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Das Sauerland & andere Regionen in 12 Kurzkrimis

2009 by Kathrin Heinrichs

ISBN 978-3-934327-11-5
eISBN 978-3-934327-26-9

Kathrin Heinrichs

Tot überm Zaun

Das Sauerland & andere Regionen in 12 Kurzkrimis

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Ähnlichkeiten zu realen Orten sind gewollt. Personen und Handlungen der Geschichten dagegen sind frei erfunden. Bezüge zu realen Menschen wird man daher vergeblich suchen.

Inhalt

Tot überm Zaun

Lippstädter Liebeshäppchen

Kein Risiko in Schmallenberg

Endstation Oeventrop

Glückspilz

Die Lippstadt-Verschwörung

Vor dem Gewitter

Letzte Hoffnung Rothaarsteig

Hexenjagd in Bassenheim

Abrechnung in Attendorn

Unterm Schnee

Das Maß

Zu den Geschichten

Tot überm Zaun

Es gibt Menschen, die möchte man von der ersten Begegnung an umbringen. Susanne Schürmann zum Beispiel. Susanne Schürmann hat, als wir uns das erste Mal trafen, den Satz gesagt: „Hier im Sauerland möchte ich ja nicht tot überm Zaun hängen!“ Das hätte sie nicht tun sollen. Seitdem habe ich mir das immer wieder vorgestellt: Susanne Schürmann – tot überm Zaun.

Später einmal hat Susanne Schürmann gemeint, das Sauerland insgesamt sei ja ganz nett, aber sehr provinziell. Hemer allerdings – Hemer habe so gar nichts. Keine Landschaft, keine Innenstadt, nichts. Nicht mal einen Golfplatz gäbe es hier.

Noch später hat sie ganz anders geredet, aber dazu komme ich noch. Besser, ich erzähle erst einmal, wie alles anfing.

Das Erste, was ich von Susanne Schürmann sah, war ihr Landrover, der mit seinen gefühlten achtzehn Metern auf dem Schulparkplatz vier Stellplätze blockierte. Was ich als Nächstes sah, war eine rosagekleidete Ganzkörpertussi mit Püppchengesicht und blondem Langhaar. Letzteres pflegte sie mit so viel Foffo durch die Gegend zu schmeißen, dass man die Dame bei richtiger Positionierung zum Abstauben hätte einsetzen können.

„Das muss die Mutter von Laura-Sophie sein“, wisperte meine Freundin Birgit, mit der ich zusammen den Elternabend besuchte. Sofort war ich im Bilde. Schließlich hatte meine Tochter schon ausgiebig von der neuen Schülerin erzählt. Auch Laura-Sophie kam meistens in Rosa zur Schule. Laura-Sophie hatte Haare wie ein Engel, aber wenn sie ihren Willen nicht kriegte, kreischte sie schlimmer als eine Feuersirene.

„Trotzdem wollen alle neben Laura-Sophie sitzen“, hatte meine Tochter Lotta an Laura-Sophies drittem Tag unter Tränen erzählt. „Dabei ist die einfach nur doof.“

„Das gibt sich“, hatte ich Lotta erklärt und insgeheim befunden, dass es meinem Wildfang ganz guttat, mal für eine Weile nicht die erste Geige zu spielen. „Warte ab, bis die anderen Kinder merken, was für eine Schreckschraube sie ist.“

Die Schürmanns waren nach Hemer gezogen, weil Papa Schürmann die Landesgartenschau managen sollte. Zur Landesgartenschau möchte ich nichts Negatives sagen. Ich find’s super, dass das alte Kasernengelände aufgewertet wird. Ich find’s überhaupt super, dass zu uns die Landesgartenschau kommt. Gut, die verwendeten Werbeslogans sind etwas affig. „Zauber der Verwandlung“ oder „Dreiklang von Körper, Geist und Seele“. Andererseits müssen die Vermarktungsfuzzis ja auch für etwas gut sein. Ich selbst bin nun mal eher ein handfester Typ. Eine Gärtnerin eben. Und genau deshalb kann ich mich natürlich für die LAGA begeistern. Der andere Grund ist, dass mein Mann einen Gartenbaubetrieb hat. Wir können die LAGA-Aufträge sehr gut gebrauchen. Ich bin im Bilde, schließlich arbeite ich mit in der Firma – mal im Büro, mal in der Erde, was mir eigentlich das Liebste ist. Trotzdem fand ich es zum Weglaufen, als Susanne Schürmann mir zu verstehen gab, sie könne bei der Auftragsvergabe „bestimmt etwas tun“. Ihr Mann Robbi sei schließlich federführend in der LAGA-GmbH tätig und habe entscheidenden Einfluss.

Es ist schön, lukrative Aufträge zu haben, aber es ist nicht schön, diese dem Mann von Susanne Schürmann zu verdanken. Dabei kann man gegen den gar nichts sagen. Er ist in Ordnung. Robert Schürmann ist sogar mehr als in Ordnung. Er hat im Leben nur einen Fehler begangen – und der ist seine Frau.

„Dass es mich nach Hemer verschlagen hat!“, sagte sie, als sie im Frühjahr zum ersten Mal spontan auf einen Kaffee vorbeikam. Ich hatte gerade in unserem Garten gewuselt, sah also aus wie ein Maulwurf und fand es daher umso prickelnder, eine perfekt gestylte Schönheitskönigin bewirten zu dürfen. Ihre Tochter hatte Susanne Schürmann natürlich auch mitgebracht. Sie und Lotta hatten sich zum Spielen ins Kinderzimmer getrollt – ich hoffte inständig, dass meine Kleine ihren Gast nicht schon jetzt mit dem rosa Haarband an den Bettpfosten geknebelt hatte. „Hemer und ich, das passt einfach nicht!“ Susanne Schürmann runzelte zu dieser Bemerkung pseudoverzweifelt die Stirn und schob dann den verhängnisvollen Satz hinterher: „Eigentlich möchte ich hier nicht tot überm Zaun hängen!“

Mir blieb die Spucke weg, was nicht schlimm war, denn eine Reaktion wurde von mir gar nicht erwartet.

„Aber eine echt süße Werbung gibt‘s hier! Die mit den 38.125 tollen Typen, meine ich jetzt“, Susanne Schürmann lachte gekünstelt und schmiss ihre Haare. Natürlich wusste ich genau, was sie meinte. Die riesigen Plakatwände, die das Stadtmarketing aufgestellt hatte: Abgebildet eine Gruppe von Menschen. Darunter der Satz: „38.125 tolle Typen. Alle in Hemer.“

„Als ich die zum ersten Mal gesehen habe“, quakte die Schürmann und straffte dabei ihr rosa Hilfiger-Shirt, das sie wie die Großausgabe ihrer Tochter aussehen ließ, „da hab ich gedacht: 38.125 tolle Typen in Hemer. Hat Hemer zum Weltjugendtag tatsächlich so viele Gäste gehabt?“ Mein Kaffeebesuch wieherte. Ich muss gestehen, es dauerte einen Moment, bis ich die Pointe begriff. Als das der Fall war, fand ich sie noch immer nicht witzig. Um genau zu sein, kotzt es mich an, wenn Leute wie Susanne Schürmann sich über Hemer lustig machen, denn meistens kennen sie sich überhaupt nicht gut aus. Mit Sicherheit war Susanne Schürmann noch nie durchs Stephanopler Tal gewandert und hatte sich von der phantastischen Landschaft einfangen lassen. Sie hatte nie mit Leuten wie Manfred Gruschka aus Sundwig gesprochen, der für sein Dorf seine komplette Freizeit hergab. Sie hatte nie in Gittas Kaffeestübchen selbstgebackenen Kuchen gegessen, hatte keine 10er-Abschlussparty am Duloh gefeiert oder ihre erste große Liebe am Springbrunnen im Stadtpark geküsst. Meine erste große Liebe war übrigens Carsten gewesen, mein Mann, und der erste Kuss war am Abend der Hemeraner Herbsttage passiert. Aber das spielt ja jetzt keine Rolle. Eine Rolle spielt, dass Leute wie Susanne Schürmann gar keine Ahnung haben, wenn sie sich über Hemer hermachen. Ich persönlich würde Hemer niemals verlassen. Das ist meine Heimat.

„Hemer ist gar nicht so verkehrt“, sagte ich daher trotzig und nahm zur Kenntnis, wie Susanne Schürmann mich ansah. Ein Blitzen in den Augen, ein verschmitzter Zug um den Mund. Ich wusste, was sie dachte. Sie dachte: „Die merkt es nicht mal. Die wohnt in der Bronx und merkt es nicht mal.“

Von diesem Moment an kam das Bild immer wieder in mir hoch – Susanne Schürmann tot überm Zaun.

Das nächste Mal schon bei den Bundesjugendspielen unserer Kinder. Dazu werden immer Mütter gesucht, die mithelfen können. Zeit stoppen, den Ballwurf messen, so was. Es sind immer dieselben, die helfen, umso erstaunter war ich, als ich Susanne Schürmanns reisebusgroßen Off-Roader an der Teichstraße sah. Sie hatte ihren Wagen so geschickt zwischen zwei Kastanien gestellt, dass man sich auf dem Bürgersteig als Fußgänger vorbeiquetschen musste.

„Bestimmt bringt sie nur ihrer Tochter das Butterbrot nach“, schnodderte meine Freundin Birgit, die einen Trainingsanzug trug, der in den 70ern echt trendy gewesen sein musste. Es war schlimmer. Susanne Schürmann war gekommen, um zu filmen. Sie trug eine edel-rote Samtsporthose, die ihre Figur vorteilhaft zur Geltung brachte, hielt eine 2000 Euro teure Digital-Kamera vor ihre Nase gepresst und verfolgte ihr rosafarbenes Kind von Station zu Station. Ich war fassungslos. Dass Susanne Schürmann nicht mithalf, war eine Sache. Dass es ihr aber nicht im mindesten peinlich war, mit der Kamera an uns Helferinnen vorbeizuhecheln, eine andere.

Die Sache spitzte sich zu, als Laura-Sophie zum Weitsprung anrückte. „Dass Sie aber ordentlich messen!“, quakte Frau Schürmann und knipste mir neckisch ein Auge, wohl um zu signalisieren, dass ich einen halben Meter aufschlagen sollte. Ich wäre der Frau am liebsten an die Gurgel gesprungen!

„Ich harke nur!“, presste ich stattdessen hervor und wuselte weiter in der Grube herum, wo man mich vermutlich eingeteilt hatte, weil ich auf Gartenarbeit spezialisiert bin. Als ich nach der Harkerei wutentbrannt hochschaute, fiel mein Blick auf die Absperrung, die, mit ein bisschen Bandenwerbung verschönert, den Sportplatz von den spärlichen Zuschauerrängen trennte. In diesem Augenblick dachte ich zum zweiten Mal an Susanne Schürmann – tot überm Zaun.

Eine besonders ausgeprägte Vorstellung ergab sich, als Carsten und ich einige Wochen später bei den Schürmanns zum Essen eingeladen waren. Susanne, die ich mittlerweile duzte, hatte das Essen bei einem Partyservice bestellt. Allein das war schon peinlich. Für vier Personen kochen, hätte wahrscheinlich schon unsere Tochter hingekriegt. Susanne Schürmann allerdings redete sich mit Migräne heraus, die sie am Vortag gehabt hätte. Die konnte mir viel erzählen! Ich hätte drauf gewettet, dass sie das Essen schon vor einer Woche bestellt hatte. Als wir die Nachspeise hinter uns gebracht hatten, hob Robert plötzlich bedeutungsvoll sein Glas.

„Wir haben euch noch etwas Wichtiges zu sagen“, brachte er salbungsvoll heraus. „Ihr werdet es nicht glauben: Wir haben ein Haus gekauft!“ Dabei schaute er so begeistert, als hätte er tatsächlich eine gute Nachricht für uns.

„In Hemer?“, rutschte es mir heraus.

„Oben am Woeste-Gymnasium“, erklärte Susanne, „ein wunderschönes Objekt. Die Hillmann’sche Villa, falls euch das etwas sagt.“

Die Hillmann’sche Villa! Natürlich sagte uns das was. Jedem in Hemer sagte das was! Ein Prachtgrundstück. Ein Riesenobjekt. In einer Vorzeigegegend.

„Das ist ja wirklich ein Ding!“, kommentierte Carsten begeistert.

Ich selbst bekam das alles nicht zusammen. Susanne Schürmann fand Hemer schrecklich. Außerdem war der Job ihres Mannes zeitlich begrenzt. Irgendwann war die LAGA vorbei, dann würde er hier keine Arbeit mehr haben. Die Schürmanns würden weiterziehen müssen. Wozu dann ein Haus? Noch dazu solch ein Haus! Robert schien meine Gedanken zu erraten.

„Wir sind so oft umgezogen in letzter Zeit. Jetzt wollen wir uns endlich niederlassen. Egal, wie es nach der LAGA beruflich weitergeht, ich möchte Sanne und Laura-Sophie einen weiteren Umzug ersparen. Lieber fahre ich jeden Morgen etwas weiter zur Arbeit.“

Mir fiel der Werbespruch ein. 38.125 tolle Typen. Alle in Hemer! Jetzt waren es drei mehr. Was für ein Gewinn!

„Aber ihr und Hemer – ich meine, Hemer und ihr – “, konnte ich mich nicht zurückhalten. Carsten warf mir einen bitterbösen Blick zu.

„Nun, unsere Einstellung zu Hemer hat sich ein wenig gewandelt“, flötete Susanne, die wieder tochterlike in Rosa gekleidet war und damit etwas Elfenhaftes hatte, „nennen wir es doch einfach den Zauber der Verwandlung.“ Die letzten Worte hauchte sie in Carstens Richtung. Ich hätte am liebsten gekotzt.

„Wie auch immer“, Robert lehnte sich selbstgefällig zurück, „das Haus ist gekauft – und, ehrlich gesagt, haben wir euch auch ein bisschen aus geschäftlichen Gründen eingeladen.“

„Naja, quasi geschäftlich“, verbesserte seine Frau und sah Carsten dabei hinreißend an.

„Wir möchten den Garten umgestalten“, erklärte Robert.

„Umgestalten lassen“, verbesserte jetzt seine Frau.

„Ach!“ Ein Leuchten ging über Carstens Gesicht. Kein Wunder, der Garten der Hillmann’schen Villa war ein Gedicht. Ein riesiges Grundstück mit alter Bepflanzung, dessen Gestaltung eine wunderbare Aufgabe war.

„Und da haben wir natürlich an dich gedacht.“ Susanne Schürmanns Augenaufschlag hatte etwas von einem verschlafenen Krokodil. Auf Carsten hatte er allerdings keineswegs einschläfernde Wirkung. Er wirkte quicklebendig und sehr aufgeräumt.

„Natürlich habe ich mir über die Gestaltung schon ein paar Gedanken gemacht“, erklärte Susanne. „Der alte Baumbestand soll selbstverständlich bleiben. Aber ich hatte auch an ein paar asiatische Anleihen gedacht. Und pragmatische Aspekte sind natürlich auch zu beachten. Ich will unbedingt einen massiven Zaun um das Grundstück.“

„Klar!“, versuchte ich mich ins Gespräch einzuklinken, wurde aber glatt überhört.

„Ein paar Gärten habe ich mir bereits angeschaut und dabei Ideen gesammelt“, machte meine Kontrahentin weiter, „da würde ich dir gern das ein oder andere zeigen.“

„Natürlich!“, palaverte Carsten und meine Gärtnerinnenhände hätten ihm mit Freude den Hals umgedreht.

„Sanne soll sich um alles kümmern“, brachte jetzt Robert ein. „Ich habe genug mit der LAGA zu tun. Aber ich denke, ihr beiden kommt klar.“

„Das denke ich auch“, sagte Carsten.

In dem Moment sah ich sie ein weiteres Mal vor mir. Und zwar in erschreckender Klarheit. Susanne Schürmann mit bleichem Gesicht und aufgerissenen Augen. Tot über ihrem neu gesetzten Zaun. Neben ihr flatterte eine Gartenbauskizze arglos im Wind.

Männer sind ja häufig so naiv. Carsten widmete sich dem Schürmann’schen Projekt mit einer Hingabe, die ich als Ehefrau nur peinlich nennen kann. Er ließ sich von Susanne durch die Gegend kutschieren, besuchte mit ihr Pflasterausstellungen und ging mit ihr ein ums andere Mal seine Planungen durch.

„Du hängst dich ja ziemlich rein“, sagte ich einmal in süffisantem Ton, als er gegen 21 Uhr von einem Besprechungstermin zurückkam.

„Es hängt ja auch viel dran“, konterte er. „Robert ist einer der wichtigsten Leute in der LAGA-Gesellschaft und ganz nebenbei ist sein Garten ein Prestigeprojekt, mit dem wir weitere Kunden anziehen können.“

„Aha“, sagte ich und fragte mich, ob man schon bei der Zaunplanung angekommen war.

„Und Robert hält sich ganz raus?“, setzte ich nach. „Aus eurem Gartenprojekt, meine ich jetzt?“

„Bei dem läuft jetzt alles auf Hochtouren, die LAGA-Planung geht in die entscheidende Phase. Jetzt müssen Gruppen geködert werden, damit es sich rechnet. Die Landfrauen aus Korbach müssen genauso nach Hemer reisen wie die Senioren aus Gütersloh und der Kindergarten aus Bochum-Ost. Was meinst du, was da an Organisation dahintersteckt – an Werbung und Vermarktungsstrategie.“

„Klar, verstehe ich“, stimmte ich zu, „Zauber der Verwandlung und so.“

Ich hatte mich entschieden, nach außen die verständnisvolle Schiene zu fahren, die Problemlösung dagegen eher grundlegend anzugehen. Dann konnte ich mich doch nicht zurückhalten. „Allerdings dachte ich, Robert sei Controller. Was hat er dann mit der Vermarktung zu tun?“

Carsten zögerte kurz. „Da hängt doch alles mit allem zusammen“, meinte er schließlich grätzig und wandte sich ab. In dem Moment fragte ich mich, ob auch mein Mann gerade eine Verwandlung durchmachte.

Verwandlung war mein neues Schlüsselwort. Robert verwandelte sich. Er war nur noch gehetzt und tat mir fürchterlich leid. Die LAGA wuchs ihm über den Kopf, er arbeitete praktisch rund um die Uhr. Dann machte auch Susanne eine Verwandlung durch. Sie wurde ruhiger mir gegenüber. Klassischer Fall von schlechtem Gewissen. Am schlimmsten aber, dass auch Carsten sich verwandelte. Er wich mir aus und war ständig unterwegs. Für mich verwischte sich, ob er für die LAGA arbeitete, für die Schürmanns privat oder ob er in anderer Mission unterwegs war. Aber ich war nicht bereit ihm hinterherzuspionieren. Wie ich schon sagte, ich wollte die Sache grundlegend angehen. Denn – und das kann ich nicht verschweigen – auch ich begann mich zu verwandeln.

Die LAGA wuchs und wuchs – und zwar in immer schnellerem Rhythmus. Die groben Arbeiten kann man langfristig planen – Baumanpflanzung, Erdarbeiten, Wege und so. Aber die Bepflanzung der Beete, die passiert unmittelbar vor Beginn – und nach dem Frost. Und da man nicht weiß, wie lange es friert, wirklich unmittelbar vorher! Da am 17. April große Eröffnung gefeiert werden sollte, arbeiteten wir uns Anfang April die Finger wund. Einige Mitbewerber waren mit Themengärten beschäftigt. Unser Betrieb war mit den Schaubeeten im Eingangsbereich beauftragt. Es gab soviel zu tun, dass selbst ich zur LAGA-Baustelle musste. Außerdem waren zwei Aushilfen eingestellt worden. Ein riesiges Blütenmeer musste entstehen, und das setzt sich nicht von selbst. Emsige Betriebsamkeit also, als eines Nachmittags plötzlich ein Landrover aufkreuzte. Nicht irgendein Landrover, sondern der von Susanne. Als sie ausstieg, hatte sie tatsächlich wieder ein rosafarbenes Poloshirt an. Mein erster Gedanke war, dass sich die Farbe ihres Oberteils furchtbar mit den lilafarbenen Primeln biss, die ich gerade setzte. Mein zweiter Gedanke war, dass sie aussah wie Prinzessin Lillifees Tante. Mein dritter Gedanke: Was will sie von Carsten? Tatsächlich hatte ihr schweifender Blick meinen Mann gesucht und blitzschnell gefunden. Im Beet hockend nahm ich zur Kenntnis, wie sie temperamentvoll auf ihn einredete. Was, konnte ich auf die Entfernung leider nicht verstehen. Während ich weiter Pflanzlöcher aushob, kam mir plötzlich ein Detail meiner Kindheit in den Sinn: Mehrere Jahre hatte ich beim Krippenspiel der Gemeinde St. Peter und Paul mitgewirkt. Gern hätte ich dabei nur ein einziges Mal den Engel gespielt! Aber die Leiterin Frau Paschke hatte gemeint, der Engel passe nicht zu mir – allein schon wegen der Haare. So war ich immer ein nicht näher definierter Teil der Hirtengruppe geblieben. Ich warf einen Blick nach oben. Susanne Schürmann hatte garantiert immer den Engel gespielt! Egal, wo sie aufgewachsen war – wenn sie jemals in einem Krippenspiel mitgewirkt hatte – sie hatte den Engel gespielt.

Ich beobachtete weiter die Szene. Jetzt war es Carsten, der sprach. Sein muskulöser Oberkörper spannte unter dem T-Shirt. Es sah aus, als wolle Carsten Susanne etwas erklären. Schließlich schien man sich geeinigt zu haben. Lillifee setzte sich in ihr Barbiegefährt und dampfte ab. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ihr Auspuff rosa Qualm hinterlassen hätte. Angesäuert verteilte ich Dünger auf dem Beet. Er war mit Pestiziden vermengt. Kein Mensch macht sich eine Vorstellung davon, was auf Gartenschauen an Chemikalien verspritzt wird, damit alles schön aussieht. Kein Mensch macht sich eine Vorstellung davon, wie wütend eine Dauerhirtin wird, wenn ausgerechnet der Engel ihr den Hirtenknaben ausspannen will. Nachdenklich blickte ich auf das Pestizid zu meinen Füßen.

Abends rief Robert bei mir an.

„Weißt du, wo Susanne ist?“, fragte er mich.

Ich verkniff mir die Antwort, dass er als Ehemann das besser wissen müsste als ich.

„Sie wollte mit Carsten etwas anschauen, müsste aber längst wieder da sein.“

‚Das finde ich auch’, dachte ich gallig. Stattdessen sagte ich: „Sie werden aufgehalten worden sein, nehme ich an.“

„Wie geht’s denn bei dir so?“ Robert schien auf ein Gespräch aus zu sein.

„So lala!“

„Bei mir ist es auch nicht so doll. Diese LAGA macht mich noch fertig.“ Robert jammerte ein bisschen vor sich hin. „Soll ich noch auf ein Glas Rotwein vorbeikommen?“, streute er dann plötzlich unvermittelt ein. „Dann warten wir gemeinsam auf unsere Leute.“

Ich dachte kurz nach. Dann hatte ich mich entschieden. „Gern!“, sagte ich, obwohl ich auf Warten nicht so recht scharf war. Aber vielleicht machte es mehr Spaß, mit Robert zusammen zu warten.

Es dauerte drei Stunden, bis wir zu Ende gewartet hatten. Carsten kam peinlich berührt ins Haus und verschwand dann schnell in sein Bett. Das war der Moment, da ich Susanne Schürmann erneut überm Zaun sah. Eigentlich war es kein Zaun. Es war das Messinggestell am Fuß unseres Bettes.

Es kam, wie es kommen musste. So richtig gern red ich nicht davon. Ich hab das Pflanzengift in den Kaffee getan. Wenn man viel Zucker nimmt, merkt man es nicht. Es hat nicht lange gedauert, bis es wirkte. Kein Wunder, ich habe das Doppelte der tödlichen Dosis genommen. Ich wollte sichergehen, dass das auch klappt.

Manchmal geht mir die Sache auch heute noch nach – obwohl es schon sechs Wochen her ist. Ist schließlich ein menschliches Leben, das man da auslöscht. Andererseits wollte ich mich nicht verarschen lassen. Ich habe lange genug das Hirtenmädchen gespielt.

Wenn mich eine dunkle Wolke überkommt – ich meine, ein Anflug von schlechtem Gewissen – dann flüchte ich in die Gartenarbeit. Dann wühle ich in der Erde und verausgabe mich. Danach geht es mir meistens ganz gut.

Im Moment arbeite ich viel auf der LAGA. Vielleicht ist das eine besondere Form der Vergangenheitsbewältigung. Schließlich bin ich dann meiner Leiche ganz nah. Genau dort hab ich sie nämlich entsorgt. Unter dem lila Blütenmeer liegt ein Düngestäbchen der besonderen Art. Carsten, der sich die LAGA jetzt von unten anschauen kann.

Tot überm Zaun hängt also keiner. Susanne Schürmann geht es schon so schlecht genug. Seitdem ich mit Robert liiert bin, jammert sie ständig nur rum. Aber ich denke, lange müssen wir uns das nicht mehr anhören. Robert, Lotta und ich, wir ziehen bald weg. Früher habe ich mir das ja nicht vorstellen können, aus Hemer wegzugehen. Aber man verändert sich halt. Zauber der Verwandlung nennt man das wohl.

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Lippstädter Liebeshäppchen

Auf dem Friedhof waren mehr als dreihundert Menschen. In den Gesichtern Fassungslosigkeit. Wie anders sollte es sein, wenn ein Mensch stirbt, noch bevor er dreißig ist.

„Wie wäre es hier mit einem Gartenteich?“ Günters Frage war keine wirkliche Frage. Es war eine Aussage. Ein Vorhaben. Sein Vorhaben. Günter plante das Haus für seine Tochter und seinen zukünftigen Schwiegersohn. Und zwar bei sich im Garten!

„Die Hausgrenze verläuft dann hier“, Günter schritt eine imaginäre Linie ab. „Damit bleibt euch dort drüben noch genug Platz für ein bisschen Rasen und … ”, er zwinkerte Thomas zu, „… und für den Sandkasten natürlich.“

Den Sandkasten! Günter plante nicht nur ihr Haus. Günter plante auch schon ihre Kinder! Als Nächstes würde er Thomas ein par Tipps geben, wann er am besten mit Netti ins Bett ging.

„Ich will euch da nicht reinreden …“

Nein, Günter, überhaupt nicht!, dachte Thomas.

„… aber ich an eurer Stelle würde schon jetzt mal wegen der Baugenehmigung mit dem Sachbearbeiter sprechen. Ich kenn die doch alle. Schröder heißt der zuständige Mann. Ich bin seit Jahren mit ihm im Schützenverein. Wenn ich ein paar Worte mit dem rede, dürfte der Fall für euch erledigt sein.“

Thomas versuchte, sich an seinem zukünftigen Schwiegervater vorbeizuschieben. Bloß raus aus diesem Garten!

„Wir sollten das noch mal in Ruhe besprechen“, sagte er. „Weißt du, Netti und ich hatten in den letzen Wochen gar keine Zeit, uns um die Sachen zu kümmern.“

„Aber das weiß ich doch!“ Günter war ihm gefolgt und boxte ihm kameradschaftlich in die Seite. „Deshalb kümmere ich mich doch, Tommi. Wir haben jetzt November. Wenn wir im Frühjahr mit dem Bau beginnen wollen, dann müssen wir uns sputen.“

Wir!, dachte Thomas verbittert, wir!

„Weißt du“, erklärte Thomas, während sie sich dem Gartentor näherten, „so eilig haben wir es gar nicht. Wir wohnen doch ganz gut hier oben bei euch.“

Darüber ließ sich streiten. Für Thomas war es im Grunde schon ein Fehler gewesen, mit Netti bei ihren Eltern ins ausgebaute Dachgeschoss zu ziehen. Denn damit hatte eine Vereinnahmung begonnen, die Thomas mehr und mehr auf die Nerven ging. Leider sah Netti das ganz anders. Aber das war nicht das Einzige, was sie in der letzten Zeit trennte.

„Tommi, ich will mich da gar nicht einmischen!“, tönte Günter jetzt. „Das Ganze ist euer Ding. Euer Haus, eure Planung. Aber du bist vom Fach. Du weißt, dass die Zinsen so niedrig sind wie nie. Wer jetzt nicht baut, ist selber schuld.“

„Wie auch immer“, würgte Thomas ab, „ich muss jetzt los.“

Er war schon in der Einfahrt bei seinem Fahrrad, als ihn auch noch Nettis Mutter erwischte. „Sehen wir uns heute Abend?“ Lächelnd stand Uschi in der Haustür. „Kommt doch zum Abendessen herunter. Dann braucht ihr nicht zu kochen. Ist doch viel praktischer so!“ Thomas nickte nur matt und schwang sich aufs Rad. Selbst schuld. Er konnte eben nicht Nein sagen. Nicht, wenn Günter und Uschi vorschlugen, zusammen in Urlaub zu fahren. Nicht, wenn sie ihn zum Abendessen einluden. Nicht, wenn sie ihre Ehe, ihr Haus und ihre Kinder planten. Er konnte nicht Nein sagen, schon lange nicht mehr.

Als Thomas die Mastholter Straße entlangfuhr, wurde ihm klar, dass das genau der Punkt war: Nein zu sagen. Wie das wohl wäre, wenn er plötzlich bei der Trauung …?

„Thomas Streiter, sind Sie willens, Annette Meisterjahn zur Frau zu nehmen?“

„Nein!“

Allein die Vorstellung ließ ihn erschaudern. Das war nicht möglich. Nicht in dieser Stadt. Nicht mit Netti, die ihn so sehr brauchte. Seit so vielen Jahren schon. Sechzehn war er damals gewesen, genau wie Netti. Zusammen waren sie aufs Ostendorf-Gymnasium gegangen. Beide Außenseiter. Netti wegen ihrer unglücklichen Figur. Vielleicht auch, weil sie auf den ersten Blick besserwisserisch wirkte. Und er, weil er nicht dazugehörte. Als Zugezogener hatte man es nicht leicht in Lippstadt. Nicht, dass die Lippstädter feindselig wären – sie waren zurückhaltend, warteten ab. Man brauchte Zeit, um sich aneinander zu gewöhnen.

In der Oberstufe hatten sie sich dann gekriegt, Netti und er. Und waren ein Paar geblieben, die ganze Schulzeit hindurch. Danach die gemeinsame Ausbildung. Sie bei der Sparkasse an der Spielplatzstraße, er bei der Volksbank gegenüber.

Es war einfach alles so praktisch gewesen – sie hatten zusammen gelernt, Thomas hatte sich in die Kreditabteilung hochgearbeitet, Netti war zunächst in der Anlageberatung tätig gewesen und dann an den Schalter gewechselt. Mit ihren Posten konnten sie gemeinsam alt werden. Uralt.

Thomas nahm von der Lipperoder Straße aus den Weg über das kleine Wehr und am Finanzamt vorbei. Er fuhr diese Strecke mehrmals am Tag und bevorzugte die Nebenwege, um in Ruhe und ohne Netti seinen Gedanken nachhängen zu können.

Als Thomas am Lippertor den Fluss überquerte, fing es an zu nieseln. Schon wieder. In den letzten Tagen hatte es fast nur geregnet. Thomas hielt einen Moment an und warf einen Blick über das Brückengeländer. Die Lippe führte Hochwasser, unter ihm gurgelten die Wassermassen. Die Bäume links und rechts des Flusses standen wie zusammengekauert da, so als wollten sie die letzten verbliebenen Blätter an ihren Ästen unbedingt bei sich behalten. Gedankenverloren zog Thomas sich seinen Schal zurecht. Es war nicht nur nass, sondern auch verdammt kalt für einen Tag im November. Uschi hatte recht: Eine Hochzeit im Winter passte nicht zu einem perfekten Paar wie Netti und ihm. Eine Hochzeit im Regen – das passte zu Karen. Thomas durchzuckte es, noch bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte. Wie um sich zur Räson zu bringen, trat er in die Pedale. Eine Hochzeit mit Karen war etwas, woran man nicht einmal denken durfte. Er war doch mit Netti zusammen. Seit 13 Jahren. In einem halben Jahr würden sie heiraten. Dann würde gebaut. Und dann würden sie Kinder haben und zusammen alt werden. Gemeinsam mit den Schwiegereltern in ihrem Garten am Qualenbrink – wobei der Straßenname durchaus wörtlich zu verstehen war.

Thomas fühlte sich plötzlich alt. Manchmal fühlte er sich so alt, dass man ihn ohne Probleme ins Kurbad nach Bad Waldliesborn hätte überweisen können. Mit neunundzwanzig schon so alt.

Karen war plötzlich da gewesen. In seinem Büro. Sie hatte wohl nicht geklopft oder er hatte es überhört – jedenfalls hatte sie auf einmal vor ihm gestanden. Mit kurzen braunen Haaren, einer unmöglichen Brille, blitzenden Augen und einem Lächeln, das die Welt stehenbleiben ließ.

„Sind Sie der Herr Streiter?“

Er hatte nur genickt. Wie immer hatte er nur genickt.

„Na, dann bin ich ja richtig“, hatte sie gemeint und Thomas fand, dieser Satz gehöre in Stein gemeißelt.

Sie arbeitete für die Kölner Consultingfirma, die die Bank neu strukturieren sollte. Sie machte Befragungen bei den Mitarbeitern, wuselte mit ihren Kollegen durch alle Abteilungen und entwickelte Pläne, wie alles besser zu organisieren wäre. Von dem Augenblick an, als Karen in sein Büro gestolpert war, ließ er sie nicht mehr aus den Augen. Er bot an, ihr bei der Überprüfung der Kreditabteilung zu helfen. Dass er sie zum Essen einlud, gehörte zwar nicht dazu, aber er wagte es trotzdem. Er traute sich, als Netti für einen Tag in der Filiale in Benninghausen eingesetzt war. Geistesgegenwärtig erklärte er ihr am Telefon, dass er durcharbeiten würde und grübelte gleichzeitig darüber nach, wie er mit Karen die Mittagspause verbringen konnte. Auf dem Flur hatte er sie vor dem Konferenzraum wie zufällig abgepasst. „Heute Mittag schon was vor?“

„Was vor?“, hatte Karen leicht amüsiert wiederholt. „Nun, ich glaube nicht. Geht‘s heute nicht nach Hause?“

In dem Moment war ihm das Herz in die Hose gerutscht. Sie hatte also mitgekriegt, dass er jeden Mittag mit Netti zum Essen nach Hause ging. Weil das billiger war. Und praktischer natürlich. Und weil Uschi doch so gerne kochte.

Rokoko-Café