ARNULF KRAUSE promovierte 1989 und lehrt als Honorarprofessor Skandinavistik und Ältere Germanistik an der Universität Bonn. Als Autor zahlreicher Sachbücher ist er Experte für die Geschichte der Germanen, Wikinger, Kelten, des Mittelalters, der Mythologie und Heldensagen.
»Kein Mensch der Welt übertrifft die Germanen an Treue.«
TACITUS
Grabhügel, Runenmonumente und nicht zuletzt Werke wie die Edda sind Spuren der Germanen. Deren Mythen und Göttersagen inspirieren bis in die Gegenwart die Künste. Wie detailliert das religiöse System der Germanen aufgebaut ist, bleibt bei der Verarbeitung germanischer Elemente in Literatur und Kunst jedoch meist verborgen. Arnulf Krause durchleuchtet in diesem marixwissen-Band die germanische Religion mit all ihren Mythen und Göttern. Hierbei erläutert er das Weltbild der Germanen von der Weltschöpfung bis zum Weltende und stellt die Hierarchien innerhalb der germanischen Göttergesellschaft vor. Er beschreibt neben den bedeutendsten Göttern auch Gestalten der niederen Mythologie wie Zwerge, Trolle, Naturgeister sowie Alben und führt dem Leser den gelebten germanischen Glauben anhand von Heiligen Stätten, Opferarten und Bestattungsbräuchen vor.
Arnulf Krause
Die Götter und Mythen der Germanen
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© by marixverlag in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015
Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2015
Covergestaltung: Kerstin Göhlich, Wiesbaden
Bildnachweis: Odin auf seinem Thron mit den Wölfen Geri und Freki und den Raben Huginn und Muninn
(Denkmal von Wilhelm Engelhard, 1888). © akg images, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0518-6
www.verlagshaus-roemerweg.de
»Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum neun ganze Nächte,
vom Speer verwundet und Odin geopfert, selber mir selbst,
an dem Baum, von dem niemand weiß,
aus welchen Wurzeln er wächst.
Weder Brot reichten sie mir noch Trinkhorn,
ich blickte nach unten;
ich nahm die Runen auf, nahm sie schreiend,
ich fiel wieder herab.«
Schilderung von Odins Selbstopfer
in den Sprüchen des Hohen
I. |
DIE WELT DES NORDENS |
II. |
EDDA, RUNEN, GRABHÜGEL |
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1. Die isländischen Eddas |
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2. Andere isländische Schriftquellen des Mittelalters |
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3. Schriftzeugnisse seit der Antike |
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4. Archäologische Funde |
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5. Lebendige Überlieferung |
III. |
DAS RÄTSEL DER FELSBILDER |
IV. |
VON RIESENBÄUMEN, MONSTERSCHLANGEN UND DER GÖTTERDÄMMERUNG |
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1. Die Weltschöpfung |
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a) Die Erschaffung der Welt |
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b) Die Erschaffung der Lebewesen |
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2. Kosmologie |
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a) Das Weltbild |
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b) Der Weltenbaum und die Bedeutung von Bäumen |
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c) Tiere und Untiere |
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3. Das Weltende |
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a) Die Götterdämmerung |
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b) Eine neue Welt |
V. |
ODIN, THOR, STREITBARE FRAUEN UND ANDERE GOTTHEITEN |
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1. Götter und Göttervorstellungen |
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a) Göttervorstellungen im germanischen Altertum |
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b) Die nordgermanischen Göttergruppen |
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2. Die weiblichen Gottheiten |
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a) Die Göttinnen des germanischen Altertums |
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b) Die eddischen Göttinnen |
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c) Walküren und andere weibliche Gottheiten |
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3. Odin – Wodan |
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a) Wodan im germanischen Altertum und außerhalb Skandinaviens |
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b) Der Odin des Nordens |
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c) Der vielseitige Gott und seine Aufgaben |
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4. Thor – Donar |
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a) Donar im germanischen Altertum und außerhalb Skandinaviens |
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b) Der Thor des Nordens |
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c) Kämpfer gegen dämonische Mächte |
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5. Balder, der lichte Gott |
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6. Loki, der Zwielichtige |
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7. Heimdall, der Wächter |
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8. Freyr und Gottheiten der Fruchtbarkeit |
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9. Wenig bekannte Gottheiten |
VI. |
BELIEBT BIS HEUTE: ZWERGE, TROLLE UND DIE NIEDERE MYTHOLOGIE |
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1. Riesen und Trolle |
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2. Die Zwerge |
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3. Die Alben |
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4. Naturgeister |
VII. |
SCHWERTER, SCHIFFE, MENSCHEN – WAS DIE GERMANEN OPFERTEN |
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1. Opferarten |
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2. Heilige Stätten |
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3. Priester und Priesterinnen |
VIII. |
VON GRABHÜGELN UND WALHALL |
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1. Grabformen und Bestattungsbräuche |
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2. Jenseitsvorstellungen |
IX. |
WIE MAN WÜRMER AUSTREIBT UND SEINEN FEINDEN SCHADET – DIE MAGISCHE WELT DER GERMANEN |
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1. Arten von Magie |
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2. Zauberer und Zauberinnen |
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3. Zaubersprüche und Zauberrunen |
X. |
VON ODIN ZU KRISTR: DER ÜBERGANG ZUM CHRISTENTUM |
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1. Die Christianisierung der germanischen Stämme |
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2. Synkretismus: Glaubensmischung zwischen Heidentum und Christentum |
XI. |
HABEN DIE GÖTTER ÜBERLEBT? – HEIDNISCHES NACHLEBEN IM ABERGLAUBEN |
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1. Isländische Sagas und andere skandinavische Zeugnisse |
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2. Heidnische Relikte im deutschen Aberglauben? |
XII. |
GOLDENE HÖRNER UND RINGE DER MACHT – WIE WAGNER, TOLKIEN UND VIELE ANDERE AUF DIE ALTEN MYTHEN ZURÜCKGREIFEN |
ANHANG
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
BIBLIOGRAPHIE
BILDNACHWEIS
Die Götter und Mythen der Germanen dürften bei den Leserinnen und Lesern neben allem sachlichen Interesse eine Reihe von Assoziationen wecken, die sich mit mehr oder weniger starken Vorstellungen verbinden: der thronende Göttervater Wodan mit seinen Raben und Wölfen; der ungestüme Blitzeschleuderer Donar, dessen Name bereits auf den Donner verweist; Zwerge, Trolle und Drachen als Gestalten der mythischen Welt in und um Asgard; des Weiteren geheimnisumwitterte Grabhügel, Hünengräber inmitten von Heiden und Mooren sowie Runensteine; unwirtliche Einöden, dunkle Wälder und gewaltige Fjorde – kurzum die Welt des Nordens, die sich mit ihren »Götter- und Heldensagen« vom deutschen Rhein bis nach Island am Polarkreis erstreckt. Im Nibelungenlied findet sich dafür eine kongeniale Darstellung, indem die burgundischen Recken von Worms in das befremdliche Reich der isländischen Königin Brünhild reisen. Und der sagenhafte Nibelungenschatz wird aus Norwegen zum Mittelrhein befördert. Als wolle hier das mittelhochdeutsche Heldenepos den Mythos des Nordens pflegen und weitererzählen. Heidnische Götter kommen darin allerdings nicht mehr vor; im Gegensatz dazu die Isländer, die sich ihrer – obwohl Christen – noch um 1200 erinnern und Göttervater Odin – wie Wodan im Norden heißt – kräftig bei den Kämpfen der Helden mitmischen lassen. Damit befinden wir uns inmitten der nördlichen Gefilde, in der Welt der germanischen Völker, zu deren Nachfahren sich Deutsche, Engländer und die meisten Skandinavier zählen. Den Dänen, Schweden, Norwegern und Isländern war ihr vorchristliches mythisches Erbe längst vertraut – dank der isländischen Handschriften des Mittelalters, die vieles davon bewahrten. Darunter die Edda, die sich gleichsam als Zauberwort des Nordens erweist. In Deutschland (wie in England) hat man sich alles erst mühsam seit dem 18. Jahrhundert erschließen müssen. Und da fiel insbesondere den Romantikern auf, dass die Götter und Mythen des Nordens ein ganz eigener Hauch umweht, der sie von den Götter- und Heldensagen der Griechen und Römer unterscheidet: Dunkler und geheimnisumwitterter wirken sie, schicksalsträchtiger als jene des klassischen Altertums aus der lichten Welt des Mittelmeers. Auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit stieß man auf die Germanen, die gleichsam als »erste Deutsche« galten. Doch von den Mythen der Vorfahren wusste man nichts. Da kamen die fernen Isländer ins Spiel, gewissermaßen ein germanisches Brudervolk. Hatten sie nicht das religiöse Erbe der Ahnen in den Götterliedern der Älteren Edda und in der Prosa-Edda niedergeschrieben? War diese Überlieferung der beiden Eddas nicht auch die der Deutschen? So eigneten sich die Deutschen eine Mythologie an, von der es zwischen Nordsee und Alpen keine oder nur sehr wenige Spuren gibt. Richard Wagner brachte Wodan und die Walküren auf die Bühne, der Ring des Nibelungen wurde zu so etwas wie einem nationalen Weihefestspiel. Nicht zuletzt wegen dieses Bühnentreibens erfreuten sich die Götter und Mythen der Germanen vielerorts Beliebtheit und gehörten von nun an neben den klassischen Göttersagen zum Bildungsgut, über das man verfügen sollte. Die Skandinavier ließen sich ihre überlieferten vorchristlichen Mythen nicht nehmen, aber in Deutschland erfuhren sie im ideologischen Vorlauf und Umfeld der NS-Diktatur schlimmsten Missbrauch. Der wirkte noch lange nach 1945 nach. Dann kam eine umtriebige interdisziplinäre Forschung, die ihre eigene, teils düstere Geschichte aufarbeitete und die gesamte Germanenforschung auf entideologisierte und sachliche Füße stellte. Und dann kam der englische Literaturprofessor und Mythenkenner J. R. R. Tolkien, der aus Elementen alter Mythen einen neuen Mythos schuf. Seine Fantasy-Trilogie Der Herr der Ringe (1954/55) wurde zum Klassiker dieses Genres schlechthin. Für seine fiktive Mittelerde bediente er sich keltischer wie germanischer Mythenelemente und erschuf daraus eine Welt im Nordwesten Europas. Dort fand sich wieder der Zauber des Nordens, übrigens auch in Namen wie Gandalf, Thorin, Kili und Fili, von denen Tolkien schmunzelnd zugab, sie schlichtweg der Edda entnommen zu haben. Auf diesem prominentesten und verbreitetsten Weg (man denke an die Verfilmungen Peter Jacksons seit 2001), aber auch auf vielen Nebenwegen, haben die Götter und Mythen der Germanen in die Gegenwart gefunden.
Wer aber waren die Germanen? Wir verstehen darunter eine große Anzahl von Stämmen, deren Gemeinsamkeiten seit den letzten 500 Jahren vor Chr. greifbar werden. In dieser Zeit entwickelt sich eine germanische Sprache (Urgermanisch) aus dem Indogermanischen oder Indoeuropäischen, von dem die meisten europäischen Sprachen abstammen. Daraus entstehen die heutigen germanischen Sprachen (Dänisch, Schwedisch, Norwegisch, Färöisch und Isländisch, Englisch, Deutsch und Niederländisch, um die wichtigsten zu nennen). Den Archäologen gelten die Menschen der Jastorf-Kultur im heutigen Niedersachsen als erste Germanen, die man im erwähnten Zeitraum datiert. Namentlich und damit historisch greifbar sind die Germanen erst seit dem 1. Jahrhundert vor Chr. Für ihre Berühmtheit hat vor allem Julius Caesars Schrift Über den Gallischen Krieg (58–51 vor Chr.) gesorgt. Die derart benannten Barbarenstämme rechts des Rheins kannten jedoch keine einheitliche Selbstbezeichnung und lebten in keinem gemeinsamen Reich. Gleichwohl bestanden Gemeinsamkeiten: eine gemeinsame oder zumindest ähnliche Sprachen, das Fehlen einer Stadtkultur mit Münzwesen, eine von Adel und Kriegergefolgschaften geprägte Stammesgesellschaft, die um die Zeitenwende nach dem Vorbild mediterraner Alphabete entstandene Runenschrift, eine sich allmählich entwickelnde Kunst (»Germanischer Tierstil«), die wohl erst seit der Völkerwanderungszeit entstehenden Heldensagen und schließlich ähnliche religiöse Vorstellungen und Gottheiten. Ein beachtlicher Teil der germanischen Stämme zeichnet sich von ca. 120 vor Chr. bis 1100 nach Chr. durch Kriegszüge, Wanderungen und Landnahmen aus und findet sich oftmals in Bündnissen zusammen. Als erste gelangten die Kimbern und Teutonen aus Jütland bis nach Oberitalien, wo sie von den Römern 102/101 vor Chr. vernichtend geschlagen wurden. Den Abschluss dieser germanischen Völkerwanderungen stellen die Raubzüge, Migrationen und militärischen Interventionen der skandinavischen Wikinger dar (Wikingerzeit 793–1066 nach Chr.), die auf den Britischen Inseln, im Nordatlantik (Island, Grönland), in der Normandie (nach den Normannen »Nordmännern« bezeichnet) sowie im Baltikum und Russland agieren. Sie stellen übrigens als letzte Heiden diejenigen dar, deren vorchristliche Traditionen die wichtigsten Zeugnisse der germanischen Mythologie bieten.
Nach dem legendären Sieg des Cheruskerfürsten Arminius über die Legionen des Varus in der Schlacht im Teutoburger Wald (wohl bei Kalkriese bei Osnabrück) im Jahre 9 nach Chr. machten die Römer den Rhein zur Grenze, der sie schließlich mit dem Limes eine Grenzlinie zwischen Rhein und Donau hinzufügten. Seit dem 3. Jahrhundert entstehen germanische Großstämme, die den Druck auf die Grenzen Roms verstärken: Alamannen, Franken und Sachsen, später noch die Thüringer und Bajuwaren (Baiern). Etwa gleichzeitig bilden sich in Osteuropa Völkerschaften, die teilweise aus Skandinavien stammen: West- und Ostgoten, Burgunden, Vandalen u. a. Diese Ostgermanen gründen während der Völkerwanderungszeit auf römischem Reichsgebiet kurzlebige Reiche. Die aus dem Rhein-Weser-Gebiet über den Rhein vordringenden Franken errichten andererseits gegen 500 ein Reich, das sich 300 Jahre später unter Karl dem Großen über Frankreich, das westliche Deutschland, Oberitalien sowie weitere Gebiete Europas erstreckt und zu einer Keimzelle des mittelalterlichen Abendlandes wird. Auch die um 450 nach England ausgewanderten Angeln, Sachsen und Jüten begründen dort mit ihren sieben Königreichen langwährende Herrschaften. Unter den Nordgermanen geschieht dies erst im 10. und 11. Jahrhundert. Man hat sich angewöhnt, die germanische Stämmevielfalt wie folgt zu gliedern: Elbgermanen (Langobarden, Hermunduren, Semnonen u. a.), Nordseegermanen (Angeln, Sachsen, Friesen), Rhein-Weser-Germanen (aus deren Stämmen die Franken entstanden). Diese drei Untergruppen bilden die Westgermanen (Südgermanen), denen die Großstämme der Franken, Alamannen, Sachsen, Thüringer, Bajuwaren und Langobarden zuzurechnen sind und aus denen später zum Teil die Deutschen werden. Als Nordgermanen bezeichnet man die oben genannten Völker in Skandinavien; als Ostgermanen die ebenso bereits angeführten.
Religion und Mythen dieser zahlreichen germanischen Völkerschaften, Stämme, Großstämme und Völker umfassen demzufolge einen chronologischen Rahmen, der mit der Annahme des Christentum um 1100 nach Chr. endet, dessen Anfänge jedoch irgendwo in den Jahrhunderten vor der Zeitenwende zu suchen sind und womöglich bis in die nordische Bronzezeit zurückreichen. Die Schwerpunkte der Überlieferung stellen die schriftlichen Zeugnisse dar, deren Hauptmasse sich erst im 13. Jahrhundert auf Island findet. Ansonsten greifen wir auf eine Fülle verstreuten Materials zurück wie nichtgermanischer Nachrichten über religiöse Bräuche, Runeninschriften, Sprachzeugnisse und archäologische Funde. Insgesamt muss deren Vielfalt als immens gelten, erstreckt sie sich doch beispielsweise von Weihesteinen romanisierter Germanen im Rheinland des 2. Jahrhunderts bis zu monumentalen Grabhügeln der Wikingerzeit in Skandinavien 800 Jahre später. Aber bei allen zeitlichen wie geographischen Distanzen und Unterschieden zwischen den größeren und kleineren germanischen Gruppierungen erlauben sehr ähnliche Grundlagen, von einer gemeinsamen germanischen Religion und Mythologie zu sprechen. Dabei geht es dem vorliegenden Buch um erheblich mehr als um Die Götter und Mythen der Germanen, die zweifelsohne im Mittelpunkt stehen. Sein Blick richtet sich auch auf die germanischen Vorfahren der Bronzezeit, das Weltbild, auf Phänomene der praktizierten Religion, nämlich das Opferwesen, Grabbrauch und Jenseitsvorstellungen sowie die Magie. Schließlich noch ein Blick auf das Ende des germanischen Heidentums durch die Christianisierung und die Frage nach dem Nachleben der alten Götter im Aber- und Volksglauben des Mittelalters und der Neuzeit. Das letzte Kapitel greift unsere Ausgangsfrage wieder auf, was nämlich an Göttern und Mythen der Germanen so interessiert und fasziniert. Dort wird zu zeigen sein, dass die Rezeption und kreative Auseinandersetzung mit ihren religiösen Vorstellungen bereits im Mittelalter beginnt und bis in unsere Gegenwart fortdauert.
Götter und Mythen der Germanen gehören seit langem der Vergangenheit an; ihre Religion ist Geschichte, von der man so gut wie nichts mehr wüsste. Denn unter den späteren deutschen Stämmen der Franken, Alamannen und Baiern fasste das Christentum im 6. und 7. Jahrhundert Fuß, die Sachsen (im heutigen Westfalen und Niedersachsen) folgten vor etwa 1200 Jahren. Nur noch die Nordgermanen hielten an der Verehrung der alten Götter länger fest. Aber selbst in Skandinavien, von Island bis Schweden, war der Erfolg der Missionare unaufhaltsam, und spätestens um 1100 dürfen alle nordgermanischen Völker als christlich bezeichnet werden. Auch wenn man noch manchem schwedischen Bauern in abgelegenen Wäldern und Gebirgen ab und an die Pflege heidnischer Riten unterstellte – Zukunft war den alten Göttern nicht mehr beschieden; sie fristeten ihr Dasein allenfalls noch als Schreckgespenster des Aberglaubens. Woher stammt dann aber unser reiches Wissen um Götter und Mythen der Germanen? Woher kennen wir Opferkulte und Begräbnissitten?
Unser Wissen wäre nur bruchstückhaft, hätte man nicht auf der Nordatlantikinsel Island (knapp 300 km vor Grönland, 1000 km von Norwegen entfernt) einen bemerkenswerten Fund gemacht: Dem altertumsinteressierten Bischof Brynjólfur Sveinsson fiel 1643 ein unansehnliches Büchlein in die Hände. Wo genau das geschah, ist bis heute ein Rätsel geblieben. Die abgelegenen isländischen Höfe galten damals als Fundgruben mittelalterlicher Handschriften; denn bei aller Armut liebten die Isländer ihre Bücher und schrieben sie auch immer wieder ab. Der Fund des Bischofs gelangte 1662 in die Königliche Bibliothek in Kopenhagen, wo er bis 1971 verblieb. Seitdem wacht das Isländische Handschrifteninstitut in Reykjavík über einen Nationalschatz allererster Güte: Der Codex Regius (die Königliche Handschrift; Signatur: Gks 2365, 4to) ist eine Handschrift mit den bescheidenen Maßen von 19 x 13 cm und einem Umfang von 45 Pergamentblättern – einige verloren gegangene Blätter sind für unser Thema nicht von Belang. Niedergeschrieben wurde das Büchlein um 1270 auf Island, viel mehr ist bis zur Auffindung im 17. Jahrhundert nicht bekannt.
Zum Inhalt: Die so genannte Lieder-Edda (auch als Ältere Edda und Sämunds Edda bezeichnet) enthält eine Vielzahl von Götter- und Heldenliedern. Letztere behandeln u. a. den Stoff der Nibelungensage und sollen hier nicht weiter interessieren. Der Schreiber hat seine Sammlung anscheinend nach einem durchdachten Plan geordnet und präsentiert. Sie beginnt mit den Götterliedern, an deren Spitze die Weissagung der Seherin (altnord. Völuspá) steht, die man als umfassenden Überblick über die altnordische Mythologie bezeichnen kann. Dieses zweifelsohne berühmteste Götterlied mit insgesamt 66 Strophen genießt bis in die Gegenwart den Ruf, ein Text ganz großer Weltliteratur zu sein, der nicht nur als Zeugnis nordgermanischer Mythologie gilt, sondern auch hohen poetischen Ansprüchen genügt. Das Lied ist ein Visionsmonolog, in dem eine Seherin (Völva) dem Gott Odin vom Werden und Vergehen der mythischen Welt erzählt: beginnend mit den Riesen als ältesten Wesen und der Weltesche Yggdrasill; fortfahrend mit den Asengöttern, die aus dem Körper des getöteten Urriesen Ymir die Welt erschufen. Auch die Zwerge finden Erwähnung und die Erweckung des ersten Menschenpaares. Die monumentale mythische Weltschau verdüstert sich mit dem Tod des lichten Gottes Balder, der einer List des zwielichten Loki zum Opfer fällt. Unheilwesen wie Drache und Wolf künden die Ragnarök an, den Untergang der alten Welt. Vom Osten ziehen die Riesen mit Loki und dessen Kindern, dem Fenriswolf und der Midgardschlange heran. Aber das ist nicht das Ende: Der untergegangenen Welt folgt eine neue, die sich aus dem Meer erhebt, und um den aus dem Totenreich Hel zurückkehrenden Gott Balder begründen die Söhne der Asen eine neue Herrschaft.
Auf die Weissagung der Seherin folgen mit den Sprüchen des Hohen (altnord. Hávamál), dem Wafthrudnir- (altnord. Vafþrúđnismál) und dem Grimnirlied (altnord. Grímnismál) drei Gedichte um den Gott Odin. Sie enthalten hauptsächlich Spruchweisheiten und mythologisches Wissen in Form von Monologen des höchsten Asengottes und einem Wissenswettstreit mit dem Riesen Wafthrudnir. Dabei stechen die 164 Strophen der Sprüche des Hohen besonders hervor, bieten sie doch allerlei Weisheiten, die Odin (der Hohe) kundtut – darunter praktische Lebensregeln, Warnungen vor Wankelmut und Lüge in der Liebe, das hochinteressante Runengedicht Odins, worin der Gott sein Selbstopfer an der Weltesche Yggdrasill schildert, an der er neun Nächte hing, um das Runenwissen zu erwerben. Das umfangreichste Götterlied schließt mit der Aufzählung von Zaubersprüchen, ohne jedoch deren Inhalt zu zitieren.
Den drei Odinsliedern folgt das Skirnirlied (altnord. Skírnismál, auch Skírnisför, Skirnirs Fahrt), das als einziges Gedicht dem Wanengott Freyr gewidmet ist. Dann schließlich fünf Texte, die sich mit Thor beschäftigen: Im Harbardlied (altnord. Hárbarđsljóđ) führt er ein Streitgespräch mit seinem unerkannt bleibenden Vater Odin. Das Hymirlied (altnord. Hymiskviđa) besteht aus mehreren Episoden, in denen er es mit seinen Erzfeinden, den Riesen, zu tun bekommt. In Lokis Spottrede (altnord. Lokasenna) steht zwar der bösartige Loki im Mittelpunkt, aber erst Thor gelingt es, den Frieden unter den Göttern wieder herzustellen. Das Thrymlied (altnord. Þrymskviđa, auch Heimholung des Hammers) erzählt auf schwankhafte Weise ein weiteres Abenteuer mit Riesen, während das abschließende Alwisslied (altnord. Alvíssmál) in einem Streitgespräch zwischen Thor und einem Zwerg mit deren gegenseitigen Fragen und Antworten Wissen vermittelt. Vor diesem letzten Götterlied hat der Schreiber das mittlerweile zu den Heldenliedern gezählte Wölundlied (altnord. Völundarkviđa) niedergeschrieben. Der Grund dafür war anscheinend, dass dessen Protagonist Wölund (der berühmte Meisterschmied Wieland) als Abkömmling der mythischen Alben gesehen wurde. Diesen Götterliedern des Codex Regius stellt man noch einige mythologische Gedichte zur Seite, die andernorts überliefert wurden: Balders Träume (altnord. Baldrs draumar, auch Wegtamlied), das Merkgedicht von Rig (altnord. Rígsþula), das Hyndlalied (altnord. Hyndluljóđ) sowie das Swipdaglied (altnord. Svipdagsmál).
Leider kann keines dieser bedeutenden Zeugnisse in eine ferne germanische Vergangenheit zurückgeführt werden. Eigentlich weiß man kaum mehr, als dass die Götterlieder im 13. Jahrhundert auf Island bekannt waren und zu Pergament gebracht wurden. Alles andere muss Spekulation bleiben. Die Germanen auf dem Kontinent kannten wohl gar keine Götterlieder, die erst zur Zeit der Wikinger im Spätheidentum des 10. Jahrhunderts entstanden. Beispielsweise schreibt man der Weissagung der Seherin ihre Entstehung um das Jahr 1000 zu, manchem Lied unterstellt man sogar die intellektuelle Spielerei eines christlichen Gelehrten des 13. Jahrhunderts. Wie auch immer: Götternamen und Mythen sind im Großen und Ganzen nicht aus den Fingern gesogen, sie führen zumindest in Spuren zurück in die vorchristliche Vergangenheit. Der Forschung bleibt es vorbehalten, diese Beziehungen zu klären und möglichst das Alte vom Neuen zu trennen.
An den alten Überlieferungen waren die Isländer des hohen Mittelalters brennend interessiert. Dafür steht Snorri Sturluson (1179–1241), der bedeutendste isländische Politiker und Gelehrte seiner Zeit. Viel ließe sich über seine Herkunft aus dem mächtigen Geschlecht der Sturlungen sagen, viel über seine Ausübung des einflussreichen Amtes (des einzigen) des Gesetzessprechers in der isländischen Republik, viel über seine Aufenthalte beim norwegischen König Hákon Hákonarson, auf dessen Initiative er schließlich von eigenen Verwandten ermordet wurde. Wichtiger sind allerdings jene literarischen Werke, die man ihm zuschreibt, so die Heimskringla, eine Geschichte der norwegischen Könige, und die Saga von Egill Skallagrimsson, Islands berühmtestem Skalden, den Snorri zu seinen Vorfahren zählte. Seine bedeutendste Arbeit ist jedoch jenes Buch, das nach ihm als Edda des Snorri Sturluson bezeichnet wird (altnord. Snorra Edda, Snorris Edda, auch Jüngere oder Prosa-Edda). Im Mittelalter kursierte es schlicht unter dem Namen Edda, dessen Herkunft bis heute ungeklärt blieb: Ist damit die altisländische Bedeutung »Urgroßmutter« gemeint, um auf die alten Überlieferungen hinzuweisen? Oder leitet sich das Wort von óđr »Dichtung« ab oder von dem Hofnamen Oddi, wo Snorri aufwuchs, oder hängt es vielleicht mit dem lateinischen edo »ich verkünde« zusammen? Klar ist jedenfalls, was das Wort Edda bezeichnete: eine Poetik, ein Dichtungslehrbuch für die traditionellen isländischen Poeten, die Skalden, deren Überlieferung Snorri bewahren, pflegen und weitervermitteln wollte. Als er um 1220 sein Werk niederschrieb (vier Haupthandschriften blieben erhalten, von denen die älteste immerhin um 1300 entstand), griff er auf eine Fülle von Skaldengedichten und Eddaliedern zurück, was seine Edda neben den Götterliedern der Älteren Edda zur wichtigsten Quelle der nordgermanischen Mythologie macht.
Sie besteht aus vier Teilen, beginnend mit einem kurzen Prolog (altnord. Formáli), der die vorchristlichen Mythen mit der biblischen Schöpfungsgeschichte im Sinne mittelalterlicher Gelehrsamkeit verbindet. Dieses Vorwort soll hier genauso wenig interessieren wie das abschließende Verzeichnis der Versarten (altnord. Háttatal), in dem Snorri seine poetische Meisterschaft beweist: In einem Preisgedicht verwendet er in 102 Strophen sageundschreibe 100 verschiedene Versarten.
Der erste Hauptteil Gylfis Täuschung (altnord. Gylfaginning) hat es insofern in sich, weil er eine Sammlung vorchristlicher Mythen und Götterbeschreibungen enthält. Snorri bedient sich dabei eines erzählerischen Tricks, indem er seiner Mythographie die Form eines Dialogs gibt. Der schwedische König Gylfi sucht unter einem Decknamen die in den Norden eingewanderten Asen auf, die hier lediglich ein zauberkundiges Menschenvolk und keine Götter sind. Diese, repräsentiert von drei Herrschern namens der Hohe, der Gleichhohe und der Dritte, erkennen jedoch seine Absicht und spiegeln ihm Sinnestäuschungen vor. Auf diese Weise erfährt Gylfi von einem Schöpfergott Allvater, von der Entstehung der Welt und der sie bevölkernden Wesen wie Götter, Riesen, Zwerge und Menschen. Letztlich ist es das ganze Wissen der oben beschriebenen Götterlieder, das Snorri ordnet und ergänzt. Kein Wunder, dass sich die Asen nach der Schilderung der Ragnarök den wissbegierigen Fragen Gylfis entziehen und ihre Illusion auflösen. Der König bleibt allein auf freiem Feld zurück. Gylfis Täuschung diente ganz offensichtlich dazu, die jungen Skalden des 13. Jahrhunderts mit den alten vorchristlichen Überlieferungen vertraut zu machen.
Dann lässt Snorri die Sprache der Dichtkunst (altnord. Skáldskaparmál) folgen, eine Stillehre mit zahlreichen Zitaten als Beispiele für die komplizierten Umschreibungen der Skalden, die Heiti (Synonyme) und Kenninge (mehrgliedrige Umschreibungen). Da man dafür gern auf mythologisches Wissen zurückgriff, erzählt Snorri einige Mythen wie den Skaldenmetmythos, den Raub der Göttin Idun, Thors Kämpfe mit Riesen und Lokis üble Streiche – eine wahre Fundgrube für alte Mythen. Sein reiches Material schöpfte der isländische Gelehrte aus den eddischen Götterliedern, aus zahlreichen überlieferten Skaldenstrophen und aus Elementen des Volksglaubens. Seine Edda ist ein weiteres Stück isländischer Weltliteratur, das seinesgleichen sucht. An manchen unterhaltsamen Götterepisoden dürfte er fabulierend selbst Hand angelegt haben, nicht alles darf als authentisch vorchristlich gelten. Trotzdem bietet das Lehrbuch eine geradezu vorurteilsfrei wirkende Gesamtschau der nordgermanischen Mythologie.
Auf jene für Snorri so wichtigen Skalden (altnord. skáld, vielleicht mit »schelten« verwandt) sei noch einmal zurückgekommen. Wir verstehen darunter norwegische und isländische Dichter, die mit ihren Preisliedern auf lebende und tote Fürsten an den Königs- und Fürstenhöfen der Wikingerzeit großes Ansehen genossen. Lediglich auf Island blieb ihre hochartifizielle Poesie bis in Snorris Zeit erhalten. Das ist insofern bemerkenswert, als die ältesten Gedichte aus dem 9. Jahrhundert stammen. Da Skaldenkunst mündlich entstand und nicht niedergeschrieben wurde, scheint sie über mehrere Jahrhunderte von Mund zu Mund tradiert worden zu sein – bis die mittlerweile des lateinischen Alphabets kundigen Isländer die Strophen aufschrieben. Diese finden sich nicht nur in Snorris Edda, sondern auch in zahlreichen Isländer- und Königssagas, die sich mit der isländischen und norwegischen Geschichte beschäftigen. Wie oben bereits dargelegt, bieten die kunstvollen Umschreibungen der Skalden eine mythologische Quelle ersten Ranges. So erwähnt der älteste überlieferte Dichter namens Bragi Boddason in Ragnars Gedicht (altnord. Ragnarsdrápa) bereits im 9. Jahrhundert den Mythos von Thors Fischzug gegen die Midgardschlange. Die skaldische Vorliebe für Verrätselungen stellt allerdings auch ein beachtliches Verständnishindernis dar: Woher sollte man wissen, was sich hinter »Kwasirs Blut«, »Zwergenmet«, der »Vaterbuße der Riesen« oder der »Flüssigkeit Odrörirs« verbirgt (die Dichtkunst nämlich)? Hier wären wir ohne Snorris ausführliche Kommentare aufgeschmissen.
Die beiden Eddas und zahlreiche Skaldenstrophen bieten demzufolge eine reiche Fundgrube an mythologischen Informationen. Aber die literarisch umtriebigen Isländer des Mittelalters haben durchaus noch mehr zu bieten – weniger spektakulär, gleichwohl aber weiteres Material an Wissen um Götter und Mythen. Dazu zählen die Isländersagas (Íslendinga sögur), Prosatexte insbesondere des 13. Jahrhunderts, deren Handlung zwischen 930 und 1030 und damit noch in heidnischer Zeit angesiedelt ist. Wegen ihres realistischen Erzählstils hielt man die Sagas, die auch im deutschsprachigen Raum durch zahlreiche Übersetzungen bekannt wurden, für authentische mündlich überlieferte Erzählungen, denen man einen hohen Zeugniswert für die vorchristliche Kultur und Religion zuschrieb. Mittlerweile sieht man sie als fiktive historische Romane des hohen Mittelalters, die allerdings auf mündliche Traditionen wie Genealogien, kurze Erzählungen und Skaldenstrophen zurückgreifen. Heidentum und Aberglaube können darum durchaus ihre Spuren hinterlassen haben. Dies gilt auch für das einzigartige Buch von der Landnahme (altnord. Landnámabók), das wahrscheinlich im 12. Jahrhundert zusammengestellt wurde. Es erzählt von der Besiedlung Islands um 900 und führt Genealogien der Siedler an. Dabei bietet es eine Fülle an Informationen über Ortsnamen, Tempelbauten, religiöse Vorstellungen und den Volksglauben in vorchristlicher Zeit. Aus der Fülle isländischer Schriften seien noch die Fornaldarsögur (Vorzeitsagas) erwähnt, die erst gegen 1300 und im 14. Jahrhundert verfasst wurden. Ihr Thema ist die sagenhafte Vorzeit Skandinaviens vor der Besiedlung Islands. Diese Texte zeichnen sich durch phantastisch-märchenhafte Züge aus, und nicht selten greift der alte Heidengott Odin mit Umhang und Schlapphut in die Handlung ein. Wenn auch weniges davon authentisch sein dürfte, lohnt es doch, die Fornaldarsögur nach Resten alter Mythen zu durchforsten. Schließlich noch einmal zu Snorri Sturluson: Die oben erwähnte Heimskringla lässt er mit der Saga von den Ynglingen (altnord. Ynglinga saga) beginnen, in der er die mythische Urgeschichte Skandinaviens behandelt und die schwedischen Ynglingenkönige aufzählt, auf die sich die Norweger zurückführen. Die Ynglinge selbst stammen Snorri zufolge von den Göttern Odin, Njörd und Freyr ab, die er als aus Asien (wegen der Namensähnlichkeit der Asen) nach Skandinavien eingewanderte Menschen interpretiert. Snorris Hauptquelle war das aus dem 9. Jahrhundert überlieferte Gedicht der Ynglinge (altnord. Ynglingatal) des norwegischen Skalden Thjodolf von Hwin. Wiederum gilt es, die im christlichen Kontext entstandene Saga mit kritischer Vorsicht zu sondieren und nach heidnischen Resten zu befragen.
Was trieb die Isländer dazu, wie keine andere Nation des Mittelalters Texte in ihrer Muttersprache – und nicht nur auf Latein – niederzuschreiben und sich zudem recht intensiv mit den vorchristlichen Göttern und Mythen zu beschäftigen? Um den gängigsten Klischees gleich zu widersprechen: Die Menschen im Nordatlantik bewahrten keine Überreste uralter germanischer Kultur – so hat man um 1900 ihre Literatur gern in Deutschland rezipiert. Und Island war kein letzter Hort germanischen Heidentums, wo Snorri Sturluson noch im 13. Jahrhundert an Odin glaubte und seine Edda quasi als heidnische Bibel schrieb – so heute noch manchmal die Sicht neuheidnischer Gruppen. Das Gegenteil war der Fall: Island war ein christliches Land, allerdings mit einigen Besonderheiten. Dazu zählt zweifelsohne die Annahme des Christentums durch das Allthing im Jahr 1000. Der Gesetzessprecher Thorgeirr Thorkelsson fällte einen Schiedsspruch zugunsten der neuen Religion (obwohl er selbst Heide war) und man stimmte ihm zu: Alle sollten sich taufen lassen. Es folgte eine Zeit des Übergangs, in der das Heidentum durchaus noch präsent, aber nicht mehr tonangebend war. (vgl. Kap. X)
Schließlich errichtete der erste vom Bremer Erzbischof geweihte einheimische Bischof Ísleifr Gizurarson 1056 eine Bischofskirche auf seinem Hof Skálholt im Südwesten der Insel. Sein Sohn und Nachfolger Gizurr – der Zölibat setzte sich auf Island nie durch – schenkte den Bischofsitz schließlich der Kirche. 1106 entstand in Hólar im Norden ein zweites Bistum. Seit 1133 wurden neun Männer- und zwei Frauenklöster gegründet. Sie trugen mit zur Ausbreitung der christlichen Lehre und der abendländischen Gelehrsamkeit bei. Kloster- und Privatschulen sorgten für eine rasche Verbreitung der Schrift – im Winter 1117/18 sollen erstmals Gesetze aufgezeichnet worden sein. Gelehrte dienten als neue Leitbilder: Sæmundr Sigfússon inn fróđi (»der Gelehrte«, 1056–1133) gründete in Oddi eine hoch angesehene Schule, wo er sein in Frankreich erworbenes Wissen weitergab. Nicht weniger Ruhm genoss der Geschichtsschreiber Ari Thorgilsson (1067–1148), der erstmals nicht lateinisch, sondern isländisch schrieb. Die Alphabetisierung war auf Island im Gegensatz zum restlichen Europa auch in Laienkreisen verbreitet. Die Gründe für eine ausgeprägte Bibliophilie mögen ganz profan gewesen sein: Die langen dunklen Wintermonate wären ebenso zu nennen wie reichlich vorhandene Tierhäute der Schafherden, aus denen Pergament für die Handschriften hergestellt wurde. Aber noch andere Faktoren kamen hinzu: Reges antiquarisches Interesse an der eigenen Vergangenheit einschließlich der vorchristlichen Mythologie traf auf intensive Beziehungen zum Kontinent. Dessen gelehrte Werke wurden eifrig ins Isländische übersetzt, nicht nur Teile der Bibel, auch etwa die weitverbreitete Geschichte vom Trojanischen Krieg, aus der man die Trójumanna saga machte. Oder die römischen Geschichten Sallusts und Lukians, die zur Rómverja saga wurden. Die isländischen Benediktinerklöster vermittelten wie andernorts das Interesse an der antiken Überlieferung (die vorchristlich war). Und in Klassikern wie Ovids Metamorphosen oder Vergils Aeneis fanden sich antike Götter und Mythen. Kein Wunder, dass die Isländer des 12. Jahrhunderts analog dazu aus ihrer eigenen Tradition schöpften – was den alten Griechen recht war, mochte ihren Vorfahren billig sein! Demzufolge stößt man in der Clemens saga, einer Übertragung der Legende um den Heiligen Papst Clemens, auf ein bemerkenswertes Phänomen: Lateinische Götternamen werden in nordische übertragen – aus Merkur wird Odin, aus Jupiter Thor, aus Venus Freyja usw. Und wenn unter den christlichen Gelehrten Europas üblich war, sich mit antiken Göttern zu beschäftigen, warum sollte man da nicht guten Gewissens die Mythen der Vorväter sammeln, wie Snorri es so vorbildlich tat? Daran war weder etwas Heidnisches noch Ketzerisches. Der weit verbreitete typologische Vergleich ließ sich beispielsweise auf Christus und Thor anwenden. Und dabei schnitt das Christentum besser ab; denn während Christus den Satan in Gestalt des Drachen Leviathan besiegte (in apokrypher Evangelienüberlieferung), verlor Thor im Kampf mit der Midgardschlange sein Leben. Natürlich konnten zudem heidnische Götter als Dämonen in Verruf gebracht werden. Eine andere Sicht unterstellte den Vorfahren eine ehrenhafte Suche nach Gotterkenntnis, lange bevor das Christentum die Wahrheit in den Norden brachte. Weswegen man den falschen Göttern folgte. Dieses Konzept einer »natürlichen Religion« erfreute sich auf Island großer Beliebtheit. Auf die Altvorderen ließ man denn doch nicht gern Schlechtes kommen. Der Überlieferung germanischer Mythologie zum Glück!
Mit der Fülle isländischer Überlieferungen lassen sich andere, vor allem lateinische Textquellen kaum vergleichen. Allerdings sind sie teilweise weit über 1000 Jahre älter und bieten damit rudimentäre, aber sehr alte Nachrichten über die Religion der Germanen. Im Folgenden seien die wichtigsten Werke genannt: Beginnen wir mit einem Zeitgenossen Snorri Sturlusons, dem Dänen Saxo Grammaticus (Saxo »der Grammatiker«), der als Kleriker und Gelehrter am erzbischöflichen Hof zu Lund kurz nach 1200 eine lateinische Gesta Danorum (Taten der Dänen) schrieb, eine Geschichte der Dänen von den Anfängen bis in seine Gegenwart. Für die sagenhafte Frühzeit greift er nach eigenem Bekunden auf isländische Gewährsmänner zurück, durch die er eine Fülle an Mythen und Heldensagen erfuhr. Seine lateinische Gelehrtensprache und ein recht freier Umgang mit den Göttergeschichten führten zu erheblichen Unterschieden zur Überlieferung der isländischen Eddas. Trotzdem kann man den Gesta Danorum ihren Wert als wichtiges Zeugnis nicht absprechen. Nicht unerwähnt bleiben darf der deutsche Kleriker Adam von Bremen, der um 1070 die Historia Hammaburgensis eclesiae (Geschichte der Hamburgischen Kirche) schrieb. Da den Erzbischöfen von Hamburg-Bremen die Missionierung Nordeuropas oblag, schenkt Adam auch den »nördlichen Inseln« Aufmerksamkeit. Seine Angaben erhellen die Übergangszeit vom Heidentum zum Christentum, wobei er als berühmtestes Zeugnis ein Opferfest in Alt-Uppsala schildert.
Über 1100 Jahre zuvor beginnen die Nachrichten über die germanischen Stämme mit Caius Iulius Caesars Gallischem Krieg (De Bello Gallico), auch wenn er an den religiösen Verhältnissen wenig interessiert ist. Die anschließenden Kriege und friedlichen Kontakte Roms mit den Germanen führen zu zahlreichen Informationen über die »Barbaren« jenseits des Rheins. Der Geschichtsschreiber Publius Cornelius Tacitus (ca. 55–120 nach Chr.) stellt dabei einen ähnlichen Glücksfall dar wie später die isländischen Eddas. Nicht nur, dass seine Historien und Annalen die römische Geschichte des ersten Jahrhunderts nach Chr. zum Thema haben und darum auch wichtige Nachrichten über die Germanen bringen. Von herausragender Bedeutung ist seine um das Jahr 98 verfasste Schrift De origine et situ Germanorum (Über Ursprung und die geographische Lage der Germanen, kurz Germania). Diese für die Antike einzigartige ethnographische Monographie nimmt sich der Kultur und der Lebensumstände der germanischen Stämme an, darunter auch Schilderungen der germanischen Religion und ihrer Sitten und Gebräuche.
Nach der Christianisierung der germanischen Stämme widmen sich deren Gelehrte den Geschichten ihrer Völker, die sie mit Antike und neuer Religion verknüpfen. Dabei fällt auch die eine und andere Mitteilung über das Heidentum an. So schildert der byzantinische Geschichtsschreiber Prokop (ca. 500–560) die oströmischen Kriegszüge gegen die Ostgoten in Italien (De bello Gothico Über den Gotenkrieg), wobei er Nachrichten über die Goten und die Skandinavier sowie ihre Religion mitteilt. Auch der gotische Bischof Jordanes verfasst um 550 eine Gotengeschichte (Getica), in der er Angaben zur Herkunftssage und zum Kult der Goten macht. Wenige Jahrzehnte später schreibt Bischof Gregor von Tours (um 540–594) mit der Geschichte der Franken (Historia Francorum) das wichtigste Geschichtswerk der Merowingerzeit. Auch hier liest man in der heidnischen Frühzeit des Volkes von dessen religiösen Bräuchen. Hervorzuheben ist der für seine Gelehrsamkeit berühmte nordenglische Geistliche Beda Venerabilis (»der Ehrwürdige«, 673–735), der eine Historia ecclesiastica gentis Anglorum (Kirchengeschichte der Angelsachsen) schrieb, in der er die mythischen Vorfahren dieses Volkes erwähnt. Und nicht zu vergessen Paulus Diaconus (um 720–799) aus einem langobardischen Adelsgeschlecht Norditaliens, der an der Hofschule Karls des Großen in Aachen lehrte. Unter seinen Werken ragt die lateinische Langobardengeschichte (Historia Langobardorum) heraus, in der er Entstehungsmythen seines Volkes wiedergibt, deren Motiv sich interessanterweise später im eddischen Grimnirlied wiederfindet. Gerade im Umfeld des Frankenherrschers Karl und seiner Nachfolger stoßen wir auf mehrere kurze, aber bedeutende Texte, u. a. die Missionierung der Sachsen betreffend: so in den Gesetzestexten der Kapitularien und insbesondere in dem Indiculus Superstitionum et paganiarum (Verzeichnis des Aberglaubens und Heidentums), das etliche heidnische »Verstöße« auflistet, etwa »Heiligtümer des Wodan und Donar«, »Zaubersprüche« und ein »Götzenbild aus Mehlteig«. Höchst erwähnenswert ist auch das Sächsische Taufgelöbnis, das in der Sachsenmission verwendet wurde. Dem Text folgend musste der Täufling nicht nur dem Teufel abschwören, sondern auch den germanischen Göttern Donar, Wodan und Saxnot. Etwas später wurden die Merseburger Zaubersprüche niedergeschrieben, die vorchristliche Magie bezeugen, aber auch mehrere göttliche und übernatürliche Wesen nennen. Für Deutschland sei hier noch Bischof Burchard von Worms (965–1025) erwähnt, dessen Bußbücher zahlreiche abergläubische Bräuche verurteilen, die sich teilweise auf vorchristliche Vorstellungen zurückführen lassen.