Gertrude Bell, geboren 1868 in Washington bei Newcastle, war Historikerin, Archäologin, Sprachwissenschaftlerin, Übersetzerin, Politikerin und Spionin – und eine großartige Schriftstellerin. Als Tochter des Stahlmagnaten und liberalen Politikers Thomas Hugh Bell in eine der reichsten britischen Familien geboren, schloss sie 19jährig in Oxford ihr Studium der Neueren Geschichte ab. Sie lernte Arabisch, Persisch und Türkisch und begann ab 1892 den Orient zu bereisen. Von 1915 bis 1925 hatte die »Königin der Wüste« als Beraterin von Winston Churchill eine Schlüsselrolle in der Neuordnung des gesamten Nahen Ostens inne. Über ihre Reisen nach Persien, Syrien, Irak und Palästina schrieb sie zahlreiche und sehr erfolgreiche Bücher. Sie starb mit 58 Jahren in Bagdad.
Ebba D. Drolshagen hat in Frankfurt/Main, Chicago und Oslo studiert und seither zahlreiche Romane und Sachbücher aus dem Englischen und Norwegischen übersetzt. Daneben ist sie Autorin mehrerer Sachbücher, darunter Wie man sich allein auf See einen Zahn zieht (corso 2015) und Gebrauchsanweisung für Norwegen (Piper 2014).
Susanne Gretter studierte Anglistik, Romanistik und Politische Wissenschaft in Tübingen und Berlin. Sie lebt und arbeitet als Verlagslektorin in Berlin. Sie ist die Herausgeberin der Reihe DIE KÜHNE REISENDE.
Als Gertrude Bell im Januar 1905 zu einer ihrer Reisen in den Nahen Osten aufbrach, wollte sie dort vor allem byzantinische und römische Ruinen studieren.
Wie sich später herausstellen sollte, traf sie damit die Vorbereitungen für ihre spätere Mission als Beraterin der englischen Regierung, bei der es um die Neu aufteilung des Nahen Ostens ging. Mit ihrer Karawane und einigen wenigen einheimischen Bediensteten drang sie in den Wüsten und Bergen Syriens, Palästinas und des Libanon in Gebiete vor, die vor ihr noch kaum ein Europäer, geschweige denn eine Frau betreten hatte. Selbstbewusst suchte sie den Kontakt zu Scheichs und Stammesführern, unter deren Schutz es ihr gelang zwischen den rivalisierenden Stämmen hin und her zu reisen. Sie lauschte den Geschichten von Schafhirten, saß mit Soldaten am Lagerfeuer, in den schwarzen Zelten der Beduinen und den Besuchszimmern der Drusen.
Sie überschritt geographische und soziale Grenzen, setzte Konventionen außer Kraft, denn »die Engländerinnen sind sonderbar. Es gibt auf der Welt vermutlich keine größeren Sklaven der Konventionalität als sie, aber wenn sie mit ihr brechen, dann ganz und gar.« – So stand es 1907 in einer Rezension dieses Buches in der New York Times.
DIE KÜHNE REISENDE
Eine Reise durch das alte Syrien
Aus dem Englischen und mit einem Vorwort
von Ebba D. Drolshagen
Die Reihe Die Kühne Reisende
wird herausgegeben von Susanne Gretter
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Alle Rechte vorbehalten
Titel der Originalausgabe:
The Desert and the Sown. Travels in Palestine and Syria
Die Übersetzung folgt der Ausgabe von Dover Publications, Inc.,
Mineola, New York 2008 / William Heinemann, London 1907
© by Edition Erdmann in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2015
Der Text basiert auf der Ausgabe Edition Erdmann, Wiesbaden 2015
Lektorat: Susanne Gretter, Berlin
Covergestaltung: Karina Bertagnolli, Weimar
Bildnachweis: Duris – Lebanon, Gertrude Bell on horseback in foreground. A_340,
Date: 6/1900. Credit: Gertrude Bell Archive, Newcastle University
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-8438-0523-0
www.verlagshaus-roemerweg.de
»ENGIÄNDERINNEN SIND SONDERBAR«
Vorwort von Ebba D. Drolshagen
VORWORT DER AUTORIN
I |
VON JERUSALEM NACH SALT |
II |
VON SALT NACH TNEIB |
III |
VON TNEIB NACH NAJEREH |
IV |
VON DJEBEL EL’ALYA NACH SALCHAD |
V |
SALCHAD |
VI |
VON SALCHAD NACH DAMASKUS |
VII |
DAMASKUS |
VIII |
VON DAMASKUS NACH HOMS |
IX |
VON HOMS NACH HAMA |
X |
VON HAMA NACH APAMEA |
XI |
VON APAMEA NACH ALEPPO |
XII |
VON ALEPPO NACH BASUFAN |
XIII |
VON BASUFAN NACH ANTIOCHIA |
XIV |
ANTIOCHIA |
GLOSSAR
»Engländerinnen sind sonderbar.
Es gibt auf der Welt vermutlich
keine größeren Sklaven der Konventionalität als sie,
aber wenn sie mit ihr brechen, dann ganz und gar.«
The New York Times
(in einem Artikel über Gertrude Bell)
Gertrude Bell, heißt es, sei eine für ihre Zeit überaus ungewöhnliche Frau gewesen. Das ist nicht ganz zutreffend: Gertrude Bell war ein überaus ungewöhnlicher Mensch – und das wäre sie auch heute noch.
Sie war aus dem Stoff, aus dem man im Europa des 19. Jahrhunderts Abenteurer und Forscher machte: hochintelligent, wissensdurstig, draufgängerisch, furchtlos, zielbewusst, ehrgeizig, energisch, selbstsicher und sehr wohlhabend. Außerdem, und das ist nicht gering zu schätzen, hatte sie eine eiserne Kondition. Aber sie war eben auch eine Frau. Das machte ihre Zeitgenossen im viktorianischen England ratlos und führte zu Bemerkungen wie der, sie sei »eine bemerkenswert kluge Frau mit dem Verstand eines Mannes«. Es ist nicht sicher, ob das als Kompliment gemeint war.
Als sie 1868 in eine der reichsten und fortschrittlichsten Familien Englands hineingeboren wurde, schien ihr Lebensweg als höhere Tochter vorgezeichnet: Eine nicht allzu anspruchsvolle Schulbildung, eine standesgemäße Heirat, dann Kinder, Wohltätigkeitsveranstaltungen, Enkel. Bald aber zeigte sich, dass Gertrude kein fügsames Mädchen war, sondern wild, sportlich, kratzbürstig und sehr wissbegierig. Da ihre Eltern sehr modern dachten, durfte sie, gegen die damaligen Gepflogenheiten, mit fünfzehn Jahren das Mädchen vorbehaltene Queen’s College in London besuchen. In Briefen nach Hause beschwerte sie sich, dass sie nicht allein ins Museum gehen dürfe (»Wäre ich ein Junge, ginge ich jede Woche«), und ihre Zeit mit albernen Handarbeits- und Klavierstunden vertue, wo es doch so viel Wichtiges zu lesen und lernen gebe.
Sie wollte, wie sie ihrem Vater schrieb, »wenigstens eine Sache von Grund auf wissen und können. Dieses dilettantische Lernen bin ich leid. Ich möchte mich ganz in etwas vertiefen.« Und so begann sie als Siebzehnjährige in Oxford zu studieren, das Frauen in den Vorlesungen nur als Gasthörerinnen duldete und ihnen keine akademischen Grade verlieh. Dennoch schloss sie das Studium der Neueren Geschichte in zwei statt drei Jahren ab und das als erste Frau in Oxfords Geschichte mit der höchsten Auszeichnung. Sie sollte in ihrem Leben noch oft »die erste« oder »die einzige Frau« sein, schließlich wurde sie sogar zur mächtigsten Frau ihrer Zeit.
Es ist vielleicht verständlich, dass ein Ausnahmetalent wie sie andere Frauen »uninteressant« fand, und auf die »netten kleinen Ehefrauen« herabsah. Ab 1908 kämpfte sie aktiv gegen das Frauenwahlrecht, weil sie meinte, dass Frauen nicht politisch denken können, und die Suffragetten in der Wahl ihrer Kampfmittel vulgär fand. Der eigentliche Grund dieser Gegnerschaft war allerdings, dass sie den Standpunkt und die Privilegien ihrer eigenen Klasse vertrat: Damals durften in England nur reiche Männer wählen, darum hätte das Wahlrecht für Frauen auch allen besitzlosen Männern das Wahlrecht beschert.
Nach dem Examen in Oxford war es das Wichtigste für die Zwanzigjährige, einen standesgemäßen Ehemann zu finden. Doch all ihre Vorteile – sie hatte grüne Augen und rotblondes Haar, war elegant und lebhaft, konnte schwimmen, fechten, rudern, spielte Tennis und Hockey –, wogen einen gravierenden Makel nicht auf: Sie galt als »Oxfordy«, also zu gebildet und zu selbstbewusst, ja überheblich. Das verdarb sie so gründlich für den Heiratsmarkt, dass selbst ihre große Mitgift nichts auszurichten vermochte. Keiner hielt um ihre Hand an, es sollte nicht erstaunen, wenn sie möglichen Kandidaten deutlich gezeigt hätte, wie langweilig sie sie fand.
Unmittelbar nach dem Abschluss in Oxford reiste sie in Begleitung einer Verwandten nach Bukarest, wo ein Onkel Botschafter war, und besuchte von dort aus Konstantinopel. Reisen gefiel ihr offenbar sehr, denn kaum hatte sie drei Londoner Ballsaisons absolviert, ohne sich verlobt zu haben, fuhr sie 1893 nach Teheran, wohin der Onkel inzwischen versetzt worden war. Dort verliebte sie sich in den Diplomaten Henry Cadogan, doch ihre Eltern verboten die Heirat, weil der junge Adlige mittellos, hoch verschuldet und überdies spielsüchtig war. Gegen ihren Vater lehnte Gertrude Bell sich niemals auf, und sie gehorchte auch hier. Das Paar beschloss zu warten, bis Cadogan im diplomatischen Dienst aufgestiegen und eine akzeptable Partie geworden war. Doch kaum ein Jahr später starb er an den Folgen eines Unfalls.
Gertrude war sehr unglücklich nach London zurückgekehrt, aber Teheran hatte sie begeistert. Sie konnte schon so gut Persisch, dass sie die Gedichte des Dichters Hafiz ins Englische übersetzte, und sie schrieb ein Buch über Teheran, Persian Pictures, das 1894 zunächst anonym erschien.
In den folgenden Jahren lernte sie Deutsch und Französisch und beschäftigte sich intensiv mit Archäologie, sie lebte mehrere Monate in Berlin, 1897 und 1902/03 machte sie mehrmonatige Weltreisen, die erste mit ihrem Bruder Maurice, die zweite mit ihrem Bruder Hugo.
1899 begann sie die Erregung der Gefahr zu suchen. Sie wurde eine der bedeutendsten Alpinistinnen ihrer Zeit, die 2633 Meter hohe Gertrudspitze im Berner Oberland ist nach ihr benannt. Ihren ersten Berg, den 3.983 Meter hohen La Meije, bestieg sie in Unterwäsche, weil sie keine Hosen hatte und der bodenlange Wollrock sie zu sehr behinderte. 1901 harrte sie mit ihren beiden Bergführern in einem Schneesturm dreiundfünfzig Stunden angeseilt auf einem Felsvorsprung aus, im August 1904, kurz nach ihrem 36. Geburtstag, bestieg sie das Matterhorn. Danach kletterte sie nur noch gelegentlich.
1899 besuchte sie den deutschen Generalkonsul Friedrich Rosen und seine Frau Nina in Jerusalem. Sie kannte die beiden aus Teheran, wo sie Gertrude für die persische und arabische Kultur, die Wüste und den Orient begeistert hatten. Nun halfen sie ihr, als sie im März 1900 ihre ersten mehrtägigen Ausflüge in die Wüste unternahm – allein, nur von einigen Dienern begleitet. Auf dem Weg wurde sie zweimal von schwer bewaffneten Beduinen bedroht, was sie in ihrem Journal mit dem Satz kommentierte: »Glaube nicht, dass ich je so einen großartigen Tag erlebt habe.«
Sie war der Wüste, ihren Menschen, dem Orient und seiner Geschichte verfallen, und sie begann, Arabisch zu lernen. Vielleicht hatte sie erkannt, dass sich einer wohlhabenden, kühnen und unverheirateten Frau dort Möglichkeiten und Freiheiten boten, die in England undenkbar waren: In London gab es für Unverheiratete wie sie nur die Rolle der netten Tante ihrer Neffen und Nichten. Im Orient hingegen konnte sie so unabhängig und selbstbestimmt leben, wie sie es als Studentin erträumt hatte.
Sie sehnte sich nach einem sinnvollen Lebensinhalt, nach Neuem, nach Wissen und auch nach Gefahr. Wäre sie ein Mann gewesen, hätte sie im Orient forschen und zugleich in London eine Familie haben können, die auf sie wartete. Als Frau war ihr das verwehrt, und einen Beruf gab es für jemanden wie sie nicht. Das bedeutete auch, dass sie ein Leben lang von ihrem Vater finanziell abhängig war.
Bell eignete sich über viele Jahre jenes historische, geographische und archäologische Wissen an, das sie als Frau durch ein reguläres Studium nicht hatte erwerben können. Als sie im Januar 1905 zu ihrer ersten großen Expedition aufbrach, war sie eine ernst zu nehmende Archäologin und Ethnologin.
Auf dieser Reise, die sie in dem vorliegenden Buch beschreibt, durchquerte sie als erste Europäerin allein die syrische Wüste, begleitet von Maultiertreibern, einem Koch, einem oder mehreren Soldaten sowie einem einheimischen Führer. Fünf Monate lang ritt sie auf dem Pferd zu den byzantinischen und römischen Ruinenstätten des alten Syriens bis Konya in Kleinasien, an vielen Orten waren nur wenige Europäer (und nie eine Europäerin) gewesen. Die Reise durch das unwegsame, nicht kartographierte Gelände war nur möglich, weil Rosen sie überzeugt hatte, im Herrensattel zu reiten. Dabei trug sie weite Hosenröcke mit einer Art Schürze, die herabfiel, sobald sie vom Pferd stieg, und die »Hose« verdeckte.
Damals gehörte der gesamte Nahe Osten zum Osmanischen Reich, doch im Vielvölkerstaat gärte es überall. Darum wollten die Türken beispielsweise verhindern, dass Bell das Gebiet der kriegerischen und aufständischen Drusen durchquerte. Sie aber wollte das unbedingt und ignorierte die Anweisungen der osmanischen Verwaltungsbeamten, nicht einmal, nicht zweimal, sondern ständig.
An Bell fasziniert, wie mühelos sie vom Londoner Salon zu Beduinenzelten wechselte, wie offenbar selbstverständlich sie sich mit Scheichs und Bettlern gleichermaßen unterhalten konnte. Getrieben von einer umfassenden Neugier und einer tiefen Achtung vor der Würde des Menschen, begegnete sie jedem, den sie traf, vorbehaltlos und mit echtem Interesse. Furchtlos folgte sie der Einladung Fremder, sie in deren Haus zu begleiten, es scheint, als habe sie damit nur gute Erfahrungen gemacht. Wer sich pompös aufführte, konnte ihrer Verachtung sicher sein – in seiner Gegenwart aber blieb sie immer höflich, immer zuvorkommend, wahrte immer die Sitten.
Grund dafür war auch, dass sie die mächtigen Männer brauchte: Nach dem Gesetz der Wüste waren Frauen unantastbar, dennoch wurde sie auf ihren Reisen mehrfach überfallen und ausgeraubt. Ohne den Schutz der Scheiche, Stammesfürsten oder türkischen Beamten hätte sie sich nicht durch die gefährlichen Landstriche bewegen, manchmal nicht überleben können. Geschickt erwies sie allen ihre Ehrerbietung, Scheiche verschiedener Stämmen nahmen sie gastfreundlich und höflich auf und bewirteten sie. Diese Stämme waren oft auf den Tod verfeindet, doch ihr gelang es, sich aus diesen Rivalitäten völlig herauszuhalten. Sie trank mit allen starken Kaffee, rauchte mit allen schwarze Zigaretten (Bell war zeit ihres Lebens eine starke Raucherin), und war bald der einzige Außenseiter, der diese Stämme nicht nur auseinanderhalten konnte, sondern jeden Fürsten persönlich kannte und wusste, wer mit wem verfeindet, wer mit wem verbündet war. Und je mehr dieser Männer sie persönlich kannte, umso sicherer konnte sie sich bewegen.
Alle Reisen waren anstrengend und entbehrungsreich. Manchmal ritt sie auf einem Pferd oder Kamel zwölf Stunden durch Schneestürme, Wolkenbrüche, sengende Sonne und eisigen Gegenwind, durch Schlammlöcher, über Geröllwüsten, wacklige Brücken und in die Bergwand gehauene Pfade. Widrigkeiten wie Insekten, ungenießbares Wasser oder eintöniges Essen erwähnt sie nur beiläufig, Fragen der Körperhygiene gar nicht, aber man kann sich vorstellen, wie schwierig das in einer reinen Männergesellschaft gewesen sein muss.
Am Ende eines solchen Tages schrieb sie Briefe an ihre Eltern, 1.600 sind erhalten, des Weiteren detaillierte Journaleinträge, die Grundlage ihrer Bücher und wissenschaftlichen Aufsätze waren. Vor allem aber traf sie abends die örtlichen Würdenträger, sei es, dass sie sie in ihrem eigenen Lager empfing, sei es, dass sie sie in deren Zelten oder Häusern besuchte. Sie beschrieb die Begegnungen und Ereignisse ihrer Reisen geistreich, witzig, mitunter spitzzüngig, registrierte mit großer Aufmerksamkeit politische Stimmungen, Machtstrukturen, Allianzen. Und sie vergaß nichts.
Wie bei der Lektüre aller Abenteuerberichte, wundert man sich auch bei Bell darüber, dass sie darauf brannte, diese Härten und Entbehrungen zu wiederholen. Tatsächlich unternahm sie nach 1905 weitere Nahost-Expeditionen, jede ehrgeiziger und gefahrvoller, mit mehr Begleitern und Lasttieren als die vorherige. Seit der zweiten Expedition hatte sie zwei persönliche Zelte, eines zum Schreiben und Empfang der Gäste, das zweite mit ihrem Bett und einer Segeltuch-Wanne – »mein einziger Luxus«. Sie führte neben leinenen Reitröcken, Baumwollblusen und Pelzmänteln auch Abendkleider mit; zwischen Spitzenunterröcken versteckte sie die Gastgeschenke für wichtige Gastgeber: Ferngläser und Pistolen. Selbst bewirtete sie ihre Gäste an Klapptischen, die mit Damast, silbernen Kerzenständern, Kristallgläsern und einem Wedgwood Service gedeckt waren.
Das alles diente keineswegs nur ihrer Bequemlichkeit. Die Mächtigen der Wüste kannten nur Freund oder Feind, eine Frau wie Bell konnten sie nicht einschätzen. Sie sprach fließend Arabisch und brauchte nie einen Dolmetscher, war mit den Sitten des Landes vertraut. Eine große Karawane wie die ihre beeindruckte die Männer, denn sie signalisierte Bedeutung und Wohlstand. Bell trat auf wie eine Königin der Wüste. So wurde sie auch bald genannt: Khatun. Man ging besser vorsichtig mit ihr um, möglicherweise war sie eine mächtige Verbündete.
Sie stellte sich als Frau niemals dümmer als sie war, und kleidete sich immer elegant. Ihren Status als Engländerin nutzte sie strategisch. Einerseits weigerte sie sich, Zelte oder Häuser durch den Eingang der Frauen zu betreten, andererseits hatte sie Zugang zu den Frauengemächern, wo sie auch Klatsch und Informationen hörte, die die arabischen Männer niemals erzählt und europäische Männer niemals gehört hätten. Sie verschleierte sich grundsätzlich nicht, was mitunter zu Schwierigkeiten führte. 1920 schrieb sie aus Bagdad an ihre Mutter: »Bis vor Kurzem waren wir völlig von [den Schiiten] abgeschnitten, denn ihre Glaubenssätze verbieten es, eine unverschleierte Frau anzusehen, und meine Glaubenssätze erlauben es nicht, mich zu verschleiern ... Auch der Versuch, über die Frauen Freundschaft zu schließen, misslingt – wenn sie mich sehen dürften, würden sie sich vor mir verschleiern, als sei ich ein Mann. Wie Du siehst, bin ich für das eine Geschlecht zu weiblich und das andere zu männlich.«
Sie bestand darauf, von den Männern als Ebenbürtige behandelt zu werden, die meisten Araber lösten dieses Dilemma, indem sie Bell zum »Mann ehrenhalber« ernannten. Sie selbst erwähnt selten, dass sie sich als Frau in einer Gesellschaft bewegt, in der Frauen nahezu unsichtbar waren.
Als Frau fiel es ihr auch leichter, als arglose Archäologin aufzutreten, der Politik völlig egal war. Doch schon der Bericht ihrer ersten Expedition zeugt nicht nur von einem umfassenden und fundierten Wissen der Archäologie, Geographie und Geschichte des Nahen Ostens, sondern auch seiner politischen Spannungen und Allianzen. Der plaudernde Ton lässt ihre Texte weniger fundiert erscheinen, als sie es tatsächlich sind, denn ihr Beitrag zur Archäologie des Nahen Ostens ist beträchtlich. Dazu gehört auch, dass sie mit zwei mitgeführten Plattenkameras 7.000 Fotographien machte, die heute als Quelle bedeutsam sind, weil sie den damaligen Erhaltungszustand antiker Stätten dokumentieren.
1909 bereiste sie Mesopotamien (den späteren Irak), 1911 erneut Syrien. Die forderndste Expedition führte 1913/14 auf Kamelen in das sagenumwobene, gefürchtete Ha’il (im heutigen Saudi-Arabien). Zwanzig Jahre lang war kein Europäer mehr dort gewesen, nicht alle früheren Reisenden waren lebend zurückgekehrt. Die 2.500 Kilometer-Strecke durch die Wüste war so gefährlich, dass weder die Osmanen noch die Engländer bereit waren, sie zu schützen. Sie beschloss, auf eigene Gefahr zu reisen, entging dem Tod mehrmals nur knapp und kam auch an die Grenzen ihres Frauseins: »Es ist mühsam, Frau zu sein, wenn man in Arabien ist.« Diese tollkühne Expedition dauerte sechs Monate und war unter Archäologen und Ethnologen bald legendär.
Als sie im Mai 1914 körperlich völlig erschöpft nach England zurückkehrte, brachte sie kostbare Informationen über die Machtverhältnisse in Arabien mit. Dieses Wissen sowie ihre genaue Kenntnis der Clanstrukturen, die sie in den zehn Jahren ihres Reisens zusammengetragen hatte, sollten in den folgenden Jahren den gesamten Nahen Osten prägen.
Auf dieser Reise hatte sie neben dem normalen Journal ein Tagebuch für Richard Doughty-Wylie geführt. Sie war dem britischen Konsul und seiner Frau 1907 in Konya begegnet, doch erst 1912, bei einer erneuten Begegnung, verliebten sie sich ineinander. Sie wechselten leidenschaftliche Briefe, aber mit Rücksicht auf seine Karriere konnte oder wollte er sich nicht scheiden lassen.
Nach vier gemeinsam verbrachten Tagen Ende 1914 schrieb sie ihm: »Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht schlafen. Es ist ein Uhr am Sonntagmorgen. Ich habe versucht zu schlafen, mit jeder Nacht wird es unmöglicher. Du, Du, Du stehst zwischen mir und jeder Ruhe; aber fern von Deinen Armen gibt es keine Ruhe. Du nennst mich Leben, Du nennst mich Feuer. Ich entflamme, und ich werde verzehrt.« Auch diese Liebe endete unglücklich. Doughty-Wylie fiel im April 1915 bei der Schlacht von Gallipoli. Bell war 46 Jahre alt. So weit bekannt, hatte sie weder mit ihm noch einem anderen Mann jemals eine sexuelle Beziehung.
Das Osmanische Reich war im Ersten Weltkrieg ein Verbündeter des Deutschen Kaiserreichs und somit ebenfalls Kriegsgegner Großbritanniens und Frankreichs. Diese beiden Staaten hatten starke Interessen in der Gegend, die Engländer wollten neben Syrien auch Mesopotamien – den späteren Irak – kontrollieren, um den Weg nach Indien frei zu halten und den Zugriff auf das persische Öl zu sichern, dessen künftige Bedeutung sie klarer einschätzten als die Franzosen. Es stellten sich zwei Fragen: War es möglich, die deutschen und türkischen Truppen in einen Aufstand der Araber gegen Konstantinopel zu verwickeln und so zu schwächen? Und was würde mit Arabien geschehen, falls das Osmanische Reich zusammenbrach?
England begann 1915 die Möglichkeiten eines arabischen Aufstands zu sondieren und aktiv zu unterstützen. Es dämmerte den Zuständigen schon bald, dass sie Bell als Beraterin brauchten, um die Araber gegen das Osmanische Reich zu einigen. Sie kannte alle wichtigen arabischen Stammesfürsten persönlich, stand mit allen gut. Sie hatte die entlegensten Wüstenregionen bereist, einige der Landkarten stammten von ihr.
1915 wurde sie im Rang eines Majors nach Kairo geschickt, der erste weibliche Offizier im britischen Nachrichtendienst. Dort begann ihre Zusammenarbeit mit dem zwanzig Jahre jüngeren T. E. Lawrence, der zu Lebzeiten als Lawrence of Arabia zum Mythos werden sollte. Als sie sich 1911 bei Grabungen im Süden der Türkei kennenlernten, war Bell schon berühmt; ihr erstes Urteil über ihn lautete: »Ein interessanter Junge. Wird ein Reisender.« Beide waren 1,65 m groß, formidable Reiter, Wüstenfanatiker, die Paradiesvögel unter den Briten in Kairo. Sie wurden Freunde.
Lawrence war Verbindungsmann zu den Aufständischen und entwickelte mit ihnen Taktiken des Angriffs, Bells Aufgabe war es, die einflussreichen Personen des Nahen Ostens dazu zu bewegen, sich dem Aufstand anzuschließen. Eine Frau in ihren Reihen schätzten die Militärs nicht, einer schrieb, offenbar kurz vor dem Herzinfarkt: »Zur Hölle mit dieser aufgeblasenen dummen Quasselstrippe, dieser eingebildeten, überschwänglichen, flachbusigen, mannweibischen, herumzigeunernden, hinternwackelnden, Blödsinn blökenden Ziege.« Aber sie lernten, sie zu respektieren, denn »Miss Gertrude Bell weiß über die Araber und Arabien mehr, als praktisch jeder andere lebende Engländer oder auch Engländerin.«
1917/18 siegte die arabische Rebellion dank massiver britischer Unterstützung; im Herbst 1918 gingen England und Frankreich daran, das osmanische Herrschaftsgebiet unter sich aufzuteilen. Die regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen waren zu stark, um die Bildung neuer Kolonien in Betracht ziehen zu können, es mussten andere Lösungen gefunden werden, die den Einfluss von Frankreich und England nicht gefährdeten.
Im Rahmen dieser Umwälzungen zog Bell 1917 nach Bagdad, ihre Lieblingsstadt; hier lebte sie zum ersten Mal in ihrem Leben in einem eigenen Haus, legte einen Garten an, umgab sich mit Tieren. Sie beriet die englische Regierung bei der Gründung des Iraks, verhandelte mit den Stammesfürsten, empfahl mögliche Regierungsmitglieder, baute Faisal zum irakischen König auf. Und sie skizzierte den Grenzverlauf des neuen Staates. Winston Churchill, damals Kolonialminister, berief 1920 in Kairo eine Konferenz ein, bei der England diese und weitere Details des künftigen irakischen Staatsgebildes festlegte. Bell war auch hier wieder die einzige Frau, ein berühmtes Foto zeigt die Konferenz-Teilnehmer auf Kamelen vor der Sphinx, Bell zwischen Churchill und Lawrence.
Mit dem Abstand von einem Jahrhundert fallen in Bells Büchern, Briefen und Journalen zwei Dinge auf: Ihr idealisiert-romantisches Bild vom Beduinen als edlem Wüstenkrieger, und ihre Überzeugung, dass Englands Regierungsform allen anderen weit überlegen und somit für alle Völker dieser Erde erstrebenswert sei. Bell und Lawrence teilten diese Ansichten, sie wollten eine arabische Unabhängigkeit bei unbedingter Sicherung der englischen Hegemonie. Weil die Briten die kurdische Provinz Mossul als Puffer gegen die Türkei und Russland brauchten, zwangen die Beschlüsse von Kairo die ehemaligen osmanischen Provinzen Bagdad, Mossul und Basra und die dort lebenden, seit Jahrhunderten verfeindeten Schiiten, Sunniten und Kurden in einen Staat. Nicht nur der Nahe Osten leidet bis heute unter den Folgen dieser unheilvollen Entscheidung.
Als die Staatsgründung vollbracht war, kehrte Gertrude Bell zur Archäologie zurück: Sie wollte, dass die Zeugnisse der jahrtausendealten mesopotamischen Zivilisation im Land blieben. Darum gründete sie das Irakische Nationalmuseum (damals das Archäologische Museum Bagdad) und entwarf ein Antikengesetz, das die Ausfuhr von Grabungsfunden streng kontrollierte. Das Museum wurde im Juni 1926, wenige Wochen vor Bells Tod, eröffnet.
Die Bagdader Jahre waren hektisch. Sie lebte so rastlos, wie sie es immer getan hatte, arbeitete zu viel, magerte ab, das Klima machte sie krank. Bell war in Bagdad eine geachtete, ja verehrte Persönlichkeit, jetzt aber empfand sie das Leben als einzige Frau unter Männern als sehr fordernd. Deprimiert schrieb sie an ihren Vater: »Es ist zu einsam, mein Leben hier, ich kann nicht weiterhin immer allein sein. Vor allem die Nachmittage, nach dem Tee, lasten schwer auf mir.« Nach der Staatsgründung spürte sie, dass sie entbehrlich wurde. Es gab keine neuen Ziele, und eine Umsiedlung nach England kam nicht in Frage. Sie wusste, dass die Londoner Gesellschaft sie trotz ihrer großen Verdienste nicht respektierte – für sie war und blieb Gertrude Bell eine Außenseiterin, genauer: eine exzentrische alte Jungfer.
Es kamen weitere Schläge: sie hatte mehrmals schwere Lungenentzündungen, das Bell-Vermögen war aufgrund der Wirtschaftssituation so geschrumpft, dass sie sich Sorgen um die Finanzierung ihres Alters machen musste, ihr jüngster Bruder starb an Typhus.
Am 12. Juli 1926, zwei Tage vor ihrem 58. Geburtstag, fand ihr Dienstmädchen sie morgens tot im Bett. Sie starb an einer Schlafmittelvergiftung. Die irakische Regierung ordnete ein Staatsbegräbnis an, in einem langen Trauerzug folgten hohe Vertreter Großbritanniens und des Iraks ihrem Sarg, der mit den Flaggen beider Staaten bedeckt war. Sie wurde auf Bagdads britischem Friedhof beigesetzt.
Im Archäologischen Museum Bagdad gab es eine Bronzebüste von Gertrude Bell, die seit der Plünderung des Museums im Jahre 2003 verschwunden ist, eine Plakette würdigte auf Arabisch und Englisch ihre Verdienste. Der Text beginnt mit den Worten:
GERTRUDE BELL
Derer die Araber immer mit Achtung und Zuneigung
gedenken werden
Schuf dieses Museum 1923.
Die übrige Welt, auch England, vergaß sie schnell. T. E. Lawrence wurde noch zu Lebzeiten in mehreren Biographien heroisiert, was er selbst übrigens strikt ablehnte, und 1962 durch den mit sieben Oscars ausgezeichneten Spielfilm Lawrence of Arabia endgültig weltberühmt. Ein Spielfilm über Gertrude Bell kam erst 2015. Er dreht sich nicht, wie eine Filmbesprechung in der Wochenzeitung DIE ZEIT kritisierte, um »Bells außergewöhnliche Rolle als Wissenschaftlerin, Ethnologin, Pionierin, Geheimdienstmitarbeiterin und schließlich als Politikerin auf Augenhöhe mit Winston Churchill«, sondern vor allem um ihre tragisch gescheiterten Liebesbeziehungen.
Gertrude Bell war aus dem Stoff, aus dem man im Europa des 19. Jahrhunderts Abenteurer und Forscher machte. Aber sie war eben auch eine Frau. Manche Menschen macht das bis heute ratlos.
Ebba D. Drolshagen
Howell, Georgina, Queen of the Desert. The Extraordinary Life of Gertrude Bell. London 2006.
Lukitz, Liora, A Quest in the Middle East. Gertrude Bell and the Making of the Modern Iraq. London 2006.
»Gertrude Bell«. In: Wikipedia. (Abgerufen: Mai 2015) http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Gertrude_Bell&oldid=140820631
Queen of the Desert (2015) Spielfilm von Werner Herzog.
Der liebste Freund ist ihm die unbekannte Ferne,
wo über ihm die Mutter aller Sternmyriaden reist
dort reist auch er.
Taabata Sharran
Für A. C. L.
DER DAS HERZ DES OSTENS KENNT
Wer es wagt, der bereits umfangreichen Reiseliteratur einen weiteren Band hinzuzufügen, muss, so er nicht Wissenschaftler oder Politiker ist, dafür eine Entschuldigung haben. Meine Entschuldigung habe ich formuliert, sie ist ausführlich und, wie ich hoffe, auch überzeugend. Ich wollte weniger von einer Reise berichten, als von den Menschen, denen ich begegnet bin und die mich auf meinem Weg begleitet haben, ich wollte zeigen, in welcher Welt sie leben und wie sie sie sehen. Ich lasse sie, wenn immer möglich, besser selbst sprechen, deshalb habe ich ihre Geschichten mit dem Verlauf meiner Wege verknüpft. Ich gebe wieder, was die Schafhirten und Soldaten mir erzählten, um die gemeinsamen Wegstunden zu verkürzen, Gespräche, die am Lagerfeuer, in den schwarzen Zelten der Araber und den Besuchszimmern der Drusen geführt wurden, und nicht zuletzt auch die etwas vorsichtigeren Äußerungen, die türkische und syrische Beamte machten. Ihre Staatskunst besteht darin, durchaus scharfsinnig darüber zu spekulieren, was aus einem Zusammenprall unbekannter Kräfte entstehen könnte, deren Stärke und Absichten sie nur vage erahnen. Sie schöpfen ihr Wissen aus anderen Informationsquellen und messen mit anderen Maßstäben als wir es tun, sie nähern sich einem Problem, das sich ihnen stellt, mit anderen Erfahrungen als wir.
Der Orientale ist wie ein sehr altes Kind. Viele Wissenszweige, die uns grundlegend und unverzichtbar scheinen, sind ihm unbekannt; von wenigen Ausnahmen abgesehen, scheint es ihm unnötig, dieses Wissen zu erwerben, und der praktische Nutzen einer Handlung ist selten Teil seiner Erwägungen. In unserem Sinn des Wortes ist er nicht praktischer als ein Kind. Andererseits handelt er immer und bei allem nach Verhaltens- und Moralgesetzen, die an den Anfang der Zivilisation zurückgehen. Diese Traditionen sind unverändert, weil auch die Lebensweise, zu der sie gehören und aus der sie entstanden, noch keine wichtigen Veränderungen erlebt hat. Davon abgesehen, ist er wie wir: die menschliche Natur erfährt östlich des Suez keine grundlegende Wandlung, Freundschaft und Seelenverwandtschaft mit Menschen aus diesen Gegenden sind keineswegs unmöglich; sie sind in mancherlei Hinsicht sogar einfacher als in Europa.
Man stellt nämlich fest, dass im Orient die Lebensformen nicht so stark durch künstliche Fesseln eingeengt sind; es herrscht eine größere Toleranz, weil es eine größere Vielfalt gibt. Die Gesellschaft ist durch Kasten, Sekten und Stämme in zahllose Gruppen aufgeteilt, und jede folgt ihrem eigenen Gesetz. Die Regeln mögen uns sonderbar erscheinen, für einen Orientalen sind sie die schlüssige und befriedigende Erklärung für jede Eigentümlichkeit. Ein Mann kann sich, so er will, in der Öffentlichkeit bis zu den Augen verhüllen oder bis auf einen Lendenschurz entkleiden: Niemand wird das kommentieren. Warum auch? Folgt er doch, wie alle, nur seinem Gesetz. Daher kann ein Europäer die entlegensten Gegenden kreuz und quer bereisen, ohne dass man ihm besondere Neugier oder gar Kritik entgegen bringt. Man wird dem Neuen mit Interesse lauschen, man wird seinen Ansichten aufmerksam folgen, aber keiner wird ihn für merkwürdig oder verrückt halten oder auch nur seine Ansichten abtun, weil er andere Gewohnheiten und Denkweisen pflegt als jene, mit denen er gerade zusammen ist. Adat-hu: So ist es bei ihm Brauch.
Ein Europäer ist daher gut beraten, sich bei den Orientalen nicht einschmeicheln zu wollen, indem er ihre Sitten nachäfft, es sei denn, er beherrscht sie so gut, dass er als einer der Ihren gelten kann. Er soll die Gesetze der anderen achten, sich selbst aber strikt an die seinen halten, das sichert ihm die größte Achtung. Für eine Frau ist das die erste und die wichtigste Regel, denn eine Frau kann sich niemals wirklich verbergen. Wenn man weiß, dass sie einem bedeutenden und geachteten Haus entstammt, das zudem einen untadeligen Ruf genießt, ist ihr höchstes Ansehen sicher.
Keines der Länder, die ich bereist habe, ist für Reisende jungfräuliches Terrain, einige Gegenden wurden allerdings noch nicht oft besucht, sie sind nur in kostspieligen und schwer erhältlichen Werken beschrieben. Solche Orte habe ich kurz dargestellt. In den nordsyrischen Städten habe ich auch jene antiken Ruinen beschrieben, die auch dem flüchtigen Betrachter ins Auge fallen. In Syrien und am Rand der Wüste steht viel Forschungsarbeit aus, dort gibt es noch viele schwierige Probleme zu lösen. De Vogüé, Wetzstein, Brünnow, Sachau, Dussaud, Puchstein und Kollegen, die Teilnehmer der Princeton Expedition sowie andere haben einen guten Anfang gemacht. Wer erfahren möchte, wie unermesslich reich dieses Land an antiken Baudenkmälern und Schriftzeugnissen einer weit zurückliegenden Epoche ist, sei auf deren Werke verwiesen.
Meine Reise endete nicht, wie dieser Bericht, in Alexandretta, aber in Kleinasien widmete ich mich im Wesentlichen der Archäologie. Die Ergebnisse meiner dortigen Arbeit konnten, dank des freundlichen Entgegenkommens ihres Herausgebers Monsieur Salomon Reinach, als Essayreihe in der »Revue Archéologique« erscheinen, wohin sie viel besser passen als in dieses Buch.
Ich kenne weder die Menschen noch die Sprache Kleinasiens gut genug, um diesem Kontinent wirklich nahe zu kommen, möchte aber, trotz der recht flüchtigen Bekanntschaft, dem türkischen Bauern meine Hochachtung ausdrücken. Er ist mit vielen Tugenden gesegnet und nennt viele gute Eigenschaften sein Eigen, seine Gastfreundschaft übertrifft alle diese Eigenschaften noch.
Ich habe mich auch bei weniger bedeutenden Personen sehr bemüht, sie mit ihrem tatsächlichen politischen Rang in Verbindung zu bringen. Im direkten Umgang erscheinen sie oft gar nicht unwichtig, und ich war immer dankbar, wenn mir jemand einen Hinweis darauf gab, welcher Art ihre Beziehungen untereinander waren. Es liegt nicht in meinem Interesse, die Herrschaft der Türken zu rechtfertigen oder zu verdammen. Ich habe lange genug in Syrien gelebt, um zu wissen, dass diese Regierung alles andere als eine ideale Verwaltung ist; ich habe aber auch gesehen, wie viele Unruhe stiftende Elemente sie in Schach hält, und kann ermessen, wie schwierig die Aufgabe ihrer Beamten ist. Ich glaube nicht, dass es eine Regierung gibt, die alle zufrieden stellen könnte; dieses erstrebenswerte Ziel wird selbst in weniger zersplitterten Ländern kaum je erreicht.
Als Engländerin bin ich überzeugt, dass unsere Regierung Syrien unter seine Obhut hätte nehmen sollen, unsere Aussichten auf Erfolg wären größer gewesen als die eines nur halbwegs vernünftigen Sultans. Wir haben schon lange akzeptiert, dass uns diese Aufgabe nicht übertragen werden wird, doch bedauerlicherweise haben wir mehr als das getan: Wir haben uns damit abgefunden, dass im ganzen türkischen Herrschaftsgebiet unser ehemals großer Ruf leidet und schwindet. Wir wollten nicht die Verantwortung für ein offizielles Eingreifen übernehmen, aber wir haben die unverantwortlichen, heftig vorgetragenen Proteste zugelassen, die nur auf Gefühl basieren und die ich mich nicht scheue, ignorant zu nennen. Daher macht unser Umgang mit den Türken den Eindruck von Unentschlossenheit, worin diese verständlicherweise Hinterlist vermuten, der sie mit Feindseligkeit begegnen. Ich bin der Ansicht, dass solche Gefühle, gepaart mit einer tief sitzenden Furcht vor einem großen Asiatischen Reich, das auch Ägypten und die Meere beherrscht, die Hohe Pforte veranlasst haben, sich bei der ersten Gelegenheit offen gegen britische Forderungen zu stellen. Ob das an einer schlichten Fehleinschätzung lag, welchen gravierenden Stimmungswechsel das nach sich ziehen würde, oder ob das in der Hoffnung auf Unterstützung aus dem Ausland geschah, ist unerheblich. Das Ergebnis jedenfalls ist beklagenswert, und wenn ich die Lage richtig einschätze, liegt das alles nur daran, dass England in Konstantinopel über keinen Einfluss mehr verfügt. Die bedeutende Stellung, die wir innehatten, nimmt nun ein anderer ein, dabei sollten wir doch in der Lage sind, die uneindeutige Politik des Yildiz Kiosk zu lenken. Die größte mohammedanische Macht kann es sich nicht leisten, dass ihre Beziehungen zum Khalif des Islams so inkonsequent und so wenig entschlossen geregelt werden, und wenn uns die Unbeugsamkeit des Sultans im Tabah-Konflikt vor Augen führen würde, wie weit uns die Zügel bereits entglitten sind, hätte der Konflikt seinen Sinn erfüllt. Unsere Position am Mittelmeer, das Wohlwollen, mit dem man uns, wie ich glaube, auf türkischem Herrschaftsgebiet begegnet und die Erinnerung an eine sehr lange Freundschaft sollten es uns aber möglich machen, den einmal verlorenen Platz wiederzuerlangen.
Fragen wie diese sprengen aber den Rahmen des vorliegenden Buches. Und so schließt meine apologia mit den Worten, mit denen jeder orientalische Schriftsteller sie begonnen hätte: »Im Namen Gottes, des Barmherzigen und Gütigen!«
Mount Grace Priory
North Yorkshire, England
Wer in einem komplizierten sozialen Gefüge aufgewachsen ist, erlebt selten einen Moment solch überschwänglicher Freude wie am Beginn einer kühnen Reise. Die Pforte des ummauerten Gartens springt auf, die Kette am Eingang zum geschützten Raum wird heruntergelassen, unsicher blickt man nach rechts und links, wagt den Schritt über die Schwelle und da ist sie: die unermessliche Welt. Eine Welt des Abenteuers und der Wagnisse, verdunkelt von tobenden Stürmen, gleißend in grellem Sonnenlicht, in jeder Senke eines jeden Berges lauern offene Fragen und nicht zu stillende Zweifel. In diese Welt musst du allein eintreten, ohne die Freunde, die in Rosengärten wandeln, du musst den Purpur und das feine Leinen ablegen, die den Arm beim Kampf behindern, du bist ohne Dach, ohne Schutz, ohne Besitztümer. Statt der Stimme des klugen Beraters spricht die Stimme des Windes; das Peitschen des Regens und das Beißen des Frostes werden dir ein schärferer Ansporn sein als Lob und Tadel, die Erfordernisse des Augenblicks sprechen mit einer Autorität, die allen wohlfeilen Weisheiten fehlt, die der Mensch nach Gutdünken annimmt oder verwirft. So also verlässt du die Abgeschiedenheit und kaum hast du den Pfad betreten, der das Rund der Erde umläuft, spürst du, wie der Held im Märchen, die Eisenringe zerspringen, die um dein Herz geschmiedet waren.
Der 5. Februar begann stürmisch. Der Westwind fegte vom Mittelmeer herein, raste über die Ebene, wo die Kanaaniter die widerspenstigen Bergbewohner Judäas bekriegt hatten, übersprang die Hürde des Gebirges, das die Könige von Assyrien und von Ägypten nicht überwinden konnten. Jerusalem rief er die Kunde vom kommenden Regen zu, raste an den unfruchtbaren Osthängen hinab, übersprang leichtfüßig das tiefe Bett des Jordans, und verschwand über den Hügeln von Moab in die Wüste. Die Meute der Stürme jagte ihm nach, ein kläffendes Rudel, übermütig ostwärts drängend.
Niemand, in dem das Leben pulsierte, konnte an einem solchen Tag im Hause bleiben, ich aber hatte gar keine Wahl. In der grauen Winterdämmerung waren die Maultiere losgezogen, auf ihrem Rücken trugen sie meine gesamte weltliche Habe – zwei Zelte, eine Feldküche und Vorräte für einen Monat, fotographische Utensilien, einige Bücher und vor allem einen Satz guter Landkarten, das alles war von so geringem Luxus, dass selbst der genügsamste Reisende kaum weniger haben dürfte. Die Maultiere und die drei Maultiertreiber hatte ich aus Beirut mitgebracht, sie waren mir lieb genug, um sie auf die weitere Reise mitzunehmen. Die Männer stammten aus dem Libanon. Zwei, Vater und Sohn, beide Christen, kamen aus einem Dorf oberhalb von Beirut. Der Vater war ein alter, zahnloser Mann, er saß rittlings über den Maultierkisten, murmelte unablässig vor sich hin, Segnungen und fromme Sprüche, dazu Beteuerungen der Ergebenheit gegen seine gnädigste Frau Auftraggeber, womit seine Anstrengungen, zum Wohle aller beizutragen, erschöpft waren. Der Greis hieß Ibrahim, sein Sohn Habib war ein junger Mann, zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt, dunkel, aufrecht und breitschultrig, mit einem Profil, um das ihn jeder Grieche beneidet hätte, und einem furchtlosen Blick unter schwarzen Brauen. Der Dritte war Druse, ein großer, schlaksiger Mann, unverbesserlich träge, auf seine bescheidene Weise ein Spitzbube, der es allerdings verstand, meinen gerechten Zorn über gestohlenen Zucker und fehlende Piaster mit einem flehenden Blick zu entwaffnen, die Augen weit geöffnet und glänzend wie Hundeaugen. Er war gierig und recht stumpfsinnig, Fehler, die bei einer Ernährung aus trockenem Brot, Reis und ranziger Butter vermutlich kaum vermeidbar sind; als ich ihn zwischen seine Erzfeinde steckte, verrichtete er lustlos seine Arbeit, trottete hinter seinem Maultier und seinem Esel her, und wirkte dabei genau so unbeteiligt und abwesend wie schon in den Straßen von Beirut. Sein Name war Muhammed. Der letzte Mann der Karawane war Mikhail, der Koch, ein Christ aus Jerusalem, dem seine Religion nicht sehr schwer auf der Seele lag. Er war mit Mr. Mark Sykes gereist, der ihm folgende Beurteilung gegeben hatte: »Er versteht wenig vom Kochen, es sei denn, er hat dazugelernt, seit er zu mir kam, aber es scheint ihn niemals einen Deut zu interessieren, ob er lebt oder getötet wird.« Als ich Mikhail das übersetzte, überfiel ihn ein kaum unterdrückter Lachanfall, ich engagierte ihn auf der Stelle. Das war ein recht unzulänglicher Grund, aber nicht schlechter als die meisten anderen. Im Rahmen seiner Fähigkeiten diente er mir gut, er war ein kleiner Mann, empfindlich und stolz, immer bereit, einer möglichen Beleidigung zuvor zu kommen, mit einer großen Vorstellungsgabe, die sich in den drei Monaten unserer Bekanntschaft nie erschöpfte. Seine Anstellung bei Mr. Sykes endete, nachdem sie auf dem Vansee zusammen in Seenot geraten waren. In den Jahren seither hatte Mikhail manches andere gelernt, er machte sich aber leider nie die Mühe, mir die Geschichte dieses Abenteuers zu erzählen, als ich einmal darauf anspielte, nickte er allerdings und sagte: »Wir waren dem Tod so nah wie der Bettler der Armut. Aber wie Eure Exzellenz wissen, kann man nur einmal sterben«, während er mich andererseits ständig mit Berichten über Touristen bombardierte, die erklärt hatten, dass sie ohne seine Kochkünste Syrien weder bereisen konnten noch wollten. Er hatte eine unheilvolle Schwäche für Arak, und nachdem ich von Schmeicheleien bis zur Jagdpeitsche alles versucht hatte, um das zu unterbinden, trennte ich mich an der kilikischen Küste abrupt von ihm, durchaus mit einem Bedauern, das nicht seinen zähen Ragouts und kalten Pfannkuchen galt.
Ich wollte die verlassene Straße nach Jericho unbedingt allein entlang reiten, wie ich es früher getan hatte, wenn ich in die Wüste aufbrach. Aber Mikhail meinte, das sei mit meiner Würde unvereinbar, und ich wusste, dass selbst sein ständiges Plappern der Straße ihre Einsamkeit nicht würde nehmen können. Um neun Uhr saßen wir im Sattel, umrundeten ernst Jerusalems Mauern, ritten in das Tal von Getsemani hinunter, am Garten Getsemani vorbei und zum Ölberg hinauf. Hier rastete ich, um auf die befestigte Stadt zu schauen, keine Vertrautheit kann den Glanz dieses Anblicks schmälern. Sie lag unter einem tiefen Himmel, grau in grauer und steiniger Landschaft, doch von der Hoffnung und dem unstillbaren Sehnen vieler Pilgergenerationen erleuchtet. Das menschliche Streben, das blinde Tasten des gefesselten Geistes nach einem Ort, wo alle Bedürfnisse gestillt werden, wo die Seele Frieden findet – das ist es, was diese Stadt wie ein Heiligenschein umgibt; und dieser Heiligenschein ist teils brillant, teils erbärmlich, von Tränen glänzend und von vielen Enttäuschungen matt. Der Westwind drehte mein Pferd, schicke es im Galopp über den Kamm des Berges, zur Straße hinunter, die sich durch Judäas Wildnis schlängelt.
Am Fuße des ersten Abstiegs liegt eine Quelle, die Araber nennen sie Ain esh Shems, Sonnenbrunnen, die Christen haben sie Apostelbrunnen getauft. Wer im Winter dort vorbeikommt, wird fast immer russische Bauern sehen, die auf ihrem beschwerlichen Weg den Jordan hinauf hier rasten. Jahr für Jahr strömen sie zu Zehntausenden ins Heilige Land, überwiegend alte Männer und Frauen, die ein Leben lang geknausert und gespart haben, bis sie etwa dreißig englische Pfund zusammen hatten, die sie nach Jerusalem führen würden. Von den entlegensten Ecken des russischen Reiches gehen sie zu Fuß an das Schwarze Meer und reisen von dort als Deckpassagiere auf schmutzigen russischen Kähnen. Ich bin mit 300 von ihnen von Smyrna nach Jaffa gereist und war der einzige Passagier mit Kabine. Es war mitten im Winter, stürmisch und kalt für alle, die an Deck schliefen, auch wenn sie Schaffellmäntel und gefütterte Stulpenstiefel trugen. Aus Gründen der Sparsamkeit hatten meine Mitreisenden ihren Proviant mitgebracht, einen Laib Brot, ein paar Oliven, eine rohe Zwiebel, daraus bestand ihr tägliches Mahl. Morgens und abends versammelten sie sich zum Gebet vor einer Ikone, die an der Kombüse hing, der Klang ihrer Litanei stieg, zusammen mit dem Stampfen der Schraube und dem Klatschen der Gischt, gen Himmel. Die Pilger erreichen Jerusalem vor Weihnachten und bleiben bis nach Ostern, um ihre Kerzen am heiligen Feuer entzünden zu können, das am Morgen der Auferstehung aus dem Heiligen Grab hervorbricht. Sie wandern zu Fuß an alle heiligen Stätten und übernachten in großen Herbergen, die die russische Regierung für sie erbaut hat. Viele sterben an Unterkühlung, Erschöpfung oder wegen des ungewohnten Klimas; aber in Palästina zu sterben, ist die größte Gnade, die der Himmlische Vater ihnen gewähren kann, denn dann ruhen ihre Gebeine friedlich im Heiligen Land und ihre Seele fliegt direkt ins Paradies. Man begegnet diesen sehr einfachen Reisenden auf jeder Landstraße, geduldig trotten sie unter brennender Sonne und eisigen Winterregen, bekleidet mit Pelzen aus ihrer Heimat, in der Hand einen Stab aus Rohr vom Jordanufer. Sie fügen dieser Landschaft, die so voll schwermütiger Poesie ist, einen grellen Klang von Pathos hinzu. Ich habe in Jerusalem eine Geschichte gehört, die das Wesen dieser Pilger besser beschreiben kann als seitenlange Schilderungen. Ein Einbrecher war auf frischer Tat ertappt und nach Sibirien geschickt worden, wo er viele Jahre Sträfling war. Als seine Zeit vorüber war, kehrte er geläutert zu seiner alten Mutter zurück und sie reisten zusammen ins Heilige Land, damit er für seine Sünden Buße tun konnte. Nun muss man wissen, dass sich zur Pilgerzeit das Gesindel aus Syrien in Jerusalem einfindet, um sie in ihrer Einfalt zu betrügen und zu Almosen zu nötigen. Einer dieser Vagabunden bettelte den russischen Büßer an, aber der hatte selbst nichts. Der Syrer, zornig über die Weigerung, schlug den andern zu Boden und verletzte ihn so schwer, dass er drei Monate im Spital bleiben musste. Als er genesen war, kam der russische Konsul zu ihm und sagte: »Wir haben den Kerl, der dich fast getötet hat; vor deiner Abreise musst du gegen ihn aussagen.« Aber der Pilger antwortete: »Nein, lasst ihn gehen. Auch ich bin ein Verbrecher.«