Donnerstag
Vergangenen Monat habe ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert.
Ich bin weiblich, einen Meter einundachtzig, mein Haar ist hell, eine Spur grau, in der Mitte gescheitelt, heute trage ich es offen, glatt fällt es den Rücken hinab. Wenn ich den Kopf in den Nacken lege, reicht es bis an den Po.
Männer lieben es, mir ins Haar zu greifen, wenn ich beim Koitus knie.
Gern kopuliere ich nicht, weder auf den Knien noch im Liegen. Ich kann nicht kopulieren. Ich bin alibidinös.
Mein Name ist Margarete.
Gelehnt an einen Flügel, den rechten Ellenbogen auf den Deckel gestützt, in der Hand des linken, senkrecht angehobenen Arms ein gefüllter Kelch mit hohem Stiel, stehe ich da, schaue an mir hinunter.
Der Kelch ist aus Plastik. Meine Hand aus Porzellan. Die Fingerknöchel sind spitz. Auch meine Knie. Das Gewicht verlagere ich von einem Bein auf das andere. Das linke Sprunggelenk schmerzt. Lange hält es nicht mehr stand. Ich trage hohe Schuhe, eierschalenfarben, feine, beinahe transparente Strumpfhosen. Die Beine darunter sind gepudert, Varizen habe ich nicht, jedoch: in der rechten Kniekehle ein Muttermal. Oberhalb der Kniescheibe erschlaffende Haut. Bald werde ich ein Knielifting benötigen.
Ich bin Fachärztin für Plastische Chirurgie.
Das Kleid fällt bis zur Mitte des Unterschenkels, dorthin, wo die Waden am kräftigsten sind. Doch nichts an mir ist kräftig. Ich wiege fünfundfünfzig Kilo.
Ich schaue hinunter aus halbgeschlossenen Lidern. Mein Kleid ist seiden, türkis, mit Perlen bestickt, nach unten hin glockenförmig, schmal geschnitten über den Brüsten und geknöpft. Die Arme bloß. Wie Schnüre die Sehnen an meinen Unterarmen.
Meine Jugend ist vorüber.
Ich winke nach einem zweiten Sekt.
Selbst wenn ich eine Libido besäße: Wer sollte mich begehren. Ich halte mich für reizlos.
Männer behaupten das Gegenteil, mitunter sogar: Ich sei die schönste Frau der Welt. Der Name meiner Krankheit: Dysmorphophobie, überzeugt, missgestalt zu sein.
Die körperdysmorphe Störung lässt sich therapieren, Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, begleitende Verhaltenstherapie, leider ist, wie bei den meisten Betroffenen, die Selbsteinsicht gering.
Ich mustere die Anwesenden. Zweiundsechzig Kollegen, davon dreizehn Frauen, laut Teilnehmerliste.
Studierte Menschen sind nicht schön, Ärztinnen schon gar nicht. Ungeschminkte Gesichter, kurzes Haar, ein oder zwei Pferdeschwänze, sie haben sich verloren, irgendwo zwischen Studium und Promotion.
Ich bin habilitiert. Privatdozentin Dr. Margarete Dorn. Aber vor mache ich mir nichts. Mein heutiger Vortrag (Grenzen der Penisvergrößerung mittels Hyaluronsäure) wird bald vergessen sein, nein, er ist schon vergessen.
Man geht über zum eigentlichen Zweck des Beisammenseins: dem Buffet, dem Alkohol, wenn es sich ergibt, zu späterer Stunde, dem Geschlechtsverkehr. Einmaliger Akt (die Verheirateten), seltener in der Absicht, sich zu binden (die Alleinstehenden). Zählen Sie mich zu Letzteren, ein Zustand, der seit achtzehn Monaten andauert. Ein Zustand, dem abgeholfen werden soll, vielleicht noch heute.
Sie stehen in Dreier- und Vierergrüppchen. Die Frauen um die fünfzig, nur vier im fortpflanzungsfähigen Alter. Eine Schwangerschaft Mitte dreißig wird ihre Karriere beenden. So will es die Natur. Falls sie Kinder bekommen. Ich habe keine.
Die Jüngeren tragen Jeans oder Röcke, eng und kürzer als mein Glockenkleid. Keine ist so groß wie ich. Sie strahlen und lachen, auch wenn es nichts zu lachen gibt.
Mein zweiter Kelch ist leer.
Ich sehe den Veranstalter auf mich zukommen, breite Brust, breites Lächeln. Da hinter mir niemand steht, muss er mich meinen.
Er macht vor mir halt, jetzt sehe ich, dass er jemanden an der Hand hält, ältere Männer berühren sich gern. Der Mann an der Hand: Hans Heinrich, Prof. Dr. Hans Heinrich von der Freien Universität Berlin, Fachbereich Plastische Chirurgie, der Hauptredner des Meetings. Verfasser mehrerer Lehrbücher, Mitherausgeber der führenden Fachzeitschrift für Brustchirurgie, das bekannteste Gesicht der Zunft. Dreimal habe ich ihn leibhaftig gesehen, und das nur von Weitem, außerdem: in Großaufnahme auf Buchumschlägen. Das Foto dürfte vor mindestens fünf Jahren aufgenommen worden sein. Ich kenne mich mit Alterungsprozessen aus und mit der Eitelkeit der Männer.
Der Gastgeber hebt den Arm, daran noch immer Heinrichs Hand, als präsentiere er einen Champion: Ob er bekannt machen dürfe, Margarete, der hochverehrte Professor Heinrich! Bester Hans, Margarete Dorn, eine vielversprechende Kollegin.
Meinen Titel zu nennen hält er für unnötig, stattdessen: »Margarete praktiziert in Zürich. Eine Fahnenflüchtige.« Er lacht wie ein Vogel, die Gattung ist mir entfallen.
Heinrich lacht nicht, er sieht mich an mit spritzwasserblauen Augen, er sieht mich nicht an, er verschlingt mich. Seine Augäpfel treten hervor, um die Iris ein dichter Wimpernkranz, wie nach dem Gebrauch von Bimatoprost. Bimatoprost senkt den Augeninnendruck, wegen seiner Nebenwirkung verschreibe ich es off-label: Es lässt die Wimpern sprießen. Für verloren geglaubtes Kopfhaar verordne ich Minoxidil, einen Blutdrucksenker.
Heinrichs Haar ist grau und schütter. Die Augenbrauen sind schwarz. Kein Lächeln, auch nicht, als er sagt: »Ein Gretchen.« Er beugt sich vor, im Gegenlicht des Halogens schimmert seine Kopfhaut. »Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, meinen Arm und Geleit ihr anzutragen?« Ich habe meinen Faust gelesen, aber Gretchens Erwiderung will mir nicht einfallen. Heinrich wartet vergebens, er wechselt Bein und Tonfall: »Ich habe Ihren Vortrag gehört, Frau Kollegin, Sie sind begabt«, er verzieht die Brauen, jetzt kummervolles V, »aber leider an die Praxis verloren.« Ein wenig schwimmen seine Augen, sie lösen sich, streifen mein Gesicht, meine Lippen, rollen abwärts zu meinem Busen. Ich senke den Kopf, meine Brust ist die eines Knaben.
Mein Mund ist trocken, die Lippen spröde: »Nein, nicht verloren, also nicht wirklich, ich führe Studien durch, in Zusammenarbeit mit der örtlichen Universität.«
Ich benetze die Lippen, hebe den leeren Kelch, Heinrich ergreift ihn. Seine Finger streifen meine. Auf dem Handrücken, zwischen kleinem Finger und Manschette des weißen Hemdes, ein Geflecht schwarzer Haare. Kein Ring.
»Vielleicht kann man etwas gemeinsam machen.« Die Stimme warm und tief, da verspüre ich einen Wunsch: Die fremde Hand möge meine umschließen, verharren, aber Heinrich lässt los, nickt mir zu, ich solle mich nicht vom Fleck rühren. Schon gar nicht mit anderen Männern sprechen.
Er macht kehrt, groß und schwer, das Haar muss tiefschwarz gewesen sein, bevor es ergraut ist, am Nacken ahnt man die ursprüngliche Farbe. Dort fällt es in Wellen bis zum zweiten Halswirbel. Der Anzug ist hellgrau, nicht billig, jedoch von der Stange, die Sohlen eine Spur abgelaufen. Die Kollegen weichen zurück, beinahe schwebt er durch die Menge. Er ist eine Koryphäe.
Da habe ich beschlossen: Ihn werde ich lieben.
Auch der Veranstalter ist verschwunden. Mir fällt der lachende Vogel ein: Grünspecht.
Niemand beachtet mich. Ich glätte mein Haar, das Kleid, das Abendtäschchen liegt auf dem Flügel. Nehme den Lipgloss, ziehe ihn über die Lippen, lege den Stift zurück.
Sie dürften ihm zu Füßen liegen, Sekretärinnen, Studentinnen, junge Frauen, sich einen Arbeitsplatz versprechen, den begehrten Ausbildungsplatz zur Fachärztin. Zu gewissen Anlässen, sagt man, trage er ein Schild am Revers: »Bitte Abstand halten. Keine Weiterbildungsstelle zu vergeben.«
Unmöglich kann er mich begehren. Ich spreche ein Stoßgebet: Möge er zurückkehren, seinen Irrtum nicht allzu bald bemerken, dabei sehe ich aus dem Fenster, als stünde der liebe Gott im Garten oder glitte in einem Boot über die im Zwielicht liegenden Wasser.
Endlich kommt er, über dem Kopf am ausgestreckten Arm zwei Becher. Er baut sich vor mir auf. »Wie ich höre, sind Sie verheiratet?« Im Becher Weißwein, der Sekt sei aus, nicht, dass das zu bedauern wäre, und: »Mit wem?«
»Nicht der Rede wert.« Ich ziehe es vor, die Wahrheit zu sagen. Meine Offenheit steht im Gegensatz zur Zartheit meiner Erscheinung. Männer verwirrt dies, nicht so Heinrich: Ob ich Kinder habe?
Ich schüttele den Kopf. Zwei deutsche Doggen. Die allerdings seien sehr besitzergreifend. Dass ich getrennt lebe, will ich sagen, doch Heinrich kommt mir zuvor: Wie alt denn Doggen werden?
Acht Jahre, bald seien sie fünf.
Sein Glas leert Heinrich in einem Zug: Dann müsse er drei Jahre warten, dazu sei er ohne Weiteres bereit, in der Zwischenzeit werde er Golf spielen, sein Handicap verbessern, und jetzt wolle er mit mir zum Buffet. Das mache zwar nicht viel her, der Veranstalter sei bekanntermaßen ein Geizkragen, aber Hunger habe er nun mal.
Er nimmt mich bei der Hand, zieht mich mit sich fort, gerade noch kann ich mein Täschchen nehmen. Die Jacke vergesse ich, Heinrichs Hand ist warm, da gibt es einen Ruck. Die Finger lösen sich, die fremde Hand entgleitet mir, der ganze Heinrich.
Er ist verschwunden.
Die Villa am Ufer des Wannsees stammt aus der Gründerzeit, einst handelte es sich um ein Wohnhaus, seit einigen Jahren wird es für Veranstaltungen genutzt, Fortbildungen, Vernissagen. Zu Beginn des Abends habe ich einen Rundgang gemacht, mich verlaufen, acht Zimmer im Erdgeschoss, zum Garten hin die Küche, ich habe Töpfe gesehen, in denen Suppe kochte. In der Veranda, den Flur entlang, nach rechts um die Ecke, das kalte Buffet, Heinrich hat doch Buffet gesagt?
Dort will ich auf ihn warten.
Vorbei an stattlichen Leibern, Fetzen von Gesprächen, Gelächter, mehrmals werde ich aufgehalten, die beneidenswerte Kollegin! Aus der Schweiz, wo der Rasen noch grün ist.
Im Flur vor dem WC eine muntere Schlange, Frauen und Männer gemischt, Becher in den Händen, hier werden Paarungen getroffen.
Dahinter der Durchgang zur Veranda. Auf langen Tischen vereinzelte Platten: Butter und Brot, Nudelsalat, Radieschen, Weintrauben, Wurst und Käse, Frikadellen, kleine Senftuben, zum Dessert: Dosenobst. Kein Heinrich, stattdessen ein Trüppchen von Herren fortgeschrittenen Alters. Nicht-Ärzte offenbar, ich kenne keines der rotwangigen Gesichter. Ich schreite die Tische ab, auf einem Stapel schlichtes, schweres Mietgeschirr, ich nehme einen Teller, pflücke einige Trauben, lege eine Scheibe schwitzenden Käses dazu, spüre die Blicke der Männer im Rücken, drehe mich um. »Guten Abend, die Herren.« Heinrich soll mich im Gespräch antreffen. Ich bin kein Mauerblümchen, ich bin: »Margarete Dorn, Plastische Chirurgie.«
Die Herren zeigen sich entzückt, sie sind älter, ich bin eine fremde, fast noch junge Frau.
Sie haben Bäuche, eine Fettabsaugung könnte Abhilfe schaffen, ich schätze das Volumen des abzusaugenden Gewebes; im Fall des rechts Stehenden ein knapper Liter, links einskommafünf, der Mittlere leidet an schwerer Fettleibigkeit, zweikommafünf.
Für den Eingriff verwende ich ausschließlich manuell bediente Saugspritzen, der degressive Sog ermöglicht gewebeschonendes Arbeiten, Gleiches gilt für den Gebrauch von Mikrokanülen (Durchmesser ein bis zwei Millimeter statt üblicherweise drei bis acht). Zwingend ist ihr Einsatz, wenn das abgesaugte Material zum Fetttransfer verwendet wird, üblicher Empfängerort: das männliche Glied.
Ich trete hinzu, gebe mich fidel: Mit wem ich es zu tun habe? Den Eingang behalte ich im Auge. Noch ist niemand hindurchgetreten, das Buffet ist berüchtigt, die Schlange vor dem WC verspricht größeres Vergnügen.
Die Männer werfen sich in die Brust, sie seien von der Industrie, Nummer eins: Skalpelle, Nummer zwei: Brustimplantate, Kochsalz, Nummer drei allerdings: ein Anlageberater. Wessen Geld er anlegen wolle, frage ich, deute vage auf das Buffet. Lautstarkes Gelächter. Der Anlageberater reicht mir einen Becher. Allerdings, ja, die Gesundheitsbranche sei reichlich angeschlagen. Und bitte schön. Ein spanischer Gran Reserva von Aldi. Er kaufe den auch gern für ungebetene Gäste, zwei Euro neunundneunzig, aber so übel sei der gar nicht.
Der Implantatmann rückt heran, er riecht nach Eau de Cologne. Ob ich forsche oder praktiziere?
Beides, sage ich und nehme eine Traube. Sie ist sauer.
Er: Worum es denn gehe bei meiner Wissenschaft?
Ich: Um den Mangel an Manneskraft. Um das ärztliche Bemühen, diesem abzuhelfen. Das Gelächter halbherzig.
Der Skalpellmann: Wie man es sich vorzustellen habe, mein ärztliches Bemühen.
»Penisvergrößerung«, sage ich. »Unter anderem.«
Der Anlageberater fasst sich in den Schritt.
Man möge mich entschuldigen, sage ich in die Stille, ich habe Patienten morgen. Das klingt gut und stimmt sogar, auch wenn die Sprechstunde erst um fünfzehn Uhr beginnt. Vorher, um dreizehn Uhr, werde ich mich selbst in Behandlung begeben.
Der Implantatmann sieht auf die Uhr. »Dann erlauben Sie wenigstens, dass ich Sie chauffiere«, und wohin es gehen solle. Ich nenne ihm mein Hotel, daraufhin der Anlageberater: Oha, fünf Sterne, jedenfalls sei ich auf das Honorar des Veranstalters nicht angewiesen.
Ich: Bei meinen Vorträgen gehe es um die Botschaft, und zwar jene: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Damit lasse ich sie stehen, stelle den Teller zurück, den unberührten Käse, trete auf den Flur. Der Implantatmann mir auf den Fersen. Er habe sich gar nicht vorgestellt, sein Name sei Johani. Jo-ha-ni.
Vor dem WC wird gesungen. Kein Heinrich unter den kreuzfidelen Schlangestehern. Ich erwäge eine Runde durch die übrigen Zimmer, da fasst mich Johani am Arm, ob ich einen Mantel habe, nein? Er zieht mich zur Haustür.
Ich kenne diese Art der Entschlossenheit. Meine zarte Erscheinung verleitet Männer zu der Annahme, man müsse sich meiner annehmen wie eines Kindes. Man greift mich bei der Hand, geleitet mich Stufen hinab, trägt mir auf Bahnhöfen, Flughäfen den Koffer. Für gewöhnlich reagiere ich nachsichtig und sehe davon ab, das Missverständnis aufzuklären.
Johani geht voran, acht Stufen hinab ins Freie. Achtung, ich möge nicht fallen. Er steht am Fuße der Treppe, die Arme ausgebreitet.
Ich strecke ihm die Hand entgegen.
Ein Kiesweg führt zur Pforte, es ist dunkel, eine laue Nacht Mitte Juni, um meinen Oberarm schützend Johanis Griff.
Am Straßenrand warten Taxis, die Partys des Veranstalters geben Anlass zur Hoffnung: Ärzte leiden an Depressionen, Burnouts, Suchterkrankungen, vor allem: Sie trinken.
Einige Häuser weiter unter einer Laterne, der Wagen des Vertreters. Eine schwere Karosse, koreanisch oder japanisch, vielleicht Lexus. Ein letztes Mal blicke ich mich um, der Gehweg liegt verlassen, da öffnet Johani die Beifahrertür, nimmt meinen Ellenbogen, vergewissert sich, dass ich sitze, fasst den Gurt, beugt sich über mich. Die Konvexität seines Leibes in meiner Konkavität, der Gurt schnappt zu. Er stemmt sich hoch, nickt, geht vorn um den Wagen, dabei zieht er den Bauch ein, zweikommafünf Liter. Er lächelt durch die Windschutzscheibe, steigt ein.
Wir sitzen im Halbdunkel. Nach einer Weile: Er sei verheiratet. Dabei sieht er geradeaus.
Ich betrachte sein Profil, das fliehende Kinn, gleich wird er die Hand auf mein Knie legen. Niemand soll behaupten, er habe seinen Familienstand verschwiegen.
Ich bin es gewohnt, von Männern angefasst zu werden, am Arm, an der Hüfte, gelegentlich an der Brust. Annäherungen, die unter der Wahrnehmungsschwelle bleiben. Erst, wenn primäre Geschlechtsteile das Ziel sind, schreite ich ein.
Wir fahren los, der Motor schnurrt, acht Zylinder oder zehn.
Johanis Hand verlässt den Schalthebel, hebt sich, scheint ein wenig zu zittern, verweilt in der Luft, sinkt auf mein Bein.
Ob er etwas fragen dürfe.
Ich wende den Kopf nach rechts, parkähnliche Grundstücke, hinter hohen Bäumen Gründerzeitvillen. »Natürlich.«
Ob er mich bitten dürfe, einen Blick auf sein Geschlechtsteil zu werfen. Als Fachfrau, versteht sich.
Sein Daumen bohrt sich in meinen Schenkel.
Ich sage: »Aber ja«, öffne ein Stück weit die Beine.
Die fremde Hand wandert nach oben.
Das Glockenkleid verrutscht, sexuelle Handlungen sind mir nicht zuwider, jedoch: Sie stimulieren mich nicht. Ich spüre kein Verlangen.
Mein Höschen ist aus Seide, schlicht, violett, die fremde Hand schiebt sich darunter. Ein kurzes Streicheln des Venushügels, das Haar ist nachgewachsen und kraus.
Das weibliche Geschlechtsorgan variiert in seinem Aufbau. Meine großen Schamlippen sind voluminös, umschließen die kleinen vollständig, die Spitze der Klitoris ragt heraus. Johani nimmt sie zwischen Daumen und Mittelfinger, stöhnt, ich schließe die Schenkel.
Weiter vorn die Leuchtreklame einer Tankstelle.
»Halten Sie dort an, Herr Johani«, sage ich, deute auf den Parkplatz, er zieht die Hand zurück, drosselt das Tempo, biegt ab, lässt den Wagen neben einer verlassenen Imbissbude ausrollen. Stellt den Motor ab, legt den Kopf zurück.
Ein Schriftzug blinkt rot, Currywurst, Döner, Berliner Kindl, rot blinkt Johanis Schoß.
»Zeigen Sie mir Ihren Penis.« Ich löse meinen Gurt.
Johani öffnet die Augen, macht sich an seiner Hose zu schaffen, das Glied, das er hervorholt, ist nur noch halb erigiert.
»Seien Sie unbesorgt, es handelt sich um eine Stressreaktion.« Ich hebe den Arm, schalte die Lesebeleuchtung ein, lehne mich über Johanis Unterleib, betrachte das abgeknickte Organ.
Normal bis leicht überdurchschnittlich groß, sage ich, obwohl eine Beurteilung unmöglich ist, eine Fettwulst verdeckt wesentliche Teile des Penisschaftes.
Leben kommt in Johani, er beugt sich über seinen Bauch. Wirklich, überdurchschnittlich?
Der Tag sei lang gewesen, sage ich, die Anfahrt von Zürich, der Vortrag, ob er mich bitte ins Hotel bringen könne?
Natürlich, natürlich, Johani verstaut sein Geschlecht, fährt sich über den Schädel, ordnet Reste von Kopfhaar, greift nach Zündschlüssel, Schalthebel.
Ich zupfe an meinem Glockenrock, bedecke die Knie, halte die Beine geschlossen.
Wir fahren, Schweigen bis zum Kurfürstendamm.
Ich frage Johani, wo er wohnt.
»In Potsdam.«
Ich: Oh, dann müsse er die ganze Strecke wieder zurück.
Er biegt in die Fasanenstraße. »Da wären wir.« Das Auto hält vor dem Hotel.
Eine gute Nacht, sagt Johani, und danke, er beugt sich über mich, küsst meine Wange. Gern geschehen, ich habe zu danken, da will Johani meinen Mund küssen.
Ich rieche Rotwein und Zahnfleischentzündung, wende den Kopf, öffne die Tür.
J.: »Warten Sie!« Er springt aus dem Wagen, flink auf meine Seite, hilft mir hinaus (in umgekehrter Reihenfolge wie zuvor). Im Freien keine weiteren Kussversuche, er gibt mir die Hand, möglicherweise kennt man ihn. Er ist ein verheirateter Mann.
Dann fährt er davon. Ich winke, nehme die Treppe zum Hauptportal, der Teppich ist weich und rot, meine Schuhe sind spitz, ich stolpere und falle. Bleibe hingestreckt liegen, der Portier springt herbei, hilft mir auf. »Madame! Alles in Ordnung?«
Madame setzt ihren Weg fort. Nichts ist in Ordnung, in meinen Augen Tränen. Es ist ein Unglück geschehen, oder vielmehr zwei: Heinrich ist mir abhandengekommen. Und zweitens: Er denkt, ich sei eine verheiratete Frau.
Nackt unter der Bettdecke, die Haut noch feucht, eben geduscht. Die Haare geflochten zu einem Zopf, neben mir auf dem Kopfkissen. Die Fenster meiner Suite sind geschlossen, die schweren Vorhänge zugezogen. Die Klimaanlage surrt. Es ist dunkel.
Ich berühre meine Brüste, stelle mir vor, es seien Heinrichs Hände, die den Bauch hinabwandern, seine Fingerspitzen, die am Ansatz des krausen Haars liegen bleiben.
Eine keusche Phantasie, Begierde ist mir fremd.
Meine Frigidität sei berufsbedingt, hat mir Franz erklärt, und: zu viele Schwänze, derer ich ansichtig werde. Da müsse einem der Trieb ja einschlafen. Franz ist mein Exmann.
Ich kann seinen Erklärungen nicht folgen, ich weiß, das Verlangen war nie da. Meine Reflexe funktionieren, bei mechanischem Reiz bin ich orgasmusfähig, jedoch: Ich empfinde keine Lust.
Vielleicht ein Mangel an Geschlechtshormonen, Androgenen, endogenen Opioiden. Ich begehre nicht, ich werde nicht feucht.
Darum morgen um dreizehn Uhr der Termin bei der Sexologin. Er ist längst überfällig.
Mir wird kalt. Ich bekomme eine Gänsehaut, ziehe die Decke der leeren Betthälfte über meine eigene, rolle mich zusammen.
Da ich lieben kann, kenne ich Sehnsucht. In den vergangenen Jahren war sie diffus. Heute ist sie konkret.
Ich könnte Heinrich in der Klinik kontaktieren, wenngleich mich die Vorstellung beschämt. Besser wäre ein zufälliges Treffen.
Andererseits: Fünfundvierzig Jahre hat es gedauert, bis wir uns begegnet sind.
Also doch eine geschäftliche Mail. Vielleicht könne man etwas gemeinsam machen, hat er gesagt, ich werde ihm ein Thema vorschlagen, er wird mich einladen.
Ich werde ein Kostüm tragen und Peeptoes, einzig die sorgfältig lackierten Zehen werden mein Ansinnen verraten.
»Lassen Sie uns eine Studie auflegen«, werde ich sagen, kerzengerade vor ihm sitzen, das Haar hochgesteckt, »zu den Auswirkungen der in jugendlichem Alter vorgenommenen, vollständigen und bleibenden Körperhaarentfernung mittels Laserepilation auf die Selbsteinschätzung des älteren Mannes.«
Heinrich besitzt Körperhaar, grau schimmert es dort, wo der oberste Hemdknopf offen steht. Grundsätzlich ist die Männerbrust von anlagebedingtem Haarausfall ausgenommen.
Er wird lächeln, er wird nicken, die Dinge werden ihren Lauf nehmen.
Auf meinem Nachttisch steht ein Rotwein, Geschenk des Hauses. Ich öffne den Schraubverschluss, trinke aus der Flasche.
Den pelzigen Geschmack des Merlots auf der Zunge schlafe ich ein.