image

Um die Ecke gebracht

Das Sauerland & andere Regionen
in 12 Kurzkrimis

2012 by Kathrin Heinrichs

ISBN 978-3-934327-13-9

Kathrin Heinrichs

Um die Ecke gebracht

Das Sauerland & andere Regionen
in 12 Kurzkrimis

image

image

Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt.
Personen und Handlungen der Geschichten dagegen
sind frei erfunden. Bezüge zu realen Menschen
wird man daher vergeblich suchen.

Inhalt

1.Um die Ecke gebracht

2.Bis dass der Tod

3.Saarburger Rausch

4.Highway to Hellefeld

5.Lebenslänglich Bettina

6.Schnäppchenjagd in Iserlohn

7.When shall we three meet again?

8.Plan E wie Eversberg

9.Gegenüber Mord

10.Überbacken auf Baltrum

11.Meine Kleinen

12.Mordlust auf Schloss Melschede

12 ½.  Schulte ist schuld

Zu den Geschichten

Um die Ecke gebracht

Manchmal sind es Kleinigkeiten, die das ganze Leben verändern. Eine Geste, ein Satz, ein Hut. Ja, manchmal auch ein Hut. Hätte Erwin vor 56 Jahren auf dem Erntedankfest in Endorf diesen Hut nicht getragen, hätte ich mich nie in ihn verliebt. Hätte ich ihn nicht zwei Jahre später geheiratet. Wäre mir einiges erspart geblieben. Wegen dem Hut aber – zack.

Und so ähnlich war das auch mit Kalli. Hätte Herr Schlockmann diesen einen Satz nicht gesagt, wäre Kalli nicht ausgerastet, wäre jetzt noch alles beim Alten. Aber besser, ich beginne von vorn zu erzählen. Also, richtig vorn. Warum wir hier sind und so.

Wir wohnen ja in Sanssouci. Also nicht Sanssouci, Frankreich. Auch nicht Sanssouci, Potsdam. Sondern Sanssouci, Sauerland. Zwischen Balve und Beckum, an der Kreuzung Richtung Hönnetal, nicht weit Balver Höhle. Da wohnen wir in diesem Fachwerkhaus, direkt in der Kurve, wo früher das „Haus Sanssouci“ drin war, später ein Chinese – und jetzt wir, die Senioren-WG „Ohne Sorge“. „Ohne Sorge“ wegen Sanssouci – sind Sie wahrscheinlich schon selbst drauf gekommen. Sanssouci, das spricht man hier übrigens ganz sauerländisch aus. Sanksussi. Fast wie Sankt Susi. Die Einzige, die Sanssouci französisch ausspricht, ist Lenchen. Aber Lenchen ist halt auch ein bisschen gaga. Ständig erzählt sie, in welchen Revuen sie früher aufgetreten ist. Dass die Männer ihr zu Füßen lagen. Dass sie getanzt hat wie der Teufel und Theater gespielt wie eine Fee. Die sauerländische Marlene Dietrich, sagt Lenchen. Ich nehme an, sie hat vor 50 Jahren beim Schützenfest mal auf die Bühne gedurft. Ich verlange jedenfalls nicht von meinen Mitbewohnern, dass sie mich Hildegard nennen, nur weil mein Busen aussieht wie der von der Knef. Zu mir kann man weiter Tilde sagen. Und deshalb sage ich auch Lenchen zu unserer Schützenfest-Diva im Demenzstadium II. Aber ich komme vom Thema ab. Ich wollte ja von dem Satz erzählen und was er bei Kalli bewirkt hat. Kalli ist auch ein Mitbewohner. Und Kalli kümmert sich um unser Grundstück. Lenchen und ich, wir machen den Haushalt. Das ist Teil des Konzepts. Alten-WG. Wir sind zwar alt, aber wir werden weiter gebraucht. Gut, wir haben natürlich Betreuer im Haus. Detlev und Melli und Cara. Nicht alle zusammen, sie wechseln sich ab. Das ist ein Projekt. Ein Pilotprojekt sogar – wobei es mit Fliegen nichts weiter zu tun hat. Auf jeden Fall bekommen wir Gelder vom Land. „Selbstbestimmt leben im Alter.“ Detlev sagt immer, wenn das bei uns klappt, könnte das bundesweit Mode werden mit dem selbstbestimmten Leben im Alter. Unter diesem Aspekt war die Aktion mit Kalli nicht so besonders.

Aber ich bin immer noch nicht zum Erzählen gekommen. Also so: Der Kalli hat sich immer um die Tiere gekümmert. Das ist Teil des Projekts, dass auch Tiere dabei sind. „Selbstbestimmt leben im Stall“ könnte das heißen. Erst hatten wir ja noch Hühner, aber die sind immer abgehauen und dadurch, dass wir so nah an der Straße leben – nun ja … Hühnerfrikassee. Blieben also nur noch die Karnickel, Kallis ganzer Stolz. Er hat hinten auf der Wiese für sie einen Auslauf gebaut. Und wenn das Wetter einigermaßen ist, dürfen sie raus. Der Einzige, den das gestört hat: Herr Schlockmann. Herrn Schlockmann, den kennen Sie noch gar nicht. Er war der Vierte im Bunde. Und der Einzige, der von Anfang gesiezt werden wollte. Ist ja ein bisschen albern, wenn man so eng zusammenlebt, aber Herr Schlockmann war eben so. Immer im Anzug, immer korrekt. Und so wollte er auch den Rasen gern haben. Ohne Karnickelküttel, ohne Moos. Einen richtig schönen Rasen, das war Schlockos Traum. Ich sag jetzt nur Schlocko, weil Kalli das auch immer gesagt hat. Um ihn zu ärgern. Manchmal hat er sogar Stockmann gesagt, weil Herr Schlockmann so steif ist wie ein Stock, hat Kalli gesagt. Sie merken schon, die beiden waren auf Krawall angelegt: Herr Schlockmann mit seinem Ordnungswahn, Kalli mit seinem Karnickelwahn. So als Mann waren sie beide nichts, wenn mir diese Bemerkung erlaubt ist. Ich meine, ich bin ja nur in dieser WG, weil ich mir hier neue Kontakte erhofft hab. Erwin ist seit acht Jahren tot und, als er noch lebte, war das auch kein Gewinn. Ich hab gedacht, so am Ende des Lebens wäre es schön, noch mal jemand zu haben. Und als ich das mit diesem Pilotprojekt gehört hab – zwei Männer und zwei Frauen, stand in der Zeitung – da hab ich gedacht, ein solches Verhältnis kriegst du nie wieder. Weil auf dem Friedhof ist das Verhältnis ja hundert zu eins. Na ja, und dann Kalli und Schlocko … Gut, Konkurrenz hab ich hier nicht. Lenchen ist ja so was von gaga. Aber was nützt einem der Mangel an Konkurrenz bei einem Mangel an brauchbaren Männern? Nun denn, Kalli und Schlocko.

Es war jetzt folgende Situation: Ein schöner Sommertag, Kalli war Löwenzahn pflücken für seine Karnickel, Herr Schlockmann war Rasenmähen, seine Lieblingsbeschäftigung, weil er auf 2,8 Zentimeter Rasenhöhe bestand. Lenchen saß im Wohnzimmer mit Blick auf die Straße und schaute dem Verkehr zu. Ich muss dazu sagen: Wir wohnen an einer ganz heftigen Kurve vor einer ganz heftigen Kreuzung. Es lohnt sich, da zu sitzen, weil immer mal wieder etwas passiert. Vor allem bei Sommerwetter, wenn die Leute dösig im Kopf sind, fahren sie gern jemandem drauf. Aber unter dem Aspekt sieht Lenchen das gar nicht. Sie denkt vielmehr – also, wenn man das noch denken nennen kann – also, sie denkt, die ganzen Autos kommen zu ihrem Auftritt. „Ob die alle in den Saal passen“, murmelt sie dann und, „ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“.

Detlev, unser Betreuer, war in der ersten Etage am Computer. Ich muss dazu sagen. Detlev, der sitzt viel am Computer. Der Computer ist eigentlich für uns da, Teil des Projekts, aber in Wirklichkeit sitzt immer Detlev daran. Manchmal bestellt er sich was – oder er schreibt Berichte wegen unserem Projekt. Er muss alles protokollieren – wie gut es läuft in unserer WG. Detlev sagt, wenn „Ohne Sorge“ in Sanssouci ein Erfolg wird, dann haben wir bald überall Alten-WGs, und er würde dann ganz groß rauskommen als Initiator des Ganzen. Wobei, ich merk gerade – unter Umständen habe ich das schon erzählt. Wie auch immer – Detlev saß am Computer und ich war in der Küche am Kartoffelschälen mit Blick in den Garten. Mir war’s draußen zu heiß – wirklich so ein richtig bulliger Tag. Kalli war schon den ganzen Tag im Unterhemd rumgelaufen. Und so tauchte er dann auch plötzlich wieder auf. Im Feinripp und knallrot im Gesicht. Weil Kalli ist ein bisschen dick, übergewichtig. Wenn er sich bewegt, ist er immer sofort überhitzt. Und so kam er dann an. Eine Plastiktüte voller Karnickelfutter an der Hand sah ich ihn in den Garten marschieren, wo Herr Schlockmann inzwischen mit dem Rasen durch war und es sich in einem Gartenstuhl bequem gemacht hatte.

Kalli sah sich um mit seinem roten Gesicht und fast noch röteren Augen. Und dann fragte er laut: „Wo sind meine Karnickel?“ Er fragte das sehr laut. Drohend beinahe. Kein Wunder, weil die Karnickel waren ja eben noch dagewesen unter dem selbstgebauten Auslauf und jetzt war weder der Auslauf da noch die Karnickel. Nur Herr Schlockmann war da. Augen geschlossen, wie ich durchs Küchenfenster sah, Hände auf dem Bauch gefaltet und völlig entspannt. „Wo sind meine Karnickel?“, brüllte Kalli noch mal, jetzt schon total von der Rolle. Ich weiß noch, dass ich dachte: wenn der mal keinen Sonnenstich hat. Aber das dachte ich nicht lange, denn dann sagte Herr Schlockmann einen Satz. Einen Satz, der sein Leben verändern sollte – und zwar auf sehr verkürzende Weise. Er behielt die Augen geschlossen und sagte: „Um die Ecke gebracht!“

Einen Moment lang stand Kalli ganz still. Ich dachte schon, er würde jetzt platzen, aber das tat er nicht. Stattdessen brüllte er: „Was hast du mit ihnen gemacht?“

„Sie“, sagte Herr Schlockmann ganz ruhig, „ich habe oft genug betont, dass ich gesiezt werden möchte.“

Und dann passierte es. Ich glaube, Kalli wusste sich sonst keinen Rat. Auf jeden Fall griff er nach dem Spaten, mit dem Herr Schlockmann eben noch einen Maulwürfshügel entfernt hatte, und schlug Schlocko den Spaten mit Karacho auf den Kopf.

Ich muss sagen, da war es bei mir erst mal mit dem Kartoffelschälen vorbei. Weil Herr Schlockmann hatte die Karnickel ja tatsächlich nur um die Ecke gebracht – also, so ganz wörtlich gesprochen. Um den Rasen besser mähen zu können. Die Kaninchen mümmelten jetzt links vom Haus munter vor sich hin. Allerdings war es nun zu spät, das genau zu erklären. Ich musste dann jedenfalls erst einmal schreien. Zehn Sekunden später stand Detlev in der Küche und zwei Minuten später kam Lenchen rein und fragte, ob die Aufführung schon begänne. Kalli war wie versteinert, vor allem als er die Sache mit der Ecke endlich in den Kopf gekriegt hatte. Detlev war auch wie versteinert – und dann sagte er: „Das war’s ja dann wohl mit unserem Projekt.“

War’s aber gar nicht. Wir haben das anders auf die Reihe gekriegt. Herr Schlockmann ist laut unseren Angaben die Kellertreppe hinuntergestürzt. Kalli hat ihn gefunden und Lenchen glaubt, dass bei uns gerade Shakespeare gespielt wird.

Ich meine, man muss das Gesamtprojekt im Auge haben. Wir haben schließlich alle unsere Interessen. Ich auch. Ich hab sofort zu Detlev gesagt: „Ich halte gerne den Mund. Aber wenn demnächst der Ersatzmann für Schlocko ausgesucht wird, dann bin ich bei der Auswahl dabei.“

image

Bis dass der Tod

Es ist die Art, wie er nach der Kaffeekanne greift. Es ist nämlich so: Er guckt nicht richtig. Er greift, während er eigentlich Zeitung liest. Dabei schmeißt er um ein Haar die Milchpackung um. Aber ist ja egal! Man hat ja für alles seine Leute!

Regine schaut auf die Uhr. Es ist halb neun, und sie ist schon jetzt tierisch genervt.

Der Witz ist: Er merkt es gar nicht. Er merkt gar nicht, dass er die Milchpackung beinahe umgekippt hat. Stattdessen liest er weiter in der Zeitung und gießt sich halbblind Kaffee in seine Tasse.

Wie schön, dass sie so entspannt frühstücken können, seitdem Erwin frühpensioniert ist!

„Das gibt’s doch gar nicht“, sagt er plötzlich. Offenbar hat er etwas Interessantes in der Zeitung entdeckt. Etwas wohlgemerkt, das er interessant findet!

Und dann passiert, was immer passiert. Er sagt nichts weiter. Er macht einen einleitenden Satz – um dann plötzlich zu verstummen. Sie muss erst nachfragen.

Was gibt es gar nicht?“, fragt sie überartikuliert.

Er schüttelt den Kopf. „Das gibt’s doch gar nicht“, wiederholt er, als existiere sie nicht.

Schon jetzt ist sie so weit. Sie möchte das Brötchenmesser nehmen und es ihm in die Brust rammen. „Was gibt es gar nicht?“, möchte sie schreien. „Nun sag es doch endlich! Willst du jetzt ein Gespräch mit mir führen oder nicht?“

„Die B 515“, sagt er schließlich seelenruhig, „du weißt schon, die Provinzialstraße unten bei Slamic. Dauert noch mindestens ein halbes Jahr, bis die Sperrung dort wegfällt.“

„Ja und?“, möchte sie sagen. „Wen interessiert das? Fahre ich dort jeden Tag lang?“

Natürlich fährt sie dort nicht jeden Tag lang. Nur wenn sie nach Dortmund will. Oder nach Halingen. Aber wer will schon jeden Tag nach Halingen? Sie nicht!

Er trinkt aus seiner Tasse. Ohne zu gucken natürlich. Er verfehlt beinahe den Mund, weil er so sehr in die Zeitung vertieft ist. „Und dann das Hönnetal. Ist ebenfalls noch über Monate gesperrt. Wegen der Sprengungsarbeiten.“

Sie weiß nicht, was das soll! Sie weiß nicht, warum er ihr jeden Tag Dinge präsentiert, die sie überhaupt nichts angehen. Dass es mit dem Bahnhof nicht vorangeht! Dass das Biebertalbad voraussichtlich schließt! Dass bald eine Gesamtschule kommt!

Sie fährt weder mit der Bahn noch geht sie regelmäßig schwimmen noch ist ihr Kind im schulpflichtigen Alter. Wen – also – interessiert – das?

Erwin – das kann man mit Sicherheit sagen!

Er hat ja auch nichts anderes mehr. Seitdem man ihn bei der Telekom abgefunden hat, ist er zu Hause. Mit 58! Das ist ziemlich hart. Vor allem für sie.

„Fährst du mit zum Einkaufen?“, fragt sie und hat einen Augenblick Hoffnung, dass er nicht will.

Er hört sie gar nicht. Er hat schon wieder einen neuen Artikel gefunden.

„Das gibt’s doch gar nicht“, sagt er erneut aus seinem Nebenkosmos heraus und knistert wild mit der Zeitung. Die Zeitung, denkt Regine verbittert, ist das Einzige, was in ihrer Ehe noch knistert. Erwin schüttelt den Kopf. Und wieder dasselbe: nichts weiter. Sie soll nachfragen. Nachfragen, was es nicht gibt. Aber sie hat keine Lust. Stattdessen testet sie, ob er ihr zuhört:

„Ich glaube, die Quote von Frauen, die ihre frühpensionierten Männer umbringen, ist höher, als man in Statistiken nachlesen kann.“

Erwin guckt nicht hoch. Stattdessen steuert er selbst etwas bei. „Der städtische Streudienst ist noch nie so selten ausgerückt wie in diesem Jahr.“

Aha. Wichtige Info. Wollte sie immer schon wissen.

„Ich geh dann jetzt einkaufen“, murmelt sie.

„Ich komme mit“, antwortet er prompt.

Und während sie aufsteht, fragt sie sich, wie viele Frauen tatsächlich ihre frühpensionierten Männer umbringen.

Es ist die Art, wie sie an ihm herummacht, wenn sie aus dem Haus gehen. Immer stellt sie seinen Mantelkragen hoch. „Sieht einfach besser aus“, sagt sie dann und zupft noch einen Fussel weg, der sich angeblich auf seinem Mantel befindet. Er findet nicht, dass es gut aussieht, wenn einem der Mantelkragen hochsteht. Man sieht damit aus wie ein herausgeputzter Napoleon. Ganz nebenbei sieht man aus, als hätte einem die Frau den Kragen hochgestellt. Manchmal trifft er andere Männer in der Fußgängerzone, deren Kragen auch hochgestellt ist. Wenn sie unglücklich dreinschauen, möchte er sich mit ihnen solidarisieren. „Wir lassen uns nie wieder den Kragen hochstellen“, hört er sich dann im Chor mit ihnen rufen. „Wir gründen die KUL, die Partei der Kragenuntenlasser!“

„Können wir dann endlich?“, fragt Regine. Sie fragt es genervt. Sie ist immer genervt, wenn sie ausgehen. Sollte vielleicht mal ihre Laune liften anstatt anderleuts Kragen.

„Warum fährst du diese Strecke?“, fragt sie, als er den Heimkerweg runterfährt. „Fahr doch rechts und dann Westtangente. Geht doch viel schneller.“

Geht nicht schneller. Er hat das ausgetestet. Warum quatscht sie ihm in seine Route?

„Ich habe übrigens jetzt endlich mit Lessers einen Termin ausgemacht.“

„Einen Termin?“

„Wir wollen uns ja schon ewig mal treffen, aber wir konnten ja nie.“

Es ist ihm neu, dass er sich schon ewig mit den Lessers treffen wollte.

„Das klappt jetzt endlich am Samstag. Die kommen zum Essen. Ich mache Fondue.“

Moment, Moment, Moment! Samstag … da war was! Ja, klar war da was! Fußball. Champions League! Barcelona gegen Leverkusen – ein Muss!

„Geht nicht“, sagt er dumpf.

Ihr Kopf fährt herum. „Wie – geht nicht?“

„Da kommt Fußball“, sagt er. „Ich hab keine Lust, mich mit den Lessers zu langweilen, wenn Fußball im Fernsehen kommt.“

„Das ist nicht dein Ernst!“ Ihre Stimme klingt, als fiele sie gleich in Ohnmacht.

Er wartet einen Moment, versucht, ihr das schonend beizubringen. „Warum hast du mich nicht gefragt?“

Sie schließt die Augen. Das heißt, sie ist an der Grenze. Jeder weitere Satz führt über die Grenze hinaus.

„Gefragt?“ Sie sagt es ganz leise. „Warum ich dich nicht gefragt habe?“

„Genau!“

„Erwin ..“, ihre Stimme bekommt diese pseudosachliche Note. Ihre Stimme sagt: Ich gebe mir Mühe, damit du verstehst – obwohl jeder andere Mann längst kapiert hätte, wie bodenlos diese Anfrage ist.

„Wer, Erwin, regelt unsere gesamten sozialen Kontakte? Wer sorgt dafür, dass wir noch Einladungen kriegen? Wer quatscht sich am Telefon heiser, damit wir einen Freundeskreis haben?“

Dreimal „Ja”, denkt er. Und dreimal „Ja und?”.

„Ich brauche das nicht.“

„Du brauchst das nicht?“ Die Stimme ist jetzt nicht mehr sachlich, pseudosachlich, sie ist schrill und hysterisch – und zwar nicht pseudohysterisch.

„Was brauchst du denn? Abende mit fünf Flaschen Bier vor der Glotze, in denen du auf dem Sofa einschläfst? Abende, an denen du dein dämliches Sudoku-Rätsel löst? Mag sein, dass dich das glücklich macht. Aber du bist nicht allein. Du hast eine Frau! Eine Frau, die gern auch mal mit anderen Menschen spricht – nicht nur mit ihrem Mann. Kannst du das verstehen?“

Sie fängt an zu weinen. Verdammt, sie fängt an zu weinen.

„War ja nicht so gemeint“, sagt er schließlich, „es ist nur – der Termin ist ungünstig. Wenn wir das abgesprochen hätten – “

Sie weint noch ein bisschen. Dann schließlich wendet sie sich ihm zu. „Du hast ja recht“, sie streicht ihm über die Wange. Er schmiegt sich in ihre Hand. „Tut mir leid, ich hätte nachfragen sollen.“

„Ist ja nicht so schlimm.“

„Das Blöde ist nur, wir haben den Termin jetzt dreimal verschoben. Wenn ich nochmal absage … kannst du das Spiel vielleicht aufnehmen?“

Aufnehmen? Ein Fußballspiel?

Ein aufgenommenes Fußballspiel ist so aufregend wie eine tiefgekühlte Frau. Bei dem Bild einer tiefgekühlten Frau kommt ihm Gudrun Lesser in den Sinn.

„Von mir aus“, sagt er schließlich. Wieder streicht sie ihm über die Wange, dann macht ihre Hand halt.

„Dein Bart ist zu lang“, sagt sie abrupt. „Ich habe schon zigmal gesagt, einmal in der Woche musst du ihn stutzen.“

Die Leier wieder!

Er denkt an sein Rasiermesser. Er denkt daran, wie er sich rasiert. Und dann denkt er, was man mit dem Rasiermesser noch machen könnte.

Der Klassiker: Er schließt das Auto ab und fasst dann noch einmal nach, ob die Tür auch tatsächlich zu ist. Sie ist zu. Sie ist immer zu. Sie hat keine Ahnung, warum er immer nachfasst. Und natürlich ist sein Mantelkragen wieder heruntergeklappt! Wenn er wüsste, wie dämlich das aussieht! Erwin könnte gut aussehen. Wenn er nur mehr auf sich achten würde! Modische Kleidung, ein gutgestutzter Bart – aber nein, das ist ja alles nicht wichtig! Am liebsten würde sie ihm den Kragen noch einmal richten, aber dann wird er wütend. Immerhin ist das mit den Lessers gut gelaufen. Sie hatte schon die Befürchtung, er regt sich so auf, dass die ganze Sache platzt. In der Regel kriegt sie ihre Angelegenheiten ja dann doch ganz gut untergeschoben.

Sie hält sich also zurück – auch, als er im Schneckentempo sein Portemonnaie herauskramt, nach einem 1 Euro-Stück angelt und dann – gefühlte sechs Stunden später – endlich den Einkaufswagen in den Supermarkt schiebt. Erwin wird alt, denkt sie, er wird alt – und sie, sie fühlt sich so jung.

Sie sind noch keine drei Meter im Markt, da geht es schon los. Er bleibt stehen und studiert die Preisschilder. Sie fragt sich manchmal, ob er sie auswendig lernt. Wenn sie allein einkaufen geht, dauert das maximal 30 Minuten. Mit Erwin ist sie über eine Stunde unterwegs. Ihn allein losschicken geht auch nicht, dann bringt er nicht mit, was auf dem Einkaufszettel steht, stattdessen aber einen Zehnerpack Müsliriegel, die keiner von ihnen isst. „55,9 Prozent Zucker“, sagt Erwin jetzt mit einem Glas Nutella in der Hand, „und 31,8 Prozent Fett.“

Es ist nicht zu fassen! Weder sie noch Erwin essen jemals Nutella. Das letzte Glas hat sie gekauft, als ihre Tochter noch zu Hause wohnte. Warum ist es jetzt wichtig, dass Nutella 55,9 Prozent Zucker enthält? Sie nimmt ihm den Wagen ab und räumt an der Kühltheke die Milchpackungen ein. Ihren Ehemann beachtet sie erst wieder, als er vor dem Regal mit Deos herumsteht.

„32“, murmelt Erwin, den Blick auf eine Spraydose gerichtet. Vermutlich ermittelt er den Wasseranteil in herkömmlichen Deodorants. Sie hält aber auch für möglich, dass er inzwischen total durchgedreht ist.

„Die ewige Rechenaufgabe“, murmelt er jetzt. Und wieder keine Erklärung. Mein Gott, wie sie das hasst!

„Dabei habe ich 8 x 4 schon als Kind ausgerechnet.“

Sie starrt ihn an. Und sie starrt auf das Deodorant, mit dem er sich offensichtlich beschäftigt.

8 x 4.

32.

Ihr hat mal jemand erklärt, dass ein entzündetes Deo zu einem unkontrollierbaren Sprühfeuer führt. Sie stellt sich das vor. Sie stellt sich vor, wie ein unkontrollierbares Sprühfeuer zunächst Erwins ungestutzten Bart und dann den kompletten Erwin erfasst.

Ihre Tochter Anna sagt immer, sie müssten mehr reden. Sie hat ja keine Ahnung. Sie weiß nicht, dass Erwin in Streitgesprächen nie etwas sagt.

Sie dreht sich um in der Hoffnung, dann keinen brennenden Erwin mehr vor sich zu sehen. Ihr Blick fällt auf „Klärende Reinigungstücher“.

Klärung ist wichtig, sagt Anna. Fragt sich nur, ob zwei Packungen reichen. Vielleicht nimmt Regine besser 8 x 4.

Wie er dieses Gehabe verabscheut: Küsschen hier, Küsschen da. „Hallo Rebecca, ja, wir gehen noch ein bisschen durch die Stadt. Erwin ist ja jetzt zu Hause. Wir haben nun Zeit.“

Sie macht ihm zum Vorwurf, dass er frühpensioniert ist, das merkt er genau. Und sie sendet ihren Freundinnen Botschaften zwischen den Zeilen. Würde ihn nicht wundern, wenn Regine dieser Tussi eben noch ein Auge zugeknipst hätte.

Er betrachtet stattdessen die Vincenz-Kirche, allein schon, damit Rebecca nicht auf die Idee kommt, auch ihn noch zu küssen. Auf den Stufen unter der Kirche sitzen ein paar Jugendliche und albern herum.

„Tschüss dann!“, sagt Rebecca. Wortlos nickt er ihr zu und sieht sie in Richtung Schuhgeschäft verschwinden.

„Trinken wir noch einen Kaffee?“, fragt Regine.

„Einen Kaffee?“

Er versteht sowas nicht. Sie haben zu Hause eine Kaffeemaschine. Warum sollen sie anderswo Geld ausgeben, wenn sie ihn zu Hause billig selbst machen können? Außerdem: Warum schon wieder Kaffee? Sie haben erst vor anderthalb Stunden gefrühstückt! Sie könnten sich einfach auf eine Bank setzen und gucken. Der neue Rathausplatz war schließlich teuer genug.

„Außerdem will ich noch bei Akzente vorbei – und mal bei Tchibo gucken, was es diese Woche so gibt.“

Ah ja, er versteht, das komplette Programm! Jede Woche eine neue Welt! Wie er das hasst! Man kauft ein, wenn man etwas braucht. Wenn man Bedarf hat. Man kauft nicht ein, weil die Sachen gerade so rumstehen.

Am Ende sitzen sie im Eiscafé nahe dem Telekomladen und haben seine Frühpensionierung damit direkt vor Augen.

Sehr originell, denkt er, dass Regine bei Tchibo Beschwerungskugeln im Marienkäferlook für die Gartentischdecke gekauft hat und dass sie jetzt vorm Eisladen sitzen, um Kaffee zu trinken. Vielleicht gehen sie gleich noch mal bei der Telekom rein, die verkaufen inzwischen bestimmt Eis.

Er selbst wäre gerne in die Stadtbücherei gegangen, drüben im Alten Rathaus, und hätte dort Kaffee getrunken. Dort ist es billig – außerdem kann man da lesen. Manchmal geht er dorthin, um in aller Ruhe Zeitung zu lesen. Zu Hause beklagt sich Regine ja immer, dass er die Zeitung „zerrupft“. Da fragt er sich manchmal: Ja und? Will sie die alten Zeitungen bügeln und damit Serviettentechnik machen?

Wäre im Übrigen gar nicht so schlecht. Müsste sie nicht so viel Geld für Deko-Zeugs raushauen.

Regine beugt sich jetzt zu ihm herüber. Er kennt die Geste genau: Sie will ihm etwas Vertrauliches sagen – etwas, das vermutlich Rebecca nicht hören soll – Rebecca, die sie eben – Küsschen Küsschen – begrüßt hat und die jetzt schätzungsweise zwei Kilometer weit weg ist.

„Rebeccas Mann ist nach Münster gerufen worden“, raunt sie ihm zu, „zum Verwaltungsgericht.“

Ah ja. Zum Verwaltungsgericht. Karrieresprung nennt man das wohl.

„Der verdient jetzt über 6.000, hat mir Marlene erzählt.“

Über 6.000. Na toll. Sind 60 Paar neue Schuhe im Monat. Und 1.500 Packungen Beschwerungskugeln für die Gartentischdecke.

Er schaut sie an. Sieht, wie sie die Nase rümpft auf diese ganz eigene Weise. Auf diese Weise, wie auch seine Schwiegermutter die Nase gerümpft hat. Dieses Naserümpfen sagt: „Na gut – wir nicht – ist ja nicht schlimm.“

Er hat nicht geahnt, dass Naserümpfen genetisch vererbbar ist.

Er hat auch nicht geahnt, dass Naserümpfen Auswirkungen auf seinen Blutdruck haben kann.

„Was bestellst du?“, fragt Regine und blättert in der Karte.

„Einen Kaffee“, bringt er heraus.

„Einen Kaffee?“, kontert Regine sofort. „Nimm doch mal einen Cappuccino. Oder einen Latte Macciato. Immer Kaffee ist doch blöd. Du hast noch nie einen Latte probiert.“

„Einen Kaffee“, wiederholt er stumpf.

Und dann rümpft Regine wieder die Nase. Wie ihre Mutter. Er kann nicht anders. Er fragt sich, ob die Nase sich auch rümpft, wenn man brüttheißen Kaffee darüber ausgießt.

Das Problem ist: Erwin wird mehr und mehr wie sein Vater. So stoffelig. So sparsam. So eigen. Wie er jetzt aus dem Seitenfenster guckt. Er soll nach vorne gucken! Womöglich baut er gleich noch einen Unfall! Das fehlte noch – gerade pensioniert und im nächsten Monat krank. Weil er aus dem Seitenfenster geguckt hat, muss sie ihn pflegen!

Dann geht ihr Handy. Anna ist dran.

„Hallo, meine Süße“, sagt sie. „Wie geht’s dir?“

„Wie geht’s euch?“, fragt Anna zurück.

„Wie geht’s uns?“, fragt sie und schaut zu Erwin hinüber, der jetzt ausnahmsweise mal geradeaus guckt.

„Wir kommen vom Einkaufen“, erklärt sie. „Und dann haben wir noch in aller Ruhe einen Kaffee getrunken.“

„Mit Papa?“ Anna kann es nicht glauben. „Den kriegt man doch nie in ein Café. Gib ihn mir mal!“

Regine reicht ihm das Handy hinüber. „Anna ist dran.“