Inhaltsverzeichnis
Am zweiten Tage nach Weihnachten sprach ich vormittags bei meinem Freunde Sherlock Holmes vor, um ihm meine Glückwünsche zum Feste darzubringen. Ich traf ihn in einem purpurroten Schlafrock auf dem Sofa liegend, die lange Pfeife neben sich, ganz begraben unter einem Stoß von Morgenzeitungen. Neben dem Sofa stand ein Holzstuhl, an dessen Lehne ein ruppiger, unappetitlicher steifer Filzhut, an mehreren Stellen eingedrückt und längst nicht mehr gebrauchsfähig, aufgehängt war. Ein Vergrößerungsglas und eine Pinzette auf dem Sitz des Stuhles deuteten an, daß der Hut zum Zweck seiner Untersuchung dort hing.
»Du bist beschäftigt«, sagte ich. »Ich störe dich vielleicht?«
»Durchaus nicht. Es ist mir im Gegenteil ganz erwünscht, mit einem guten Bekannten über die Ergebnisse meiner Untersuchung sprechen zu können. Der Gegenstand ist ein ganz alltäglicher« – dabei deutete er mit dem Daumen nach dem alten Hut hin –, »aber die weiteren Umstände, die mit demselben im Zusammenhang stehen, sind nicht ganz uninteressant, ja sogar einigermaßen lehrreich.«
Ich setzte mich in seinen Armstuhl und wärmte mir die Hände an seinem prasselnden Feuer, denn es war scharfer Frost eingetreten, und die Fenster waren mit einer dicken Eiskruste überzogen. »Vermutlich«, bemerkte ich, »steckt hinter diesem Ding da, so harmlos es aussieht, irgend eine Mordgeschichte und bildet es für dich den Anhaltspunkt zur Entdeckung irgend eines Geheimnisses und zur Bestrafung eines Verbrechens.«
»Nein, nein! nichts von Verbrechen«, versetzte Holmes lachend, »nur einer jener absonderlichen kleinen Zwischenfälle, wie sie immer vorkommen, wo sich doch Millionen menschlicher Wesen auf einem Raume von wenigen Quadratmeilen drängen. Bei den wechselseitigen Reibungen eines so dichtgeballten Menschenschwarms darf man sich auf alle möglichen Verkettungen von Umständen gefaßt machen, und bietet sich so manches kleine Rätsel zur Lösung dar, das, ohne verbrecherischer Natur zu sein, des Überraschenden und Sonderbaren genug enthält. Wir haben schon mehr dergleichen erlebt. Nun, ich zweifle nicht, daß auch dieser kleine Fall zu dieser unschuldigen Sorte gehören wird. Du kennst doch Peterson, den Kommissionär?«
»Ja.«
»Ihm gehört diese Trophäe.«
»Es ist sein Hut?«
»Doch nicht, er hat ihn gefunden. Der Eigentümer desselben ist unbekannt. Ich bitte dich jetzt, in dem Hut nicht einen alten, ruppigen Filz, sondern vielmehr einen Prüfstein für unsern Scharfsinn sehen zu wollen. Vor allem also höre, wie derselbe hierher kam; er machte seine Aufwartung am Christfestmorgen in Gesellschaft einer guten, fetten Gans, welche ohne allen Zweifel jetzt gerade in Petersens Küche gebraten wird. Die Sache trug sich folgendermaßen zu: Etwa um vier Uhr am Christfestmorgen ging Peterson – wie du weißt, ein höchst anständiger Bursche – von einer kleinen Lustbarkeit nach Hause, wobei ihn sein Weg durch Tottenham Court Road führte. Vor ihm her ging, wie er beim Schein der Laterne bemerkte, mit etwas schwankenden Schritten ein hochgewachsener Mann, der eine weiße Gans auf der Schulter trug. An der Ecke von Goodge Street bekam er Streit mit ein paar Gassenjungen. Einer derselben stieß ihm den Hut herunter, worauf er seinen Stock erhob, um sich zu verteidigen, und dabei schlug er das hinter ihm befindliche Ladenfenster ein. Peterson hatte seinen Schritt beschleunigt, um den Unbekannten gegen seine Angreifer zu beschützen. Dieser ließ jedoch in seinem Schrecken über das zerbrochene Fenster und das eilige Herannahen des beamtenähnlich aussehenden Kommissionärs seine Gans fallen, machte sich auf die Socken und verschwand in dem Gewirr von Gäßchen hinter Tottenham Court Road.
Die Straßenjungen hatten sich bei Petersens Erscheinen gleichfalls davon gemacht, so daß er nun Herr des Schlachtfeldes blieb und den zerknüllten Hut, sowie die ganz annehmbare Weihnachtsgans als Siegesbeute betrachten durfte.«
»Die er gewiß dem Eigentümer wieder zustellte!«
»Mein lieber Junge, da steckt ja eben das Rätsel. Freilich befand sich an dem linken Bein des Tieres eine kleine Karte, auf der die Worte: ›Für Mr. Henry Baker‹ geschrieben standen, und desgleichen stehen die Anfangsbuchstaben H. B. innen auf dem Futter dieses Hutes, aber da es in London ein paar tausend Baker und ein paar hundert Henry Baker gibt, so ist es keine leichte Sache, einem derselben einen verlorenen Gegenstand wieder zuzustellen.«
»Nun was tat Peterson also?«
»Er übergab mir beides, Hut und Gans, am Christfestmorgen, da er wohl weiß, daß ich mich auch für den kleinsten rätselhaften Fall interessiere. Die Gans behielt ich bis heute morgen, wo ich bemerkte, daß es trotz des frostigen Wetters geraten sei, sie ohne weiteren Verzug zu verspeisen. Ihr Finder hat sie deshalb mitgenommen, um sie der endgültigen Bestimmung aller Gänse entgegenzufahren, während ich den Hut des unbekannten Herrn, der so um seinen Weihnachtsbraten gekommen ist, noch hier habe.«
»Hat dieser keine Anzeige erlassen?«
»Nein.«
»Wie konntest du dir denn nun einen Anhaltspunkt für seine Identität verschaffen?«
»Lediglich auf dem Wege der Schlußfolgerung.«
»Aus diesem Hut?«
»Ganz gewiß.«
»Ach, du machst Scherz; was kannst du denn aus diesem alten, zerknüllten Filz entnehmen?«
»Hier ist meine Lupe. Du weißt ja, wie ich es mache. Sieh einmal selbst, was der Hut über die Person seines bisherigen Trägers sagt.«
Ich nahm den alten Felbel und drehte ihn recht rat-und hilflos in den Händen herum. Es war ein ganz gewöhnlicher schwarzer Hut, von der althergebrachten runden Form, steif und längst nicht mehr salonfähig. Das Futter war von roter Seide gewesen, hatte jedoch die Farbe verloren. Der Name des Fabrikanten fand sich nicht darin, dagegen waren, wie Holmes bereits bemerkt hatte, die Buchstaben H. B. auf der einen Seite hineingepreßt. Am Bande befand sich ein Knopf für einen Huthalter, die Gummischnur fehlte jedoch; im übrigen war der Hut voller Knicke, äußerst staubig und an mehreren Stellen befleckt; es war jedoch anscheinend der Versuch gemacht worden, die betreffenden Stellen durch Beschmieren mit Tinte zu verdecken.
»Ich vermag nichts zu sehen«, sagte ich, indem ich den Hut meinem Freunde zurückgab.
»Im Gegenteil, Watson, du kannst alles mögliche sehen. Du versäumst nur, deine Schlüsse aus dem zu ziehen, was du siehst. Du gehst zu schüchtern dabei zu Werke.«
»Dann bitte, sprich, was du aus diesem Hute zu entnehmen vermagst.«
Er nahm denselben vor sich und betrachtete ihn in der ihm eigenen prüfenden Weise.
»Er gibt vielleicht nicht so viel Aufschluß, als er wohl geben könnte«, bemerkte er. »Und doch lassen sich aus dem Hut ein paar Schlüsse mit aller Bestimmtheit, und wieder ein paar andere wenigstens mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit ableiten. Daß der Mann ein bedeutendes Denkvermögen besitzt, drängt sich einem auf den ersten Blick auf, ebenso, daß derselbe im Lauf der letzten drei Jahre sich in ziemlich ordentlichen Verhältnissen befand, obwohl jetzt schlimme Tage über ihn gekommen sind. Er hielt vordem auch etwas auf sich, doch ist dies jetzt nicht mehr in demselben Grade der Fall, wie früher; offenbar befindet er sich in einem moralischen Rückgang, der, zusammengenommen mit der Verschlechterung seiner Vermögensumstände, auf irgend einen schlimmen Einfluß, wahrscheinlich Trunksucht, hinweist. Dies mag auch die Schuld an dem offenbaren Umstand tragen, daß seine Frau ihm nicht mehr besonders zugetan ist.«
»Mein lieber Holmes!« –
»Trotzdem hat er sich noch ein gewisses Maß von Selbstachtung bewahrt«, fuhr dieser fort, ohne meinen Einwurf zu beachten. »Es ist ein Mann, der eine sitzende Lebensweise führt, wenig ausgeht, an starke Bewegung gar nicht mehr gewöhnt ist, in mittlerem Alter steht und gräuliche Haare hat, die er erst in den allerletzten Tagen hat schneiden lassen und die er mit Pomade einfettet. Dies sind die Tatsachen, die sich mit ziemlicher Sicherheit aus seinem Hut entnehmen lassen. Beiläufig bemerkt ist es außerdem im höchsten Grade unwahrscheinlich, daß er Beleuchtung auf seiner Treppe hat.«
»Du treibst ganz gewiß Scherz, Holmes.«
»Nicht im mindesten. Ist es möglich, daß du jetzt, nachdem ich dir diese Ergebnisse mitgeteilt, noch nicht einmal einsiehst, wie ich dazu gelangt bin?«
»Ich bin ohne Zweifel recht dumm, aber ich muß gestehen, ich vermag dir nicht zu folgen. Zum Beispiel, wie kamst du darauf, daß der Mann ein bedeutendes Denkvermögen besessen habe?«
Als Antwort stülpte Holmes den Hut auf seinen Kopf. Er fiel ihm ganz über die Stirne herein, so daß er auf der Nasenwurzel aufsaß.
»Das ist lediglich eine Raumfrage«, versetzte er, »wer einen so mächtigen Schädel besitzt, hat auch in der Regel was Rechtes darinnen.«
»Nun, dann der Rückgang seiner Vermögensverhältnisse?«
»Dieser Hut ist drei Jahre alt. Diese flachen, am Rande aufgebogenen Krempen kamen damals auf. Es ist ein Hut allererster Qualität. Sieh nur das Band von gerippter Seide und das ausgezeichnete Futter. Wenn dieser Mann vor drei Jahren imstande war, sich einen so teuren Hut anzuschaffen und seither keinen neuen mehr gehabt hat, so ist er sicherlich in seinen Verhältnissen zurückgekommen.«
»Nun, das ist allerdings klar genug. Aber wie steht es damit, daß er früher etwas auf sich gehalten habe und jetzt sich in moralischem Rückgang befinde?«
Holmes lachte. »Seine frühere Fürsorglichkeit und Ordnungsliebe sitzen hier«, erwiderte er, indem er seinen Finger auf die kleine Schleife und den Knopf des Huthalters legte. »Im Laden bekommt man nie einen Huthalter mit. Wenn dieser Mann sich also einen solchen anschaffte, so beweist dies einen gewissen Grad von Sorgsamkeit, indem er eine außergewöhnliche Maßregel zum Schutze gegen den Wind traf. Aber da wir weiter sehen, daß er, nachdem das Gummiband abgerissen war, sich nicht die Mühe gab, solches zu erneuern, so ist es ganz klar, daß er jetzt nicht mehr so viel auf sich hält, und dies ist ein sicheres Anzeichen eines allgemeinen Rückgangs. Er hat sich allerdings andererseits bemüht, einige Flecken auf dem Filz mit Tinte zu verdecken, was darauf hinweist, daß er noch nicht alle Selbstachtung verloren hat.«
»Dagegen läßt sich freilich nichts einwenden.«
»Die weiteren Punkte, nämlich daß er in mittleren Jahren steht, daß er gräuliches, frisch geschnittenes Haar hat und für dieses Pomade gebraucht, ergeben sich sämtlich aus einer genauen Prüfung des unteren Teils des Futters. Unter der Lupe sieht man eine große Anzahl durch die Schere des Barbiers glatt abgeschnittener Haarspitzen, die sämtlich ankleben und deutlich nach Pomade riechen. Dieser Staub ist, wie du bemerken wirst, nicht der sandige Staub der Straße, sondern der weiche braune Hausstaub, der zeigt, daß der Hut die meiste Zeit zu Hause hing, während die Platten auf der Innenseite desselben mit Bestimmtheit beweisen, daß sein Träger gewaltig schwitzen mußte und deshalb kaum ein starkes Gehen gewöhnt sein konnte.«
»Aber seine Frau? Du sagtest ja schon, daß sie nicht mehr so gut mit ihm lebe.«
»Dieser Hut ist seit Wochen nicht mehr ausgebürstet worden. Sollte ich einmal dir, mein lieber Watson, mit dem Staube einer ganzen Woche auf deinem Hut begegnen und hätte dich deine Frau in einem solchen Zustand ausgehen lassen, so müßte ich wirklich fürchten, es habe dich gleichfalls das Unglück betroffen, die Liebe deiner Frau zu verlieren.«
»Aber er konnte doch auch Junggeselle sein.«
»Nein, er brachte die Gans als Friedensstifterin seiner Frau nach Hause. Denke nur an die Karte, die sie an dem einen Bein trug.«
»Du weißt auf alles Antwort, aber wie in aller Welt willst du aus dem Hut entnehmen, das er keine Treppenbeleuchtung habe?«
»Ein Talgfleck oder auch zwei können zufällig entstehen, aber wenn ich deren nicht weniger als fünf wahrnehme, so ist es kaum zweifelhaft, daß der Mann öfters mit brennendem Talg in Berührung gekommen sein muß – er hielt vermutlich, wenn er nachts die Treppe hinaufging, den Hut in der einen Hand und in der andern ein tropfendes Talgstümpchen. Jedenfalls bekommt er niemals Talgflecken von einer Glühbirne. Bist du nun zufrieden?«
»Nun ja, das ist ja allerdings höchst scharfsinnig«, erwiderte ich lachend, »aber da, wie du eben bemerkt hast, kein Verbrechen vorliegt und außer dem Verlust einer Gans auch kein Schaden entstanden ist, so kommt es mir vor, als sei das alles doch eine recht überflüssige Mühe.«
Holmes hatte eben die Lippen geöffnet zu einer Erwiderung, als die Tür aufgerissen wurde und Peterson, der Kommissionär, mit hoch geröteten Wangen und allen Zeichen höchster Erregung hereinstürzte. »Die Gans, Mr. Holmes! Die Gans!« stotterte er hervor.
»Nun, was ist denn damit los? Ist sie wieder lebendig geworden und zum Küchenfenster hinausgeflogen?« Holmes drehte sich auf dem Sofa herum, um dem Mann besser in sein erregtes Gesicht blicken zu können.
»Sehen Sie hier. Das hat meine Frau in ihrem Kropf gefunden.« Dabei streckte er die Hand aus, auf deren innerer Fläche ein prächtig funkelnder blauer Stein sichtbar wurde, etwas kleiner als eine Bohne, aber so klar und strahlend, daß derselbe in der dunklen Höhlung seiner Hand blitzte wie ein elektrischer Funke.
Mit einem Ruck richtete sich Holmes auf. »Hui!« rief er, »beim Himmel, Peterson, das heißt ja wahrhaftig einen Schatz finden. Ich denke, Sie wissen doch, was sie da erwischt haben?«
»Einen Diamanten. Einen kostbaren Stein. Er schneidet Glas, als ob es Kitt wäre.«
»Es ist mehr als ›ein‹ kostbarer Stein. Es ist geradezu der kostbarste Stein.«
»Doch nicht der blaue Karfunkel der Gräfin von Morcar?« rief ich dazwischen.
»Doch freilich; ich muß ja ganz genau wissen, wie er aussieht, habe ich doch in letzter Zeit Tag für Tag die ihn betreffende Anzeige in der ›Times‹ gelesen. Er ist ganz einzig, und sein Wert läßt sich nur vermuten. Aber die Belohnung von tausend Pfund, die auf seine Beibringung ausgesetzt ist, stellt sicherlich noch nicht den zwanzigsten Teil seines Verkaufswertes dar.«
»Tausend Pfund. Großer, gütiger Gott!«
Peterson starrte auf einen Stuhl und starrte uns der Reihe nach an.
»Diese Belohnung ist darauf ausgesetzt, und ich habe Grund anzunehmen, daß dabei Erwägungen zarter Natur im Hintergrunde stehen, denen zuliebe die Gräfin für die Beibringung des Steins gern ihr halbes Vermögen hingeben würde.«
»Er kam, wenn ich mich recht erinnere, im Hotel Cosmopolitan abhanden«, bemerkte ich.
»Gewiß; am 22. Dezember, genau vor fünf Tagen. Der Klempner John Horner wurde bezichtigt, ihn aus dem Schmuckkästchen der Dame entwendet zu haben. Die Anzeichen gegen ihn waren so schwere, daß der Fall vor die Geschworenen verwiesen wurde. Ich glaube, da kommt irgendwo einen Bericht darüber.« Er suchte unter seinen Zeitungen und fand auch wirklich den betreffenden Artikel.
Dieser lautete:
»Juwelendiebstahl im Hotel Cosmopolitan. – John Horner, 26 Jahre alt, Klempner, stand unter der Anklage, am 22. dieses aus dem Schmuckkästchen der Gräfin von Morcar den unter dem Namen ›der blaue Karfunkel‹ bekannten kostbaren Stein entwendet zu haben, James Ryder, erster Hausdiener im Hotel bezeugte, er habe den Horner am Tag des Diebstahls nach dem Toilettenzimmer der Gräfin gewiesen, wo derselbe eine Stange des Kaminrostes, die los war, wieder anbringen sollte. Er war kurze Zeit bei Horner geblieben, jedoch schließlich abgerufen worden. Bei seiner Rückkehr fand er Horner nicht mehr vor und entdeckte gleichzeitig, daß der Schreibtisch erbrochen worden war und das kleine Maroquinkästchen, worin, wie sich später herausstellte, die Gräfin ihre Juwelen aufzubewahren pflegte, leer auf dem Tische stand. Ryder schlug augenblicklich Lärm, und Horner wurde noch am selben Abend festgenommen, ohne daß jedoch der Stein bei ihm selbst oder in seiner Behausung gefunden worden wäre. Katharina Cusack, Kammermädchen der Gräfin, welche auf den Schrei, den Ryder bei seiner Entdeckung ausstieß, zu diesem ins Zimmer geeilt war, wußte lediglich Ryders Angaben über den dortigen Befund zu bestätigen. Polizeiinspektor Bradstreet, über die Verhaftung Horners als Zeuge vernommen, erklärte, daß dieser sich dabei wie wütend gewehrt und seine Unschuld hoch und teuer versichert habe. Da gegen denselben eine Vorbestrafung wegen Diebstahls vorlag, so lehnte der Untersuchungsbeamte eine summarische Behandlung der Anklage ab und verwies dieselbe an das Schwurgericht. Horner, der schon während des ganzen Verfahrens hochgradige Erregung gezeigt hatte, wurde bei der Schlußverhandlung ohnmächtig, so daß er aus dem Saale getragen werden mußte.«
»Hm! so viel, was die Gerichtsverhandlung betrifft«, fügte Holmes nachdrücklich bei, indem er die Zeitung wegschob. »Unsere Aufgabe ist es jetzt, den Faden aufzufinden, der uns von dem erbrochenen Schmuckkästchen, mit dem die Geschichte begann, bis zum Gänsekropf am Schlusse leitet. Du siehst, Watson, unsere kleinen Erhebungen haben mit einemmal ein weit gewichtigeres und weniger unschuldiges Gesicht bekommen. Der Stein ist hier, der Stein stammt aus der Gans, und die Gans von Mr. Henry Baker, dem Herrn mit dem schlechten Hut und all den besonderen Kennzeichen, mit denen ich dir so viel zu schaffen machte. So müssen wir denn nun allen Ernstes daran gehen, diesen Herrn und die Rolle, die er in dieser geheimnisvollen Geschichte gespielt hat, zu ermitteln. Zu dem Ende müssen wir es zunächst mit dem einfachsten Mittel versuchen, und das wäre zweifellos eine Anzeige in sämtlichen Abendzeitungen. Schlägt dieses fehl, so werde ich zu anderen Mitteln greifen.«
»Wie willst du denn die Anzeige abfassen?«
»Gib mir einen Bleistift und diesen Streifen Papier. Also:
›Gefunden an der Ecke von Goodge Street eine Gans und ein schwarzer Filzhut. Mr. Henry Baker kann die Gegenstände heute abend um 6 ½ Uhr in Nr. 221 Baker Street abholen.‹
»Das ist klar und kurz beisammen.«
»Allerdings; aber wird er es auch zu Gesicht bekommen?«
»Nun, sicherlich wird er die Zeitungen mit Aufmerksamkeit verfolgen, denn für einen armen Mann wie er, ist sein Verlust kein geringer. Offenbar war er durch sein Mißgeschick mit dem Fenster so bestürzt, daß er bei Petersens Erscheinen an nichts als Flucht dachte, aber seither hat er ganz gewiß den raschen Entschluß, seine Gans fallen zu lassen, bitter bereut. Dann wird auch die Nennung seines Namens dazu beitragen, daß es ihm zu Gesicht kommt, denn jeder, der ihn kennt, wird seine Aufmerksamkeit darauf lenken. Da Sie gerade da sind, Petersen, laufen Sie doch mal schnell auf das Zeitungsbüro und lassen Sie das in die Abendblätter einrücken.«
»In welche?«
»Oh, in den Globe, den Star, die Pall Mall, St. James, Evening News, Standard, Echo und sonst noch in einige, die Ihnen gerade einfallen.«
»Ganz gut; und dieser Stein?«
»Ach ja, den will ich bei mir behalten. Danke schön. Und dann, Petersen, bringen Sie mir auf dem Rückweg nur gleich eine Gans mit, wir müssen doch dem Eigentümer eine andere geben als Ersatz für die, welche eben bei Ihnen verzehrt wird.«
Als Petersen fort war, nahm Holmes den Stein und hielt ihn gegen das Licht. »Ein allerliebstes Ding!« sagte er. »Sieh nur, wie es blitzt und funkelt, der reinste Sammel-und Brennpunkt für Verbrechen. So ist es mit allen echten Steinen. Sie sind des Teufels Lieblingsköder. Bei den größeren älteren Steinen kann man für jede Facette eine Bluttat in Rechnung nehmen. Dieser ist noch keine zwanzig Jahre alt. Er stammt aus den Bänken am Amoy-Flusse im Norden Chinas und zeichnet sich dadurch aus, daß er alle besonderen Merkmale eines Karfunkels hat, ausgenommen, daß er im Dunkeln einen blauen Schein wirft anstatt eines rubinroten. Trotz seiner Jugend hat derselbe schon eine recht traurige Geschichte. Zwei Mordtaten, eine Begießung mit Schwefelsäure, einen Selbstmord und mehrere Diebstähle hat dieses vierzig Gran schwere Stückchen kristallisierten Kohlenstoffs auf dem Gewissen. Wer sollte in diesem niedlichen Schmuckgegenstand den eifrigsten Werber für Galgen und Zuchthaus vermuten? Ich will den Stein jetzt in meiner Sicherheitskassette verschließen und der Gräfin mit einer Zeile sagen, daß wir ihn haben.«
»Hältst du diesen Horner für unschuldig?«
»Das kann ich nicht sagen.«
»Nun, denkst du dann, daß dieser andere, der Henry Baker, hinter dieser Sache steckt?«
»Ich halte es für weit wahrscheinlicher, daß Henry Baker ein ganz unschuldiger Mensch ist, der keine Idee davon hat, daß die Gans, die er trug, ein Beträchtliches mehr wert war, als wäre sie von purem Gold gewesen. Das werde ich übrigens auf ganz einfache Weise feststellen, wenn wir erst eine Antwort auf unsere Anzeige haben.«
»Und bis dahin kannst du nichts tun?«
»Nichts.«
»Nun, dann werde ich meinen gewohnten Rundgang bei meinen Patienten machen und heute abend zu der angegebenen Stunde wieder hier sein, denn ich möchte doch gern sehen, wie dieser verwickelte Knoten sich auflöst.«
»Wird mir sehr angenehm sein, auf Wiedersehen also. Um sieben Uhr ist das Abendessen fertig, ich glaube es gibt Rebhühner. Eigentlich sollte ich, angesichts unserer neuesten Erlebnisse, der Köchin gleich den Auftrag geben, daß sie ihnen die Kröpfe vorher untersucht.«
Ich hatte mich ein wenig verspätet, und es war etwas nach halb sieben Uhr, als ich mich wieder in der Bakerstraße einfand. Indem ich auf das Haus zuschritt, sah ich vor demselben einen großen Mann mit einer karierten Mütze auf dem Kopfe und einem bis unters Kinn zugeknöpften Rock innerhalb des halbkreisförmigen Scheins der Laterne stehen und warten. Jetzt wurde eben die Tür geöffnet, und wir traten beide gleichzeitig in Holmes’ Zimmer ein.
»Mr. Henry Baker vermutlich«, begann dieser, indem er sich aus seinem Lehnstuhl erhob und seinen Besucher mit der herzlichsten Freundlichkeit begrüßte, die er so leicht anzunehmen verstand. »Bitte, setzen Sie sich hier auf diesen Stuhl beim Feuer, Mr. Baker. Es ist eine kalte Nacht heute, und es scheint mir, der Sommer ist Ihnen zuträglicher als der Winter. Ha, Watson, du bist gerade zur rechten Zeit gekommen. Ist dies Ihr Hut, Mr. Baker?«
»Jawohl. Das ist unzweifelhaft mein Hut.«
Baker war ein großer breitschultriger Mann mit einem starken Kopf und einem offenen, gescheiten Gesicht, das in einen spitzen, mit etwas Grau gemischten Bart endigte. Ein rötlicher Schein auf Nase und Wangen zusammen mit einem leichten Zittern seiner ausgestreckten Hand gemahnte an die Vermutung, die Holmes bezüglich seiner Gewohnheiten geäußert hatte. Sein fettiger, schwarzer Rock war bis oben zugeknöpft, der Kragen heraufgeschlagen, und seine langen Handgelenke standen weit aus den Ärmeln hervor, ohne daß eine Spur einer Manschette oder eines Hemdes zu bemerken gewesen wäre. Er sprach langsam und abgebrochen, wobei er seine Worte sorgfältig wählte, und machte in allem den Eindruck eines gebildeten, durch die Ungunst des Schicksals heruntergekommenen Mannes.
»Wir haben diese Sachen ein paar Tage lang behalten«, erklärte Holmes, »weil wir dachten, wir würden durch eine Anzeige von Ihrer Seite Ihre Adresse erfahren. Ich verstehe nicht, warum Sie keine Anzeige erließen.«
Unser Besuch ließ ein ziemlich verlegen klingendes Lachen hören. »Mit meiner Kasse ist es in letzter Zeit nicht mehr so flott bestellt, wie wohl sonst«, versetzte er. »Ich war fest überzeugt, daß die Strolche Hut und Gans mit fortgenommen haben, und wollte für einen hoffnungslosen Versuch ihrer Wiederbeischaffung nicht noch mehr Geld ausgeben.«
»Ganz natürlich. A propos, was die Gans betrifft, so haben wir sie aufessen müssen.«
»Aufessen?« Dabei stand er vor Erregung halb vom Stuhl auf.
»Ja, wissen Sie, wenn wir es nicht getan hätten, so hätte niemand etwas davon gehabt. Aber ich denke, die andere Gans, die dort auf dem Nebentisch liegt, und die nahezu ebenso schwer und vollkommen frisch ist, wird Ihnen ganz denselben Dienst tun.«
»O freilich, freilich!« erwiderte Mr. Baker mit einem Seufzer der Erleichterung.
»Natürlich haben wir noch Federn, Beine, Kopf und so fort von Ihrer eigenen Gans, und wenn Sie wünschen –«
Der Mann brach in ein herzliches Lachen aus. »Die könnte ich allenfalls als Reliquien meines Abenteuers aufheben«, meinte er, »aber sonst wüßte ich nicht, was ich mit den Überbleibseln meiner alten Bekannten eigentlich anfangen sollte. Nein, mit Ihrer Erlaubnis gedenke ich meine Aufmerksamkeit ausschließlich dem vortrefflichen Exemplar zuzuwenden, das ich hier auf dem Nebentisch liegen sehe.«
Holmes warf mir einen scharfen Blick zu und zuckte dabei kaum merklich mit den Schultern.
»Nun, hier ist also Ihr Hut und hier die Gans«, sagte er; »beiläufig bemerkt, möchten Sie mir vielleicht sagen, woher Sie die andere Gans hatten? Ich bin nämlich ein wenig Geflügelnarr, und ein schöneres Tier ist mir selten vorgekommen.«
»Sehr gerne«, erwiderte Baker, der indessen aufgestanden war und seinen neu errungenen Besitz unter den Arm genommen hatte. »Ich bin mit ein paar meiner Bekannten Stammgast in der Wirtschaft zum Alpha, beim Museum. Dieses Jahr nun hat unser wackerer Wirt, Windigate mit Namen, die Einrichtung getroffen, daß jeder von uns gegen eine wöchentliche Einzahlung von ein paar Pence auf Weihnachten eine Gans erhielt. Ich entrichtete meinen Beitrag pünktlich, und das übrige wissen Sie ja. Ich bin Ihnen sehr verpflichtet, denn eine karierte Mütze paßt für meine Jahre ebensowenig wie für mein gesetztes Wesen.« Mit komischer Grandezza stülpte er seinen zerknüllten Felbel auf, machte jedem von uns eine feierliche Verbeugung und ging dann seines Weges.
»Das wäre also Mr. Henry Baker«, sagte Holmes, als er die Tür hinter demselben geschlossen hatte. »Es ist ganz sicher, daß er nicht das geringste von der Geschichte ahnt. Bist du hungrig, Watson?«
»Nicht besonders.«
»Dann schlage ich dir vor, wir nehmen unsere Mahlzeit erst später ein und verfolgen diese Spur, solange sie noch frisch ist.«
»Ganz einverstanden.«
Es war eine bitter kalte Nacht, und wir hüllten uns deshalb warm in Überröcke und Schals ein. Draußen blinkten die Sterne frostig am wolkenlosen Himmel, und die Vorübergehenden bliesen den Atem in dichten Dampfwolken vor sich. Scharf und laut klangen unsere Tritte, während wir unserem Ziele zustrebten. Nach einer Viertelstunde hatten wir Alpha-Inn, eine kleine Wirtschaft in einem Eckhause in Bloomsbery, erreicht. Wir begaben uns ins Herrenstübchen, wo Holmes bei dem rotbackigen Wirt mit weißer Schürze zwei Glas Bier bestellte.
»Wenn Ihr Bier so gut ist wie Ihre Gänse, dann muß es ausgezeichnet sein«, sagte er.
»Meine Gänse?« – Der Mann schien überrascht.
»Ja. Es ist noch keine halbe Stunde her, daß ich mit Mr. Henry Baker gesprochen habe, der zu Ihrem Gänseklub gehört.«
»Ach ja, jetzt verstehe ich. Aber sehen Sie, die Gänse waren nicht von mir.«
»Wirklich? Von wem denn?«
»Nun, ich habe die zwei Dutzend von einem Händler in Covent Garden bezogen?«
»So? Ich kenne ein paar von ihnen; welcher war es?«
»Breckinridge heißt er.«
»Ah, den kenne ich nicht. Nun, auf Ihr Wohl, Wirt, und auf das Gedeihen Ihres Hauses! Gute Nacht!«
»Jetzt zu Mr. Breckinridge«, fuhr er fort, indem er beim Hinaustreten in die kalte Luft seinen Rock zuknöpfte.
»Vergiß nicht, Watson, daß unser Faden uns von einer höchst harmlosen Gans aus zu einem Manne führt, dem sieben Jahre Zwangsarbeit sicher sind, sofern wir nicht seine Unschuld nachweisen können. Möglich, daß unsere Nachforschung lediglich seine Schuld zu bestätigen vermag, aber in jedem Falle sind wir im Besitze einer Spur, welche der Polizei entgangen ist und die uns ein eigentümlicher Zufall in die Hand gespielt hat. Wir wollen den Faden verfolgen bis zum bittern Ende. Auf gen Süden also und frisch voran!«
Als wir nach längerer Kreuz-und Querwanderung den Covent Garten-Markt erreicht hatten, lasen wir an einem der größten Geschäfte den Namen Breckinridge. Der Eigentümer, ein vierschrötig aussehender Mann mit scharfen Zügen und wohlgepflegtem Kotelettenbart, war gerade daran, mit Hilfe eines jungen Burschen die Läden zu schließen.
»Guten Abend. Eine kalte Nacht heute!« sagte Holmes.
Der Händler nickte und warf einen fragenden Blick auf meinen Begleiter.
»Alle Ihre Gänse ausverkauft, soviel ich sehe«, fuhr Holmes fort, indem er auf die leeren Marmortische deutete.
»Können morgen früh 500 Stück haben.«
»Das hilft mir nichts.«
»Nun, dort gibt’s ja noch welche, in dem Laden mit der Gaslaterne.«
»Ganz recht, aber ich bin an Sie empfohlen.«
»Von wem?«
»Vom Wirt zum Alpha.«
»Ah ja, dem habe ich ein paar Dutzend geschickt.«
»Es waren sehr schöne Tiere. Ei, wo hatten Sie die her?«
Zu meiner Überraschung rief diese Frage bei dem Händler einen Zornesausbruch hervor.
»Nun Herr«, sagte er, indem er den Kopf zurückwarf und die Arme in die Seite stemmte, »wo wollen Sie eigentlich hinaus? Sprechen Sie sich deutlich aus, ohne Umschweife.«
»Das ist doch deutlich genug. Ich möchte gerne wissen, wer Ihnen die Gänse verkauft hat, die Sie an das ›Alpha‹ geliefert haben?«
»Nun, und ich sage es Ihnen nicht. Jetzt wissen Sie’s!«