Miriam Covi

Verliebt, verlobt, verplant

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über Miriam Covi

Miriam Covi wurde 1979 in Gütersloh geboren und entdeckte schon als Kind ihre Leidenschaft fürs Schreiben. Ihr erster Roman, im Alter von fünf Jahren geschrieben, wurde nie veröffentlicht. Zahlreiche unveröffentlichte Werke folgten, so dass Miriam hauptberuflich Fremdsprachenassistentin wurde und nach New York City zog, wo sie ihre Erlebnisse im Weblog »Mitten in Manhattan« auf der Internetseite der Zeitschrift »Brigitte« festhielt. Gemeinsam mit ihrem Mann lebte sie einige Zeit in Berlin, bevor das Paar aus beruflichen Gründen nach Rom zog.

Wenn ihre zwei kleinen Töchter sie kurz in Ruhe denken lassen, schreibt Miriam immer noch Romane, inzwischen nicht mehr nur für die Schreibtischschublade. Mehr über Miriam Covi findet man bei Facebook (www.facebook.com/miriamcoviautorin) und auf ihrer Homepage (www.miriamcovi.de), wo sie über ihr Leben als schreibende Mutter im Ausland bloggt.

Impressum

»Verliebt, verlobt, verplant« ist bereits 2015 unter dem Titel »Storchenhelfer« bei Knaur eBook erschienen.

 

© 2016 der eBook Ausgabe feelings – emotional eBooks

Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München

© 2015 Knaur eBook

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit
Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Redaktion: Alexandra Baisch

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: © FinePic®, München

ISBN 978-3-426-44099-5

 

 

 

 

Für Marco. Ich dich viel mehr!

Prolog

Ja, ich will dich heiraten!«

Zufrieden lächele ich Claas über den Tisch hinweg an. Das läuft ja wunderbar. Wir sind nicht einmal beim Hauptgang angekommen, und schon hat er mir den Antrag gemacht. Auf den ich, zugegeben, schon seit ein paar Monaten warte. Immerhin sind Claas und ich seit fünf Jahren zusammen. Ich bin fünfunddreißig, er ist achtunddreißig. Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir heiraten und eine Familie gründen? Schließlich macht frau das, wenn sie in meinem Alter ist und später nicht allein mit Katze unterm Weihnachtsbaum sitzen möchte. Sie fängt an, mit umständlichen Doppelnamen zu unterschreiben, ihren Eisprung zu berechnen, und wenn alles gut läuft, lächeln sie irgendwann zwei rosa Streifen auf dem Schwangerschaftstest an. Bisher starrte mir allerdings immer nur ein einzelner Streifen stur entgegen. Aber diesem einen Streifen habe ich den Kampf angesagt. Und mit einem Doppelnamen werde ich auch bald unterschreiben. Hilly Seebeck-Berger. Klingt doch gut, oder?

Ja, die Bemerkungen, die ich immer öfter zu diesem Thema habe fallenlassen, sind zum Glück nicht vergeblich gewesen. Endlich hat Claas es getan, endlich hat er mich gefragt. Glücklich betrachte ich sein vertrautes Gesicht mit den markanten Zügen, den graumelierten Schläfen, dem energischen Grübchen im Kinn. Seine hellblauen Augen mustern mich … hmm, ein bisschen erschrocken?

»Jetzt sag bitte nicht, dass du den Ring vergessen hast.« Ich lasse die Bruschetta-Scheibe, die ich gerade zum Mund führen wollte, sinken.

Claas antwortet nicht. O nein. Er wird doch nicht …? Ich starre in das Durcheinander aus Tomatenwürfeln auf der knusprigen Brotscheibe in meiner Hand. Nein, da blitzt nirgendwo Platin auf. Und ich hoffe doch sehr, dass es Platin wäre, wenn sich ein Verlobungsring in meinem Essen verstecken würde. Ich trage zwar kaum Schmuck, doch wenn, dann ausschließlich Silber. Silber sieht gut aus zu meinem blassen Teint, dem hellroten Haar, den grauen Augen. Und zu Silber passt nun einmal ein Verlobungsring aus Platin am besten. Und zu mir passt ganz besonders gut der Platinring mit dem eckig geschliffenen Diamanten, den ich Claas im Schaufenster von »Winter & Söhne« gezeigt habe. Doch weder zwischen den Tomatenwürfeln noch sonst irgendwo auf meinem Teller ist ein Ring zu sehen. Worüber ich wirklich froh bin, denn wer möchte schon ein Schmuckstück tragen, das nach Knoblauch stinkt?

Claas räuspert sich. »Hilly«, murmelt er und legt seine Gabel neben den Teller.

»Ja?« Fragend schaue ich von meiner Bruschetta auf. Er weicht meinem Blick aus, als er sagt: »Ich … ähm … also …«

Warum sieht Claas denn plötzlich so blass aus? Was ist los? Wenn er sich weiter so viel Zeit lässt, gerät mein Ablaufplan für heute Abend durcheinander. Noch während des Hauptgangs wollte ich mit ihm besprechen, wie wir weiter in Sachen Kinderwunsch vorgehen. Schließlich bin ich diejenige in unserer Beziehung, die stets den nächsten Schritt plant. Würde ich dies Claas überlassen, wäre ich sicherlich bis heute nicht bei ihm eingezogen. Wenigstens hat er sich nun endlich dazu durchgerungen, um meine Hand anzuhalten, so dass ich auf meiner To-do-Liste »Weitere Lebensplanung« einen Punkt werde abhaken können: Verlobung mit Claas. Und hoffentlich bald einen weiteren – wenn ich erst einmal den Kampf gegen den einsamen Streifen auf den Schwangerschaftstests gewonnen habe. Was ich mir fest vorgenommen habe, und wenn ich mir etwas fest vornehme, schaffe ich es für gewöhnlich auch.

Obwohl wir bislang weder verheiratet noch verlobt sind (doch, jetzt sind wir es, ha!), arbeiten Claas und ich seit geraumer Zeit daran, ein Baby zu bekommen.

Ich bin zwar für die Ehe, aber von mir aus kann auch erst der Nachwuchs kommen und dann geheiratet werden. Claas scheint das ebenso zu sehen, schließlich bemüht er sich seit über einem Jahr, mich zu schwängern, und hat bislang trotzdem nicht um meine Hand angehalten. Mir ist völlig klar, dass ich genauso gut ihn fragen könnte, ob wir heiraten wollen, aber ein bisschen Tradition ist mir dann doch wichtig, auch wenn ich in allen anderen Lebenslagen äußerst emanzipiert bin. Ich habe Claas schon ein paarmal gesagt, dass er mir nicht die Tür aufzuhalten braucht, dass ich allein meine Koffer die Treppe hinauftragen kann und dass ich genauso wenig in der Lage bin wie er, ein unfallfreies Gericht zu zaubern, und wir daher entweder kalt essen oder uns etwas bestellen müssen. Aber eines habe ich ihm klargemacht: Ich möchte einen Heiratsantrag plus Ring bekommen. Dieses Minimum an Romantik hat gerade noch Platz in meinem kitschfreien Leben.

Aber zurück zum Thema Kinderwunsch – den ich übrigens nicht hege, weil ich irgendeiner Erfüllung im Leben hinterherrenne. Diese Erfüllung gibt es längst: meine Arbeit als Anwältin. Aber es ist nun einmal so, dass Frauen leider nicht ewig Babys bekommen können, Emanzipation hin oder her. Und da ich mich in zehn Jahren nicht in den Hintern beißen möchte, weil ich den optimalen Zeitpunkt verpasst habe, muss ich mich jetzt ranhalten. Auch wenn die Familienplanung mit meinen Plänen, möglichst bald Partnerin in meiner Kanzlei zu werden, kollidiert.

Doch bisher bin ich, Hilly Seebeck, trotz des detaillierten Plans auf dem Flipchart in unserem Schlafzimmer nicht schwanger. Was laut meiner Gynäkologin nicht unbedingt an mir liegen muss. Zumindest gibt es keinen offensichtlichen Grund – wenn man von meinem »fortgeschrittenen Alter« mal absieht. Ja, so hat sie es tatsächlich genannt. Mit fünfunddreißig habe ich ein Alter erreicht, in dem meine Eizellen ihre besten Tage längst hinter sich haben.

»Ein kleines Mädchen wird mit rund einer Million Eizellen in den Eierstöcken geboren«, erklärte mir Frau Dr. Weiß und deutete dabei auf das Plastikmodell eines weiblichen Unterleibs, das vor ihr auf dem Schreibtisch stand.

»Aber schon in der Pubertät hat das Mädchen nur noch rund vierhunderttausend Eizellen, und ab dieser Lebensphase verliert frau Monat für Monat rund tausend Eizellen. Außerdem nimmt mit dem Lebensalter die Qualität der Eizellen ab. In Ihrem Alter ist nur noch jede zweite bis dritte Eizelle chromosomal einwandfrei.«

Eine Nachricht, die mich nicht unbedingt beschwingt aus der Praxis gehen ließ.

Es könnte also an meinen nicht mehr taufrischen Eizellen liegen, dass ich nach wie vor nicht schwanger bin – trotz Ermittlung meiner fruchtbaren Tage, warmer Socken beim Sex und »befruchtungsfreundlicher« Stellungen. Es könnte allerdings auch an Claas’ Sperma liegen, was bisher nicht untersucht wurde. Also habe ich heute einen Termin für ihn in Berlins renommiertester Kinderwunschpraxis am Alexanderplatz ausgemacht. Doch bisher habe ich ihm nichts davon erzählt – weshalb wir dringend mit dem Heiratsantrag vorankommen sollten, um zum Thema Nachwuchs wechseln zu können.

»Claas? Ist etwas mit deinen Crevetten nicht in Ordnung? Du siehst irgendwie nicht gut aus.«

Claas räuspert sich umständlich. »Hilly …« Er nimmt die Serviette von seinem Schoß und knüllt sie neben seinem Glas zusammen. Das schlechte Gewissen steht ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Er sieht aus wie letztes Jahr an meinem Geburtstag, als er unser gemeinsames Abendessen wegen einer Telefonkonferenz mit Kanada absagen musste, die länger dauerte als gedacht.

»Du hast den Ring nicht bekommen, oder? Den Platinring, den ich dir gezeigt habe? War er ausverkauft? Falls es ihn nicht in meiner Größe gab, ist das kein Problem, man kann ihn bestellen. Das hat die Verkäuferin dir hoffentlich gesagt?«

»Hilly, ich will dich nicht heiraten.«

Ich lasse das Rotweinglas sinken, nach dem ich gerade gegriffen hatte. Erstaunt sehe ich Claas an. Bekommt er etwa kalte Füße, oder was soll dieser plötzliche Rückzieher?

»Wie bitte?«

»Du hast mich eben falsch verstanden. Ich habe gar nichts vom Heiraten gesagt.«

»Aber du …« Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und weiß, dass jetzt diese steile Falte zwischen ihnen entsteht. »Natürlich hast du das.«

»Nein. Ich habe nur gesagt: ›Hilly, ich weiß nicht, wie ich es am besten sagen soll.‹«

»Eben. Ich dachte, du wüsstest nicht, wie man einen Heiratsantrag formuliert.«

Claas lacht auf, klingt dabei aber eher nervös als amüsiert. »Wieso sollte ich das denn nicht wissen?«

»Na, vielleicht weil du noch nie einen gemacht hast?« Ich atme tief durch und nehme einen Schluck Wein. Claas sieht mich stumm an, als ich in ruhigerem Tonfall fortfahre: »Außerdem sind wir im ›La Famiglia‹. Erst letzte Woche ist in der Berliner Zeitung ein Artikel zu diesem Lokal erschienen, in dem stand, dass hier gern Heiratsanträge gemacht werden – nicht nur wegen der hervorragenden Küche, sondern vor allem, weil die Tische in den Nischen ein wenig Diskretion bieten. Und wir sitzen in einer Nische! Und du hast diesen Tisch reserviert, also dachte ich … Das hier wäre der optimale Platz, um mir den Ring zu überreichen, den ich dir so oft gezeigt habe! Ich sehe schon, am besten kaufe ich ihn gleich selbst, schließlich organisiere ich auch sonst alles allein.«

»Ja.« Claas seufzt tief. »Genau da liegt das Problem, Hilly.«

Ich spüre, wie sich die Furche zwischen meinen Brauen vertieft. »Welches Problem?«

»Du planst einfach alles. Nicht nur dein Leben, sondern auch meins.«

»Ach komm …«, beginne ich, um mit Nachdruck zu widersprechen. Dann jedoch fällt mir ein, dass Claas einen Termin in einer Kinderwunschpraxis hat, von dem er noch gar nicht weiß. Ich muss schlucken. Aber hätte ich ihn gefragt, hätte er garantiert nein gesagt! Schließlich habe ich ihn schon einmal auf diese Möglichkeit angesprochen, und er war dagegen. Er wolle nicht, dass irgendeine Sprechstundenhilfe belustigt in den Becher mit seinem Sperma schiele, hat er gesagt, und ich habe ihn deswegen ausgelacht.

Claas fährt sich mit einer Hand über das dunkle Haar, das wie üblich glatt nach hinten gegelt ist. Ich mag sein Haar, wenn es so ordentlich liegt wie jetzt. Überhaupt mag ich diesen Mann sehr. Er passt einfach gut zu mir. Und ich passe gut zu ihm. Wieso also haben wir diese lächerliche Diskussion? Wir sollten über unseren Kinderwunsch sprechen, wenn wir schon mit dem Heiratsantrag nicht vorankommen. Wenigstens einen der Punkte auf der Liste »Weitere Lebensplanung« möchte ich endlich abhaken können! Doch von einem Baby sind wir gerade wohl noch weiter entfernt als sonst. Das wird mir klar, als Claas seine Stirn krauszieht und mich ernst ansieht.

»Hilly, du überlässt mir nicht einmal, wann und mit welchem Ring ich um deine Hand anhalten möchte.«

»Aber – du könntest natürlich auch einen anderen Ring kaufen! Aus Platin sollte er allerdings schon sein. Und mit einem eckig geschliffenen Diamanten. Und bei ›Winter & Söhne‹ gibt es einfach die beste Auswahl. Aber wenn du einen anderen Juwelier besser findest, dann …«

»Hilly, ich möchte dir keinen Antrag machen. Ich kann das einfach nicht mehr.«

Ich schaue Claas an. Sein linkes Augenlid zuckt, wie immer, wenn er nervös ist. Ich kann mich genau daran erinnern, wie es bei unserer ersten Verabredung gezuckt hat, bei unserer Museumstour während der »Langen Nacht der Museen«. Bei unserem ersten Kuss, vor dem Eingang des Pergamonmuseums. Beim ersten Mal, als wir im Bett gelandet sind, nach unserem vierten Date. Besonders stark hat Claas’ linkes Augenlid gezuckt, als er zum ersten Mal mit mir nach Hannover gefahren ist, um meine Eltern kennenzulernen. Was ich verstehe. Wenn mein Augenlid bei Nervosität zucken würde, dann sicher auch in meinem Elternhaus.

»Was kannst du nicht mehr, Claas?«

»Mit dir zusammen sein.«

Fassungslos starre ich ihn an. Hat er das gerade wirklich gesagt? Das kann nicht sein. Wir sind doch glücklich! Wir haben doch Pläne! Ich fahre mir mit der Zunge über die Lippen. Das mache ich, wenn ich nervös bin.

»Wieso?« Himmel, ist das meine Stimme, die da so krächzt? Ich räuspere mich und wiederhole, diesmal klar und deutlich, wie wenn ich mit meinen Mandanten spreche: »Wieso, Claas?«

Claas atmet tief durch, nimmt einen großen Schluck Rotwein. »Ich habe mich in jemand anderen verliebt.« Noch ein Schluck Wein, den er viel zu schnell hinunterkippt, als wollte er sich in Windeseile Mut antrinken. »Ich habe mich verliebt, und wir sind schon eine Weile zusammen. Ich wollte es dir seit einiger Zeit sagen, aber es hat sich nie die Gelegenheit ergeben.«

Er atmet tief aus, greift nach seiner Gabel und schiebt ein paar Crevetten auf seinem Teller herum.

Ganz mechanisch führe ich mein Rotweinglas zum Mund, nehme einen Schluck. Dann sehe ich Claas in die hellblauen Augen und frage: »Wie lange genau?«

Er zögert kurz, wendet den Blick ab, widmet sich wieder den Crevetten auf seinem Teller. Dann sagt er: »Äh … seit knapp zwei Monaten.«

Ich blinzele. Das haut mich jetzt wirklich um. Damit Claas das nicht merkt, beiße ich von meiner Bruschetta-Scheibe ab und kaue konzentriert. Um ehrlich zu sein, hätte ich meinem Freund gar nicht zugetraut, dass er es wagt, eine Affäre zu haben. Dass er das organisatorisch hinbekommt, ohne dass ich es merke. Immerhin knapp zwei Monate lang! Ich schlucke den Bissen hinunter und frage: »Du lebst und arbeitest mit mir zusammen und hattest seit zwei Monaten keine Gelegenheit, mir zu sagen, dass du in eine andere Frau verliebt bist?«

Mit einem bitteren Lachen lässt Claas die Gabel sinken und sagt: »Hilly, wir arbeiten beide oft bis zu 80 Stunden in der Woche, nie ist im Büro Zeit für ein paar private Worte. Wann sollte ich es dir denn sagen? Heute ist der erste Abend seit drei Wochen, an dem wir uns länger als eine Viertelstunde unterhalten. Was übrigens auch ein Grund dafür ist, warum es mit uns nicht weitergehen kann.«

»Ach, und daran bin ich schuld? Du arbeitest doch genauso viel wie ich!«

»Nein, wenn ich bis 21 Uhr im Büro bin, bleibst du garantiert bis 22 Uhr. Nur, um auch ja länger als die ganzen männlichen Anwälte da zu sein.«

»Tja, anders kommt man als Frau leider nicht weiter in diesem Job! Wir werden doch eh nur als wandelnde biologische Uhren gesehen, darum müssen wir uns besonders ins Zeug legen, um zu zeigen, was wir draufhaben. Außerdem, seit wann stört es dich, dass ich meine Karriere ernst nehme? Ich dachte, du möchtest eine erfolgreiche Frau haben! Und du siehst mich doch Tag für Tag im Büro, wir gehen häufig zusammen in die Mittagspause …«

»… wenn du überhaupt eine Mittagspause machst, Hilly. Meistens isst du doch nur ein belegtes Brötchen an deinem Schreibtisch, um nicht so viel Zeit zu vertrödeln, wie du es nennst.«

Ich hole tief Luft, darum bemüht, sachlich und ruhig zu bleiben. »Okay, du hast recht, ich hatte in den letzten Wochen ziemlich viel um die Ohren und habe mir nicht immer die Zeit für eine richtige Mittagspause genommen, weil Fristen nun einmal einzuhalten sind, was ich dir ja wirklich nicht erklären muss. Aber allein letzte Woche waren wir zum Beispiel zweimal gemeinsam mittags essen.«

Claas seufzt. »Richtig. Einmal hast du während des gesamten Essens per Smartphone an einer Telefonkonferenz teilgenommen und beim zweiten Mal ständig E-Mails getippt.«

»Die wirklich wichtig waren! Gerade du solltest doch wohl wissen, dass man mit Singapur nur bis zum frühen Nachmittag kommunizieren kann, oder? Wenn es nach mir ginge, gäbe es keine verschiedenen Zeitzonen, das kannst du mir glauben. Und jetzt hör bitte auf, deine Crevetten im Kreis herumzuschieben, das macht mich wahnsinnig!«

»Hilly.« Claas legt seine Gabel zur Seite und sieht mich an. Sein Augenlid zuckt stärker. »Sei ehrlich. Was haben wir denn für eine Beziehung? Wir hatten seit über einem Monat keinen Sex mehr, Himmel noch mal!«

Der Kellner, der sich gerade unserem Nischen-Tisch nähern wollte, dreht bei dem Wort »Sex« diskret wieder ab und verschwindet. Ich blicke ihm kurz irritiert hinterher und korrigiere Claas dann in gedämpftem Tonfall: »Seit drei Wochen und drei Tagen.« Das weiß ich so genau, weil in unserem Schlafzimmer ein Flipchart mit einem Sex-Plan steht. Ein Sex-Plan, der sich nach meinem Zyklus richtet. Ein Gedanke schnellt in mein Bewusstsein. Darum bemüht, mit ruhiger Stimme zu sprechen, frage ich Claas: »Du hast also nach wie vor mit mir geschlafen – zumindest bis vor drei Wochen und drei Tagen –, obwohl du schon etwas mit einer anderen Frau laufen hattest?«

Claas erwidert schweigend meinen Blick. Schließlich starrt er betreten auf seine Hände. Er hat schöne Hände. Feingliedrig wie die eines Pianisten. Ich liebe es, wenn seine Finger über die Tastatur seines Laptops fliegen. Oder über meinen Körper streichen, wie sie es so oft zärtlich getan haben. Unmöglich, dass er nun mit einer anderen Frau zusammen sein will. Das kann nicht sein Ernst sein.

»Es tut mir leid«, sagt Claas, ohne mich anzusehen.

Nachdenklich mustere ich ihn, seine breite Stirn mit dem Beginn von Geheimratsecken, die ausgeprägte Denkerfalte über den Augenbrauen, die ich so sexy finde. Okay, sage ich mir. Okay. Ganz sachlich bleiben, Hilly. Er hat eine Affäre, das ist nichts Außergewöhnliches. Passiert alle naselang, gehört schon fast zum modernen Beziehungsleben dazu, so wie Kinderwunschbehandlung und Paartherapie. Kein Grund, gleich die Flinte ins Korn zu schmeißen.

Während ich überlege, wie ich jetzt weiter vorgehen muss, fällt mein Blick auf ein Basilikumblättchen, das neben meiner angebissenen Bruschetta-Scheibe liegt. Aus irgendeinem irrationalen Grund glaube ich für den Bruchteil einer Sekunde, hinter diesem Blättchen könnte sich womöglich doch mein Verlobungsring verbergen. Das Ganze könnte ein Scherz sein. Ein ziemlich geschmackloser Scherz, ja, aber Claas weiß schließlich, dass ich hart im Nehmen bin. Dass ich eine Frau bin, die mit drei älteren Brüdern aufgewachsen ist. Die nie Liebeskomödien mit Happy-End-Garantie schaut, Kuschelrock-CDs hasst, von Duftkerzen und Rosen Kopfschmerzen bekommt, keine Blumenvasen und lediglich ein Sommerkleid besitzt. Und das ist schwarz mit weißem Karomuster und nicht etwa verspielt getupft oder gar geblümt. Ich bin eine Frau, die das letzte Mal geweint hat, als ihre Großtante vor fünfeinhalb Jahren gestorben ist.

Ich starre immer noch auf das Basilikumblättchen. Schiebe es mit dem Zeigefinger zur Seite. Nein, kein Ring. War ja klar. Wieso sollte Claas irgendwelche Spielchen mit mir spielen? Das passt nicht zu ihm. Und zu mir passt es nicht, so lange über einen nicht erfolgten Heiratsantrag nachzudenken. Stattdessen sollte ich schleunigst eine To-do-Liste zur Rettung unserer Beziehung anlegen.

»Oh! Ja! Ja, ich will dich heiraten!«

Claas’ Kopf fährt in die Höhe, wir starren uns an. Aus einer der anderen Nischen dringt freudiges Frauenkreischen. »Und genau so einen Ring wollte ich immer haben! Woher wusstest du …?«

So viel zu diskreten Nischen-Plätzen. Muss diese Frau so laut kreischen? Ich habe noch nie verstanden, wie manche Leute in der Öffentlichkeit derart die Beherrschung verlieren können. Ich schlucke und versuche, nicht mehr an den Ring zu denken, den ich selbst heute Abend nicht bekommen habe. Oder an die andere Frau. Nein, nicht die in der Nachbarnische. An die Neue in Claas’ Leben.

»Mir ist der Appetit vergangen«, sage ich in beherrschtem Tonfall und lege meine Serviette zur Seite.

Claas ist blass geworden. Er fingert mit einer Hand an seinem linken Auge herum, um sein Lid am Zucken zu hindern. Ich räuspere mich.

»Ich werde jetzt nach Hause fahren. Und du solltest darüber nachdenken, was du im Leben willst. Mich – oder diese andere Frau.«

Erhobenen Hauptes stehe ich auf und streife mir mechanisch den Riemen meiner Handtasche über die Schulter. Claas erhebt sich ebenfalls.

»Hilly, hör mal, ich …« Ich spüre, dass er nach meiner Hand greift, doch ich schüttele ihn ab.

»Nicht hier!«, sage ich leise, denn schon wieder schaut ein Kellner zu uns herüber, und aus der anderen Nische ist überschwengliches, freudiges Gesülze zu vernehmen. Wer weiß, was die anderen Restaurantbesucher bereits von unserem unerfreulichen Gespräch mitbekommen haben. Wie unangenehm.

»Wir reden zu Hause weiter. Ich fahre mit dem Auto, du kannst ein Taxi nehmen. Und vergiss nicht, meinen Hauptgang zu stornieren. Falls es dafür nicht zu spät ist.«

Ich nehme den Autoschlüssel, der neben Claas’ Weinglas liegt, und verlasse entschlossenen Schritts das Lokal. Draußen gehe ich zügig Richtung S-Bahnhof Hackescher Markt. Einen Moment lang frage ich mich, ob Claas mir folgen, mir sagen wird, dass diese Sache mit der anderen Frau ein großer Fehler war, dass ich die Richtige für ihn bin. Doch der Einzige, der mir auf dem Bürgersteig ein Stück hinterherläuft, ist einer dieser penetranten Verkäufer des »Straßenfeger«, einer Berliner Obdachlosen-Zeitschrift. »Hey, Puppe, kaufst du ’nem Kerl ohne Dach überm Kopf vielleicht ’ne Zeitschrift ab?«

Ich ignoriere ihn, während ich kurz stehen bleibe und überlege, wo wir vorhin geparkt haben. Es ist gut so, dass Claas mich allein nach Hause fahren lässt, denke ich, als ich auf seinen schwarzen BMW zusteuere. Schließlich habe ich ihm das gesagt, und er respektiert meinen Willen. Außerdem tut es ihm bestimmt gut, allein im Lokal zu bleiben und über seinen Fehler nachzudenken.

Kapitel 1

Ich fasse es einfach nicht, dass Claas letzte Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Wie kann er bloß so etwas machen? Dabei war ich mir hundertprozentig sicher, dass er bald nach mir durch die Eingangstür unserer schicken Wohnung in Berlin-Mitte kommen und sich reuevoll für sein Verhalten entschuldigen würde. Doch das Einzige, was eintraf, war eine SMS von ihm:

 

Hilly, ich wollte nicht, dass dieser Abend so endet. Ich hätte dir gern in Ruhe alles erklärt. Aber vermutlich ist es besser, wenn wir ein wenig Abstand haben und du alles verarbeiten kannst. Ich übernachte woanders. Wir sehen uns morgen im Büro. Gute Nacht!

 

Als ich die Nachricht gelesen hatte, hätte ich gern meine ewige Beherrschung über Bord geworfen und das Telefon an die Wohnzimmerwand geschleudert. Dann jedoch fiel mir ein, dass es sich um ein Firmen-Smartphone handelte und es wenig ratsam war, Eigentum von »Johnson & Baker« zu zerstören. Also warf ich das Telefon lediglich aufs Sofa und atmete tief durch. Er war also zu feige, um mir nach Hause zu folgen und sich für seine Affäre zu rechtfertigen. Sich zu entschuldigen. Er würde »woanders übernachten«. War ja wohl klar, dass er nicht in ein Hotel eincheckte oder in seinem Büro auf dem Sofa schlief. Und Freunde, bei denen er spontan übernachten konnte, hatte Claas in Berlin nicht. Genauso wenig wie ich.

Nun, am nächsten Morgen, sitze ich im Büro und versuche nach wie vor zu begreifen, was da gestern Abend geschehen ist. Wie mein so gut geordnetes Leben derart durcheinandergeraten konnte. Ich mag kein Durcheinander. Überhaupt nicht. Gedankenverloren starre ich auf meinen Bildschirm, ohne wirklich etwas zu sehen. Dabei gäbe es dort viel zu sehen, das weiß ich genau. Mindestens vierzig ungelesene E-Mails leuchten mir entgegen. Der Leasingvertrag über drei neue Containerschiffe liegt vor mir auf dem Schreibtisch und wartet darauf, wie üblich schnell und akribisch durchgesehen zu werden. An jedem anderen Morgen hätte ich um diese Uhrzeit – zwanzig nach acht – längst zahlreiche handschriftliche Änderungen im Vertragstext vermerkt, die meine Assistentin, Nele Kramer, dann an ihrem Schreibtisch im Durchgangszimmer vor meinem Büro in das elektronische Dokument einarbeiten würde. Schließlich liebe ich Leasingverträge. Sie sind logisch aufgebaut, folgen stets demselben Muster, lassen keinen Platz für unangenehme Überraschungen. Zumindest dann nicht, wenn man als Anwältin seinen Job gut macht. Und das mache ich. Nur heute nicht.

Ich habe genau gemerkt, dass Frau Kramer etwas irritiert war, als sie mir eben meine Post hereingebracht hat und keinen überarbeiteten Vertrag mitnehmen konnte.

Okay, so geht das nicht weiter. Entschlossen öffne ich eine E-Mail. Ich habe doch sonst nie Konzentrationsprobleme, wenn ich im Büro bin. In dieser Hinsicht bin ich ziemlich männlich, wie Claas immer sagt: Wenn ich arbeite, schalte ich mein privates Ich ab. Allerdings gibt es da sowieso nicht sehr viel abzuschalten. Den Haushalt daheim erledigt unsere Putzfrau. Da Claas und ich am Wochenende meistens arbeiten, müssen wir nicht weiter über die sinnvolle Gestaltung unserer Freizeit nachdenken. Einladungen zu Geburtstagspartys sind sehr selten, da wir in Berlin bisher keinen Freundeskreis aufgebaut haben. Wie auch, wenn wir ständig arbeiten? Aber er fehlt mir eigentlich nicht, dieser Freundeskreis. Ist doch eher lästig, sich ständig Gedanken über Geburtstagsgeschenke machen zu müssen. Folglich bekomme ich kaum private E-Mails, und ich habe kein Facebook-Profil, weshalb ich nie in die Versuchung gerate, im Büro privat im Internet zu surfen. Auch ans Einkaufen denke ich während der Arbeitszeit nicht. Warum auch? Wenn ich abends das Büro verlasse, hole ich mir auf dem Heimweg meistens einen Döner oder etwas vom China-Imbiss. Wenn ich nach Hause komme, hat Claas bereits dasselbe getan und sitzt noch mit einem Glas Wein vor dem Heute Journal.

Doch heute lässt sich mein privates Ich nicht einfach so abstellen, sondern hindert mich daran, die E-Mail, die ich gerade geöffnet habe, nicht nur zu lesen, sondern auch zu verstehen. Irritiert wende ich meinen Blick vom Computer ab. Ich schiebe den Leasingvertrag von einer Ecke meiner Schreibtischunterlage zur anderen und starre auf das gerahmte Foto, das neben meinem Computerbildschirm steht. Es ist das einzig Private in meinem Büro, und ich habe es erst aufgestellt, nachdem Claas beleidigt behauptet hatte, ich würde versuchen, unsere Beziehung den Kollegen gegenüber geheim zu halten. Das war vor viereinhalb Jahren, da waren wir erst seit ein paar Monaten zusammen. Dabei habe ich nie versucht, irgendetwas geheim zu halten. Aber wozu das Ganze demonstrativ zur Schau stellen? Im Büro ist man schließlich, um zu arbeiten. Nicht, um mit seinem Liebsten herumzuturteln und den Schreibtisch mit kitschigen Kuss-Fotos vor untergehender Sonne zuzupflastern. Und auch ohne diese Kuss-Fotos wussten sowieso fast alle in meiner Abteilung (Asset Finance) und in Claas’ Abteilung (Steuerrecht) ziemlich schnell, dass er und ich ein Paar waren. Kunststück, denn unsere Abteilungen sind in derselben Etage des schicken Hochhauses von »Johnson & Baker« am Potsdamer Platz untergebracht.

»Johnson & Baker« ist eine international tätige Wirtschaftskanzlei mit Sitz in London und 25 Standorten in 13 Ländern. Weltweit sind rund 3000 Rechtsanwälte für unsere Kanzlei tätig, und am Standort Berlin bin ich eine von ihnen. Und zwar eine sehr gute, wie ich in aller Bescheidenheit hinzufügen möchte. Dass ich so gut bin, liegt vor allem daran, dass mir meine Arbeit sehr viel Spaß macht.

Direkt nach dem Jurastudium habe ich zunächst als Anwältin bei einer kleineren Wirtschaftskanzlei in Düsseldorf begonnen. Dort war ich für den Bereich Gesellschafts- und Handelsrecht zuständig und erkannte schnell, dass ich mein Leben nicht damit verbringen wollte, Mandanten zu beraten, die nicht wussten, ob sie eine GmbH oder eine GmbH & Co. KG gründen wollten. Ich suchte etwas Spannenderes, etwas Internationaleres. Also bewarb ich mich bei einigen Großkanzleien und bekam schließlich meine Traum-Stelle bei »Johnson & Baker«.

Es fiel mir nicht schwer, mit neunundzwanzig Jahren ein paar Umzugskartons zu packen und nach Berlin zu ziehen, denn privat kannte ich sowieso kaum jemanden in Düsseldorf. Ja, schon damals saß ich lieber bis in die Puppen im Büro, anstatt in der Düsseldorfer Altstadt ein Alt trinken zu gehen und mit den Kollegen aufs »Du« anzustoßen. Was den Abschied, wie gesagt, sehr viel leichter machte.

Ich war so stolz, weil eine renommierte Kanzlei wie »Johnson & Baker« mich eingestellt hatte, und glücklich, weil ich endlich in dem Feld arbeiten konnte, das mich schon immer am meisten gereizt hatte: Asset Finance. Fortan drehte sich meine Welt um die Finanzierung von Flugzeugen und Schiffen, um Leasing- und Darlehensverträge. Ich arbeitete eng mit großen Reedereien und Fluggesellschaften zusammen und war in meinem persönlichen Karriere-Himmel angekommen.

Als ich dann auch noch Claas Berger sehr viel näher kam, als Kollegen dies eigentlich tun sollten, ging es in privater Hinsicht ebenfalls bergauf. Zum Glück, schließlich war ich fast mein ganzes Studium über Single gewesen, weil neben dem Lernen keine Zeit für die Liebe blieb. Ein Jurastudium macht sich schließlich nicht von selbst – schon gar nicht, wenn man einen exzellenten Abschluss anstrebt. Eigentlich trenne ich Berufliches und Privates ja gern, wie bereits erläutert. Doch eine Beziehung mit einem Kollegen bringt einfach viele Vorteile mit sich, die ich nicht von der Hand weisen konnte: derselbe Arbeitsweg, ähnliche Arbeitszeiten, Verständnis für Überstunden und Wochenenden im Büro, gleiche Interessen und Gesprächsthemen. Und wenn man zum Beispiel sagt: »Heute war Tobias Feldgen wieder so ein Vollidiot …«, weiß der andere sofort, um wen es geht.

Allerdings möchte ich betonen, dass Claas und ich uns keineswegs in eine dieser kopflosen Büro-Affären gestürzt haben – und das, obwohl wir in der stressigen Endphase eines besonders arbeitsintensiven Auftrags oft zu zweit bis vier Uhr morgens über Unterlagen brüteten. Es war nicht so, dass wir die Finger nicht voneinander lassen konnten. Vielmehr imponierten mir Claas’ scharfer Verstand, seine Besonnenheit, seine fachliche Kompetenz. Das wäre der passende Mann für dich, sagte ich mir. Noch dazu sah er ziemlich gut aus. Und so fragte ich ihn eines Nachts um halb drei, als wir gemeinsam auf den Fahrstuhl warteten, um endlich Feierabend (oder besser Feiermorgen) zu machen, ob er mit mir zur »Langen Nacht der Museen« gehen würde. Ich lebte damals erst seit einem knappen Jahr in Berlin und hatte noch kein Museum der Hauptstadt von innen gesehen. Die Vorstellung, dass man sich die Museen nachts ansehen konnte, reizte mich – schließlich verbrachte ich die meisten Wochenenden im Büro und hatte tagsüber keine Zeit für touristische Highlights.

Claas sagte ja, und nur zwei Nächte später küsste er mich vor dem Pergamonmuseum.

Unsere Beziehung blieb auch deshalb nicht lange ein Geheimnis, weil wir sie offiziell von den Partnern in unseren Abteilungen – Dr. Anselm Möller im Bereich Steuern und Constanze Roth, meiner Chefin, im Bereich Asset Finance – absegnen lassen mussten. Hätten Herr Dr. Möller oder Frau Roth etwas dagegen gehabt, dass zwei ihrer Anwälte privat ein Paar waren, hätten entweder Claas oder ich die Abteilung wechseln müssen. Zum Glück hatte jedoch keiner der beiden etwas gegen unsere Beziehung einzuwenden. Das wäre ja auch noch schöner gewesen, schließlich wussten schon damals alle auf unserer Etage und darüber hinaus, dass Herr Dr. Möller eine Affäre mit seiner Sekretärin hatte.

Claas und ich wurden lediglich darauf hingewiesen, dass wir unsere Professionalität trotz unserer privaten Beziehung aufrechterhalten und Streitereien nicht im Büro austragen sollten. Was ich niemals tun würde. Wobei wir uns in den letzten Monaten tatsächlich so selten in unseren eigenen vier Wänden gesehen haben, dass wir sogar dort nicht mehr zum Streiten gekommen sind. Was ja eigentlich positiv ist. Nicht ganz so positiv allerdings, wenn es keinen Anlass mehr für Streit gibt, weil man aneinander vorbeilebt. Das wird mir erst jetzt klar. Da hat Claas schon recht – wir müssen wieder mehr Zeit füreinander haben. Deshalb steht dieser Punkt ganz oben auf meiner To-do-Liste, die ich gestern Nacht auf meinem Flipchart angelegt habe:

Ich starre wieder auf das Foto neben meinem Bildschirm. Aus dem Rahmen lächelt mir ein frisch verliebtes Paar mit Sonnenbrillen entgegen. Zwei Wochen Mallorca zur Mandelblüte – unser erster gemeinsamer Urlaub. Und leider auch unser (bisher) einziger. Wir sind in den vergangenen viereinhalb Jahren nicht mehr dazu gekommen, richtigen Urlaub zu machen, dafür haben wir beide zu viel gearbeitet. Hin und wieder habe ich mir einen Tag freigenommen, um die Nörgler aus der Personalabteilung zufriedenzustellen, die immer über zu viel angehäuften Resturlaub aus dem Vorjahr meckern. Dann bin ich zum Zahnarzt gegangen oder habe mich zu Hause an den Laptop gesetzt, um in Ruhe zu arbeiten. Was vielleicht nicht gerade den Sinn und Zweck eines Urlaubstages erfüllt, aber ich liebe meinen Job nun einmal und habe keine Hobbys, die meine Zeit in Anspruch nehmen. Außerdem konnte sich Claas meistens an den Tagen, an denen ich freihatte, keinen Urlaub nehmen – und umgekehrt. Vertragsabschlüsse in Millionenhöhe lassen sich nun einmal nicht verschieben, nur weil man gerade Lust auf ein langes Wochenende auf Rügen hat. Also beschränken sich unsere gemeinsamen Urlaubserinnerungen auf zwei Wochen Halbpension in einem romantischen Strandhotel auf Mallorca, fernab vom Ballermann. Ach ja, und auf ein paar freie Tage zwischen Weihnachten und Silvester, die wir mal bei Claas’ Eltern in Düsseldorf und mal bei meinen Eltern in Hannover verbracht haben. Was man allerdings nicht wirklich als Urlaub bezeichnen kann. Daher Punkt Nummer zwei auf meiner Liste:

Ich lehne mich in meinem Schreibtischstuhl zurück und streiche mit beiden Händen über mein Haar, um sicherzustellen, dass meine Frisur so sitzt, wie sie sitzen soll. Mein Haar und ich tragen regelmäßige Machtkämpfe aus, die ich allerdings so gut wie immer gewinne. Von Natur aus habe ich wilde Locken, die ich mit Hilfe eines Glätteisens Morgen für Morgen in ihre Schranken weise. Meine übliche Bürofrisur ist ein streng zurückgebundener Pferdeschwanz. Dazu trage ich gerne schwarze oder graue Hosenanzüge, darunter meistens ein schlichtes weißes T-Shirt oder eine Bluse. Der einzige Schmuck, den ich mir erlaube, sind die diskreten weißen Perlenohrringe, die ich von meiner Großtante Hildegard geerbt habe. Keine klappernden Armreifen, keine tiefen Ausschnitte, keine Netzstrumpfhosen, wie so manch andere Anwältin unserer Kanzlei sie durch die Büroflure spazieren trägt. Wobei – manchmal darf es durchaus auch bei mir etwas weiblicher sein. Wie heute zum Beispiel. Ich rolle mit meinem Schreibtischstuhl zurück und begutachte den engen Nadelstreifenrock, den ich zum passenden Jackett trage. Claas mag dieses Kostüm. Und den strengen Nackenknoten, zu dem ich mein Haar heute hochgesteckt habe. Mir wird schlagartig sehr, sehr warm, als ich daran denke, wie sexy Claas mich beim letzten Mal in diesem Outfit fand. So sexy, dass ich nach Feierabend ziemlich schnell nur noch meinen Nackenknoten und Pumps trug. Das ist über zwei Jahre her. Höchste Zeit, wieder etwas Feuer in unsere Beziehung zu bringen. Punkt drei auf meiner Liste lautet:

Nein, ich habe nicht vergessen, dass mir Claas gestern Abend in einer romantischen Nische eines italienischen Restaurants seine Affäre gebeichtet hat. Das heißt aber nicht, dass ich unsere Beziehung einfach so an den Nagel hängen werde. Wir sind ein gutes Team, haben denselben Geschmack, dieselben Interessen. Wir hören beide gern Bruce Springsteen und U2, schauen lieber das Heute Journal als die Tagesthemen, teilen uns beim Sonntagsfrühstück im Bett die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, ohne darüber diskutieren zu müssen, wer welchen Teil zuerst bekommt. Wir mögen dieselbe Rotweinmarke, dieselbe Schokolade, dieselbe Handcreme. Kurzum: Claas und ich gehören einfach zusammen. Und davon werde ich ihn heute überzeugen. Es wäre doch wirklich gelacht, wenn er unsere Beziehung aufgeben würde, nur weil er sich in irgendeine andere Frau verliebt hat. Verliebt! Als ob dieser Zustand ewig anhalten würde. Verliebt bin ich längst nicht mehr in Claas, aber ich liebe ihn. Das ist ein Unterschied. Ich werde Claas vor Augen halten, was er an mir hat. Was er verlieren würde, wenn er mich gehen ließe.

Ich stehe auf und trete ans Fenster. Graue Wolken hängen über dem Potsdamer Platz, für Anfang September sieht es stark nach Novemberwetter aus. Ich trommele mit den Fingern gegen die Scheibe und überlege, ob ich ihn fragen soll. Fragen, wer die andere Frau ist. Diese Frage hat mich die halbe letzte Nacht beschäftigt. Als ich allein in unserem Doppelbett lag, das sich plötzlich ziemlich groß und leer anfühlte.

 

Und während ich letzte Nacht auf die leere Betthälfte neben mir starrte, stellte ich mir die andere Frau vor. Blond und vollbusig? Nein, Claas hat immer wieder betont, wie schön er meine kleinen Brüste findet. Brünett und zierlich? Oder eine weitere Rothaarige, wie ich? Kurzes oder langes Haar? Brille? Akademikerin? Hatte er womöglich etwas mit seiner Physiotherapeutin angefangen, bei der er vor ein paar Monaten wegen seiner Bandscheibenprobleme war? Oder – ein schrecklicher Gedanke ließ mich im Bett hochfahren. War es etwa eine der anderen Anwältinnen bei »Johnson & Baker«? Schließlich hatten er und ich uns auch im Büro kennen- und lieben gelernt. Erst letzten Monat hatte Claas ziemlich viel Zeit mit Tatjana Hermann aus der Abteilung für Energierecht verbracht, weil sie zusammen an einer Transaktion arbeiteten. Tatjana mit ihren blauen Augen und dem kecken Grübchenlächeln könnte durchaus Claas’ Typ sein. Mir brach kalter Schweiß aus. Bitte nicht.

Also stand ich auf und ging zu meinem Flipchart in der Zimmerecke. »Nächster Eisprung: 8. September« prangte dort in großen Lettern. Ich atmete tief durch und schlug ein frisches Blatt auf. Schnell und konzentriert, so, wie ich sonst im Büro funktioniere, schrieb ich nachts um halb drei meine To-do-Liste zum Projekt »Beziehung retten«. Nach den Punkten eins bis drei folgten:

Nach diesen fünf Punkten fiel mir nichts mehr ein. Daher fuhr ich meinen Laptop hoch und begann, bereits ein paar Dinge in die Tat umzusetzen, um Claas zu beweisen, wie ernst es mir war. Ich suchte ein Pauschalangebot für zwei Wochen Andalusien heraus, weil ich wusste, dass Claas immer schon gerne dorthin wollte. Erst gab ich als möglichen Reisezeitraum »Anfang Oktober bis Ende Dezember« ein, dann jedoch wurde mir bewusst, dass in dieser Zeit das große Projekt mit der chinesischen Reederei »Huang Lines« ins Haus stehen würde, und ich suchte stattdessen für »März bis Mai« des nächsten Jahres. Gut, das ist noch lange hin, aber Andalusien soll im Frühjahr sowieso am schönsten sein. Ob es wirklich zwei ganze Wochen werden würden, bezweifelte ich, während ich mir die Fotos von schönen Hotelanlagen ansah – aber selbst eine Woche an einem dieser herrlichen Pools wäre doch wunderbar. Ich war mir sicher, dass Claas das genauso sehen würde. Nachdem ich ein paar Angebote ausgedruckt hatte, öffnete ich einen Onlineshop und klickte mich durch sexy Unterwäsche. Ich brauchte nicht lange, um mich für zwei Spitzen-BHs zu entscheiden, einmal in Schwarz, einmal in Rot, dazu passende Stringtangas. Außerdem packte ich ein Negligé in meinen Einkaufskorb und ging zur virtuellen Kasse. Gegen vier Uhr legte ich mich zufrieden und zuversichtlich ins Bett und schlief ziemlich schnell in dem Wissen ein, dass unsere Beziehung durchaus zu retten war. Ich musste mich nur anstrengen. Und ich hatte in meinem Leben bisher alles erreicht, was ich wollte, solange ich mich angestrengt hatte.

 

»Frau Seebeck, soll ich Ihnen einen Kaffee bringen?«

Frau Kramers Worte reißen mich aus meinen Gedanken. Ich wende mich vom Fenster ab und schüttele den Kopf. »Danke, nicht nötig. Ich werde mir selbst eine Tasse holen, ich muss sowieso noch zu Herrn Berger gehen.«

Der Blick meiner Assistentin wandert zum Vertrag, der immer noch jungfräulich auf dem Schreibtisch liegt. Dann schaut sie mich wieder an und lächelt. Sie hat ein hübsches Lächeln, das ihr rundes Gesicht mädchenhaft aussehen lässt. Ich schätze, dass sie in meinem Alter ist, und in meiner Anfangszeit bei »Johnson & Baker« musste ich dem Impuls widerstehen, sie zu duzen. Damals war ich noch etwas unbedarft, was höfliche Büro-Formalität betraf. Einmal war ich sogar versucht, mit Frau Kramer und den anderen Sekretärinnen der Abteilung zum Mittagessen zu gehen. Das war in meinen ersten Wochen in Berlin, als ich noch nicht so viele Anwälte bei »Johnson & Baker« kannte. Die Gruppe der Assistentinnen machte einen so fröhlichen Eindruck, dass ich die Aussicht auf ein Mittagessen mit ihnen sehr reizvoll fand. Doch Claas, den ich damals nur flüchtig kannte, bekam mit, wie Frau Kramer mir erzählte, dass sie zum Mexikaner gehen würden, und nahm mich zur Seite.

»Hilly, das geht wirklich nicht«, sagte er in seiner ruhigen, selbstsicheren Art und sah mich aus seinen hellblauen Augen ernst an. »Wir gehen nicht einfach so mit den Assistentinnen essen. Du kannst Frau Kramer einladen, wenn sie Geburtstag hat, und auf der Weihnachtsfeier könnt ihr ein Gläschen zusammen trinken. Aber die Mittagspause solltest du mit den anderen Anwälten verbringen, Kontakte knüpfen, Fachliches austauschen. So macht man das hier. Felix Dürenkamp und ich gehen heute zu dem neuen Thailänder um die Ecke. Möchtest du mitkommen?«

Und so ging ich zum ersten Mal mit Claas Berger essen.

»Ich muss Herrn Berger wegen dieser Containerschiff-Sache sprechen«, füge ich schnell hinzu und deute auf den Leasingvertrag auf meinem Schreibtisch. Ich will auf keinen Fall den Eindruck erwecken, meinen Freund aus privaten Gründen während der Arbeitszeit aufzusuchen.

»Den Vertrag überarbeite ich gleich, wenn ich zurück bin. Drucken Sie mir bitte inzwischen die E-Mail-Korrespondenz und die Verträge in Sachen ›Jamestown‹ aus. Ich brauche die Unterlagen für die Telefonkonferenz mit London heute Nachmittag.«

Auf dem Weg zur Nespresso-Maschine gehe ich mental wieder und wieder meine To-do-Liste durch, die nach wie vor zu Hause auf dem Flipchart hängt. In einer Hand halte ich die ausgedruckten Andalusien-Angebote, geschickt getarnt zwischen ein paar Unterlagen zum Containerschiff-Deal, damit niemand die Fotos von türkisblauen Hotelpools sieht. Während der Kaffee in die Tasse läuft, wippe ich unruhig mit dem Fuß und sehe auf meine Armbanduhr. Viertel vor neun. Claas wird doch wohl schon im Büro sein, oder? Ich schlucke und versuche, nicht an ihn im Bett einer anderen Frau zu denken. Nein, er würde niemals zu spät ins Büro kommen, nur, weil er bei seiner Geliebten übernachtet hat, oder?

Geliebte. Das Wort frisst sich in meine Eingeweide. Ich hätte nie geglaubt, es jemals mit einer Geliebten zu tun zu bekommen. Mit einer Geliebten, so wie Herr Dr. Anselm Möller, Claas’ Chef, eine hat. Ausgerechnet seine Sekretärin, diese unmögliche Schnepfe mit den Vorzimmerdrachen-Allüren und den künstlichen Fingernägeln. Mehr Klischee geht wirklich nicht. Was finden Männer eigentlich immer an ihren Sekretärinnen? Besteht der Reiz darin, dass sie ihnen den Kaffee bringen, ohne zu murren, und man sie nach Belieben zum Diktat rufen kann? Zum Diktat mit Extra-Leistungen? Ich schüttele mich, als ich daran denke, dass zu Hause eine Frau und fünf Kinder auf Herrn Dr. Möller warten. »Lehrerin a. D.«, so nennt der Kerl seine Ehefrau immer, die wegen der Kinder ihren Job vor Jahren aufgegeben hat. Sollte mein Mann mich jemals so nennen, wäre er ganz schnell »Ehemann a. D.«. Nie im Leben werde ich meinen Beruf aufgeben, auch dann nicht, wenn Claas und ich verheiratet sind und Kinder haben. Nicht nur, weil ich meine Arbeit über alles liebe, sondern auch, weil ich nicht enden will wie Frau Möller. Oder wie meine Mutter.

»Hallo, Hilly? Falls du hoffst, dass gleich George Clooney um die Ecke kommt, um neue Nespresso-Kapseln zu bringen, muss ich dich enttäuschen. Glaub nicht alles, was man in der Werbung sieht.«

Ich fahre herum und sehe in das grinsende Gesicht meines Kollegen Tobias Feldgen. Mit der modernen übergroßen Brille und dem langen Pony, das ihm schräg in die Stirn fällt, sieht er aus, als wäre er der »Vogue« entstiegen. Ziemlich bekloppt, wie ich finde. Tobias hat drei Jahre nach mir bei »Johnson & Baker« angefangen, und seitdem arbeiten wir in einem Zweier-Team für unsere Chefin Constanze Roth. Er ist ebenso ehrgeizig und zielstrebig wie ich, was nur einer der Gründe ist, weshalb wir uns nicht gut verstehen.

Tobias hält einen Briefumschlag in der Hand und knibbelt ihn auf, während er fragt: »Was sagst du denn zu meiner Mail von heute Nacht? Wegen ›Huang Lines‹? Du hast noch gar nicht geantwortet.«

Irritiert sehe ich Tobias an, bis mir die ungelesenen E-Mails auf meinem Bildschirm einfallen. Ups. Fast neun Uhr, und ich bin nicht auf dem neuesten Stand. Das ist mir wirklich noch nie passiert.

»Sorry, ich hatte heute Morgen einen kleinen Mandanten-Notfall«, lüge ich, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich melde mich gleich, wenn ich wieder im Büro bin. Übrigens kannst du den ›Sinclair‹-Vertrag von gestern so abschicken, wie er ist, von meiner Seite gibt es keine Änderungen mehr. Ach, und benutz doch einen Brieföffner für den Umschlag, so wird das nichts.«

Ich wende mich ab und nippe an meinem Kaffee, während ich um die Flurecke biege. Und mich beinahe verschlucke. Dort steht Claas. Er unterhält sich vor den Fahrstühlen mit Herrn Dr. Möller, der auf dem Weg zu einem Auswärtstermin zu sein scheint.

»Guten Morgen, Frau Seebeck«, grüßt Herr Dr. Möller, als ich mich nähere.

»Guten Morgen«, sagt auch Claas und sieht mich mit einer gewissen Unruhe an.

Sollte sich Herr Dr. Möller, der ja nach wie vor davon ausgehen dürfte, dass Claas und ich ein Paar sind, darüber wundern, dass wir uns erst im Büroflur einen »guten Morgen« wünschen, überspielt er es gut. Ich lächele mein strahlendstes Lächeln und antworte: »Guten Morgen! Schön, Sie zu sehen, Herr Dr. Möller. Und Claas, zu dir wollte ich gerade. Hast du gleich eine Minute?«

»Aber klar«, antwortet Claas, und sein linkes Augenlid zuckt.

»Ich muss jetzt sowieso los«, sagt Herr Dr. Möller und sieht auf seine teure Armbanduhr. »Herr Berger, lassen Sie mir die Unterlagen auf den Schreibtisch legen, sobald Sie damit durch sind. Ich schaue sie mir an, wenn ich wieder da bin. See you later, alligator!«