Cover

Gordon Korman, geb. 1963 in Kanada, schrieb seinen ersten Roman bereits im Alter von zwölf Jahren. Mittlerweile hat er zahlreiche Bücher für Jugendliche und Erwachsene geschrieben, die in 14 Sprachen übersetzt wurden. Er lebt mit seiner Familie in Long Island, New York.

Impressum

Dieses E-Book ist auch als Printausgabe erhältlich

(ISBN 978-3-407-74594-1)

www.beltz.de

© 2016 Beltz & Gelberg

in der Verlagsgruppe Beltz · Weinheim Basel

Werderstr. 10, 69469 Weinheim

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2015 Gordon Korman

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Masterminds bei HarperCollins Children’s Books, New York

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.

Aus dem Englischen von Sandra Knuffinke und Jessika Komina

Neue Rechtschreibung

Lektorat: Ruth Speil

Einbandgestaltung: © Max Meinzold, unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com (Leuchtstreifen und Figur © Mopic), photocase.de (Junge © Manun), 123rf.com (Windrad © Jon Bilous) und unter der Verwendung der Titel-/Autorentypo von myfonts.de

ISBN 978-3-407-74626-9

Für Jay Korman, unser Sport-Mastermind

1

Eli Baris

Die Chancen standen eins zu einer Million und … Treffer, versenkt!

Nur nicht ganz so, wie wir uns das vorgestellt hatten.

Ich liege auf dem kühlen Steinboden am Swimmingpool und spähe in den Wasserfilter. Die Spitze des Bumerangs ist gerade noch zu erkennen, aber ich komme mit der Hand einfach nicht tief genug in die Öffnung, um ihn zu packen. »Er steckt fest«, sage ich.

»Wie kann das denn sein?«, stöhnt Randy. »Da wirft man das Ding fünfzigtausend Mal und kommt nie auch nur in die Nähe des Filters. Aber eine kleine Aktion, und zack!«

In Serenity ist Randy schon berüchtigt für seine »Aktionen«, in denen es für gewöhnlich darum geht, irgendetwas möglichst Unfangbares aus der Luft zu fangen, während man Fahrrad fährt, auf einer Hüpfstange springt, an einem Seil durch die Luft schwingt oder in einem Lkw-Reifen den Berg runterrollt. Und als Randys bester Freund muss meistens ich das Versuchskaninchen für seine irren Ideen spielen. Wie zum Beispiel heute: Randy wirft also den Bumerang aus dem Baumhausfenster und ich soll vom Sprungbrett hochfedern, mir das Ding schnappen und anschließend eine Arschbombe in den Pool machen. Nur dass ich leider danebengreife, die Arschbombe zum Bauchklatscher wird und der Bumerang im Filter landet.

»Vielleicht kriegt Mr Amani ihn da raus«, entgegne ich hoffnungsvoll. Der Handwerker ist in unserer Stadt das Mädchen für alles, von Installateur- und Elektroarbeiten bis hin zum Beseitigen von Skorpionen und Babygürteltieren, die es sich hier gerne in den Kellern gemütlich machen.

»Vielleicht aber auch nicht und dann müssen meine Eltern die Poolfirma anrufen.«

Das ist viel aufwendiger, als es klingt. In Serenity selbst gibt es nämlich keine Poolfirma und die nächste Stadt liegt achtzig Meilen weit entfernt. Da kann es manchmal Wochen dauern, bis man einen Termin bekommt, und in der Zwischenzeit verwandelt sich der Pool in Grütze. Mr und Mrs Hardaway werden jedenfalls nicht begeistert sein – obwohl sie so was nach dreizehn Jahren mit ihrem Sohn Randy schon gewöhnt sein müssten.

Das ist definitiv einer der Nachteile, in einer Kleinstadt mitten im Nirgendwo zu leben. Aber wenn so ein Problem aufkommt, zeigt mein Dad bloß jedes Mal auf den Zeitungsausschnitt an unserem Kühlschrank. Die Schlagzeile lautet:

SERENITY ZUR STADT MIT DER HÖCHSTEN LEBENSQUALITÄT IN DEN USA GEWÄHLT

Dann zählt er einen Vorzug nach dem anderen auf, die in dem Artikel genannt werden: keine Kriminalität, keine Arbeitslosigkeit, keine Armut, keine Obdachlosigkeit. Das Erstaunliche daran ist aber weniger, dass wir diese ganzen Sachen nicht haben, sondern dass es sie in anderen Städten gibt und dass das die Leute dort anscheinend okay finden. Muss doch furchtbar sein.

Na schön, Serenity hat gerade mal hundertfünfundachtzig Einwohner – ihnen eine Arbeit und ein Dach über dem Kopf zu geben, kann ja nicht so schwer sein. Wir haben die Plastikfabrik, eine der größten Produktionsstätten von Pylonen – diesen orangefarbenen Verkehrshütchen – in den gesamten Vereinigten Staaten. An unserer Schule werden die besten Notendurchschnitte von New Mexico erzielt. Serenity liegt direkt am Rand des Carson National Forest, umgeben von Schluchten, Hügeln und Wald, und die Sonne scheint so gut wie jeden Tag. Klar, manchmal wird es schon ganz schön heiß, aber wir müssen nie so schlimm brutzeln wie die Leute, die richtig in der Wüste leben. Kein Wunder, dass Dad so stolz ist. Er ist unser Bürgermeister, was erst mal wer weiß wie wichtig klingt, aber so ist das gar nicht. Sein Gehalt für den Posten beträgt einen Dollar pro Jahr, und er behauptet trotzdem, er wäre überbezahlt.

Unsere Eltern reden ständig davon, was für ein Glück wir haben, und wir verdrehen dann immer die Augen. Aber in Wahrheit haben sie recht. Wir können uns tatsächlich glücklich schätzen – nur eben nicht, wenn der Poolfilter kaputt ist und die nächste Werkstatt ihren Sitz in Taos hat.

Randy, als Urheber der Misere, trifft eine Entscheidung. »Ich sag’s meinen Eltern nicht. Wenn die den Bumerang da drin finden, tu ich einfach zehn Mal so überrascht wie alle anderen.«

Mir wird ein bisschen mulmig zumute – das kommt mir schon fast vor wie Lügen. Ich weiß, im Fernsehen und in Büchern machen die Leute das andauernd. Aber wir hier sind nun mal ehrlich, egal, was passiert. Auch wenn es uns schwerfällt oder Ärger einbringen könnte. Klingt vielleicht zu schön, um wahr zu sein, aber ich glaube, das ist einer der Gründe, warum die Leute hier so glücklich sind.

»Wir können doch in unseren Pool springen«, schlage ich vor, um das Thema zu wechseln. »Nur ohne Bumerang.« Mein Dad ist viel strenger als die Hardaways. Er ist nämlich nicht nur Bürgermeister, sondern auch unser Schuldirektor, und das ist wirklich ein verantwortungsvoller Posten. Es gibt schließlich nur eine Schule in der Stadt.

»Nö, ich hab keine Lust mehr auf Schwimmen.«

»Dann rauf ins Baumhaus?«

»Langweilig«, lehnt er ab. »Hier hat doch jeder ein Baumhaus und in keinem davon ist es wirklich spannend. Und jetzt schlag bloß keine Videospiele vor. Was bringt einem ein super Heimkino, wenn die Spiele zum Einschlafen sind?«

»Aber unsere Spiele sind doch gar nicht so übel«, wende ich ein. Randy und ich haben nämlich einen Weg gefunden, die Software zu manipulieren und versteckte Bonusfeatures zu öffnen, wie zum Beispiel Autounfälle oder Kämpfe mit richtigen Waffen. Sieht aus, als hätte ich ein Talent für so was – bei meinem iPad und Computer kriege ich das auch hin. Alles streng geheim natürlich, weil ganz Serenity gegen Gewalt ist. Ich natürlich auch, aber in so einem Spiel schadet das schließlich keinem, oder? Ist ja nicht so, als würde es wirklich passieren.

»Gäääähn.« So ist das öfter mit Randy, wenn ihn mal wieder nichts zufriedenstellt. Er kann ein echter Meckerfritze sein, und ob man’s glaubt oder nicht, genau das mag ich an ihm so gern. In Serenity hört man nicht viel Genörgel. Aber Randy findet irgendwie immer einen Grund. Es scheint fast, als wollte er das Universum herausfordern, sich gefälligst ein bisschen mehr Mühe zu geben, egal, wie super im Grunde schon alles ist. Manchmal denke ich, mein Dad wäre froh, wenn ich mir einen anderen besten Freund suchen würde. Aber mal ehrlich: In einer Stadt, in der nur dreißig Jugendliche leben, ist die Auswahl nun mal nicht besonders groß. Und außerdem sucht man sich beste Freunde ja auch nicht aus, man findet sie einfach.

»Und, was machen wir dann?«, frage ich ihn.

»Lass uns hier abhauen. Irgendwohin.«

Meine Stimmung hellt sich auf. »Die haben gerade im Park so eine neue Riesenrutsche gebaut.«

Doch das interessiert ihn nicht. »Na toll. Hochklettern, runterrutschen, fertig. Lass uns was Cooles machen.«

»Und was, zum Beispiel?«

»Zum Beispiel – « Seine Augen glitzern. »Zum Beispiel, den abgefahrensten alten Sportwagen anschauen, den du je gesehen hast.«

»Sportwagen?« Wenn man in einer so kleinen Stadt lebt, dann kennt man nicht nur zwangsläufig jedes Auto dort, sondern könnte wahrscheinlich sogar alle Nummernschilder auswendig aufsagen. Sobald sich irgendwer einen neuen fahrbaren Untersatz zulegt, stehen sofort drei Viertel der Bewohner von Serenity auf der Matte, um ihn zu bewundern. Wir haben hier zwar ziemlich viele schicke SUVs und Limousinen, aber Sportwagen kenne ich keinen einzigen.

»Das war so was von krass. Mein Dad und ich haben beim Wandern ein paar Meilen vor der Stadt eine alte, verlassene Ranch gefunden – der Zaun war schon komplett zusammengefallen und das Haus sah aus wie ein riesiger Mikadohaufen. Das Einzige, was noch stand, war eine rostige Wellblechhütte. Wir sind rein und da war dieses Auto. Na ja, mit platten Reifen und voller Staub und Spinnweben, aber superschön. Italienisches Fabrikat, hat mein Dad gesagt – Alfa Romeo. Die Nummernschilder waren aus dem Jahr 1961, aus Colorado.«

»Wow«, staune ich.

»Genau«, sagt er begeistert. »Komm, nichts wie hin.«

»Wie jetzt – sofort?«

Randy zuckt mit den Schultern. »Klar, oder willst du lieber bis Weihnachten warten? Ist auch gar nicht weit. Schnapp dir dein Fahrrad und los geht’s.«

Ich zögere. »Da muss ich erst meinen Dad fragen.«

Er verzieht gequält das Gesicht. »Ganz schlechte Idee. Ich kenne doch deinen Alten.«

Armer Dad. Für die Kids in der Stadt ist Felix Baris eine Art Witzfigur mit seinen dreiteiligen Anzügen, den blank geputzten Schuhen und seiner nüchternen Art. Sie kennen ihn eben nur als Schuldirektor.

Aber ganz unrecht hat Randy leider nicht. »Meinst du, er sagt Nein?«

»Warum willst du ihm denn überhaupt erst die Chance dazu geben?«, drängt Randy. »Bis zu dem Auto sind es bloß ein paar Meilen. Wir sind wieder da, bevor er auch nur merkt, dass du weg warst. Komm, Eli, jetzt mach dich mal locker.«

»Okay, nur – « Ein bisschen peinlich ist es mir schon, das zuzugeben, aber ich muss ehrlich sein. »Ich war noch nie raus aus der Stadt.«

»Na und? Ich auch nicht – bis auf ein Mal, als ich sechs war, da haben wir meine Oma besucht, aber sonst – «

»Nein«, unterbreche ich ihn. »Ich meine, ich habe die Stadt noch nie verlassen. Nicht mal bis dahin, wo dein Dad mit dir wandern war.«

»Und das eine Mal in Erdkunde, als wir auf Fossiliensuche gegangen sind?«, hakt er nach.

»Da waren wir noch innerhalb der Stadtgrenzen. Hat Mrs Laska gesagt.«

Das haut ihn um. »Das heißt, dann bist du noch nie an diesem bescheuerten Schild vorbeigegangen, auf dem steht: Sie verlassen nun Serenity – Amerikas ideale Stadt

Ich schüttele den Kopf. »Nie gesehen.«

»Das wird sich heute ändern«, sagt er bestimmt. »Ab aufs Rad.«

Das ist noch so eine Besonderheit von Randy: Er lässt sich nie mit einem Nein abspeisen. Vielleicht ist er nicht gerade der beste Umgang für mich, aber wir haben jede Menge Spaß zusammen und das ist viel wert. Er traut sich Sachen, von denen ich nur träumen kann.

Bis heute.

Durch Serenity führt nur eine einzige Straße, ein zweispuriges Asphaltband, das jeder nur die Old County Six nennt. Wir strampeln darauf nach Westen, direkt auf der verblichenen, gestrichelten Mittellinie. Um Autos, egal aus welcher Richtung, brauchen wir uns keine großen Sorgen zu machen. Alle wichtigen Highways in New Mexico liegen viel weiter südlich. Wenn man in Serenity landet, hat man sich mit ziemlicher Sicherheit verfahren.

Nach einer Weile erkenne ich die Schlucht, wo wir damals nach Fossilien gesucht haben. Das heißt, ich bin jetzt weiter weg von zu Hause als je zuvor in meinem Leben. Kann das denn wirklich so einfach sein? Einfach aufs Rad springen und raus aus der Stadt? Irgendwie kommt es mir vor, als würde ich schummeln, als würden wir ein allumfassendes Gesetz brechen, das seit jeher festlegt, wie alles zu sein hat. Und trotzdem bin ich hier. Ganz schön aufregend – oder zumindest glaube ich nicht, dass mir jemals so das Herz gehämmert oder das Blut in den Ohren gerauscht hat.

Dass ich Dad nicht Bescheid gesagt habe, bereitet mir immer noch Bauchschmerzen. Nicht dass ich seine Erlaubnis bräuchte – ich bin schließlich dreizehn. Und außerdem hat er mir ja auch nie direkt verboten, über die Stadtgrenze zu fahren. Ich verstoße also gegen keine Regel, aber ich weiß, er wird enttäuscht sein, wenn er es herausfindet. Wieso sonst habe ich mein Fahrrad heimlich aus der Garage geholt? Ich versuche, den Gedanken zu verdrängen, und trete fester in die Pedale.

Über die Schulter werfe ich einen Blick auf Serenity zurück: schnurgerade Reihen makellos weißer Häuser, Swimmingpools zieren die Gärten wie aquamarinblaue Briefmarken, davor stehen Basketballkörbe wie Wachposten, alles liebevoll eingebettet in die eindrucksvolle Landschaft des amerikanischen Südwestens. Der Anblick beantwortet mir die Frage, die an mir nagt: Wie kann es sein, dass jemand dreizehn Jahre in dieser Stadt verbringt, ohne sie ein einziges Mal zu verlassen? Na ja, warum sollte man auch? Spaß und Annehmlichkeiten haben wir genug zu Hause, dazu die Dinge, auf die Erwachsene solchen Wert legen – eine hervorragende Schule und gute Berufschancen. Die drei zentralen Tugenden der Gemeinschaft von Serenity sind: Ehrlichkeit, Harmonie und Zufriedenheit. Wir haben genug über größere Orte oder – schlimmer noch – Großstädte gehört. Dort stinkt es nach Müll, alles verlottert, und die Kriminalität greift so rasend schnell um sich, dass man niemandem trauen kann. Die Leute leben in Angst und verschanzen sich hinter verschlossenen Türen und Alarmanlagen.

Aber gleichzeitig erschreckt es mich fast, wie winzig unsere Stadt wirkt, schon aus der kurzen Entfernung von gerade mal einer Meile. Gäbe es die Fabrik nicht, würde man die ganze Siedlung komplett übersehen, wenn man nicht wüsste, wonach man suchen muss. Aber das ist wohl gerade das Wunder von Serenity, von dem unsere Eltern dauernd reden – dass so viel Lebensqualität tatsächlich in so eine kleine Verpackung passt.

»Wie weit ist es noch?«, rufe ich Randy vor mir zu.

»So zwanzig Minuten vielleicht.«

Nach einer Kurve verschwindet die Stadt hinter einem hohen Felsbrocken, was das Gefühl der Entfernung noch mehr verstärkt.

Randy hingegen scheint es nicht aufzufallen. »Da drüben!«, ruft er und deutet nach rechts.

Dort steht das Schild, von dem er erzählt hat – und das die Grenze des Stadtgebiets markiert. Verglichen mit dem tadellos gepflegten Serenity wirkt es überraschend ausgeblichen und verwittert. Mit zusammengekniffenen Augen entziffere ich die Warnung, die ganz unten hinzugefügt wurde: Nächste Tankstelle 78 Meilen.

Ich habe es wirklich getan. Ich habe die Stadt verlassen. Ich lasse den Blick über die steinigen Hügel mit ihren Strauchkiefern und magerem Gestrüpp schweifen. Wie die Gegend hier heißt, weiß ich nicht, nur, dass es nicht mehr Serenity ist. Nach mehr als dreizehn Jahren bin ich zum ersten Mal offiziell woanders. Und wie fühle ich mich dabei?

Um ehrlich zu sein, macht es mir ein bisschen Angst. So was wie das hier habe ich noch nie gemacht – mich außer Sichtweite meiner Heimatstadt begeben. Wenn wir irgendwann endlich bei diesem Alfa Romeo ankommen, bin ich wahrscheinlich so fertig mit den Nerven, dass ich gar nichts davon habe. Schon jetzt bin ich so gestresst, dass mir ganz schlecht davon wird.

Tja, aber umkehren werde ich ganz sicher nicht, wo ich schon so weit gekommen bin. Außerdem würde Randy es mir ewig unter die Nase reiben, wenn ich jetzt kneife.

Aber die Übelkeit geht nicht weg – sie wird sogar immer schlimmer. Das kann doch niemals bloß an meiner Nervosität liegen. Es muss einen anderen Grund haben. Was gab es heute noch mal zum Mittagessen? Ich kann mich nicht erinnern, aber was immer es auch war, es wird gleich wieder hochkommen. Mein Magen krampft sich so heftig zusammen, dass ich fast wie gelähmt bin, und auch mein Kopf tut weh.

»Eli, was ist denn los?«, ruft Randy genervt. »Schon aus der Puste, oder was?« Doch bei meinem Anblick verändert sich seine Miene. »Hey, alles in Ordnung?«

Ich bin langsamer geworden, ohne dass es mir aufgefallen ist. Nur die pure Sturheit hält meine Beine in Bewegung. Ich leide Höllenqualen und bin wie blind vor Schmerz, der sich wie ein glühendes Stück Kohle hinter meinen Augen festsetzt, ein immer schlimmer werdendes Pochen. Es tut unerträglich weh, so sehr, dass alles andere daneben verblasst.

Erst als ich mit dem Kinn auf der Straße aufschlage, merke ich, dass ich vom Rad gefallen bin. Meine Unterarme scheinen plötzlich in Flammen zu stehen, als der raue Asphalt mir die Haut aufschürft. Ich sehe Randy über mir knien, spüre, wie er mich schüttelt, aber ich habe keine Kraft, um zu reagieren. Ein einziger Gedanke erfüllt meinen Kopf:

Ich sterbe.

Dann passiert etwas so Schockierendes, so Seltsames, dass ich mir nicht sicher bin, ob mein Gehirn mir nur einen Streich spielt. Ein lautes, rhythmisches Dröhnen schwillt um Randy und mich an und heftiger Wind kommt auf. Direkt über uns erscheint ein dunkler Schatten, der immer größer und schwärzer wird, je tiefer er sinkt. Ein gigantischer Militärhelikopter landet auf der Straße und seine Rotorblätter peitschen uns die Luft um die Ohren.

Die Einstiegsluke öffnet sich und hinaus springen sechs Männer mit identischen violetten Uniformen und weinroten Baretten.

»Lila Menschenfresser!«, haucht Randy.

Durch den Nebel, der mich zu umgeben scheint, kann ich nur mit Mühe die auffälligen Jacken der Guards ausmachen, der Sicherheitstruppe der Plastikfabrik, die ebenfalls die Rolle der Stadtpolizei von Serenity übernehmen. Mit letzter Kraft strecke ich die Arme nach meinen Rettern aus.

»Hilfe«, flüstere ich, obwohl ich bezweifle, dass sie mich bei dem Donnern des Hubschraubers überhaupt hören können.

»Eli …«

Woher kommt diese Stimme? Ich sehe alles so verschwommen, dass ich gerade mal die Konturen einer Person ausmachen kann, die sich über mich beugt.

»Eli, wach auf.«

»Dad?« Noch nie war ich so erleichtert, meinen Vater zu sehen. Ich erkenne sein vertrautes Gesicht – schmale Lippen, die Augen blass wie ein gefrorener See. Er hat seinen strengen Direktorenblick aufgesetzt, aber andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass er irgendwie anders aussähe, wenn er Astronaut oder Erntehelfer oder Rockstar wäre. Die meisten Jugendlichen hier tun alles, um diesem Blick zu entgehen, aber für mich ist er beruhigend und sogar tröstlich, meine früheste Erinnerung.

Ich liege in einem der beiden Betten in der winzigen Arztpraxis von Serenity, die gleichzeitig als Krankenhaus dient. An meinem Arm ziept ein Tropf. Was bedeutet …

Es ist wahr. Mit einem Mal stürzt alles wieder auf mich ein, wie ein schrecklicher Albtraum. Die Fahrräder. Mein Zusammenbruch. Die lila Menschenfresser.

»Ich dachte, ich würde dich nie wiedersehen, Dad.« Der Kloß in meinem Hals schwillt auf Melonengröße an. »Ich dachte, ich würde überhaupt niemanden mehr sehen.«

Der Direktorenblick wird sanfter und Dad beugt sich über mich und nimmt mich in den Arm. »Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

»Was ist denn passiert?« Mir geht es schon viel besser, aber gesund bin ich noch lange nicht. Ich fühle mich benommen, als würde mich ein schwerer Vorhang einhüllen. Übelkeit und Kopfschmerzen sind verschwunden, aber die Erinnerung an die Qualen und die Angst verfolgt mich noch immer. Allein der Gedanke, dass man sich so elend fühlen kann und es mir eines Tages wieder so ergehen könnte, hat tiefe Spuren in mir hinterlassen.

Allerdings bin ich ja noch am Leben, was mir wie ein ziemliches Wunder erscheint. »Was ist passiert?«, wiederhole ich.

Dad lässt mich los. Er gibt sich wirklich Mühe, aber er ist einfach kein Kuscheltyp. »Dr. Fratello ist sich nicht ganz sicher. Flüssigkeitsmangel, vermutlich.«

»Aber mir ging’s doch gut, nur dann mit einem Mal nicht mehr. Ich konnte nur noch dahocken und würgen, ohne dass was rauskam, und hab mir den Kopf gehalten, weil es sich angefühlt hat, als könnte er sonst abfallen.« Meine Stimme kippt. »Ich dachte wirklich, ich sterbe.«

»Trotzdem können wir eine extreme allergische Reaktion auf irgendetwas, was da draußen wächst, nicht ausschließen«, entgegnet Dad forsch.

Ich starre ihn an und wünschte, ich würde wenigstens noch ein paar Minuten umsorgt werden. Kurz frage ich mich, ob meine Mom wohl liebevoller gewesen wäre. Aber sie ist gestorben, als ich noch ganz klein war, deswegen werde ich das nie erfahren. Ich erinnere mich nicht mal mehr an das lächelnde Gesicht von dem Porträt auf unserem Kaminsims. Meine Aufgabe ist es, jede Woche die Blumen daneben zu erneuern. Ich kenne das Bild so gut, aber die Frau darauf ist eine Fremde.

Nur damit keine Missverständnisse aufkommen: Mein Vater ist immer für mich da gewesen. Als Baby habe ich mein Bäuerchen auf seine Maßanzüge gespuckt. Meine ersten unsicheren Schritte habe ich an seinen ruhigen Händen gemacht. Ich erinnere mich sogar noch an seine Arme unter meinem Bauch, als er mir im Pool das Schwimmen beibrachte – was bei einem Mann, der kaum je auch nur seinen Krawattenknoten lockert, schon ganz schön was heißen will. »Geht es Randy gut? Haben die lila Menschenfresser ihn auch mitgenommen?«

Dads blasse Augen werden ganz frostig. »Diesen Ausdruck benutzen wir nicht.«

Ich beiße mir auf die Zunge. Du vielleicht nicht, aber so nennt die nun mal fast jeder in der Stadt. Warum müssen die Typen sich auch als Monsterpflaumen verkleiden?

»Du hast wirklich großes Glück, dass die Guards gerade noch rechtzeitig auf euch gestoßen sind«, fährt er fort.

»Gestoßen?« So würde ich das nicht unbedingt beschreiben. »So nennt man das also, wenn ein Riesenhelikopter voller lila Sturmtruppen am Himmel auftaucht und Tonnen von Staub aufwirbelt?«

Mein Vater zieht ein finsteres Gesicht und seine Lippen werden zu einem bleistiftdünnen Strich. »Sturmtruppen – woher hast du denn solche Wörter?«

»Aus der Schule«, entgegne ich. »Ich bin in der achten Klasse, Dad. Da haben wir schon von Soldaten gehört. Wir wissen sogar, dass die manchmal in den Krieg ziehen.«

Er seufzt. »Na schön. Wir sind schließlich auch Bürger der Welt – nicht nur unserer kleinen Stadt. Ich wünschte nur, jeder könnte so leben wie wir hier.«

»Klar«, stimme ich ihm zu. »Hey, Dad, wieso haben die lila – wieso haben die Guards eigentlich ihren eigenen Helikopter?«

»Der gehört der Plastikfabrik. Wir haben wirklich Glück, eine Firma in der Stadt zu haben, die sich so gut um uns kümmert. Andere Gemeinden verfügen nicht über solche Mittel.«

»Okay. Aber wofür brauchen die den hier überhaupt?«, beharre ich. »Das ist doch so eine sichere Gegend.«

Er wirkt überrascht. »Na ja, jetzt gerade hat dir das schließlich die Haut gerettet, nicht wahr? In einer Großstadt würden sie so einen Hubschrauber vermutlich für Überwachungseinsätze der Polizei benutzen. Hier haben wir den Luxus, ihn dafür einsetzen zu können, den Menschen zu helfen. Wieder so etwas, das zur Einzigartigkeit von Serenity beiträgt, findest du nicht?«

Aber ausnahmsweise bin ich mir nicht ganz sicher, ob ich das wirklich finde, denn das Bild des Hubschraubers lässt auch andere Erinnerungen in mir aufsteigen: grobe Hände, die mich an Bord ziehen; ein unterdrücktes »Hey!« von Randy, als er unsanft neben mir landet; das Geräusch der Fahrräder, die gewaltsam in den Laderaum gequetscht werden; den schwindelerregenden Start, bei dem mir schließlich doch noch das Mittagessen hochkam; den Blick auf das stetig größer werdende Serenity beim Landeanflug.

Dann Schritte, besorgtes Stimmengewirr. Lila Menschenfresser, Dr. Fratello, mein Vater, die alle durcheinanderreden.

»Hierher!«

»Halten Sie die Trage ruhig!«

»Schnell!«

»Heben Sie ihn raus!«

Eine Nadel bohrt sich in meinen Arm, und mein Bewusstsein schwindet, aber die Antwort bekomme ich gerade noch mit. »Ja, Mr Hammerstrom.«

Hammerstrom?

Dann setzt die Wirkung des Beruhigungsmittels ein und alles wird schwarz.

Dad gibt mir einen Kuss auf die Stirn, was nicht oft vorkommt und beweist, wie sehr ihn der Vorfall erschüttert haben muss. »Jetzt ruh dich noch etwas aus, Eli. Dr. Fratello will dich für ein paar Tage unter Beobachtung halten.«

Ich weiß, ich sollte einfach froh sein, dass ich am Leben bin. Aber meine Neugier schäumt über. »Wer ist Hammerstrom?«

Dad war schon fast aus dem Zimmer, aber die Frage lässt ihn im Türrahmen erstarren. »Wie bitte?«

»Als sie mich aus dem Helikopter gehoben haben, hat jemand etwas zu einem Mr Hammerstrom gesagt.«

»So heißt ein Mitarbeiter der Guards«, antwortet Dad.

Ich unterdrücke ein Grinsen. Wow, es gibt also einen lila Menschenfresser namens Hammerstrom! Das muss ich Randy erzählen!

In Serenity kennt zwar jeder jeden, allerdings gilt das nicht für die Guards. Die bleiben unter sich, was sie zu namenlosen, gesichtslosen Gestalten macht. Man sieht sie zwar ab und zu in der Stadt, aber die einzige Gelegenheit, bei der man ihnen nahe kommt, ist zum alljährlichen Tauziehen am Serenity-Tag: Guards gegen Plastikfabrik. Dann findet auch ihre Exerzierparade statt, was immer aussieht, als hätte jemand die Wachen vor dem Buckingham Palace mit Traubensaft überschüttet.

»Und nun denk nicht mehr daran«, sagt mein Vater noch. »Du bist in Sicherheit, es ist alles vorbei.«

Er will mich beruhigen, aber seine Worte klingen ein bisschen wie ein Befehl.

Ich widerstehe dem plötzlichen Drang zu salutieren.

2

Amber Laska

To-do-Liste (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge)

Stirnrunzelnd betrachte ich die Liste und streiche schließlich die Klammer hinter dem Punkt mit der Abschiedskarte durch. Randy mag vielleicht nicht gerade mein bester Freund sein – ich finde, er ist ein ziemlicher Unruhestifter –, aber jeder, der aus Serenity wegziehen muss, kann einem nur furchtbar leidtun. Nirgendwo sonst ist es so schön wie hier.

Wieder und wieder muss ich an den Moment denken, als er uns die Neuigkeit überbracht hat. Er soll zu seinen Großeltern nach Colorado.

»Du meinst« – ich kann es kaum fassen –, »du ziehst weg aus Serenity?«

Er nickt grimmig. »Die haben da eine Farm. Und sie sind auch nicht mehr die Jüngsten, darum brauchen sie ein bisschen Hilfe.«

Er ist am Boden zerstört. Und Eli? Der liegt nach seinem seltsamen Unfall immer noch im Krankenhaus. Allein beim Gedanken daran läuft mir ein Schauder über den Rücken. Völlig von allem abgeschottet, ohne Besuche, und wenn man dann endlich wieder rauskommt, erfährt man als Allererstes, dass der beste Freund wegzieht? Ich kann mir kaum vorstellen, wie es wäre, Tori zu verlieren. Schon seit ich denken kann, sehe ich sie jeden Tag.

»Können deine Großeltern dafür nicht einfach jemanden einstellen?«, erkundigt sich Tori.

Randy zuckt mit den Schultern. »Mom sagt, das können sie sich nicht leisten. Die Farm ist auch nur klein.«

Wir starren ihn an, als spräche er eine Fremdsprache. Keiner von uns kannte je irgendwen mit Geldsorgen. Die Plastikfabrik ist immer gut ausgelastet, und jeder, der Arbeit sucht, findet dort welche. Wir hier in Serenity sind vielleicht nicht steinreich, aber es geht uns gut. Wir wissen natürlich, dass es arme Menschen gibt, aber die sind alle weit weg. Sich kein Dach über dem Kopf oder nichts zu essen leisten zu können – trauriger geht’s ja kaum.

Einmal haben Tori und ich einen Film gesehen, in dem einer Familie der Strom abgedreht wurde, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnte. Fällt schwer, sich so eine Situation in Serenity vorzustellen. Höchstens, dass jemand seine Wasserrechnung nicht bezahlt und dann der Pool leer bleiben muss. Aber hier gibt es mehr als genug Geld für alle, darum muss sich niemand verschulden. Noch ein Grund, warum wir Serenity nicht verlassen – zumindest bis zum College. Leider ist die Stadt zu winzig für eine eigene Uni, sosehr ich mir auch wünschte, es gäbe eine. Deshalb will ich später auch so nah wie möglich an zu Hause wohnen bleiben und versuche, an der University of New Mexico in Taos angenommen zu werden. Ich beschränke meine Hobbys und Interessengebiete jetzt schon sorgfältig auf die Fächer, die man in Taos studieren kann, wie Englisch, Musik und Tanz. Letztes Jahr habe ich deswegen sogar mit Chinesisch aufgehört. Es hat ja keinen Zweck, etwas zu lernen, was man dort sowieso nicht gebrauchen kann.

Mir scheint es, als hätte Randys Familie die offensichtlichste Lösung für das Problem übersehen. »Warum verkaufen deine Großeltern nicht einfach die Farm und ziehen hierher?«

Er wirft mir einen unglücklichen Blick zu. »Es ist schon beschlossene Sache. Ich fahre.«

»Du Ärmster«, lacht Malik Fratello, der Sohn des Arztes. »Nachher amüsierst du dich noch aus Versehen da draußen in der großen bösen Welt.«

»Kannst du nicht ein Mal ernst bleiben?« Für so was habe ich jetzt echt keinen Nerv. »Was soll denn da draußen bitte amüsant sein? Die verfallenen, gefährlichen Städte, wo die Leute zusammengequetscht wie in einer Sardinenbüchse leben?«

Malik grinst. Irgendwie schafft er es immer, sich den Anschein zu geben, als könnte ihn nichts erschüttern. »Du würdest dich wundern, Laska.«

»Genau, weil du ja auch so unglaublich viel über die Welt weißt«, höhne ich. »Mit deinem Notendurchschnitt von gerade mal drei plus und deinem Rieseninteresse an …« – ich tue so, als würde ich angestrengt nachdenken –, »… ach, stimmt ja, absolut gar nichts!«

Er wirkt belustigt. »Warst du überhaupt schon jemals woanders als hier?«

»Du doch genauso wenig.«

»Nein«, gibt er zu. »Aber in der Sekunde, in der ich volljährig werde, bin ich hier weg. Auf nach NYC, Baby!« So redet er immer von New York – en-uai-sii.

»Sag doch nicht so was!«, fleht Hector Amani, Maliks größter Fan. »Da ist es nicht wie in Serenity. Die Leute versuchen nur, einen auszunutzen!«

Pfft. Maliks liebstes Hobby ist es, Hector dazu zu bringen, alles Anfallende für ihn zu erledigen. Wenn es ums Ausnutzen geht, könnten die in NYC sich noch eine Scheibe von ihm abschneiden.

Maliks Blick wandert zu Hector. »Du passt ja auch perfekt hierher. Aber ich, ich will was von der Welt sehen.«

»Du kannst dein Leben mit der Suche vergeuden, nur um bei der Rückkehr festzustellen, dass alles, was du dir wünschst, in deinem eigenen Garten liegt«, erwidere ich. Das habe ich mir nicht etwa selbst ausgedacht. Es steht auf dem Pavillon im Serenity-Park und ist mehr oder weniger zum Stadtmotto geworden. Tori und ich arbeiten gerade an einem Bilderbuch, das genau darauf basiert und das wir Dein eigener Garten genannt haben. Meine Mom ist Lehrerin an unserer Schule, und sie will es binden lassen, wenn wir fertig sind, damit wir es den kleineren Kindern vorlesen können. Nur falls es gut wird, natürlich.

Randy macht mittlerweile ein ziemlich entsetztes Gesicht und ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Wir reden hier die ganze Zeit davon, wie unbewohnbar die Welt da draußen ist, und er muss schließlich dorthin. Aber was sollen wir auch sagen? Dass es da bestimmt genauso schön ist wie in Serenity? Wieder so eine Sache, die die da draußen tun und wir nicht – lügen.

Malik hat es auch bemerkt. »Glaub mir, Randy, du hast echt Glück. Wenn der Rest der Welt wirklich so übel ist, warum sollten da dann so viele Leute wohnen? Von denen gibt’s sieben Milliarden und von uns gerade mal hundertfünfundachtzig. Klare Sache.«

Malik kann einen wirklich auf die Palme bringen. Aber in der Schule haben wir gelernt, dass nur unreife Menschen Wut empfinden. Also lächele ich nur. »Du weißt genau, dass das kein Argument ist.«

»Woher willst du das wissen?«

Bevor ich antworten kann, läutet meine Mutter ihre Handglocke, die uns zum Matheunterricht ruft – unserer ersten Nachmittagsstunde, außer Naturwissenschaften am Dienstag und Zufriedenheit am Donnerstag. Ein ziemlich voller Stundenplan, wenn man auch noch Gemeinschaftskunde, Meditation und Sport dazurechnet. Im Moment trainieren wir ununterbrochen Wasserball, weil ja bald Serenity-Tag ist – und das große Match ist seit jeher der krönende Abschluss. Es ist mein Lieblingsfeiertag im ganzen Jahr.

Ich gehe der Gruppe voran zurück ins Schulgebäude. Wenn man die eigene Mutter zur Lehrerin hat, muss man sich immer ein kleines bisschen mehr Mühe geben als alle anderen. Ganz schön anstrengend, immer die Höflichste und Engagierteste von allen zu sein und dazu noch die besten Noten zu schreiben. Darum erstelle ich auch fleißig Listen für alle meine Pflichten. Die helfen mir, bei der Sache zu bleiben – man braucht eben ein gewisses Maß an Disziplin.

Nur ein Beispiel: Als wir in der Klasse ankommen, steht wie immer ein Körbchen mit Gebäck auf dem Lehrerpult – manchmal sind es Kekse oder Cupcakes, heute sind es Donuts. Jeder darf sich nur einen nehmen, das besagt unser Ehrenkodex. Aber Mom ist noch nicht da, also sind wir unbeobachtet.

Ich bin nur noch ein Kilo von meinem Wunschgewicht entfernt, deswegen greife ich gar nicht zu. Tori nimmt sich einen Donut, wie die meisten. Hector schnappt sich einen und dann, als gerade niemand hinguckt, noch einen halben.

Und Malik? Der schlingt gleich vier Stück hinunter und scheint auch noch stolz drauf zu sein – als Mom reinkommt, steht er immer noch zufrieden grinsend und schmatzend neben dem Korb, die Finger glasurverschmiert. Er legt es geradezu darauf an, erwischt zu werden.

Malik kommt sich supercool dabei vor, ständig gegen die Regeln zu verstoßen. Aber er ist längst nicht so schlau, wie er denkt – und schon gar nicht, wenn es um die Welt außerhalb von Serenity geht. Tatsächlich weiß ich darüber nämlich wesentlich mehr als er.

Vor ein paar Monaten saßen Tori und ich im Park und arbeiteten an Dein eigener Garten. Irgendwann musste sie nach Hause, aber ich bin noch dageblieben und habe Pliés geübt, weil mir an diesem Tag noch zwanzig Minuten Balletttraining fehlten. Disziplin eben.

Damals stehe ich jedenfalls direkt neben dem Serenity-Pokal, einer riesengroßen silbernen Trophäe, die auf einem Podest mitten im Park steht. Sie ist der ganze Stolz unserer Stadt und wurde ihr bei ihrer Gründung im Jahr 1937 von Präsident Roosevelt persönlich verliehen. Der Pokal steht in einer Plexiglasvitrine, und niemand geht durch den Park, ohne ihm wenigstens kurz einen Besuch abzustatten, auch wenn wir ihn alle schon tausendmal gesehen haben.

An diesem Tag gucke ich ihn mir also zum hunderttausendsten Mal an, und plötzlich bemerke ich etwas, das mir zuvor noch nie aufgefallen ist: ein Vorhängeschloss unten an der Vitrinenecke.

Dann erst sehe ich die Handwerker, zwei Männer in schweren Stiefeln. Einer steht auf einer Leiter, der andere hält sie fest. Offenbar sind sie dabei, eine übergroße Platane zurechtzustutzen. Das Merkwürdige ist nur: Die beiden sind nicht von hier. In Serenity kennt jeder jeden, ausgenommen vielleicht die lila Menschenfresser. Aber diese Typen habe ich noch nie zuvor gesehen.

Und tatsächlich, an der Straße steht ein Pick-up mit der Aufschrift Rays Gartenbau, Taos, New Mexico auf der Tür. Mir kommt ein erstaunlicher Gedanke: Hat man die Vitrine etwa abgeschlossen, weil man fürchtet, diese Fremden könnten den Serenity-Pokal stehlen? Wir kennen ja alle die Horrorgeschichten aus anderen Städten, aber nun geht mir zum ersten Mal auf, dass die Leute von draußen ihre Unehrlichkeit ja auch bis zu uns hereintragen könnten.

Obwohl mich die Vorstellung ganz schön nervös macht, bin ich gleichzeitig auch ein bisschen neugierig. Man lernt hier nicht sehr oft neue Menschen kennen. Es stehen ja nur hundertvierundachtzig zur Auswahl, und ich kenne fast alle von ihnen.

Also beschließe ich, hinzugehen und mich vorzustellen. »Hallo, ich bin Amber.«

Einer erwidert mein »Hallo«, während der andere erklärt: »Wir müssen hier arbeiten, Kleine.« Nicht unfreundlich, aber eben so, wie Erwachsene manchmal mit einem reden, wenn sie keine Zeit für einen haben. Ich muss ein bisschen beleidigt ausgesehen haben, denn kurz darauf fügt er hinzu: »Ich meine nur, pass auf deinen Kopf auf. Hier kommen immer mal wieder Äste runter. Und ich will nicht, dass du dir wehtust.«

»Oh, ach so. Danke.« Ist ja irgendwie nett von ihm, dass er um meine Sicherheit besorgt ist.

Ich weiche ein paar Schritte zurück und bleibe neben dem Pick-up stehen, als ich die Zeitung auf dem Fahrersitz sehe. Sie heißt USA Today. Eine Zeitung für das ganze Land? In Serenity liest man die Pax, die auch direkt hier herausgegeben wird. Diese hier muss in Taos sehr beliebt sein, und wahrscheinlich auch an anderen Orten, wenn USA draufsteht.

Mein Blick fällt auf die Schlagzeile:

TOTER SCHAUSPIELER: ES WAR MORD

Ich wende mich wieder den Männern am Baum zu. »Was ist denn ›Mord‹?«

Die beiden starren mich an, als wäre ich eine exotische Kakerlake, die gerade aus der Erde gekrabbelt ist. Der Leiterhalter fragt: »Im Ernst jetzt?«

»Ich habe dieses Wort noch nie gesehen«, erkläre ich. »Was bedeutet es?«

Der Mann oben im Baum schnaubt. »Mord ist, wenn man an so einem heißen Tag Bäume beschneiden muss.«

»Recht hast du!«, stimmt sein Kollege lachend zu.

Ich weiß, dass sie sich über mich lustig machen, und das ist mir peinlich, obwohl ich gar nicht so recht weiß, warum, also wechsele ich die Taktik.

»Darf ich Ihre Zeitung vielleicht haben?«

»Na sicher, Kleine. Viel Spaß damit. Und besorg dir bei Gelegenheit mal ein Wörterbuch.«

Ich greife durch das offene Fahrerfenster nach der USA Today. Wie magisch angezogen, fange ich an, den Leitartikel zu lesen:

Es begann als grausiges Rätsel: Blutverschmierte Wände in einer Hotelsuite in Hollywood; eine Browning-Pistole, die das Opfer noch immer in der schlaffen Hand hielt; ein berühmtes Gesicht, vom Tod gezeichnet …

»Achtung!«

Ein Ast fällt mir vor die Füße. Ich renne los und rufe noch: »Danke für die Zeitung!« Sie knistert in meiner Hand, als wäre sie elektrisch geladen. Mir ist klar, dass ich hier etwas Wichtiges, Mächtiges in der Hand halte, auch wenn ich nicht genau sagen kann, woher ich das weiß.

Zu Hause angekommen, verstecke ich die USA Today in der Garage zwischen den Ersatzfiltern für die Klimaanlage. Warum ich sie nicht meinen Eltern, insbesondere meiner Mom, zeige, weiß ich nicht. Wir kommen gut miteinander aus und ich sehe sie ja auch den ganzen Tag in der Schule und dann abends zu Hause. Nicht mal Tori erzähle ich davon, dabei sind wir quasi wie siamesische Zwillinge. Ich weiß, wenn man Geheimnisse vor anderen hat, dann ist das, als würde man den Mörtel zwischen den Backsteinen einer Mauer wegklopfen. Aber dieses hier ist irgendwie anders. Es gehört ganz allein mir. Darum behalte ich es für mich.

In den nächsten Tagen lese ich die Zeitung von vorn bis hinten durch, sauge gierig jedes Wort auf. Einige der Geschichten gleichen denen, die auch die Pax abdruckt – Informationen über den Präsidenten und Sportergebnisse. Aber damit enden die Ähnlichkeiten auch schon. Sagen wir mal so: Ich weiß jetzt, was Mord ist. Man nennt es auch Tötungsdelikt – noch so ein Wort, das ich vorher noch nie gehört hatte.

Unsere Eltern erinnern uns ständig daran, wie viel Glück wir haben, dass uns all die Probleme erspart bleiben, wie es sie in anderen Städten gibt. Aber das ist nicht dasselbe, wie es selbst schwarz auf weiß zu lesen: die Beschreibungen der Tatorte, der Opfer und ihrer armen Angehörigen, der Polizisten, die die nötigen Verhaftungen durchführen, und der Prozesse, in denen die Verbrecher ihre gerechte Strafe bekommen.

Es scheint mir nicht mal so, als würde so etwas selten passieren. In dieser einen USA Today werden allein sieben Morde behandelt! Raubüberfälle gibt es sogar noch häufiger und manchmal entstehen daraus auch Morde. Und dann sind da noch andere Sachen, von denen wir in der Pax niemals lesen – Sachen wie Kriege, Entführungen, Aufstände und Terroristenanschläge.

Jedes Mal, wenn ich meine USA Today zurück in ihr Versteck lege, schwirren mir mehr Fragen durch den Kopf. Was für Menschen sind das bloß, die all diese schrecklichen Dinge tun? Solche Leute gibt es in Serenity gar nicht. Und was ist, wenn das mit den Morden zu uns herüberschwappt? Haben wir vielleicht deswegen so viele lila Menschenfresser, die mit ihrem eigenen Helikopter herumfliegen – damit sie uns vor alldem beschützen?

Ich versuche, mich mit ein wenig Meditation zu beruhigen. Das alles ist bloß ein weiterer Beweis, dass unsere Eltern das Richtige tun, indem sie uns hier aufwachsen lassen, wo wir in Sicherheit sind.

Aber eins stört mich doch an der ganzen Sache. Warum stehen die üblen Geschichten aus der USA Today nie in der Pax? Weil wir uns wegen so was wie Mord einfach keine Sorgen machen müssen? Aber nur, weil wir hier wohnen, heißt das doch nicht, dass wir nicht über das, was draußen vor sich geht, Bescheid wissen sollten. Was ist mit Leuten wie dem armen Randy? Er muss doch wissen, was auf ihn zukommt, wenn er jetzt zu seinen Großeltern zieht.

Zugegeben, ich bin tatsächlich ganz schön verstört, nachdem ich die USA Today gelesen habe, aber zugleich kommt sie mir auch sehr ehrlich vor.

An jenem Abend beim Essen spricht meine Mutter Randys Umzug nach Colorado an. »Wie haben denn die anderen reagiert?«, will sie wissen. »Es ist sicher schwer für euch, einen Freund zu verlieren, den ihr schon so lange kennt.«

»Ja«, stimme ich zu. »Das ist der reinste Mord.«

Die Gabel meines Vaters fällt klappernd auf den Teller.

Mom starrt mich an. »Woher hast du denn dieses schreckliche Wort?«

»Aus der Zeitung.«

Dad runzelt die Stirn. »Sei ehrlich, Amber. Die Pax würde so etwas nie – «

»Das stand nicht in der Pax. Sondern in der USA Today

Pax