Stefan Siller
Neugierig auf Leute und die ganze Welt
auf Leute und die ganze Welt
In einer Redaktion klingelt das Telefon häufig. Das ist normal, gehört dazu wie die Butter aufs Brot, der FC Bayern in die Champions League oder Moslems zu Deutschland. Kurz vor einer Live-Sendung, deren einziger Gast noch nicht angekommen ist, hört sich der Klingelton allerdings schon irgendwie anders an, sozusagen spannender. Und wenn Rose Gamerdinger, die gute Seele unserer Redaktion, vermeldet: »Stefan, da ist jemand von der Polizei dran!«, und ein Beamter fragt, ob der Herr X (Name geändert) bei uns als Interviewpartner erwartet wird, ist das besonders ungewöhnlich. So ungewöhnlich, dass es in über dreißig Jahren nur dieses eine Mal vorgekommen ist. Es stellte sich heraus, dass unser Gast bei einer Geschwindigkeitskontrolle auffällig geworden war. Als Begründung für seine Eile hatte er angegeben, er müsse pünktlich beim Süddeutschen Rundfunk (SDR, so hieß unser Sender damals noch) in der Sendung »Leute« sein. Der Beamte fand die Entschuldigung so originell, dass er ihr nachging. Und war dann so entgegenkommend, dass er unseren Gast weiterfahren ließ.
Als ich schließlich von Herrn X erfahren hatte, wann er von wo aufgebrochen war, kam ich zu der Erkenntnis: Der Polizist musste seinen Ermessensspielraum sehr großzügig ausgelegt haben. Wenn er ihn nicht fast so sehr überschritten hatte wie unser Gast das Tempolimit. Jeder andere als Herr X wäre seine Pappe wohl los gewesen. Aber es ging dem Polizeibeamten eben um einen guten Zweck. Den, unsere Sendung zu retten.
Jetzt werden Sie vielleicht wissen wollen, wer damals davongekommen ist. Aber das verrate ich natürlich nicht. Genauso wenig wie vieles andere auch. Wir Moderatoren werden ja oft gefragt, was wir denn mit unseren Gesprächspartnern so quatschen, während im Radio Musik läuft. Meistens ist das tatsächlich banal, manchmal netter Smalltalk und ab und zu auch interessanter als das, was jeder hören kann, sobald wir wieder zugeschaltet werden. Was im »Off« gesagt wird, ist eben nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Und dabei bleibt es auch. Alles andere wäre unfair.
Doch mancher Gast gibt im Gespräch auch freiwillig überraschende Meinungen und Ansichten preis. Davon kann ich Ihnen ohne Skrupel erzählen.
Einen echten Promi zu Gast zu haben, einen Showstar, einen Weltmeister, einen führenden Politiker, einen Bestsellerautor, eine beliebte Schauspielerin, das ist natürlich etwas Besonderes. Schon der Name der Person macht neugierig. Was etwa hat Gerhard Schröder zu sagen, was Senta Berger, Michael Schumacher, John Irving oder Harald Schmidt? Die meisten von ihnen haben schon unzählige Interviews gegeben. Warum also noch eines bei »SWR1 Leute?« Haben diese Promis, Politiker oder Provokateure nicht schon alles gesagt? Was kann man ihnen überhaupt noch Neues entlocken? Manchmal, das muss ich zugeben, geht der Erkenntniswert eines solchen Interviews tatsächlich gegen Null. Weil man keinen Draht zueinander findet, Herr oder Frau Star im Stress ist oder zickig. Oft gelingt es aber, eine entspannte Atmosphäre zu schaffen, in der man ins Plaudern und sich näherkommt.
Die Voraussetzungen für das Gespräch mit Götz George allerdings waren alles andere als gut. George war auf Promotion-Tour für seinen neuen Film »Das Trio«, in dem er einen schwulen Ganoven spielte. Er hatte schon hundertmal über den Streifen Auskunft gegeben und die immer selben Fragen beantwortet. Nun hatte er keine Lust mehr auf das zu erwartende Frage-Antwort-Spiel und darum schon im Vorfeld wissen lassen: Zwei Stunden für ein Gespräch mit ihm seien einfach zu viel und 10 Uhr doch viel zu früh. Es müsste reichen, wenn er für die zweite Stunde der Sendung zur Verfügung stünde. Wir sollten zunächst einmal mit seiner Kollegin Jeanette Hain Vorlieb nehmen, der weiblichen Hauptdarstellerin. Und er, er wolle über sein Privatleben überhaupt nicht befragt werden. Das stattete den Moderator, also mich, nicht gerade mit großer Zuversicht auf eine lockere Konversation aus. Immerhin war Herr George pünktlich, also um 11 Uhr im Studio.
Nach einer einleitenden Plauderei über den Film las ich ihm drei Schlagzeilen aus den aktuellen Nachrichten vor. Dann wollte ich von ihm wissen, welches dieser Themen ihn am meisten interessiere. Er entschied sich wie erhofft für Bill Clinton und die Lewinsky-Affäre, die seiner Meinung nach aber gar keine Affäre war. Das sollte er mir natürlich genauer erklären. »Jetzt sind wir aber doch beim Privaten gelandet. Das wollen wir nicht«, beschwerte er sich. Und antwortete dann aber auf meine Frage, ob er selbst schon untreu gewesen sei: »Selbstverständlich ist es passiert – und die Dame war sehr glücklich.« Er lachte und sagte dann: »Aber ich hatte nicht so viele Seitensprünge.«
Das Gespräch gestaltete sich fortan nicht nur inhaltlich sehr offen, sondern sprengte fast unser Format. Wir haben in dieser einen Stunde so viel geredet wie normalerweise in zweien. Und keiner der Hörer hat sich darüber beschwert. Mein Kollege Herbert Spaich, der Götz George freundlicherweise ins Studio gebracht hatte und ihn auch wieder abholte, kam später noch einmal zu mir und berichtete. »George hat es Spaß gemacht. Er hat gesagt, wenn er vorher gewusst hätte, wie es bei uns zugeht, wäre er auch zwei Stunden gekommen.«
Um Seitensprünge ging es auch im Gespräch mit einem anderen von mir sehr geschätzten Schauspieler. Mario Adorf hatte keine Zeit, zu uns ins Funkhaus zu kommen, war aber bereit, mich in der Bar seines Hotels zu empfangen, um dort das Interview aufzuzeichnen. Er war aufgeräumt und guter Dinge, und bei einer Tasse Kaffee wurde auch diese Unterhaltung sehr persönlich. Adorf bekannte sich dazu, ein Freund des Flirtens zu sein: »Ich finde Flirten eine wunderbare Sache, ich bin ihm nicht abgeneigt. Manche sagen auch, ich sei dem Seitensprung nicht abgeneigt. Auch da war ich, gebe ich zu, jahrelang nicht zimperlich. Das hat sich natürlich ab dem Augenblick gegeben, als ich heiratete.« Natürlich hakte ich nach: »Wie haben Sie das gehalten, wenn mal ein Seitensprung vorgekommen ist – haben Sie das gebeichtet?« Die Antwort kam spontan und nachdrücklich:
»Nie, nie gebeichtet. Grundsätzlich soll man das nicht. Das tut doch weh! Wenn es mal rauskommt – sicher, dann sollte man sich damit auseinandersetzen, aber das ist für mich kein Scheidungsgrund.«
»Auch umgekehrt nicht?«
»Auch umgekehrt nicht, das ist doch menschlich, passiert doch allen.«
Und dann gab er noch einen ganz konkreten Tipp ab, wie man Frauen näherkommt: »Ich bin ja jetzt schon in einem Alter, wo es Frauen ganz besonders aufregt, anregt, erregt, wenn man ihnen zum Beispiel sagt, man sei impotent!«
»Haben Sie das schon einmal gemacht?«
»Als Spiel – das ist außerordentlich wirksam. Das kann man ja nicht früher machen, aber wenn man schon so ein bissel älter wird …«
»Versuchen die Frauen Ihnen dann das Gegenteil zu beweisen?«
»Ja. Aber was meinen Sie, wie!?«
Ein weiteres Gespräch über Männer und Frauen und wie man zueinander kommt, zumindest vorübergehend, führte ich mit einem anderen Schauspieler. Herbert Knaup, bekannt aus Filmen wie »Irren ist männlich«, »Das Leben der Anderen« und inzwischen auch als »Kommissar Kluftinger«, war langjähriger Partner von Natalia Wörner. Er ging offen mit den drei Worten um, nach denen sich alle sehnen, die für viele die Welt bedeuten, aber eben nicht für jeden.
»Ich liebe dich über alles und bis in die Ewigkeit – wie oft man das schon gesagt hat! Das hab’ ich schon mit Zwanzig gesagt.«
»So oft haben Sie das schon gesagt?«
»Ja natürlich, sonst kommen Sie doch gar nicht an oder hin oder wie auch immer.«
»Dieser Satz ist also manchmal nur Mittel zum Zweck?«
»Natürlich, das ist der Don Juan in jedem Mann.«
Es war kein Outing, weil er nicht zum ersten Mal darüber sprach. Aber die Offenheit und Selbstverständlichkeit beeindruckte mich. Designer Wolfgang Joop war mit T-Shirt und legerem Sakko im Funkhaus erschienen. Wir haben uns über Hosen und Hemden, Mode und Marken unterhalten und kamen dann ganz zwangsläufig auch auf die Wirkung von Klamotten und Auftreten. Und auf Beziehungen. Nur hatte er damals gerade keine.
»Im Moment bin ich frei. Es kann sich jeder melden!«
»Egal ob Männlein oder Weiblein?«
»Egal ob Männlein oder Weiblein. Wissen Sie, diese Begrenzung, dass einem nur 50 Prozent der Bevölkerung gefallen dürfen – wer hat das eigentlich erfunden, dass es nur so sein darf?«
Als ich ihm nachdrücklich mitgeteilt hatte, dass meine Auswahlmöglichkeiten nicht so groß seien, weil ich in Sachen Beziehung nur dem weiblichem Geschlecht zugeneigt sei, drückte er mir sein Bedauern aus. Und widmete mir eine kleine Zeichnung mit dem Titel »Und ewig lockt die Frau«.
Ja, ich habe einen Traumberuf. Für mich ist es jedenfalls einer. Ich wollte immer Journalist werden, ohne zu wissen, wohin mich der Weg führen würde. Natürlich hörten wir Radio, und auch das Fernsehen hielt schon in meiner Kindheit Einzug in die Familie. Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich eines Tages am frühen Abend nach Hause kam (ich muss etwa sechs oder sieben Jahre alt gewesen sein). Meine Tante empfing mich an der Tür mit den Worten: »Die anderen sind oben und sehen fern.« Das fand ich zwar etwas verwunderlich, aber ich interpretierte das so, dass die Eltern und Geschwister sich in der oberen Etage des Hauses aufhielten und aus dem Fenster sahen. Was immer es da Interessantes zu betrachten gab. Dass sie dann tatsächlich vor einem kleinen Schwarz-Weiß-Gerät, eben einem Fernseher saßen, war dann eine echte Überraschung.
Journalist sein, das hieß für mich als Kind zunächst einmal ganz automatisch, für eine Zeitung zu schreiben. Meine ersten Artikel habe ich schon veröffentlicht, als ich noch zur Grundschule ging. Die hieß damals noch »Volksschule«. Meine Texte waren natürlich nicht für eine Zeitung verfasst, sondern zunächst einmal nur für meine Eltern. Bei meinen Artikeln handelte es sich im Grunde genommen auch nur um aus unserer Tageszeitung abgeschriebene Sätze. Die Zettel mit den auf diese Weise kopierten Texten legte ich dann meinen Eltern auf den Frühstückstisch. Das Fundament für meine journalistische Laufbahn war gelegt. Mit großen Schritten stieg ich die Karriereleiter nach oben. Im Alter von 12 Jahren war ich bereits Redakteur. Um nicht zu sagen Chefredakteur. Dazu kam es, weil ich Briefmarken sammelte, ja wirklich. Briefmarken haben mich fasziniert, und ich begann systematisch zu sammeln. Postfrisch und gestempelt, möglichst mit allen Zähnen dran und oft mit hübschen Bildern drauf. Einige Jahrgänge der Bundesrepublik habe ich komplett. Aus dem Nachlass meines Opas erbte ich damals einige interessante Stücke aus dem Deutschen Reich, darunter ein Block mit Hitler-Marken und der Aufschrift »Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken«. Was diese Zeilen bedeuteten, hat sich mir lange nicht erschlossen. Um mit Anderen Briefmarken zu tauschen und weil auch gesellige Abende mit Filmvorführungen auf dem Programm standen, wurde ich Vereinsmitglied, schloss mich dem Briefmarkenclub Herford an und übernahm das Vereinsblatt. Das bestand vor allem aus Veranstaltungsankündigungen. Meine Briefmarken habe ich heute noch. Das Intermezzo beim Verein und seinem Mitteilungsblatt war dagegen nur von kurzer Dauer. Zumal mich die Gründung einer eigenen Zeitung mehr interessierte. Die Gelegenheit dazu ergab sich am Friedrichs-Gymnasium in Herford.
Meine Eltern entschieden, ich solle eine humanistische Bildung genießen. Und so paukte ich ab 1960 Latein und bekam es mit Julius Caesar und dem Gallischen Krieg zu tun: »Gallia est omnis divisa in partes tres …« Wenn einer über den Gallischen Krieg Bescheid wissen musste, dann jener römische Staatsherr. Warum ich mich damit auskennen sollte, wusste ich erst einmal nicht. Anfangs tat ich mich leicht in der Schule und ahnte noch nicht, welche Qualen noch folgen sollten. Und deswegen hatte ich nicht nur Lust, zu tun, was ich wollte, sondern auch eine Menge Zeit dazu. Was unsere Klasse dringend brauchte, war eine eigene Zeitung. Fand ich. Auch mein Kumpel Reinhardt, den alle nur Krähe nannten (ich weiß nicht mehr warum, ich kannte ihn nicht anders), war mit dabei. Und so gründeten wir ein Blatt mit dem spannenden Namen »Klassenkurier«. Darin schrieben wir über so naheliegende Themen wie den Verkauf von Milch und Kakao an der Schule, Klassenfahrten und doofe Lehrer. Manche Lehrer fand ich allerdings nicht nur doof, sondern pädagogisch und politisch sogar grenzwertig oder untragbar. Unser Musiklehrer beispielsweise, Herr Willers, hatte eine andere Vorstellung von guter Musik als wir. Das war sein gutes Recht, und uns Johann Sebastian Bach näherzubringen, sogar seine Pflicht. Es lag allerdings nicht an diesem Lehrer, dass ich Bach schon damals ziemlich genial fand. Dass Herr Willers mit Rockmusik und Soul nichts anfangen konnte, sei ihm auch verziehen. Übel genommen habe ich ihm seinen Rassismus, mit dem er Aretha Franklin abkanzelte: »Diese Negermamis, wie sie blubbern.« Oder habe ich es damals mit meiner »political correctness« übertrieben?
Auch unser Englischlehrer ist mir in Erinnerung geblieben. Sein Name leider nicht. Er war im Prinzip ein netter Kerl. Wir lernten etwas bei ihm und man konnte mit ihm auskommen. Aber er war ungerecht, und das mag ich gar nicht. Zwei Beispiele: Krähe und ich hatten irgendeinen Mist gemacht und dafür eine Strafarbeit bekommen. Okay. Wir mussten irgendeinen Text zehnmal abschreiben. Über die Sinnhaftigkeit einer solchen Aufgabe kann man streiten. Er wollte einfach, dass es uns wehtat. In der nächsten Englischstunde wurde unsere Strafarbeit kontrolliert. Ich zuerst. In Ordnung, abgehakt. Dann war Krähe an der Reihe. Bei ihm war der Text, den er abgeschrieben hatte, gegen Ende deutlich kürzer. Das bemerkte unser Englischlehrer natürlich sofort. Also: nochmal alles abschreiben. Das kann passieren, wenn man ertappt wird. Aber dann wendet sich der Herr Lehrer nochmals an mich: »Hast du etwa auch geschummelt?« Ich verneinte: »Äh, nein, also ich hab’ natürlich zum Schluss auswendig geschrieben …«. Er blaffte mich an: »Hast du auch Text weggelassen? Gib es zu. Oder ich kontrolliere ganz genau, und für jedes fehlende Wort schreibst du den ganzen Text nochmals ab!« Natürlich hatte auch ich ordentlich gekürzt. Aber eben so geschickt, dass es nicht gleich auffiel. Und nur weil mein Kumpel sich etwas dusseliger angestellt hatte, musste ich jetzt auch dran glauben. Ich fand das höchst ungerecht. Genauso wie eine andere Strafaktion: Irgendjemand hatte den Unterricht durch sein ständiges Reden gestört und musste nachsitzen. Kurz danach plapperte wieder jemand, obwohl es gerade untersagt worden war. »Wer war das?«, wollte unser Englischlehrer wissen. Fragen Sie mich nicht warum, aber ich meldete mich freiwillig. Und so musste auch ich nachsitzen, bekam also die gleiche Strafe wie der andere auf frischer Tat ertappte Schüler. Wenn der Herr Pädagoge damit hatte erreichen wollen, dass sich Ehrlichkeit nicht lohnt, dann hatte er sein Ziel erreicht.
Neben unserem Englischlehrer gehörte Herr Schmidt zu meinen besonderen Freunden und umgekehrt ich zu seinen. Für seine Fächerkombination Mathematik und Physik hielt sich meine Begeisterung in engen Grenzen. Mathe fand ich bis zum großen Einmaleins großartig. Weil ich alles verstand und ich gute Zensuren bekam. Alles andere danach, etwa die binomischen Formeln, verursachte bei mir Schmerzen und Ängste. Auch in Physik quälte ich mich so durch – bis zur Unterprima. Da schlug die große Stunde des Herrn Schmidt. In Mathe konnte er mir leider die Note 5 nicht mehr geben, weil ich wegen einer pünktlichen Erkrankung just die letzte Arbeit nicht mitschreiben konnte. Aber in Physik würgte er mir aufgrund schlechter mündlicher Leistungen ein »Mangelhaft« rein. Da es in Griechisch mit meinen Leistungen nicht besser aussah, durfte ich die Klasse wiederholen. Im Abitur aber revanchierte ich mich bei meinen Lehrern fürs Sitzenbleiben. Auf dem Klo war ein »Pons«-Wörterbuch mit den Übersetzungen der griechischen Texte deponiert, die möglicherweise drankommen konnten. Ein Mitschüler, der sich in Griechisch besonders gut auskannte, hatte den Auftrag, während der schriftlichen Prüfungen kurz das Klassenzimmer zu verlassen und in eben jenem Buch die Stelle mit der betreffenden Übersetzung aufzuschlagen. Es half mir sehr, diese wenigstens einmal durchlesen zu können. Zur Ehrenrettung des Lehrerkollegiums muss ich sagen, dass es auch wirklich nette, nein, gute Pädagogen gab. Unser letzter Klassenlehrer zum Beispiel, Herr Osterhage. Wir standen uns von den Interessen her nicht sonderlich nahe, denn auch er unterrichtete Mathematik. Herr Osterhage machte mir also mit seinem Fach keine Freude, ich ihm mit meinen Unkenntnissen aber genauso wenig. Ausgerechnet er gratulierte mir zum bestandenen Abi mit den Worten »Bleiben Sie so, wie Sie sind!«
Natürlich nutzten wir unsere Schülerzeitung nicht nur dazu, um über unsere Lehrer herzuziehen, sondern auch dazu, um über alles, was uns außerhalb des Gymnasiums bewegte, zu schreiben. Leider habe ich keine einzige Ausgabe aufgehoben. Aber ich erinnere mich daran, dass wir nach der Ermordung von John F. Kennedy eine Sonderausgabe herausgebracht hatten. Das Attentat geschah am 22. November 1963. Wir waren also gerade in der 8. Klasse (Untertertia hieß das bei uns damals), und ich war 13. Später bestimmten dann auch Themen wie der Vietnamkrieg und die Notstandsgesetze unser Blatt. Weil wir aber nicht nur darüber schreiben, sondern auch dagegen auf die Straße gehen wollten, nahmen wir am 11. Mai 1968 an einer großen Demonstration in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn teil. Der 11. Mai war ein Samstag, also sehr geeignet für eine große Demonstration. Nur eben nicht für Schüler, denn damals waren die Samstage noch normale Unterrichtstage. Da der Schulleitung bekannt war, dass einige von uns an der Demonstration in Bonn teilnehmen wollten, war explizit ein Fernbleiben vom Unterricht zu diesem Zwecke untersagt worden. Ein paar renitenten Schülern war das nicht nur völlig egal, sondern sie fühlten sich dadurch erst recht ermuntert, sich auf den Weg nach Bonn zu machen. Unter ihnen waren auch meine guten Freunde Joachim, genannt Josua, und Männlein, dessen Spitzname von seinem Nachnamen Baumann abgeleitet war. Und natürlich ich. Wir kamen bis Kamen, genauer gesagt bis zum Kamener Kreuz. Dort gab Jimi deutliche Rauchzeichen, weil er am Ende seiner Kräfte war. Jimi war mein erstes Auto, rot und ein BMW! Ein Zweitakter mit 0,7 Liter Hubraum, ein BMW 700 also. Achthundert Mark hatte er gekostet. Mein Vater war von dem Wagen überzeugt, weil er den Besitzer des Autohauses kannte. Genau dieses Gefährt nannte ich seit drei Monaten stolz mein Eigen. Bis zu eben jenem 11. Mai. Der Wagen gehörte mir zwar immer noch, aber ich war nicht mehr so richtig stolz darauf. Jimi hatte uns die große Demo vermasselt. Sein Motor entpuppte sich als Junkie, süchtig nach Öl. Was also tun? Josua und Männlein machten sich auf den weiten Weg zur nächsten Tankstelle, und ich blieb bei Jimi. Nach knapp drei Stunden waren die beiden Jungs zurück. Wir stillten Jimis Durst und konnten endlich weiterfahren. Aber nicht mehr nach Bonn, sondern nur nach Hause. Mein BMW konnte in den darauffolgenden Jahren trotz dieser kleinen Schwäche noch internationale Erfahrungen sammeln und kutschierte Krähe und mich durch England. Auf der falschen Straßenseite zu fahren war für uns alle ungewohnt, ließ sich aber unfallfrei bewältigen. Die endgültige Trennung von Jimi, meinem treuen Gefährt, fiel mir schwer, war jedoch unausweichlich. Sein unstillbarer Öldurst war einfach auf Dauer zu teuer.
Mein nächstes Auto war ein Käfer. Er kostete nur 500 Mark, blieb namenlos und bewährte sich als Aktionsauto eindeutig besser. Zum Beispiel bei der sogenannten »Rote-Punkt-Aktion« in Herford. Damals erreichte die Revolution die Provinz. Das Elektrizitätswerk Minden-Ravensberg (EMR) hatte nämlich eine deftige Preiserhöhung für seine Busse angekündigt. Eine Monatsmarke sollte plötzlich fast das Doppelte kosten. Angeregt durch die bereits erfolgreiche Gegenwehr in Hannover überlegte eine Gruppe von Schülern, Studenten und Gewerkschaftern in Herford, ob eine solche »Rote-Punkt-Aktion« in ihrem kleinen ostwestfälischen Provinznest durchführbar sein könnte. Ob sich also auch in Herford genügend Bürger finden würden, die ihre Geschicke selbst in die Hand nahmen, um dem mächtigen EMR wortwörtlich die Stirn zu bieten. Denn wie die Protestgruppe in Hannover sollten sich auch die Herforder Bürger einen roten Punkt hinter die Windschutzscheibe ihres Autos kleben und so den öffentlichen Personennahverkehr in Eigenregie durchführen. Im örtlichen Jazzclub in Herford, der sich inzwischen zum heimlichen Treffpunkt politischer Aktivisten gemausert hatte, wurde heftig diskutiert, aber auch gehandelt. Die einen schrieben Flugblätter, die anderen hatten Kontakt zu einer Druckerei und bestellten rote Aufkleber-Punkte. Am 1. April 1970 gingen wir mit unserer Aktion an die Öffentlichkeit und mussten zunächst vor allem einmal klarstellen, dass es sich nicht um einen Aprilscherz handelte. Die Presse berichtete freundlich. Der Rückhalt in der Bevölkerung war riesig. Nachdem wir zunächst vorsichtig ein paar hundert rote Aufkleber bestellt hatten, brauchten wir nun Tausende, letztendlich wurden es Zehntausende. Tag für Tag stellten sich mehr Bürger mit ihrem Auto in den Dienst der Sache. Firmen und Geschäfte spendeten, stellten den Aktivisten Essen zur Verfügung oder stifteten Benzin. Busse wurden blockiert oder blieben teilweise in den Depots. Am 14. April nahm der Aufsichtsrat die Fahrpreiserhöhung zurück. Am 15. April fuhren die regulären Busse bereits wieder. Alle Beteiligten lobten die Eigeninitiative und den Zusammenhalt der Bevölkerung sowie den friedlichen Charakter der Aktion. Jeder merkte: Wir müssen uns nicht alles gefallen lassen, wir können zusammen etwas bewirken. Jedenfalls vorübergehend. Ein Jahr später erhöhte das EMR die Preise dann doch, wenn auch nicht so sehr. Mein Käfer hatte sich damals anstandslos über 300 Kilometer in den Dienst der guten Sache »Roter Punkt« gestellt. Es wären noch mehr geworden, hätte ich nicht inzwischen mein Volontariat begonnen.
Für mich war klar, dass ich nach dem Abitur nicht gleich studieren, sondern erst einmal den Alltag einer Zeitungsredaktion kennenlernen wollte. Am besten bei den Besten. Also bewarb ich mich bei der »Süddeutschen Zeitung« und bei der »Frankfurter Rundschau«. Bei beiden Blättern antwortete man mir freundlich und ernüchternd, also ablehnend. Von wegen ›viele Bewerber‹, und ›schon vergeben‹, und überhaupt sei es doch ratsam, es mal in der näheren Umgebung zu versuchen. Sie hätten auch schreiben können: Bleib mal in der Provinz und back’ kleinere Brötchen. Ich war beleidigt, aber was blieb mir übrig. In Herford gab es zwei Zeitungen, das »Herforder Kreisblatt«, das zum »Westfalenblatt« gehörte und dem der Ruf vorausging, das nördlichste CSU-Blatt zu sein. Dann war da noch die »Neue Westfälische« in Bielefeld mit ihren zahlreichen Lokalredaktionen, unter anderem eben in Herford. Hervorgegangen aus der »Westfälischen Zeitung« und dem SPD-Blatt »Freie Presse« galt sie als linksliberal. Es stand außer Frage, dass ich mich dort bewarb. Chefredakteur Wilhelm Friedrich Hanke machte mir Hoffnung, indem er ein paar Arbeitsproben von mir verlangte, vom Leitartikel bis zur Glosse. Eifrig machte ich mich ans Werk, ohne zu wissen, was eine Glosse überhaupt ausmacht.
Meinem Vater wäre es aufgrund seiner Einstellung lieber gewesen, ich ginge zur konservativeren Konkurrenz, und er nötigte mich darum auch dort zu einem Bewerbungsgespräch. Das Problem erledigte sich nach wenigen Minuten. Ein anerkannter Kriegsdienstverweigerer könne die Grundwerte des »Westfalenblattes« nicht vertreten. Mich als Volontär einzustellen, käme also nicht infrage. Na bestens, hatte sich das Verhör bei der Kriegsdienstverweigerung also doppelt gelohnt. Damals konnte sich, wer nicht zur Bundeswehr wollte, nicht einfach schriftlich abmelden, sondern musste sich einer gründlichen stundenlangen Gewissensprüfung stellen. Die war ausgesprochen lästig und hatte eine hohe Durchfallquote. Kernfrage: »Sie gehen mit Ihrer Freundin durch einen einsamen Wald. Zwei Verbrecher wollen Sie überfallen und Ihre Freundin vergewaltigen. Sie haben eine Pistole dabei. Wehren Sie sich, schießen Sie?« Ich war auf diese Frage gut vorbereitet: »So eine Situation versuche ich zu vermeiden, indem ich nicht in eine gefährliche Gegend gehe. Und ich habe außerdem auch keine Pistole dabei.« Ich weiß nicht, ob es an dieser Antwort lag, aber ich kam damals durch, im Gegensatz übrigens zu meinem Freund Krähe. Da ich bei der Musterung überraschenderweise für nur bedingt tauglich befunden wurde und noch nicht so viele Ersatzdienstplätze zu besetzen waren, musste ich dem Staat weder auf die eine noch auf die andere Weise dienen. Und dem »Westfalenblatt« eben auch nicht. Aber der »Neuen Westfälischen«, die nahm mich. Und damit stand meiner Karriere praktisch nichts mehr im Wege. Bei der »Neuen Westfälischen« hatten nämlich, wie ich inzwischen herausgefunden hatte, auch die renommierten Journalisten und späteren WDR-Intendanten Friedrich Nowottny und Fritz Pleitgen gearbeitet.
Meine erste Station bei der »Neuen Westfälischen« war die Lokalredaktion in Minden, wo ich meinen Freund Werner Heitmann kennenlernte, von dem später noch die Rede sein wird. Als Volontär ist man zwar im Prinzip Lehrling. Man wird aber, jedenfalls bei einer solchen Zeitung, sofort als vollwertige Arbeitskraft eingesetzt. Die eine oder andere Hilfestellung wird einem natürlich zuteil. Auch ich musste gleich raus und Artikel schreiben. Spannende Ereignisse, wie die Eröffnung einer Boutique oder die jährliche Zusammenkunft des Geflügelzüchtervereins, waren meine ersten journalistischen Aufträge. Ich lernte schnell, worauf es wirklich ankommt. Meinen ersten Anschiss bekam ich bereits nach wenigen Tagen. Ich hatte über irgendeine Versammlung berichtet und alle wichtigen Inhalte berücksichtigt. Dachte ich. Hatte ich auch. Aber es geht eben nicht immer nur um Inhalte, sondern meist um Eitelkeiten. Viele Ereignisse finden meiner Meinung nach nur deswegen statt, damit Leute, die sich für wichtig halten, im Rampenlicht stehen können. Ich hatte in meinem Beitrag einfach nicht alle Provinzpromis namentlich erwähnt.
Schon nach zwei Wochen bekam ich meine erste Leiche zu Gesicht. An einem Bahnübergang hatte ein Autofahrer den Zusammenstoß mit einem Zug nicht überlebt. Der Volontär, also ich, wurde zum Unfallort geschickt und musste auch ein Foto schießen. Ich wählte einen Blickwinkel, der das Ausmaß des Unglücks erahnen ließ, den Toten jedoch nicht zeigte. Aber ich hatte ihn gesehen, und das schlug mir auf den Magen. Zurück in der Redaktion wurde ich mit viel Verständnis und einem Schnaps empfangen. Der war so angebracht wie deplatziert. Denn meine Arbeit war noch nicht beendet, ich musste meinen Artikel ja noch schreiben. Und es war schon später Nachmittag! Der Redaktionsschluss für unsere Lokalredaktion stand an. Da 1969 die technischen Möglichkeiten noch sehr begrenzt waren, konnte ein Text zwar schon telefonisch in die Zentrale übermittelt werden, ein Foto aber nicht. Das hieß: Film entwickeln und Foto in der Dunkelkammer vergrößern, dann ab ins Auto und die knapp fünfzig Kilometer nach Bielefeld fahren. Bielefeld gibt es wirklich, auch wenn manche Verschwörungstheorien die Existenz der Stadt bezweifeln. Ich kann es bezeugen, denn ich musste als Volontär oft von unserer Lokalredaktion aus nach Bielefeld fahren. Und natürlich auch als ich in den Zentralressorts Politik oder Feuilleton arbeitete. Die technische Fertigstellung der »Neuen Westfälischen«, der Umbruch und Druck, fanden in Sennestadt, einem Stadtteil von Bielefeld statt. Den Umbruch zu machen, das bedeutete damals noch, im Bleisatz aufwändig Buchstabe für Buchstabe anzuordnen. Auf diese Weise lernte man seitenverkehrt zu lesen. Hatte man dann die Abzüge redigiert und die oft zu langen Texte gekürzt, mussten die Korrekturen im Bleisatz eingefügt werden. Die Beliebtheit dieser Nachtschichten hielt sich in engen Grenzen. Noch unangenehmer fand ich allerdings, dass ich nach Höxter abkommandiert wurde. Zum einen war das von Herford aus zu weit zum Pendeln. Ich musste mir also ein Zimmer nehmen und sah meine Freundin nur am Wochenende. Zum anderen gehörte Höxter wie auch Paderborn zur so genannten »schwarzen Kante«. Streng katholisch und erzkonservativ. Die Kollegen waren aber nett – wenn auch recht eigen, wie schon die Begrüßung am ersten Tag zeigte. Sie wollten wissen, mit wem sie es zu tun hatten:
»Rauchen Sie?«
»Nein.« (Hab’ ich damals tatsächlich noch nicht).
Man schüttelte den Kopf.
»Saufen Sie?«
»Na ja, ich trink’ schon mal gern ein Bier.«
Stirnrunzeln.
»Huren Sie?«
»Nein, ich hab’ ne Freundin.«
Schulterzucken.
Sie fanden mich langweilig. Wir kamen trotzdem gut miteinander aus.
Für meine liebste Reportage bin ich noch viel weiter weggefahren als nach Höxter. Nach Fehmarn. Das »Love-and-Peace-Festival«, das vom 4. bis 6. September 1970 auf der Ostseeinsel stattfand, sollte das deutsche Woodstock werden. Ich wollte auf jeden Fall dorthin und für die »Neue Westfälische« darüber schreiben. Nicht zuletzt, weil Jimi Hendrix auftrat. Der Event sollte einer Zeitung, die täglich in einer Auflage von über 200 000 Exemplaren erschien, groß und wichtig genug sein, um einen eigenen Reporter zu schicken, statt wie sonst üblich auf Agenturmaterial zurückzugreifen. Fand ich. Tatsächlich durfte ich exklusiv darüber berichten. Die Reise nach Fehmarn musste ich allerdings selbst bezahlen. »Sie wollten doch sowieso hinfahren«, lautete das Argument des Chefredakteurs. Sehr witzig.
Jimi Hendrix war und ist für mich der Größte. Selbstverständlich sehe ich es allen nach, denen es nicht so geht. Aber verstehen kann ich sie nicht. Zum ersten Mal hörte ich ihn im Dezember 1966. In meinem Zimmer, im Bett, an einem Samstag irgendwann zwischen 23 Uhr und Mitternacht. Um die Zeit liefen auf BFBS (British Forces Broadcasting Services), dem englischen Soldatensender, die BBC-Charts. Mittendrin »Hey Joe«. Ich stand (und stehe) nicht so auf Balladen, aber Jimi hatte einen neuen Sound kreiert, spannend, fesselnd, ein neues Erlebnis. Der Moderator der Radiosendung stellte den Gitarristen vor: ein »Schwarzer«, der die Saiten mit den Zähnen zupfte und sein Instrument hinter dem Rücken spielte. Das passte irgendwie nicht zum Song, ließ aber diese musikalische Neuentdeckung umso interessanter erscheinen. Ich mochte die Stones, hörte gern die Beatles, die Kinks, die Small Faces, die Spencer Davis Group und vor allem die Supergruppe Cream, die sich gerade neu gegründet hatten. Aber dieser Mann, Jimi Hendrix, hatte etwas Eigenes, Unvergleichliches. Auch wenn er bis dahin noch keinen Nummer-Eins-Hit gelandet oder für volle Stadien gesorgt hatte. Er berührte mich. Damals konnte ich noch nicht ahnen, dass die Kritiker sich später einmal überschlagen und alle wichtigen Gitarristen Jimi für den Allergrößten halten würden.
Kurz hintereinander erschienen die nächsten beiden Singles von Hendrix, »Purple Haze« und das großartige »The Wind Cries Mary« auf dem Markt, in Deutschland immer mit ein paar Wochen Verzögerung und ohne Platzierung in den Top Ten der Hitparaden. Obwohl er bei uns längst noch nicht so erfolgreich war wie in England oder den USA, kam Hendrix auf Deutschland-Tournee. Auch nach Herford! Zu verdanken hatten das die Hendrix-Fans einer sehr rührigen und engagierten Frau, Carola Frauli. Sie hatte ein altes Kino in Herford, das »Scala«, zu einem Beat-Club umfunktioniert, dem »Jaguar-Club«. Dort traten nicht nur regionale und nationale Bands wie die Rattles auf. Es gelang Frau Frauli auch, die besten internationalen Acts zu verpflichten. Manche dieser Konzerte konnten sich finanziell gar nicht tragen. War der Laden gestopft voll, passten gerade einmal rund 1 000 Leute rein. Carola Frauli legte also bei großen Stars drauf, um den Club bekannter zu machen. Und das gelang ihr. Und so waren in Herford The Who, Cream, Manfred Mann, The Spencer Davis Group mit Steve Winwood, The Easybeats, The Troggs, Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick and Tich, The Small Faces oder The Searchers und eben Jimi Hendrix zu Gast. Er kam 28. Mai 1967 in den »Jaguar-Club«, Eintritt damals 8 Mark. Ich war nicht nur dabei und mittendrin, sondern auch kurz auf der Bühne, um Fotos zu machen und um mir anschließend ein Autogramm zu holen. Ich war restlos begeistert.
Gut drei Jahre später, auf Fehmarn, war ich von Jimi natürlich immer noch oder sogar erst recht begeistert. Immerhin hatte er sich inzwischen mit seinem legendären Woodstock-Auftritt unsterblich gemacht, mit »Star Spangled Banner« ein unübertroffenes Statement abgegeben und mit »Electric Ladyland« das wohl beste Rockalbum aller Zeiten veröffentlicht. Aber der Auftritt auf der Ostseeinsel war nicht gut, weil die Rocker, die sich beim Festival als Helfer aufgedrängt hatten, brutal waren und einige angesagte Bands abgesagt hatten. Die Stimmung war so schlecht wie das Wetter und das ganze Festival miserabel organisiert. Zum Schluss fackelte Jimi nicht wie so oft seine Gitarre ab. Stattdessen brannte eine aufgebrachte Meute das Veranstalterbüro nieder. Genau so beschrieb ich es auch in meiner Reportage, die ich gleich nach Jimis Auftritt und noch vor dem Ende der Veranstaltung (ich verpasste deshalb Floh de Cologne) telefonisch nach Bielefeld durchgab. In der Überschrift zu meinem Text zitierte ich eine Durchsage der Veranstalter: »Bewahren Sie Ruhe und trinken Sie Tee!« Natürlich war ich trotz allem froh, dabei gewesen zu sein. Dass ich einem historischen Ereignis beigewohnt hatte, war damals noch nicht klar: Jimis letztem Auftritt. Zwölf Tage nach dem Festival auf Fehmarn wurde Hendrix im Londoner Apartment seiner Freundin aufgefunden. Vollgepumpt mit Alkohol und Schlaftabletten. Erstickt an seinem Erbrochenen.
Auf mein Autogramm von Jimi Hendrix bin ich schon ein bisschen stolz. Auch auf das von Willy Brandt. Ansonsten bin ich kein Autogrammsammler. Im Nachhinein bedaure ich das. Eine vollständige Unterschriftensammlung unserer »Leute«-Gäste wäre wahrscheinlich ein Schatz. Wir besitzen beim Sender auch nicht von jedem Gast ein Foto. Ehrlich gesagt: Wir wissen nicht einmal genau, wie viele Sendungen wir schon gemacht haben. Das liegt vor allem daran, dass sowohl das Programm wie auch die »Leute«-Sendung immer wieder andere Namen trugen und/oder auch mal gar keinen. Seit dem 1. Oktober 1979 gibt es das dritte Hörfunkprogramm als Vollprogramm. Es hieß zuerst »Südfunk 3«, dann »Radio Drei Südfunk Stuttgart«, dann wieder »Südfunk 3« und schließlich, als aus dem »Südfunk« der SDR wurde, »SDR3«. Alles klar? Wir haben unseren Hörern noch mehr zugemutet. Am 1. Januar 1985 wurden alle Sendungstitel abgeschafft. Alle Sendungen liefen schlicht unter dem Namen der Welle, die gerade »Südfunk 3« hieß. Da genau zu diesem Zeitpunkt der damalige Programmchef Herbert Borlinghaus unsere Gesprächssendung einführte, wurde »Leute« namenlos geboren. Bis 1987 das Kind endlich »Leute« getauft wurde, lautete die Behelfsbezeichnung für die Sendung »Von 10 bis 12«, Untertitel »Gäste im Studio«. Überschlägig müssten wir im Laufe des Jahres 2015 irgendwann die achttausendste Sendung ausgestrahlt haben. Nichts Genaues weiß man nicht.
Ein paar Jahre lang haben wir im Sender immer mal wieder ein Gästebuch geführt. Darin finden sich jede Menge Freundlichkeiten. Umso mehr freut mich, dass im Flur meiner Wohnung fast zwei Dutzend Zeichnungen an der Wand hängen. Alles Originale von geschätzten Künstlern. Angefangen hat diese Sammlung mit einer Skizze, die der wunderbare Tomi Ungerer, ein großartiger Zeichner und (wenn er gesund ist) auch großartiger Gesprächspartner, angefertigt hat. Dreimal hatte ich ihn zu Gast, beim ersten Mal in einer Live-Sendung. Was ihn betrifft, darf ich verraten, was in der Zeit passierte, in der in der Sendung die Musik lief und wir uns unterhielten. Ungerer begann spontan, Details unseres Studios zu zeichnen: das Mikrofon, die Tasten unserer Gegensprechanlage, die Knöpfe für die Lautstärkeregelung. Danach versah er sie mit eigenen Details. Einem Mikrofon wuchsen Haare, ein anderes tropfte. Die Knöpfe für die Lautstärkeregelung beschriftete er neu: Statt für »KH Mod« (Kopfhörer Moderator), »KH Gäste« (Kopfhörer Gäste) und »LSP« (Lautsprecher) waren sie nun zuständig für »Ewigkeit«, »Krieg« und »Frieden«. Ich fragte ihn, ob er mir die Zeichnung schenken könne und bekam sie sogar mit einer Widmung überreicht. Seitdem sammle ich solche kleinen Kunstwerke. Nicht nur von Tomi Ungerer und Wolfgang Joop besitze ich Zeichnungen, sondern auch von Udo Lindenberg und Markus Lüpertz. Während sie sich selbst gezeichnet haben, porträtierten Emil und Manfred Deix mich. Von Peter Gaymann habe ich natürlich die Zeichnung eines Huhns und von F. K. Wächter die eines Schweins. Leider ist der von mir sehr geschätzte Satiriker Wächter viel zu früh gestorben. Das gilt auch für den international renommierten Künstler James Rizzi mit seinen fröhlichen bunten Bildern. Drei Jahre vor seinem Tod hat er mir ein Bild gemalt. Paul Maar hat mir ein »Sams« gezeichnet, Armin Müller-Stahl einen recht abstrakten Geiger und Wolfgang Niedecken den Fernsehturm in Stuttgart.