Rudolf Steiner
AUS DER AKASHA-CHRONIK
Herausgegeben von Marie Steiner
RUDOLF STEINER VERLAG
zur ersten Buchausgabe 1939
Auf vielfachen Wunsch werden diese im Jahre 1904 zuerst erschienenen Aufsätze Dr. Rudolf Steiners nun nach fünfunddreißig Jahren in Buchform herausgebracht. Geschrieben waren sie für die zuerst monatlich, dann in größeren Zwischenräumen erscheinende Zeitschrift «Lucifer-Gnosis». Dadurch erklärt sich das öftere Zurückgreifen und Hinweisen auf vorher Gesagtes. Doch sind ja Wiederholungen dem Studium der Geisteswissenschaft besonders förderlich. Verwirrend könnte es heute mancher empfinden, daß neben der neuen für das Abendland geprägten Terminologie auch diejenige miterwähnt wird, die orientalischer Esoterik entnommen ist. Sie war durch die Literatur der Theosophischen Gesellschaft in der Zeit der Jahrhundertwende in Europa populär geworden. Die exotischen Namen waren im Gedächtnis haftengeblieben; die feineren Nuancen, die der Orientale damit verbindet, blieben ja trotzdem dem Europäer verschlossen. Die Durchgestaltung unserer der Sinneswahrnehmung angepaßten Sprache zu feinerer geistiger Begrifflichkeit und zur konkreten Bildhaftigkeit auch des Übersinnlichen war etwas, woran Dr. Steiner unablässig gearbeitet hat. Bei der Schilderung der Wirksamkeit der Hierarchien benutzt er die dafür übliche christliche Terminologie.
Was hier in der Akasha-Chronik in knapper Übersichtlichkeit vor Augen geführt wird, findet seine Fortsetzung in den Büchern «Theosophie» und «Geheimwissenschaft im Umriß».
Die Zeitschrift «Lucifer-Gnosis» konnte wegen übermäßiger Inanspruchnahme durch Vortragstätigkeit und anderer Betätigungen nicht weitergeführt werden. Neben den Ergebnissen der Geheimforschung enthält sie viele Aufsätze, in denen Dr. Steiner mit dem naturwissenschaftlichen Denken der Gegenwart sich auseinandersetzt. Da es nicht ausbleiben kann, daß Niederschriften wie diejenige über die «Akasha-Chronik» den meisten unvorbereiteten Lesern heute noch als wilde Phantastik erscheinen, so sollen zwei die Erkenntnisprobleme der Gegenwart berührende Aufsätze aus jener Zeitschrift vorangehen und folgen. Sie dürften in ihrer nüchternen Logik den Beweis erbringen, daß der Erforscher übersinnlicher Welten auch Probleme der Gegenwart ruhig und sachlich überschauen kann.
Die Zeitschrift widmete sich auch der Beantwortung von Fragen, die aus dem Leserkreise gestellt wurden. Dem entnehmen wir einiges auf die atlantische Menschheit und die Geheimwissenschaft Bezügliche. Wer sich klarwerden möchte über die Art, wie das Lesen in der «Akasha-Chronik» zustande kommt, muß sich freilich dem Studium der Anthroposophie eingehend widmen.
Neben den oben erwähnten Büchern sei für Fortgeschrittene im Studium der Geisteswissenschaft hingewiesen auf die Esoterischen Betrachtungen über «Okkultes Lesen und okkultes Hören» und auf den eben erscheinenden dritten Band der Schriftenreihe: Geistige Wesen und ihre Wirkungen, der heute besonders interessieren dürfte: «Geschichtliche Notwendigkeit und Freiheit. Schicksalseinwirkungen aus der Welt der Toten».
Für denjenigen, welcher den Gang der wissenschaftlichen Entwickelung in den letzten Jahrzehnten verfolgt, kann kein Zweifel darüber bestehen, daß sich innerhalb desselben ein mächtiger Umschwung vorbereitet. Ganz anders als vor kurzer Zeit klingt es heute, wenn ein Naturforscher sich über die sogenannten Rätsel des Daseins ausspricht. – Es war um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als einige der kühnsten Geister in dem wissenschaftlichen Materialismus das einzig mögliche Glaubensbekenntnis sahen, das jemand haben kann, der mit den neueren Ergebnissen der Forschung bekannt ist. Berühmt geworden ist ja der derbe Ausspruch, der damals gefallen ist, daß «die Gedanken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirne stehen wie die Galle zu der Leber». Karl Vogt hat ihn getan, der in seinem «Köhlerglauben und Wissenschaft» und in anderen Schriften alles für überwunden erklärte, was nicht die geistige Tätigkeit, das seelische Leben aus dem Mechanismus des Nervensystems und des Gehirnes so hervorgehen ließ, wie der Physiker erklärt, daß aus dem Mechanismus der Uhr das Vorwärtsrücken der Zeiger hervorgeht. Es war die Zeit, in welcher Ludwig Büchners «Kraft und Stoff» für weite Kreise von Gebildeten zu einer Art Evangelium geworden ist. Man darf wohl sagen, daß vortreffliche, unabhängig denkende Köpfe zu solchen Überzeugungen durch den gewaltigen Eindruck gekommen sind, welchen die Erfolge der Naturwissenschaft in neuerer Zeit gemacht haben. Das Mikroskop hatte kurz vorher die Zusammensetzung der Lebewesen aus ihren kleinsten Teilen, den Zellen, gelehrt. Die Geologie, die Lehre von der Erdbildung, war dahin gekommen, das Werden unseres Planeten nach denselben Gesetzen zu erklären, die heute noch tätig sind. Der Darwinismus versprach auf eine rein natürliche Weise den Ursprung des Menschen zu erklären und trat seinen Siegeslauf durch die gebildete Welt so verheißungsvoll an, daß für viele durch ihn aller «alte Glaube» abgetan zu sein schien. Das ist seit kurzem ganz anders geworden. Zwar finden sich noch immer Nachzügler dieser Ansichten, die wie Ladenburg auf der Naturforscher-Versammlung von 1903 das materialistische Evangelium verkündigen; aber ihnen gegenüber stehen andere, welche durch ein reiferes Nachdenken über wissenschaftliche Fragen zu einer ganz anderen Sprache gekommen sind. Eben ist eine Schrift erschienen, welche den Titel trägt «Naturwissenschaft und Weltanschauung». Sie hat Max Verworn zum Verfasser, einen Physiologen, der aus Haeckels Schule hervorgegangen ist. In dieser Schrift ist zu lesen: «In der Tat, selbst wenn wir die vollkommenste Kenntnis besäßen von den physiologischen Ereignissen in den Zellen und Fasern der Großhirnrinde, mit denen das psychische Geschehen verknüpft ist, selbst wenn wir in die Mechanik des Hirngetriebes hineinschauen könnten wie in das Getriebe der Räder eines Uhrwerkes, wir würden doch niemals etwas anderes finden als bewegte Atome. Kein Mensch könnte sehen oder sonst irgendwie sinnlich wahrnehmen, wie dabei Empfindungen und Vorstellungen entstehen. Die Resultate, welche die materialistische Auffassung bei ihrem Versuch der Zurückführung geistiger Vorgänge auf Atombewegungen gehabt hat, illustrieren denn auch sehr anschaulich ihre Leistungsfähigkeit: Solange die materialistische Anschauung besteht, hat sie nicht die einfachste Empfindung durch Atombewegungen erklärt. So war es und so wird es sein in Zukunft. Wie wäre es auch denkbar, dass jemals Dinge, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind wie die psychischen Vorgänge, ihre Erklärung finden könnten durch eine bloße Zerlegung großer Körper in ihre kleinsten Teile! Es bleibt ja das Atom doch immer noch ein Körper und keine Bewegung von Atomen ist jemals imstande, die Kluft zu überbrücken zwischen Körper weit und Psyche. Die materialistische Auffassung, so fruchtbar sie als naturwissenschaftliche Arbeitshypothese gewesen ist, so fruchtbar sie in diesem Sinne auch zweifellos noch in Zukunft bleiben wird – ich verweise nur auf die Erfolge der Struktur-Chemie –, so unbrauchbar ist sie doch als Grundlage für eine Weltanschauung. Hier erweist sie sich als zu eng. Der philosophische Materialismus hat seine historische Rolle ausgespielt. Dieser Versuch einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist für immer mißlungen.» So spricht ein Naturforscher am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts über die Anschauung, die um die Mitte des neunzehnten wie ein neues, durch die wissenschaftlichen Fortschritte gefordertes Evangelium verkündet worden ist.
Insbesondere sind es die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts, welche als diejenigen der materialistischen Hochflut bezeichnet werden dürfen. Einen wahrhaft faszinierenden Einfluß übte damals die Erklärung der geistigen und seelischen Erscheinungen aus rein mechanischen Vorgängen aus. Und die Materialisten durften sich damals sagen, daß sie einen Sieg über die Anhänger der geistigen Weltanschauung davongetragen haben. Auch solche, die nicht von naturwissenschaftlichen Studien ausgegangen waren, traten in ihr Gefolge. Hatten noch Büchner, Vogt, Moleschott und andere auf rein naturwissenschaftliche Voraussetzungen gebaut, so versuchte David Friedrich Strauß 1872 in seinem «Alten und neuen Glauben» aus seinen theologischen und philosophischen Erkenntnissen heraus die Stützpunkte für das neue Bekenntnis zu gewinnen. Er hatte schon vor Jahrzehnten in aufsehenerregender Weise in das Geistesleben durch sein «Leben Jesu» eingegriffen. Er schien ausgerüstet zu sein mit der vollen theologischen und philosophischen Bildung seiner Zeit. Er sprach es jetzt kühn aus, dass die im materialistischen Sinne gehaltene Erklärung der Welterscheinungen einschließlich des Menschen die Grundlage bilden müsse für ein neues Evangelium, für eine neue sittliche Erfassung und Gestaltung des Daseins. Die Abkunft des Menschen von rein tierischen Vorfahren schien ein neues Dogma werden zu wollen, und alles Festhalten an einem geistig-seelischen Ursprung unseres Geschlechtes galt in den Augen der naturforschenden Philosophen als stehengebliebener Aberglaube aus dem Kindheitsalter der Menschheit, mit dem man sich nicht weiter zu beschäftigen habe.
Und denen, welche auf der neueren Naturwissenschaft bauten, kamen die Kulturhistoriker zu Hilfe. Die Sitten und Anschauungen wilder Volksstämme wurden zum Studium gemacht. Die Ueberreste primitiver Kulturen, die man aus der Erde gräbt, wie die Knochen vorweltlicher Tiere und die Abdrücke untergegangener Pflanzenwelten: sie sollten ein Zeugnis abgeben für die Tatsache, daß der Mensch bei seinem ersten Auftreten auf dem Erdball sich nur dem Grade nach von den höheren Tieren unterschieden habe, daß er aber geistig-seelisch sich durchaus von der bloßen Tierheit zu seiner jetzigen Höhe her auf entwickelt habe. Es war ein Zeitpunkt eingetreten, wo alles in diesem materialistischen Baue zu stimmen schien. Und unter einem gewissen Zwange, den die Vorstellungen der Zeit auf sie ausübten, dachten die Menschen so, wie ein gläubiger Materialist schreibt: «Das eifrige Studium der Wissenschaft hat mich dazu gebracht, alles ruhig aufzunehmen, das Unabänderliche geduldig zu tragen und übrigens dafür sorgen zu helfen, daß der Menschheit Jammer allmählich gemindert werde. Auf die phantastischen Tröstungen, die ein gläubiges Gemüt in wunderbaren Formeln sucht, kann ich um so leichter verzichten, als meine Phantasie durch Literatur und Kunst die schönste Anregung findet. Wenn ich dem Gang eines großen Dramas folge oder an der Hand von Gelehrten eine Reise zu anderen Sternen, eine Wanderung durch vorweltliche Landschaften unternehme, wenn ich die Erhabenheit der Natur auf Bergesgipfeln bewundere oder die Kunst des Menschen in Tönen und Farben verehre, habe ich da nicht des Erhebenden genug? Brauche ich dann noch etwas, das meiner Vernunft widerspricht? – Die Furcht vor dem Tode, die so viele Fromme quält, ist mir vollständig fremd. Ich weiß, daß ich, wenn mein Leib zerfällt, so wenig fortlebe, wie ich vor meiner Geburt gelebt habe. Die Qualen des Fegefeuers und einer Hölle sind für mich nicht vorhanden. Ich kehre in das grenzenlose Reich der Natur zurück, die alle Kinder liebend umfaßt. Mein Leben war nicht vergeblich. Ich habe die Kraft, die ich besaß, wohl angewendet. Ich scheide von der Erde in dem festen Glauben, daß sich alles besser und schöner gestalten wird!» (Vom Glauben zum Wissen. Ein lehrreicher Entwickelungsgang getreu nach dem Leben geschildert von Kuno Freidank.) So denken heute viele, auf welche die Zwangsvorstellungen noch Gewalt haben, die in der genannten Zeit auf die Vertreter der materialistischen Weltanschauung wirkten.
Diejenigen aber, die versuchten, sich auf der Höhe des wissenschaftlichen Denkens zu halten, sind zu anderen Vorstellungen gekommen. Berühmt geworden ist ja die erste Entgegnung, die von Seite eines hervorragenden Naturforschers auf der Naturforscher-Versammlung in Leipzig (1876) auf den naturwissenschaftlichen Materialismus ausgegangen ist. Du Bois-Reymond hat damals seine «Ignorabimus-Rede» gehalten. Er versuchte zu zeigen, daß dieser naturwissenschaftliche Materialismus in der Tat nichts vermag als die Bewegungen kleinster Stoffteilchen festzustellen, und er forderte, daß er sich damit begnügen müsse, solches zu tun. Aber er betonte zugleich, daß damit auch nicht das Geringste geleistet ist zur Erklärung der geistigen und seelischen Vorgänge. Man mag sich zu diesen Ausführungen Du Bois-Reymonds stellen wie man wolle: soviel ist klar, sie bedeutete eine Absage an die materialistische Welterklärung. Sie zeigte, wie man als Naturforscher an dieser irre werden könne.
Die materialistische Welterklärung war damit in das Stadium eingetreten, auf dem sie sich bescheiden erklärte gegenüber dem Leben der Seele. Sie stellte ihr «Nichtwissen» (Agnostizismus) fest. Zwar erklärte sie, daß sie «wissenschaftlich» bleiben und nicht ihre Zuflucht zu anderen Wissensquellen nehmen wolle; aber sie wollte auch nicht mit ihren Mitteln auf steigen zu einer höheren Weltanschauung. (In umfassender Art hat in neuerer Zeit Raoul Françé, ein Naturforscher, die Unzulänglichkeit der naturwissenschaftlichen Ergebnisse für eine höhere Weltanschauung gezeigt. Dies ist ein Unternehmen, auf das wir noch ein anderes Mal zurückkommen möchten.)
Und nun mehrten sich auch stetig die Tatsachen, welche das Unmögliche des Unterfangens zeigten, auf die Erforschung der materiellen Erscheinungen eine Seelenkunde aufzubauen. Die Wissenschaft wurde gezwungen, gewisse «abnorme» Erscheinungen des Seelenlebens, den Hypnotismus, die Suggestion, den Somnambulismus zu studieren. Es zeigte sich, daß diesen Erscheinungen gegenüber für den wirklich Denkenden eine materialistische Anschauung ganz unzulänglich ist. Es waren keine neuen Tatsachen, die man kennenlernte. Es waren vielmehr Erscheinungen, die man in alten Zeiten schon und bis in den Anfang des neunzehnten Jahrhunderts herein studiert hatte, die aber in der Zeit der materialistischen Hochflut als unbequem einfach beiseite gesetzt worden waren.
Dazu kam noch etwas anderes. Immer mehr zeigte sich, auf welch schwachem Untergründe die Naturforscher selbst mit ihren Erklärungen von der Entstehung der Tierformen und folglich auch des Menschen gebaut hatten. Welche Anziehungskraft übten doch die Vorstellungen von der «Anpassung» und dem «Kampf ums Dasein» bei der Erklärung der Artentstehung eine Zeitlang aus. Man lernte einsehen, daß man mit ihnen Blendwerken nachgegangen war. Es bildete sich eine Schule – unter Weismanns Führung –, die nichts davon wissen wollte, daß sich Eigenschaften, welche ein Lebewesen durch Anpassung an die Umgebung erworben hat, vererben könnten, und daß so durch sie eine Umbildung der Lebewesen eintrete. Man schrieb daher alles dem «Kampf ums Dasein» zu und sprach von einer «Allmacht der Naturzüchtung». In schroffen Gegensatz dazu traten, gestützt auf unbezweifeibare Tatsachen, solche, die erklärten, man habe in Fällen von einem «Kampf ums Dasein» gesprochen, wo er gar nicht existiere. Sie wollten dartun, daß nichts durch ihn erklärt werden könne. Sie sprachen von einer «Ohnmacht der Naturzüchtung». Weiter konnte de Vries in den letzten Jahren durch Versuche zeigen, daß es ganz sprungweise Veränderungen einer Lebensform in die andere gebe (Mutation). Damit ist auch erschüttert, was man von seiten der Darwinianer als einen festen Glaubensartikel angesehen hat, daß sich Tier- und Pflanzenformen nur allmählich umwandelten. Immer mehr schwand einfach der Boden unter den Füßen, auf dem man jahrzehntelang gebaut hatte. Denkende Forscher hatten ohnedies schon früher diesen Boden verlassen zu müssen geglaubt, wie der jung verstorbene W. H. Rolph, der in seinem Buche: «Biologische Probleme, zugleich als Versuch zur Entwicklung einer rationellen Ethik» schon 1884 erklärt: «Erst durch die Einführung der Unersättlichkeit wird das darwinistische Prinzip im Lebenskämpfe annehmbar. Denn nun erst haben wir eine Erklärung für die Tatsache, daß das Geschöpf, wo immer es kann, mehr erwirbt, als es zur Erhaltung des status quo bedarf, daß es im Übermaß wächst, wo die Gelegenheit dazu gegeben ist… Während es für den Darwinisten überall da keinen Daseinskampf gibt, wo die Existenz des Geschöpfes nicht bedroht ist, ist für mich der Kampf ein allgegenwärtiger. Er ist eben primär ein Lebenskampf, ein Kampf um Lebensmehrung, aber kein Kampf ums Dasein.»
Nur natürlich ist es, daß sich bei solcher Lage der Tatsachen die Einsichtigen gestehen: Die materialistische Gedankenwelt taugt nicht zum Aufbau einer Weltanschauung. Wir dürfen, von ihr ausgehend, nichts über die seelischen und geistigen Erscheinungen aussagen. Und es gibt heute schon zahlreiche Naturforscher, welche auf ganz anderen Vorstellungen sich ein Weltgebäude zu errichten suchen. Es braucht nur an das Werk des Botanikers Reinke erinnert zu werden «Die Welt als Tat». Dabei zeigt es sich allerdings, daß solche Naturforscher nicht ungestraft in den rein materialistischen Vorstellungen erzogen worden sind. Was sie von ihrem neuen idealistischen Standpunkte aus Vorbringen, das ist ärmlich, das kann sie einstweilen befriedigen, nicht aber diejenigen, welche tiefer in die Welträtsel hineinblicken. Solche Naturforscher können sich nicht entschließen, an diejenigen Methoden heranzutreten, die von der wirklichen Betrachtung des Geistes und der Seele ausgehen. Sie haben die größte Furcht vor der «Mystik», vor «Gnosis» oder «Theosophie». Das leuchtet zum Beispiel klar aus der angeführten Schrift Verworns heraus. Er sagt: «Es gärt in der Naturwissenschaft. Dinge, die allen klar und durchsichtig erschienen, haben sich heute getrübt. Langerprobte Symbole und Vorstellungen, mit denen noch vor kurzem ohne Bedenken jeder auf Schritt und Tritt umging und arbeitete, sind ins Wanken geraten und werden mit Mißtrauen betrachtet. Grundbegriffe, wie die der Materie, erscheinen erschüttert, und der festeste Boden beginnt unter den Schritten des Naturforschers zu schwanken. Felsenfest allein stehen gewisse Probleme, an denen bisher alle Versuche, alle Anstrengungen der Naturwissenschaft zerschellt sind. Der Verzagte wirft sich bei dieser Erkenntnis resigniert der Mystik in die Arme, die von jeher die letzte Zuflucht war, wo der gequälte Verstand keinen Ausweg mehr sah. Der Besonnene sieht sich nach neuen Symbolen um und versucht neue Grundlagen zu schaffen, auf denen er weiter bauen kann.» Man sieht, der naturforschende Denker von heute ist durch seine Vorstellungsgewohnheiten nicht in der Lage, sich einen andern Begriff von «Mystik» zu machen als einen solchen, der Verworrenheit, Unklarheit des Verstandes einschließt. – Und zu welchen Vorstellungen von dem Seelenleben kommt ein solcher Denker! Wir lesen am Schluß der angeführten Schrift: «Der prähistorische Mensch hatte die Idee einer Trennung von Leib und Seele gebildet beim Anblick des Todes. Die Seele trennte sich vom Leibe und führte ein selbständiges Dasein. Sie fand keine Ruhe und kam wieder als Geist, wenn sie nicht durch sepulkrale Zeremonien gebannt wurde. Furcht und Aberglauben ängstigten den Menschen. Die Reste dieser Anschauungen haben sich bis in unsere Zeit gerettet. Die Furcht vor dem Tode, das heißt vor dem, was nachher kommen wird, ist noch heute weit verbreitet. – Wie anders gestaltet sich das alles vom Standpunkte des Psychomonismus! Da die psychischen Erlebnisse des Individuums nur zustande kommen, wenn bestimmte, gesetzmäßige Verknüpfungen existieren, so fallen sie weg, sobald diese Verknüpfungen irgendwie gestört werden, wie das ja schon während des Tages unaufhörlich geschieht. Mit den körperlichen Veränderungen beim Tode hören diese Verknüpfungen ganz auf. So kann also keine Empfindung und Vorstellung, kein Gedanke und kein Gefühl des Individuums mehr bestehen. Die individuelle Seele ist tot. Dennoch leben die Empfindungen und Gedanken und Gefühle weiter. Sie leben weiter über das vergängliche Individuum hinaus in anderen Individuen, überall da, wo die gleichen Komplexe von Bedingungen existieren. Sie pflanzen sich fort von Individuum zu Individuum, von Generation zu Generation, von Volk zu Volk. Sie wirken und weben am ewigen Webstuhl der Seele. Sie arbeiten an der Geschichte des menschlichen Geistes. – So leben wir alle nach dem Tode weiter als Glieder in der großen, zusammenhängenden Kette geistiger Entwicklung.» Aber ist denn das etwas anderes als das Fortleben der Wasserwelle in anderen, die sie aufgeworfen hat, während sie selbst vergeht? Lebt man wahrhaft weiter, wenn man nur in seinen Wirkungen weiterbesteht? Hat man solches Weiterleben nicht mit allen Erscheinungen auch der physischen Natur gemein? Man sieht, die materialistische Weltauffassung mußte ihre eigenen Grundlagen untergraben. Neue vermag sie noch nicht zu bauen. Erst das wahre Verständnis von Mystik, Theosophie, Gnosis wird ihr solches möglich machen. Der Chemiker Ostwald hat vor mehreren Jahren auf der Naturforscher-Versammlung zu Lübeck von der «Überwindung des Materialismus» gesprochen und für das damit angedeutete Ziel eine neue naturphilosophische Zeitschrift begründet. Die Naturwissenschaft ist reif, die Früchte einer höheren Weltanschauung in Empfang zu nehmen. Und alles Sträuben wird ihr nichts nützen; sie wird den Bedürfnissen der sehnenden Menschenseele Rechnung tragen müssen.