich. Sie trug das dunkle Haar kurz.

Später, als ich neben ihr stand und sie einfach ansprach, begann ich über ihren Namen zu witzeln: „Isabelle? So weich und unschuldig, das paßt doch gar nicht zu dir.“ Dabei sah ich ihr in die Augen. „Oder gibt es da etwas, was man auf den ersten Blick nicht erkennt?“ Dann hatte meine Hand in ihrem Nacken gelegen, und mein Daumen war hinter ihrem Ohr in ihren Haaransatz hineingefahren. In ihren Augen schimmerte etwas auf, Verwirrung oder eine ganz zarte Angst, und sie hatte die Hand gehoben, um sie an mein Gesicht zu legen. Ich aber hatte den Kopf geschüttelt, meine Hand fester um ihren Nacken gelegt und sie zu mir runtergezogen.

Der Kuß war sanft.

*

Wenn sie mich kriegen, bekomme ich lebenslänglich. Kein Mensch würde mir glauben.

Sie würden behaupten, mein panisches Fluchtverhalten sei Beweis für meine Schuld. Die Geschichte, die ich ihnen erzählen müßte, würde so unwahrscheinlich klingen, daß mir nicht einmal der beste Anwalt helfen könnte.

Doch ich bin nicht verstrickt in Lügen. Ich bin verstrickt in die Wahrheit, die so unfaßbar ist, daß jede Lüge aufrichtiger klingt.

*

Ich habe Antonia von Isabelle erzählt, bevor sie es von anderen erfuhr.

Sie lächelte gutmütig.

Im Grunde führte ich mein Leben mit Antonia wie bisher weiter. Ich kam nicht öfter und nicht seltener zu ihr. Isabelle fragte nie nach Antonia. Manchmal sahen wir uns alle zusammen auf einer Party, oder wenn ich mit einer spazieren ging und uns zufällig die andere über den Weg lief. Dann blieben wir stehen, tauschten ein paar Sätze und lachten. Ich glaube, sie waren sich sympathisch.

Mancher würde vielleicht Betrug dazu sagen. Aber das stimmt nicht. Das hieße ja, zwei halbe Leben gelebt, jede zur Hälfte geliebt und sie um die andere Hälfte betrogen zu haben. Ich habe zwei vollständige Leben geführt.

Irgendwann kam mir der Gedanke, daß ich noch immer nicht vollständig wäre. Daß es Leben in einem gäbe, die man nie zu Gesicht bekommt. Die immer ungelebt bleiben. Doch die Anlage dafür ist da. An dieser Stelle hatte ich gefröstelt und den Gedanken nicht zu Ende gedacht. Vielleicht war das ein Fehler.

Bei Isabelle begann ich, die Wohnung zu streichen, legte einen Garten an und entrümpelte den Dachboden. Wir schliffen Dielen ab, nachdem ich gelacht und erklärt hatte, daß das nicht so schwierig sei, wie Isabelle es sich vorstellte. Wir besuchten Galerien und Museen, denn für Kunst hatte sie sich vorher nicht interessiert. Langsam schlenderten wir durch die Räume, ich erklärte ihr alles, und sie hing an meinen Lippen. Wir waren tanzen, häufiger, als ich mit Antonia wegging. Isabelle war schön und wurde angestarrt. Ich lächelte und griff unter dem Tisch nach ihrem Knie. Ihr Blick wurde dunkel. Beim nächsten Tanz hielt ich sie eng.

Bei Antonia lag ich in der Hängematte im Garten, und sie brachte mir Eiskaffee und Schokolade. Ich durfte noch nicht mal einen Blick in die Küche wagen. Sie kochte stets allein, und sie kochte vorzüglich. Bei Antonia war ich natürlich vollkommen hilflos, wenn nur eine Glühlampe durchbrannte. Wenn sie fragte: „Was hältst du eigentlich von Matisse?“ sagte ich grinsend: „Nur mit Zucker, bitte.“ Dann lachte sie und meinte: „Franziska, bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren.“ Wenn wir tanzen gingen, behielt sie mich stets im Auge. Sie registrierte genau, wer mich ansprach, einlud, berührte. Dann kam sie vorbei wie aus Zufall, streifte meinen Arm, und wenn ich in ihr hintergründiges Lächeln hineinsah, zog sich etwas in meinem Bauch vor Liebe zusammen.

*

Die Frau, die an der Abteiltür sitzt, mustert mich schon seit einer ganzen Weile. Jetzt tuschelt sie mit ihrer Nachbarin. Verdammt. Vielleicht bilde ich mir auch alles ein. Aber nein, jetzt sehen sie beide her, und die andere nickt heftig.

Ich frage mich, ob man mich wirklich in Handschellen abführen wird. Drei Polizisten, und jeder hat einen Hund bei sich. Ich kann ihnen noch nicht mal sagen, daß kein Richterspruch schlimmer wäre als das, was ohnehin vor mir liegt: ein leeres Leben. Es wäre sinnlos, mich einzusperren. Ich bin schon verschlossen in einen entsetzlichen Verlust.

„Warum sind Sie dann auf der Flucht?“ werden sie fragen. „Dann hätten Sie sich doch stellen können.“

„Nein“, werde ich flüstern müssen, „nein, denn ich war es nicht. Und ich muß diejenige finden, die das getan hat. Die will ich Ihnen bringen.“

*

Ich sehe mich gehen an dem gestrigen Abend.

Ich war auf dem Weg zu Antonia. Ich weiß noch, daß ich den ganzen Weg über lächelte, denn ich wollte sie überraschen. Gestern war ein Montag, und der Montag ist seit Jahren mein ganz persönlicher Tag. Nie hat eine meiner Liebsten mich an einem Montag zu Gesicht bekommen. Zu Antonia kam ich an den Dienstagen, Donnerstagen und Samstagen. Bei Isabelle war ich am Mittwoch, Freitag und Sonntag. Ich weiß nicht, was mich dazu getrieben hat, diese Regel gestern zum ersten Mal zu durchbrechen.

Als ich in den Garten trat, hörte ich Stimmen. Die Terrassentür stand offen, das Zimmer war hell erleuchtet. Sie war also nicht allein. Schade, dachte ich, und trat näher. Warum bin ich nicht gleich zur Tür gegangen und habe geklingelt? Vielleicht hätte ich alles verhindern können. Ich aber schlich auf die Terrasse und spähte heimlich durch das Fenster.

Zuerst sah ich nur Antonia. Sie lief im Zimmer auf und ab.

„Was willst du eigentlich?“ fragte sie in einem Ton, den ich an ihr nicht kannte. Irgendwie zynisch. „So viele Jahre, und dann rückst du plötzlich mit so was raus.“

Jetzt erst bemerkte ich eine Frau in dem Sessel, in dem ich gewöhnlich saß. Ich sah sie nur von hinten. Sie saß zusammengesunken da und rauchte. Sie rauchte! Antonia erlaubte das Rauchen in der Wohnung nur in Ausnahmefällen. Der Aschenbecher war schon voll.

„Antonia, du nimmst mich nicht ernst.“ Die leise Stimme kam mir vertraut vor. „Du behandelst mich wie ein Kind, tust, als könnte ich nicht mal mit einer Fernbedienung umgehen.“ Gab es in Antonias Leben eine andere Frau? Eine, die an den Tagen zu ihr kam, wenn ich bei Isabelle war? Und ich hatte es die ganze Zeit nicht bemerkt? Die Frau stand auf. Ich sah nur ihren Rücken. Aber ich hätte schwören können, diesen Rücken schon mal gesehen zu haben. „Wenn ich am Steuer sitze, meckerst du nur rum. Es hängt mir zum Hals raus. Da mache ich ja erst recht Fehler, weil ich mich so kontrolliert fühle. Du machst dich lustig über mich, und das Schlimme ist, du tust es am liebsten vor unseren Freunden!“ Es war ein Streit um Kleinigkeiten. Antonia und ich hatten solche Sachen recht selten. Und wir beide konnten schon immer gut streiten. Wie vernünftige Leute eben.

Antonia fing an zu lachen. Auch dieses Lachen kannte ich nicht. Es war häßlich.

Da drehte die Frau sich um. Sie sah in den Garten. Sie sah genau an die Stelle, wo ich verborgen stand. Ich erstarrte vor Entsetzen. Sie konnte mich nicht sehen, es war stockdunkel, doch sie sah mir genau in die Augen. Und das war der Moment, an dem ich vielleicht verrückt geworden bin. Denn diese Frau dort – das war ich!

Niemand, der mir nur ähnlich sah. Niemand, der nur dieselben Sachen trug wie ich. Nein, das dort, das war ich! Alles stimmte: die Augenfarbe, die aufgeworfene Oberlippe, sogar das Muttermal auf der Wange. Die Art, in der sie sich ins Haar griff und es nach hinten warf – das war meine Geste.

„Franziska, du bist gräßlich kindisch. Hab ich dir das eigentlich schon mal gesagt?“ sagte Antonia, und ich sah es genau: Antonia gähnte dabei. Die Frau, die ich war, machte behutsam die Terrassentür zu, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen. Ich weiß nicht, warum ich nicht reagierte. Ich hätte doch aus meinem Versteck aufspringen und mich bemerkbar machen können!

Und dann erlebte ich eine Szene, aber ohne Ton, eine schreckliche Szene, die ich noch niemals mit Antonia erlebt hatte. Ich sah, wie ich mich umdrehte und zu Antonia lief. Antonia schaute mich gar nicht mehr an, sondern fummelte am Fernseher herum. Ich sah, wie ich dazwischentrat, um ihr die Fernbedienung wegzunehmen. Sie stieß mich ungeduldig zurück. Ich sah mich etwas schreien. Antonia lachte. Dieses Lachen – es brachte mich dort draußen im Garten zum Zittern. Ich sah mich die Vase nehmen und auf den Boden werfen. Antonia bewegte sich nicht vom Fleck, lachte nur weiter. Sie rief der Frau, die ich war, irgendwas zu. Es mußte etwas Fürchterliches sein, denn ich sah mich daraufhin auf den Boden sinken und anfangen zu weinen. Antonia ließ mich einfach liegen, bastelte weiter an der Fernbedienung rum, sagte ab und zu etwas, das bestimmt sarkastisch war, weil es mich immer heftiger schluchzen ließ. Und dann war der Fernseher an. Antonia setzte sich aufs Sofa. Ihre Füße berührten meine Seite. Ich hob den Kopf, lehnte mich an die Füße, sie schob mich weg. Ich stand auf, sagte etwas und legte die Hand dabei auf ihr Knie. Sie wollte mich wieder wegschieben. Ich reagierte nicht. Sie packte meine Hand sehr fest, ich sah es genau: Sie drehte die Hand um, so daß ich vor Schmerz in die Knie ging. Dann riß sie mich am Haar wieder hoch und zog mich mit einer Leichtigkeit ran, die mich draußen im Garten wahnsinnig machte. Sie preßte ihren Mund mit Gewalt auf meinen, stieß mit der Zunge zu, riß mich zurück, sah mich lachend an, und ich weinte, während sie wieder etwas sagte.

Die Frau, die ich war, tastete die ganze Zeit nach etwas unter dem Sessel. Und dann hatte ich es endlich gefunden.

Ich sah nur das Blitzen von Metall in der Luft.

Der Schrei war so laut, daß ich ihn sogar durch die geschlossene Terrassentür hörte.

Da drehte ich mich um und rannte.

*

Ich rannte, bis mir die Lungen weh taten, bis das Herz fast platzte, aber ich konnte den Blick nicht vergessen. Diesen fürchterlichen Blick, den ich mir zugeworfen hatte, gleich nach dem ersten Stich.

Ich mußte zu Isabelle. Ich mußte unbedingt, unbedingt zu Isabelle. Und während ich rannte, betete ich die ganze Zeit, daß ich nicht schon bei Isabelle gewesen war.

*

Die Frauen tuscheln noch immer. Jetzt steht eine auf und verläßt das Abteil. Ich werde an der nächsten Station aussteigen.

Die Frau mir gegenüber legt die Tageszeitung neben sich und schließt die Augen.

Auf der Titelseite lächle ich mir entgegen. Langes, blauschwarzes Haar. Brombeerroter Mund. Große, braune Augen. Ich stehe in einem knöchellangen, türkisfarbenen Kleid auf Antonias Terrasse und habe ein Sektglas in der Hand. Ich sehe glücklich aus. Das Foto hatte jemand an meinem Geburtstag aufgenommen. Darunter das Wort: Doppelmörderin.

Was habe ich getan? Was habe ich nur getan?

*

Ich gehe ziellos durch die Straßen einer fremden Stadt. Ich, mit meinem kurzgeschorenen Haar. Ich, in Achselshirt und Jeans. Ich, in Schnürstiefeln. Mein Herz ist leer. Selbst das Leere tut weh.

Vor einer Schaufensterscheibe mit Fernsehgeräten stehen einige Leute. Ich starre mit ihnen auf die Bildschirme, die gerade meine Verhaftung zeigen. Wir sehen, wie ich in Handschellen abgeführt werde. Ich trage Sandaletten und ein rotes Kleid. Mein Haar ist offen, verwirrt. So wie mein Blick. Wir hören, wie die Reporterin sagt, Franziska L. hätte alles sofort gestanden.

Ich stehe noch, als alle längst gegangen sind. Vor mir die Fernseher, in denen jetzt ein Zeichentrickfilm läuft.

Der Riß

Als Felix am Morgen aufwacht, ist etwas anders als sonst. Es ist seine letzte Woche bei Sophia und Brit. Im Zimmer ist es hell, und die Linde vor dem Fenster rauscht wie jeden Morgen. Sein Blick geht zur Uhr an der Wand. Schon zehn. Das kann gar nicht sein. Sophia weckt ihn immer um halb neun. Sie kommt reingestürmt, reißt die Vorhänge auf und lacht laut, wenn er sich noch mal im Bett umdreht. „Wer wird denn hier den ganzen Tag verschlafen“, ruft sie und zieht ihm die Decke weg. Er tut jedesmal, als ob er noch schliefe, und Sophia kitzelt ihn dann an den Füßen. Da muß er immer lachen.

Es ist still. Kein Geräusch im ganzen Haus. Das ist seltsam. Außerdem riecht es nach nichts. Sonst duftet es immer nach Kakao und warmen Semmeln, wenn er aufsteht.

Er geht die Treppe hinunter. An der Schwelle zur Küche bleibt er stehen. Brit sitzt auf einem der blauen Stühle und starrt in die Luft. Kein Kakao, keine Semmeln, keine Marmelade. Sie sitzt und raucht, und ihre Hand zittert.

„Brit?“

Sie hört ihn nicht. Sein Herz fängt plötzlich an, laut zu klopfen. Er geht langsam rein und setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber.

„Wo ist denn Sophia?“

Da sieht sie ihn an mit einem Blick, den er noch nie an ihr gesehen hat.

„Ich …“ Brits Stimme klingt fremd. Sein Herz. Sie kann bestimmt sein Herz hören. „Ich weiß es nicht, Felix.“

Und dann legt sie den Kopf in die Hände und fängt an zu weinen.

*

Es ist etwas mit dem Haus passiert.

Seit er denken kann, verbringt er die Sommer bei Sophia und Brit auf dem Dorf. Jetzt ist er elf, und schon am Tag seiner Ankunft sieht er es.

Zwar scheint alles so zu sein wie letztes Jahr und vorletztes und all die Jahre davor: Brit holt ihn mit dem Auto vom Bahnhof ab, und Sophia hat in der Zwischenzeit den Tisch im Garten gedeckt. Kaffee für die beiden Frauen und für Felix Kakao und Apfelkuchen. Aber er hat es trotzdem gesehen. Das Haus ist wieder ein Stück kleiner geworden. Kleiner und dunkler.

*

Sophia liegt im Bett und lauscht auf Brits Atem. Felix ist da, denkt sie. Sie lächelt. Das ganze Jahr über hat sie auf den Moment gewartet, an dem er mit Brit im Auto ankommen würde.

Wenn Felix da ist, ist alles anders. Dann fahren sie zu dritt in den Zoo, sehen sich die Affen an, füttern die Pferde mit Zucker aus der Handfläche und essen im Zoocafé alle einen großen Eisbecher. Sie gehen rudern und lachen laut, wenn Sophia das Ruder verliert und sie mit nur einem Ruder zurückmüssen. Brit zeigt Felix, wie der Rasenmäher funktioniert, und Sophia steht am Fenster und grinst, wenn sie sieht, wie er versucht, das riesige Ding ganz allein über die Wiese zu bewegen. Wenn Felix da ist, wird es nie still im Haus. Immer passiert irgendwas. Sie müssen Hosen flicken, regelmäßig Essen kochen und gute Laune haben. Sie müssen sich beide ständig etwas ausdenken, was Felix Spaß machen könnte.

Brit und sie nehmen sich immer Urlaub für die Zeit, wenn Felix kommt.

Sophia kann an einer Hand abzählen, wann Brit und sie im letzten Jahr während der Woche gemeinsam gegessen haben. Brit kommt immer erst nach Hause, wenn Sophia schon im Bett liegt, und Sophia muß so früh raus, daß sie Brit zum Frühstück nicht sieht. Das ist nicht das Schlimmste.

Schlimmer sind die Wochenenden. Wenn sie sich am Frühstücks­tisch gegenübersitzen und Sophia einfach nichts einfällt, was sie sagen könnte. Wenn sie auf die Zeitung starrt, die vor Brits Gesicht steht wie eine Wand, und sie angestrengt überlegt, was passiert ist.

Manchmal fragt sie: „Wollen wir nicht mal wieder mit den Rädern rausfahren und ein Picknick machen?“ Dann senkt Brit die Zeitung und sagt: „Sophia, das ist was für Kinder. Das können wir machen, wenn Felix da ist.“ Dabei hat Sophia das für einen guten Vorschlag gehalten. Danach hat sie sich nicht mehr zu sagen getraut, daß sie auch ohne Felix gern mal mit Brit in den Zoo gehen würde. Einfach so. Einfach nur mit Brit die Affen ansehen, die Pferde mit Zucker aus der Handfläche füttern und dann einen Eisbecher im Zoocafé essen. Doch sie wußte, Brit würde sie stumm ansehen, und sie würde nicht mal lachen.

Sophia hat das ganze Jahr nur gewartet. Auf Felix gewartet. Auf den Augenblick, an dem das Warten endlich zu Ende ist.

Sie liegt im Bett, streichelt die Bettdecke und lächelt. Vier Wochen, denkt sie. Vier Wochen für ein ganzes Jahr.

*

Wie war es denn, haben seine Eltern immer neugierig gefragt, wenn er nach vier Wochen braungebrannt zurückgekommen war, und aus Felix ist es dann immer herausgesprudelt: die Kaninchen, die Schaukel, die vielen Ausflüge. Wie er mit Brit angeln war, und wie Sophia ihm beigebracht hat, Stempel aus Kartoffeln zu machen.

Felix’ Vater ist der Bruder von Brit, und Felix hat sich nie getraut, seinen Eltern zu erzählen, daß das Haus schrumpft.

Felix sitzt am Tisch zwischen Brit und Sophia, der Baum hängt voll mit Kirschen, und er weiß, daß er alle wieder mit Sophia ernten wird und dabei soviel essen darf, wie er mag. Trotzdem ist irgendwas merkwürdig. Brit fragt, wie die Zugfahrt war, und er erzählt. Sophia fragt, ob er Sahne auf den Kuchen mag, und er nickt. Irgendwas stimmt nicht, denkt er. Er kommt nur nicht drauf.

*

Als Felix sechs war, war plötzlich Sophia da. Vorher hatte es Sophia nicht gegeben. Da war nur Brit in dem Haus gewesen.