Immer in den frühen Morgenstunden trifft eine elegant gekleidete Gesellschaft aus verschrobenen Persönlichkeiten in den Hallen des Hamburger Großmarkts zusammen. Hier entfliehen sie der Realität, indem sie inmitten des hektischen Marktbetriebs und bei kulinarischen Köstlichkeiten eine Selbstdarstellung üben, die mit ihrer realen Existenz nichts gemein hat.
Zufälle bestimmen das Leben des arbeitslosen Astronomen Peter Loetsch. Durch Zufall ist er Schriftsteller geworden, zufällig ist sein erster Roman für kurze Zeit zum Bestseller avanciert und das zufällige Zusammentreffen mit seinem ehemaligen Kommilitonen Ferdinand Rauterberg hat ihm den Zugang zur Manege der eitlen Lebenskünstler um den Käsehändler und Affineur Maximilian Sturm ermöglicht. Einzig Sohn Dennis mit seinen ständigen Eskapaden entlässt den Protagonisten nie ganz aus der Wirklichkeit.
Andreas Tietjen (*1954) wuchs in einer niedersächsischen Kleinstadt auf und pendelt seit vielen Jahren zwischen der Metropole Berlin und einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. Nach seinem Studium der Kunsttherapie und einigen Jahren Berufspraxis wirkte er mehr als 25 Jahre lang als Keyborder, Komponist und Texter in verschiedenen Musikformationen im Bereich Pop- und Rockmusik. Seine Reiseleidenschaft führt ihn regelmäßig in viele verschiedene Länder, insbesondere nach Südostasien. Die vielfältigen Begegnungen, inspirierenden Erlebnisse und Eindrücke, die er dabei gesammelt hat, regten ihn an, seine ersten Romane zu schreiben. Bisher erschienen sind Dorf Guerilla, Roberts Restaurant. Expats in Thailand und Tod am Mekong. Eine Thailand Road-Story.
www.andreas-tietjen.de
ROMAN
DER KLEINE BUCH VERLAG
Die Handlung des Romans ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen sowie realen Geschehnissen ist rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.
©Originalausgabe 2015 Der Kleine Buch Verlag, Karlsruhe
Projektmanagement, Lektorat, Umschlaggestaltung, Satz & Layout:
Beatrice Hildebrand
Korrektorat: Natascha Matussek
Umschlagabbildungen:
Mann mit Schirm: Brian Jackson/Fotolia.com
Hamburg Waterkant: Stenzel Washington/Fotolia.com
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber.
ISBN: 978-3-7650-2134-3
Dieser Titel ist auch als Printausgabe erschienen:
ISBN: 978-3-7650-9112-4
www.derkleinebuchverlag.de
www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag
Christian Sievers
»Alles ist mit allem verbunden«
Original Aquarell, farbig
So nehmen wir denn Abschied von einem Freund, den wir nur kurze Zeit kannten, der aber unser Leben verändert hat wie wohl kaum ein anderer. An diesem eisigkalten Januartag wird im Beisein unzähliger Freunde, Bekannter und Schaulustiger die übergroße, Pink-Paisley-lackierte Holzkiste für alle Ewigkeit im Erdreich des Hamburger Friedhofs Ohlsdorf versenkt.
»Asche zu Asche, Staub zu Staub«, predigt der Pfarrer pathetisch.
»Schnee zu Schnee«, ergänze ich gedankenverloren.
Unangemessenes Gekicher ertönt von weiter vorne.
»Was hat er gesagt?«, von schräg hinten.
»›Schnee zu Schnee‹ hat er gesagt!«
Unterdrücktes Gelächter breitet sich in den Reihen der Trauergäste aus und vermischt sich mit dem Schluchzen der engsten Verehrer des Maître.
»Was machen wir nun?«, raune ich Ferdinand zu, meinem einzig verbliebenen Freund.
»Wir werden uns noch einmal auf Kosten des dicken Käsehändlers besaufen und das war’s dann«, erwidert die hagere Gestalt in ihrem typischen meckernden Tenor. »Machen wir uns nichts vor, die fetten Jahre sind vorbei. Wir sind heimatlos geworden, so wie wir einst heimatlos waren. Es ist aus und vorbei. Komm, lass uns vorgehen ins Café, damit wir noch einen Sitzplatz kriegen!«
Meine Wohnung in Köln hatte ich wegen meiner vorübergehend angespannten finanziellen Lage nicht mehr halten können. Sie war zudem viel zu groß für mich alleinstehenden Mittfünfziger und zu weit entfernt für die häufigen Besuche bei meinem Hamburger Verleger. Kurz entschlossen war ich dem Wink des Schicksals gefolgt und hatte meinen Wohnsitz in die Hansestadt verlegt. Ich hatte in Köln keine nennenswerten sozialen Kontakte, also würde ich mich in Hamburg in dieser Hinsicht nicht verschlechtern können. Der Frühling stand vor der Tür, und mein Gefühl sagte mir, dass ein neuer Lebensabschnitt bevorstand. Diesmal sollte es nach vielen unbefriedigend verlaufenen Veränderungen endlich wieder bergauf gehen. Ich spürte das, und aus diesem Grund war mir nicht, wie gewöhnlich, unwohl bei meinem Standortwechsel.
Ich hatte allerdings keine Ahnung, wie schwer es sein sollte, eine bezahlbare Wohnung in einem einigermaßen adäquaten Umfeld zu finden. Meine Ansprüche und Vorstellungen wurden Zentimeter für Zentimeter nach unten korrigiert, um schließlich in einem wahren Provisorium zu enden. Bis mein Verlag seinen Aufgaben und Pflichten mir, dem Schriftsteller, gegenüber nachkommen und meinen zweiten Roman gewinnbringend vermarkten würde, wollte ich mich mit einer altmodisch möblierten Eineinhalbzimmerwohnung im Stadtteil Borgfeld zufriedengeben. Und von dort konnte ich bei schönem Wetter mit Vergnügen zu Fuß zum Verlagshaus am Rothenbaum gehen.
Bei einem dieser Fußmärsche geschah es dann, dass sich eine neue Tür in meinem festgefahrenen Leben auftat.
»Was für eine verdammte Sauerei!«, rief eine mir irgendwie bekannte Stimme mit schrill nasalem Timbre. »Ich könnte diese verfluchten Köter allesamt umbringen! Mit den bloßen Händen! Wenn ich einen von euch asozialen Hundehaltern in die Finger bekomme, dann gnade euch Gott! Ihr erbärmliches Pack!«
Ich hatte genug gehört, um mir ganz sicher zu sein.
»Ferdi, was für ein Zufall! Was führt dich in diese ehrwürdige Stadt?«
Ein Mann von hagerer Gestalt, die in einem tadellosen Anzug steckte, drehte sich langsam zu mir um. Er hielt noch das beschmutzte Taschentuch in der Hand, mit dem er sich den Hundekot von seinem linken Schuh abgewischt hatte.
»Wenn ich nicht ein so verdammt gutes Gedächtnis hätte, dann würde ich dich nach so vielen Jahren nicht erkennen. Peter Loetsch, wenn ich mich nicht irre? Der farblose Peter, der uns ehedem im Hörsaal der Universität zu Heidelberg die Luft zum Atmen nahm.«
»Ferdi wie er leibt und lebt. Du machst immer noch die gleichen Scherze wie damals«, erwiderte ich säuerlich.
»Nenn mich bitte nicht Ferdi! Wir sind seit ein paar Jahrzehnten erwachsene Menschen. Ich sage ja auch Peter zu dir und nicht Popel oder Pupsi, wie wir dich früher zu nennen pflegten.«
Diese Spottnamen hatte ich völlig aus meiner Erinnerung verbannt, obwohl oder gerade weil ich jahrelang darunter gelitten hatte. Aber in der Zwischenzeit hatte sich ja einiges verändert und ich war ein angesehener Autor und Schriftsteller geworden. Ich hatte sogar einen Bestseller gelandet. Drei, vier Jahre ist das jetzt schon her, aber mein neuer Roman würde mit Sicherheit an den alten Erfolg anknüpfen.
»Ich habe von deinem Buch gelesen«, fuhr Ferdinand in versöhnlichem Ton fort. »Alle Achtung! So etwas hätte ich dir gar nicht zugetraut!«
»Hast du nur über mein Buch oder hast du das Buch selbst gelesen?«, fragte ich neugierig.
»Nein, nein, solche Schundliteratur würde ich nie in die Hand nehmen. Solche Verwechslungskomödien sind doch eher etwas für reifere Damen oder Taxifahrer während der Nachtschicht.«
»Das Buch ist keine Verwechslungskomödie, sondern eher ein Schicksals…«
»Richtig, ich erinnere mich! Schicksal und Herzschmerz, so ungefähr. Nein danke, nichts für mich, mein Lieber!«
Ich gab es auf, Niveau und Genre meines Romans zu verteidigen. Ferdinand war ein brillanter Rhetoriker, aber auch ein hundsgemeiner Zyniker – immer schon. Und wie es schien, hatte er in den Jahren noch reichlich zugelegt. Dennoch entwickelte sich unser Gespräch später in eine interessante und erbauliche Richtung. Ab dem Moment, da wir uns über unseren beruflichen Werdegang unterrichteten, begannen wir so etwas wie eine gemeinsame Sprache zu finden. Wir hatten damals beide Physik studiert. Während ich im Fach blieb und lediglich meinen Schwerpunkt auf Astronomie verlagerte, wechselte Ferdinand die Fakultät und schloss sein achtjähriges Studium – natürlich finanziert von seinem Herrn Papa – als Industriedesigner ab.
»Ich habe den designprämierten Eiskugelformer von Moderazzi gemacht«, brüstete er sich. »Das war noch vor meinem Examen, und was glaubst du, habe ich dafür an Honorar bekommen? Genau zweitausend Mark. Die Zigtausend, die die Lizenzen all die Jahre über abgeworfen haben, haben sich der Prof und die Uni unter den Nagel gerissen. So läuft das Geschäft, mein Lieber, aber ich habe sie später alle in den Sack gesteckt!«
Es begann leicht zu nieseln und wir standen immer noch in einer ruhigen Seitenstraße direkt vor dem Schaufenster eines kleinen Käsefachgeschäfts. Ferdinand kannte ein nettes, modernes Café mit anregendem Publikum, wie er sagte. Doch bevor wir unser Gespräch nach dort verlagerten, wollte er noch geschwind ein Stückchen Roquefort kaufen.
So betraten wir den düsteren Laden, ohne dass ich ahnte, die zweite wichtige Tür geöffnet zu haben, die in mein neues Leben führen sollte.
»Oh nein, wie sieht der Käse gammelig aus!«, lamentierte Ferdinand und deutete auf einen mit schwarzem und weißem Schimmel überwucherten Käse, aus dem nur ein kleines Stückchen herausgeschnitten war.
»Wenn Sie keine Ahnung von Käse haben, dann kaufen Sie doch gefälligst bei Aldi ein. Auf solch ignorante Kundschaft kann ich gut und gerne verzichten!«, knurrte eine brüchige Stimme.
»Und wenn Sie nichts von Lebensmittelhygiene verstehen, dann sollten Sie Ihren Beruf wechseln!«, polterte Ferdinand zurück.
Die alte Verkäuferin in ihrem schmuddeligen Kittel war drauf und dran, uns beide aus ihrem Laden zu werfen; nur mit Mühe gelang es mir, die Streitenden auseinanderzuhalten. »Dürften wir vielleicht ein klitzekleines Stückchen des edlen Schimmels probieren, um uns selbst ein Bild von dessen Qualität zu machen?«, warf ich diplomatisch ein.
Mürrisch trennte die Alte ein Stück des französischen Käses ab und reichte es uns auf der Spitze des großen, scharfen Messers. »Teufel!«, stieß Ferdinand aus. »Das ist ja ein höllisch guter Käse! Wo haben Sie solch einen Käse her?« Und in der Tat entwickelte sich auch auf meinem Gaumen eine Geschmackssymphonie, wie ich sie von einem Stück Schimmelkäse nie erwartet hätte.
»Schmeckt er also doch, mein Gammelkäse, ja? Dann probiert erst mal diesen hier!« Die Verkäuferin schnitt einen Streifen des von schwarzen Eichenblättern umhüllten Hartkäses ab.
»Nein! Das darf nicht wahr sein!« Ferdinands Begeisterung kannte keine Grenze. »Ich verlasse dieses Geschäft nicht eher, bis Sie mir verraten haben, woher Sie diese fantastischen Milchprodukte beziehen!«
Nun huschte ein Lächeln über das Antlitz der alten Dame. »Das kann Ihnen nur mein Sohn sagen. Er ist Affineur und macht aus seinen Rezepten große Geheimnisse. Ist mir auch egal, Hauptsache, die Kasse klingelt!«
Wir erfuhren, dass ihr Sohn einen Verkaufsstand im Großmarkt hatte, der aber zu dieser Zeit bereits geschlossen war, und so setzten wir unser Gespräch, wie verabredet, in einem gemütlichen Café fort, ohne weitere Gedanken an den Käsehändler zu verschwenden.
Nach unruhigem Schlaf erwachte ich schon im Morgengrauen. Ich hatte mich im Traum gewälzt, konnte mich jedoch nicht an Einzelheiten erinnern. Meine Morgenzeitung lag durchweicht vor der Tür und ich hatte am Vortag vergessen, Brot oder Toast zu kaufen.
So unbefriedigt konnte ich diesen Tag nicht beginnen. Sollte ich mir ein teures Frühstück in einem Kaffeehaus gönnen? Ich kannte jedoch noch nicht viele in meiner neuen Umgebung. Kurz entschlossen warf ich meinen Regenmantel über und kämpfte mich, mit Schirm bewaffnet, durch das nordische Aprilwetter. Da ich kein geöffnetes Lokal fand, bestieg ich den Bus in Richtung Innenstadt. Im Gedränge der Passagiere und durch die beschlagenen, regennassen Fensterscheiben gelang es mir weder mich zu orientieren, noch entdeckte ich irgendein Lokal, in dem ich meinen Hunger hätte stillen können.
Irgendwann sah ich an einer Haltestelle die Leuchtschrift des Hamburger Großmarkts. »Halt!«, schrie ich, als der Bus sich gerade wieder in Bewegung setzte. Der überraschte Fahrer hatte Erbarmen und entließ mich in das Hamburger Schmuddelwetter.
Nun stand ich im Nieselregen vor einem hohen Drehkreuz und blickte auf das Treiben in einiger Entfernung jenseits des Zauns. Ein junger Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze drängte an mir vorbei, zog seine Ausweiskarte durch das Lesegerät und zögerte. »Wolltest du auch rein?«, fragte er mich knapp. Als ich mit einem unsicheren »Jo!« antwortete, drängte er: »Na dann komm!«, und ließ das Tor eine weitere Runde für mich drehen.
In der imposanten Markthalle herrschte große Geschäftigkeit und ständig hatte ich das Gefühl, jemandem im Weg zu stehen. Es gab zehn mal zehn Gänge, die zu teilweise richtigen kleinen Geschäften in verschieden großen Boxen aus Blech oder sogar Beton führten, die nach vorn hin mit riesigen Rollläden verschlossen wurden. Einige dieser Boxen waren nichts anderes als Maschendrahtkäfige, andere wiederum sahen massiv und seriös aus. Dazwischen gab es Freiflächen, die durch gelbe Farbmarkierungen auf dem nackten Betonboden unterteilt waren. Auf diesen Flächen standen Obst- und Gemüsekisten auf Holzpaletten. Gabelstapler und elektrische Ameisen flitzten mit Kolli oder großen Behältnissen durch die ganze Halle.
Wer ihnen in die Quere kam, wurde erbarmungslos aus dem Weg gehupt und mit Schimpfkanonaden der Fahrer bedacht. Ich bahnte mir meinen Weg durch die engen Gänge, ohne recht zu wissen, was ich hier eigentlich suchte. Zwar hingen meine Gedanken an dem gestrigen Erlebnis in dem Käsegeschäft, aber in erster Linie war ich hungrig und lechzte nach einer heißen Tasse Kaffee. Beides würde ich wohl zwischen den Bergen von Obst, Gemüse, Kisten und Fässern nicht finden.
Nie zuvor war ich in einer vergleichbaren Halle gewesen und darum einigermaßen überrascht, dass es einen italienischen Spezialitätenhändler gab, der an Bistrotischen mit Hockern Espresso, Cappuccino und dazu knackige Brötchen, wahlweise mit Gorgonzola oder Parmaschinken belegt, anbot.
Flaviano Pinifarina war unablässig damit beschäftigt, sein Sortiment an Würsten, Käse, Antipasti und anderen italienischen Spezialitäten in der Auslage hin und her zu sortieren. Dabei schimpfte er unablässig auf Italienisch mit einer rundlichen, älteren Frau in Kittelschürze, seiner Ehefrau vermutlich. Ich verstand kein Wort, wohl aber seine überdeutlichen Gebärden.
Ein Kunde, anscheinend ebenfalls Italiener, kam mit einem Plattenwagen herangerollt. Die beiden begrüßten sich temperamentvoll und beluden den Wagen mit Kartons und großen Blecheimern. Anschließend säbelte Flavio gekonnt hauchdünne Scheiben von mehreren Schinken und Salamis ab und drapierte sie auf einem Holzbrett. Dazu schnitt er Parmesankäse in feine Streifen und reichte alles herum, an mich und ein paar weitere Gäste. Ich wähnte mich im Schlaraffenland, aber ein enorm korpulenter Herr mit Glupschaugen, kreisrundem Mund und Doppelkinn nörgelte an dem Parmesan herum.
»Flavio, was ist das für ein krümeliges, trockenes Zeug?!«, lamentierte er. »Ihr Italiener habt doch keine Ahnung vom Lagern. Ihr könnt durchaus guten Käse machen, aber von Reifeprozessen habt ihr keinen Schimmer!«
»Maxi, hör auf!«, protestierte Flavio. »Geh mir nicht auf die Nerve mit deine Vorträge. Ich verkaufe meine Käse seit zwanzig Jahre so, wie ich ihn aus Bella Italia bekomme, basta.«
Der Dicke machte eine abwertende Handbewegung und schlurfte wortlos davon. Ich sah ihm nach. Er war eine auffallende Erscheinung, trug einen schwarzen Anzug mit silbergrauer Weste. Seine ebenfalls schwarzen Halbschuhe sahen breit und ausgetreten aus, waren aber hochglanzpoliert. Er ging darin wie in Pantoffeln.
Ich trank noch einen Espresso, zahlte und schlenderte weiter durch die Hallen. So gestärkt wollte ich mich auf die Suche nach dem Käsehändler Sturm machen, dessen Mutter Ferdinand und mir am Vortag eine sehr unpräzise Wegbeschreibung gegeben hatte. Ich sah zum anderen Hallenende hinüber und stieß mit der Sackkarre eines Einkäufers zusammen.
»Herr Loetsch, lassen Sie die Halle stehen!«, rief eine mir bekannte Meckerstimme. »Wo du auftrittst, regiert das Chaos!«
»Ach, sieh einer an, der Ferdinand«, antwortete ich, positive Überraschung vortäuschend. »Da wollte dem Herrn wohl des Sturms Käse nicht aus dem Sinn gehen?«
»Da hast du recht, mein Lieber. Hast du ihn schon gefunden, den Käsehändler? In Halle 1, wie die gute Frau Mama gestern behauptete, ist er jedenfalls nicht.«
»Ach, gibt es noch weitere Hallen?«, fragte ich erstaunt.
»Die gibt es in der Tat. Drei Haupthallen und noch Nebengebäude sogar.«
Wir taten uns noch eine Weile gemeinsam um, sprachen dann ein paar Händler an und wurden geradewegs in Halle 2 geschickt.
Hier ging es etwas gemächlicher und übersichtlicher zu. Ferdinand nahm sich im Vorbeigehen ein paar Macadamianüsse aus der Auslage eines Händlers und gab mir wie selbstverständlich davon ab. Ganz hinten in der Halle bogen wir nach rechts in einen Gang und standen nach wenigen Schritten vor einem ordentlichen Laden. Der korpulente Herr, den ich bereits zuvor beim Italiener gesehen hatte, war gerade dabei, seinen Verkaufstresen zu reinigen. Etwas überrascht blickte er uns an, so als ob er fragen wollte: Was jetzt, kurz vor Ladenschluss kommt ihr her zum Einkaufen?
»Sind Sie der Herr Sturm? Maximilian Sturm?«, fragte Ferdinand.
Sturm wiegte seinen Kopf wie ein Inder. Es war kein Zustimmen, aber auch kein Verneinen. »Und wer möchte das wissen?«, fragte der Dicke.
Ferdinand sah mich kurz fragend an, dann wandte er sich an den Käsehändler. »Ein Verehrer Eurer verflucht leckeren Käseschweinereien, nicht mehr und nicht weniger!«
»Nun denn, der bin ich«, antwortete der Mann divenhaft und musterte Ferdinand vom Kopf bis zu den Füßen. »Ich bin der Käse-Sturm, Maximilian. Maxi sagen meine Freunde und die, die mich besser kennen.«
»Was für eine Tunte!«, spottete mein Freund unüberhörbar.
Sturm sah ihn an. Erst fassungslos, dann böse, dann abwertend, dann verschämt und dann fragend.
»Aber ein stattlicher Mann!«, ergänzte Ferdinand gönnerhaft. Sturm senkte kurz die Augenlider und deutete eine wohlmeinende Verbeugung an. »Wollt ihr mal etwas Besonderes probieren?«, fragte der Käsehändler und leckte mit der Spitze seiner Zunge kreisförmig über seine Lippen. Er griff unter den Tresen und holte ein großes Stück Hartkäse hervor. Mit einem Hobel zog er hauchdünne Scheibchen davon ab und drapierte diese liebevoll auf einem Glasteller. Er bot uns davon an und legte sich selbst ein oblatengleiches Stück auf die Zunge.
»Was sagt ihr?«, triumphierte Maximilian, genannt Maxi.
»Nicht schlecht!«, gab ich anerkennend zu.
»Nicht schlecht?« Der Mann war entrüstet. »Nicht schlecht war das, was dir der Ithaka angeboten hat. Das warst doch du vorhin, oder?« Ich nickte schuldbewusst, hatte ich doch wirklich nicht die richtige Formulierung getroffen. »Meine kleine Kostprobe ist exakt der gleiche Parmigiano, den du vorhin gekostet hast, ich habe ihn selbst bei Flavio gekauft. Der Unterschied liegt darin, dass ich ihn viele Monate lang gelagert habe, nach einer Methode, die kein Mensch außer mir kennt. Flavios Käse ist …«, er wedelte mit der rechten Hand, »… nicht schlecht, aber meiner ist edel und besonders. Das ist der Unterschied!«
Uns beiden, Ferdinand und mir, fehlten die Worte, ich jedoch wusste, dass der dicke Sturm recht hatte mit dem, was er sagte. Maxi klatschte zweimal in die Hände und augenblicklich traten zwei Jünglinge hinter einem Vorhang hervor, der einen weiteren Raum verbarg. Sie bewegten sich wie Balletteusen und beäugten uns von oben bis unten.
»Bringt Trauben und Brot, los, los!«, befahl Sturm.
Die beiden jungen Männer trugen ebenfalls schwarze Anzüge, die hochmodern waren und ihnen ausgezeichnet standen. Darüber aber hatten sie bordeauxrote, steife Stoffschürzen angelegt, auf denen in hauchdünner, eleganter Schrift der Name »Affineur Sturm« in grauer Farbe eingestickt war. Sie hießen Rolf De Longe und Siegbert Sydow, genannt Sü-Sü.
Es war eigentlich nicht viel passiert am gestrigen Tag im Großmarkt. Ich hatte ganz gut gefrühstückt, meinen ehemaligen Kommilitonen Ferdinand Rauterberg getroffen, gemeinsam hatten wir ein paar Sorten Käse probiert und waren dabei mit roten Trauben und etwas geröstetem Baguette verwöhnt worden. Und dennoch spürte ich ein zwanghaftes Verlangen, diesen Ort schnellstmöglich wieder aufzusuchen. Die Kerngeschäftszeiten des Großmarkts waren frühmorgens von zwei bis neun Uhr. Danach ging der Handel für kleinere Kunden wie etwa Küchenchefs bedeutender Restaurants noch bis in den Vormittag hinein weiter. Anschließend war Publikum nicht mehr erwünscht, da in großer Eile Aufräum- und Reinigungsarbeiten durchgeführt wurden.
Ich hatte heute keinerlei Termine oder Verpflichtungen und meinem Wecker einen Tag frei gegeben. Auch schlief ich tief und zufrieden – bis kurz nach halb eins in der Nacht. Ab da lag ich in meinem Bett, völlig wach und ausgeschlafen, und überlegte, wie ich meine Zeit sinnvoll nutzen könnte. Ich nahm mein Buch vom Nachttisch und versuchte ein paar Seiten zu lesen, um müde und schläfrig zu werden. Doch schoben sich immer wieder die Bilder der Markthalle dazwischen.
Die langsam verstreichende Zeit wurde zur Qual. Gegen drei Uhr gab ich meinem inneren Drängen nach, duschte mich geschwind, zog die Kleidung vom Vortag an und ging eiligen Schritts zur Bushaltestelle. Ich studierte den Fahrplan und prägte ihn mir für die wichtigen Nachtstunden ein. Kaum zwanzig Minuten später besetzte ich als einziger Fahrgast den Sitz schräg hinter dem Busfahrer und verfolgte die Strecke durch die große Frontscheibe. Ich schärfte mir alle Details ein, zeichnete in Gedanken Pläne für Alternativrouten oder Abkürzungen für Fußgänger und Fahrradfahrer.
Beim Eintreten in Halle 1 hielt ich kurz inne. Ich war ein Fremdkörper hier zwischen all den vielen schaffenden Menschen, heransausenden Gabelstaplern, rufenden Händlern und Käufern, die ihre Visitenkarten auf Kisten mit Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch legten, um damit ihre Kaufabsichten anzuzeigen. Ich dagegen war so früh am Morgen nicht mit dem Vorsatz hergekommen, die frischesten Partien zu den günstigsten Preisen zu ergattern. Ich war nur ein Zaungast, einer, der dieses pulsierende, geschäftige Treiben als Anregung für seine eigenen Gedanken und Gefühle in sich aufsog.
Ich setzte meinen Weg fort ohne genau zu wissen, wohin ich wollte. Spontan stattete ich dem Italiener Flavio, der nach der Inschrift auf seinem messingfarbenen Firmenschild eigentlich Flaviano hieß, einen Besuch ab. Während ich mich auf einen der Hocker schwang, grüßte er mich kurz wie einen alten Bekannten. Ohne meine Bestellung abzuwarten setzte er mir erst einen Cappuccino und kurz darauf einen Porzellanteller mit einem knusprigen, dick mit Parmaschinken belegten Brötchen vor. Genau das hatte ich am Vortag schon verzehrt. Frau Pinifarina keifte auf Italienisch, Flavio zuckte mit den Schultern und warf zu mir herüber: »Frauen, weißt du? Du kannst ihnen nie recht machen. Bist du verheiratet? Nein? Dann sei froh und genieß dein Freiheit!« Er kam hinter seinem Tresen hervor, gab mir ein Glas Prosecco in die Hand, stieß mit mir an und sagte: »Salute, mein Freund! Gehört zu gute italienische Lebensart! Ein guter Prosecco weckt Geister für den Tag. Was sagst du? Ist Spitze? Spitzenqualität aus Bella Italia, dafür bin ich bekannt in ganz Hamburg! Salute!«
Während meines Frühstücks beobachtete ich die fleißigen Arbeiter und ein paar Gäste, die sich neben mich und an die anderen drei Tische setzten. Es hatte den Anschein, als ob Flavios Spezialitätenhandel mit angeschlossenem Mini-Bistro eine Ruheoase in all dem Leben und Treiben war. Die meisten seiner Kunden waren in der für einen Großmarkt üblichen, praktischen Arbeitskleidung erschienen. Es gab jedoch auch den einen oder anderen Gast, der sich durch feinen Zwirn, zumindest aber gepflegte Freizeitkleidung, von der Masse abhob. Dies waren alles Herren, die sich um den Faktor Zeit nicht scheren zu müssen schienen. Und auch ich pflegte einen Anzug zu tragen, wenngleich er seine besten Jahre bereits hinter sich gelassen hatte.
Nach dem Frühstück und einem weiteren Espresso setzte ich meinen Gang durch die Halle fort. Dabei versuchte ich das Markttreiben möglichst wenig zu stören und so gut es ging rechtzeitig aus dem Weg zu springen, wenn wieder einmal eine palettenbeladene Ameise, ein Gabelstapler oder auch nur ein Händler mit einer Sackkarre, angesaust kamen.
Es duftete nach frischem Obst. Fast automatisch gelangte ich zum Übergang zu Halle 2. Wieder fiel mir die andere Lichtund Geräuschkulisse in diesem Gebäudeteil auf. Und auch die Gerüche unterschieden sich, die Halle wirkte trockener und wärmer als das Hauptgebäude. Zielstrebig bahnte ich mir meinen Weg in Richtung des Käsehändlers. Eigentlich wusste ich gar nicht, was ich dort sollte, beschleunigte dennoch meine Schritte, je weiter ich in die Nähe des Ladens kam. Wenige Meter noch, dann bog ich um die Wellblechwände eines geschlossenen Verkaufsstands, den Blick auf Sturm’s Käsespezialitätengeschäft gerichtet. Doch was sah ich dort? An einem hölzernen Stehtisch neben dem Eingang lehnte Ferdinand und unterhielt sich wild gestikulierend mit Sturm und einem Herrn, den ich nicht kannte. Ich verharrte zögernd, doch er hatte mich bereits entdeckt und rief mir zu: »Hey Peter, alter Sternengucker! Komm rüber zu uns und erzähl, was aus der kleinen Blonden aus dem vierten Semester geworden ist. Ich habe die ganze Geschichte, wie du dir von ihr ein Kuckucksei hast andrehen lassen, eben vor unseren beiden Freunden hier zum Besten gegeben. Wir haben uns köstlich amüsiert! Dir sind doch sicherlich noch mehr solcher Missgeschicke unterlaufen. Nun rede schon!« Ferdi hatte sein mir vertrautes, gehässiges Grinsen aufgelegt und ich fühlte mich wieder einmal wie der Depp. Ja, das war eine üble Geschichte damals. Auch wenn es nun schon mehr als dreißig Jahre her war, erinnerte ich mich noch an fast jedes Detail dieses Dramas. Das Mädchen hieß Gesine und war bekannt für ihr freizügiges Liebesleben. Dummerweise kannte ich Gesine gar nicht und von ihrem Lebenswandel war mir nie etwas zu Ohren gekommen. Es war das erste Mal, dass sich ein gut aussehendes, weibliches Wesen so offensichtlich und charmant an mich herangemacht hatte. Sie hatte so getan, als ob ich Mister Wunderbar wäre und ich bin auf den Schmus hereingefallen. In Wirklichkeit hatte sie wohl nur einen greifbaren Verantwortlichen für das in ihr heranreifende Baby gesucht, denn als Tochter aus streng katholischem Hause wurde ein uneheliches Kind oder gar Abtreibung mit dem gnadenlosen Verstoß aus den Familienbanden sowie mit standrechtlicher Enterbung sanktioniert. Fast hätte ich mich freiwillig aufs Schafott begeben, hätte nicht Ferdinand mit seinem Spott und Getratsche die ganze Angelegenheit öffentlich gemacht und somit für Gesine vermasselt. Ich lief zwar fortan mit dem Makel eines riesigen Geweihs auf meinem Schädel durch die Universität, hatte aber wenigstens mein Fell retten können.
Was war aus der blonden Gesine aus dem vierten Semester geworden? Nun, sie hatte damals sehr überrascht getan über meine Vorwürfe und Anschuldigungen, hatte echte Tränen gezeigt und vergeblich versucht mich umzustimmen. Später erfuhr ich dann, dass sie gestorben war; wie und warum konnte ich jedoch nie in Erfahrung bringen.
»Ich fände es fair, wenn du die alten Zeiten ruhen und die alten Geschichten unerwähnt lassen würdest!«, begrüßte ich meinen ehemaligen Kommilitonen. Er hatte mir ein wenig die gute Stimmung verdorben. Nicht nur wegen seiner Zoten auf meine Kosten, sondern auch deshalb, weil er schon wieder vor mir in der Markthalle eingetroffen war. Hatten wir diese nicht gemeinsam entdeckt? Wäre es darum nicht angemessen, dass wir uns nun zusammen und gleichzeitig in die Gesellschaft der Marktbeschicker einführten?
Ferdinand ignorierte meine Bemerkung. Großspurig stellte er mich dem Herrn, der neben ihm stand, mit den Worten vor: »Peter Loetsch, ein Sternengucker und Verfasser von Schundromanen.«
Mit einem gequälten Lächeln gab ich meinem Gegenüber, Herrn Siegfried Verheer, Feinkosthändler im Ruhestand, die Hand. Herr Verheer interessierte sich nicht einen Moment lang für meine Person. Weder für mich als Sternengucker noch als Verfasser von Schundromanen. Stattdessen erzählte er langatmig davon, dass ohne seine beiden Feinkostgeschäfte die Hamburger Bürger allesamt verhungert und seit drei Jahrzehnten ausgestorben wären.
Siegfried Verheer war ein alter Mann, der seit sechs Jahren als Ruheständler in einem schicken, alten Haus in Elbchausseenähe lebte. Jeden Donnerstag kam er seither aus alter Verbundenheit in die ehrwürdigen Markthallen und stattete den Händlern, die ehemals seine Lieferanten waren, einen Besuch ab. Nur wenn der Markt wegen eines Feiertags geschlossen war, was höchst selten vorkam, oder wenn er selbst einmal an einem Donnerstag einen anderen, wichtigen Termin hatte, was noch seltener vorkam, erlaubte sich Siegfried, seinen Markttag auf einen darauffolgenden Wochentag zu verschieben.
Ferdinand applaudierte seinen Ausschweifungen durch albernes Gekicher, während Sturm, ohne eine Miene zu verziehen, diese kleine Runde beobachtete und sich seine Gedanken über uns zu machen schien. Rolf und Sü-Sü kamen mit zerzausten Haaren und müden Augen aus dem hinter dem Vorhang liegenden Teil des Ladens und brachten eine kleine Silberplatte mit Käsehäppchen. Sü-Sü fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen kreisrund um Mund und Kinn verlaufenden Bart; Rolf strich sich eine dunkle Strähne aus der Stirn.
Sturm musterte sie vorwurfsvoll. »Habt ihr alles geprüft und gemacht, was ich euch geheißen habe?«, fragte er tadelnd.
»Ja, großer Meister«, antwortete Rolf. »Selbstverständlich! Haben wir dich jemals enttäuscht?« Sü-Sü rollte mit den Augen. Der Meister verfinsterte drohend seine Miene.
Während wir von dem vorzüglichen Käse naschten, kam ein kräftiger Mann mit einem großen Weidenkorb am Arm um die Ecke gebogen und gesellte sich zu uns. Er sagte kein Wort, sondern hielt uns eine Flasche Klevener de Heiligenstein, einen Elsässer Gewürztraminer, vor die Nase, die er in einer ausschweifenden Handbewegung aus seinem Korb genommen hatte.
Ferdinand schnalzte mit der Zunge und sagte: »Oh lala!«, Verheer nickte anerkennend mit dem Kopf, Sturm lächelte. Der Mann stellte sieben Gläser auf den Tisch, entkorkte die Flasche und verteilte deren Inhalt gekonnt auf die Gläser. Dann nahm er eines davon in die Hand und sagte: »A votre santé! Eine Empfehlung des Maison de vin d’Alsace.«
Sü-Sü frohlockte: »Oh Raoul, das klingt aber süß französisch! Prösterchen, ihr Lieben!«
Raoul Wiesmüller war ein ebenfalls stämmiger Mann, den ich auf etwa sechzig Jahre schätzte. Er hatte einen dunklen Teint und dichtes, dunkles Haar, das mit leicht grauen Strähnchen durchsetzt und an den Schläfen komplett ergraut war. Seine ausgeprägten Lachfalten und die etwas raue Stimme ließen ihn sympathisch wirken. Ich mochte den Weinhändler auf Anhieb und er mich scheinbar auch.
Wir unterhielten uns, tranken hervorragenden Wein, aßen erlesenen Käse, Weintrauben und geröstete Baguettescheiben. Es kam mir wie ein Urlaubstag in einem französischen Bistro vor. Trotz des wenigen Publikumsverkehrs hier im hintersten Gang der Halle hörten wir ein Grundrauschen aus Schritten, Arbeitsgeräuschen, der Lüftung und Unterhaltungen, das sich an der Hallendecke brach und zurückgeworfen wurde. »Jetzt fehlt nur noch ein Musettespieler, dann fühle ich mich wie Gott in Frankreich!«, schwärmte ich und meine Tischnachbarn nickten zustimmend.
»Wenn du hier Tag für Tag arbeitest und immer dieselben Gesichter siehst, dann kannst du schnell schwermütig werden«, antwortete Raoul. »Da muss man sich einfach ab und zu mal eine kleine Pause gönnen. Ich verkaufe edle Weine, Maxi unvergleichliche Käsespezialitäten. Hin und wieder muss man doch auch mal selber davon naschen. Wie sollten wir sonst unsere Waren mit voller Überzeugung unseren Kunden anpreisen können?«